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Das Theater als ein National-Institut betrachtet.

1825.

Jedes Volk besitzt ein vierfaches Dasein, in religiöser, politischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung. Ihr höchster Ausdruck ist das lebendige Wort, wodurch diese Beziehungen allein gedeihen können. Wer wird leugnen wollen, daß das griechische Volksleben in allen am vollendetsten erscheint, teils weil seine Organisation wirklich glücklicher als die der übrigen Nationen gewesen sein mag, teils auch, weil wir es durch unsre ideale Anschauung verherrlichen? Aber als Muster den übrigen Völkern vorgestellt zu werden, reicht es gleichwohl nicht hin; denn auf der einen Seite ist die neuere Weltansicht weit größer und umfassender, als die der Griechen sein konnte, und auf der andern ist jedes Volk sich selbst eine eigentümliche Entwicklung aus sich selbst schuldig, so daß der Einfluß des Fremdartigen nur beiläufig in Anschlag kommt. Deshalb ist Nachahmung der Griechen weder in poetischer noch anderweitiger Hinsicht besonders ratsam, wiewohl dadurch honetten Schulexercitien das Handwerk nicht gelegt werden soll.

Ich glaube nicht irre zu gehen, wenn ich bei einem Aufsatze, wie dieser ist, vom Ei der Leda anfange und erst nach einer kurzen Uebersicht der übrigen öffentlichen Volksverhältnisse das Theater selbst berühre. Indem ich aber hierin der Notwendigkeit, die sich mir aufdringt, nachgebe, bin ich weit entfernt, sie für eine Befugnis zu halten, über Dinge, denen ich nicht unmittelbar gewachsen bin, ein anderes als flüchtiges Urteil fällen zu wollen.

In Bezug auf die religiösen Verhältnisse der modernen Völker scheint mir durch das Luthertum ein großer Schritt vorwärts gethan worden zu sein. Um nicht gehässig zu werden, untersuche ich nicht, inwiefern der Katholizismus das lebendige Wort bewahrt oder aufgegeben hat; genug, daß es bei den Protestanten als das Höchste geachtet und beständig ausgeübt wird. Wobei gleichgültig bleibt, ob die Kanzelberedsamkeit in unserer Zeit gerade ihre höchste Periode hat oder nicht, und ob nicht hie und da das Sprichwort eintritt, daß ein Komödiant der Lehrmeister eines Pfarrers werden könne. Ich glaube wenigstens nicht, daß es dem Volke verargt werden kann, wenn es ein gutes Schauspiel einer langweiligen Predigt vorzieht. Und so hat das Theater zuweilen Repressalien gegen diejenigen ausgeübt, die es als ein gotteslästerliches Institut brandmarken zu wollen den vergeblichen Versuch wagten.

Man hat mit Recht die Franzosen und Engländer als Muster in der politischen Kunst betrachtet, insoweit diese als lebendige Rede sich selbst den höchsten Ausdruck zu verleihen sucht. Ohne sie nachzuäffen, hat man in Deutschland die landständischen Einrichtungen nicht eingeführt, sondern vielmehr nur wieder erweckt, da man sie als eine echt germanische Sitte schon der ältesten Zeiten anerkannte. So ging es, und zwar zur selben Zeit mit der Wiederbelebung unsrer volkstümlichen Beredsamkeit wie mit der Wiederbelebung unsrer großen epischen Dichter, deren Sprache und kunstreiche Formen bis jetzt nur wenige verstehen und deren hohe Bedeutung noch von wenigen völlig erkannt wird. Ich stehe nicht dafür, ob es nicht jetzt noch Lehrstühle gibt, wo man aus eine höchst komische und für die Nation herabwürdigende Weise die Geschichte der deutschen Poesie mit Opitz und dem von Besser beginnt, wie es lange genug Sitte gewesen ist. Gleichwohl sind wir schon so weit vorgerückt, daß die Nibelungen häufiger gelesen werden als die Messiade und ähnliche nach den Regeln entworfene. aber in einer Zeit entstandene Verfertigungen, die keinen Tropfen episches Blut in sich hatten. Das; übrigens die Messiade und andre Arbeiten desselben Meisters, dem die deutsche Sprache mehr verdankt als die deutsche Poesie, schon zu ihrer Zeit (einige der Oden abgerechnet) sehr wenig im Umlauf waren, beweist folgendes gleichzeitige Epigramm von Lessing:

»Wer wird nicht unsern Klopstock loben?
Doch wird ihn jeder lesen? Nein!
Wir wollen weniger erhoben
Und fleißiger gelesen sein.«

Was lebendigen Vortrag der Wissenschaft anlangt, so dürfen vielleicht die deutschen Universitäten, wenigstens der Idee nach, den übrigen europäischen Nationen als Muster gelten. Großen Dank sind wir auch hierin den Brüdern Schlegel schuldig, welche mehrere ihrer Werke zuerst als Vorlesungen bekannt machten und ihnen dadurch von vornherein den Reiz des lebendigen Wortes verliehen, den sie durch den Druck nicht wieder verlieren konnten. Allen wissenschaftlichen Werken würde ein ähnliches Verfahren zum größten Vorteil gereichen, besonders aber den historischen. Es wird so häufig über den schleppenden Stil und die langweilige Darstellung der neuern Geschichtswerke in Vergleich mit den alten geklagt; der öffentliche Vortrag vor Bekanntmachung des Buchs durch den Druck würde dem Historiker zum Maßstabe seiner Darstellungsgabe dienen können und hat wohl auch manchem dazu gedient.

Nach diesen kurzen Bemerkungen, die bloß als Parallele des Folgenden einen Wert haben können, gehen wir zur Poesie als dem Gipfel der Kunst über. Es wird nötig sein, das Allgemeinste voranzuschicken, etwas über Epos und Lyrik zu sagen, um endlich zum Drama selbst zu gelangen als zu dem schönsten Ausdruck des lebendigen Wortes im Volk.

Da ich nicht die mindeste Anlage zum Philosophen oder Theoretiker besitze, so habe ich alles, was ich weiß, auf praktischem und historischem Wege gelernt; der erstere gehört nicht hierher, der letztere wird mir zum Leitfaden meiner Darstellung dienen.

Bei allen Nationen erscheint die Poesie in einer dreifachen Gestaltung, als Epos, Lyrik und Drama, nur daß bei dem einen und andern das eine mehr, das andere weniger zur vollkommenen Entwicklung gediehen ist. Bei einigen, z. B. bei den Franzosen, ist das Epos, wenigstens im Vergleich mit andern Völkern, nur in einer verkümmerten Erscheinung ans Licht getreten; Wiewohl ich mir ein näheres Urteil der französischen Trouveurs, als der eigentlichen französischen Epiker, auf eine nähere und gründlichere Bekanntschaft mit denselben verspare. andern scheint das lyrische Talent nur spärlich zugemessen worden zu sein, wie z. B. den Engländern; wieder andre, wie die Araber und Perser, haben es nie bis zum Drama gebracht. Bei andern ist das Drama, wenn auch entstanden, doch zu keiner vollkommenen Ausbildung gelangt. Die Portugiesen gehören in diese Klasse. Die Griechen dürfen sich rühmen, eine vollständige poetische Litteratur zu besitzen, unter den neueren Völkern die Spanier, wenn man, wie billig ist, die Zusammenstellung ihrer alten Romanzen Nichts bestätigt mehr die Wolfische Ansicht über den Homer, als die Zusammenstellung der spanischen Romanzen. als etwas dem Epos Ebenbürtiges betrachten will. Im Lyrischen und Dramatischen ist ihr Reichtum bekannt. Sie haben diese nationelle Entwicklung nicht bloß dem abgesonderten Dasein aus ihrer Halbinsel zu danken, – ein Vorteil, den die Engländer in höherem Grade genossen, – als vielmehr der gänzlichen Abgeneigtheit, die Alten nachzuahmen, wodurch die Litteratur anderer Nationen so oft auf das bunteste verwirrt worden ist. Was die Deutschen und Italiener betrifft, so wird ihnen niemand das epische und lyrische Element der Poesie absprechen können. Ob diese beiden Völker auch ein Drama, das heißt eine selbständige und reichhaltige dramatische Litteratur besitzen werden, wird die Zeit lehren. Man ist so weit gegangen, zu behaupten, bei den neuern Völkern finde gar keine naturgemäße Entwicklung der drei Grundformen der Poesie statt. Als Beweis hat man unter anderm das gänzliche Unbekanntwerden der Nibelungen, die man aus dem Staube der Bibliotheken erst wieder hervorsuchen müssen, sowie den gänzlichen Verfall der deutschen Poesie nach dem dreizehnten Jahrhundert angeführt, welche Periode mit unsrer heutigen Litteratur in gar keinem Zusammenhang stünde. Dies sei bei den Griechen nicht der Fall gewesen. Gesetzt auch, daß die griechische Entwicklung weit glücklicher gewesen, was ich nicht in Abrede stellen will, so stund doch keineswegs das homerische Zeitalter mit dem des Perikles in einem unmittelbaren Zusammenhange. Vielmehr trat auch bei den Griechen nach dem Erlöschen des epischen Zeitalters eine höchst prosaische Nichtigkeit und Mittelmäßigkeit ein, aus welcher Periode Hesiodus und andere uns noch übrig geblieben sind. Ihn für einen Zeitgenossen des Homer zu halten, ist ungereimt, und ebenso ungereimt ist es, zu glauben, daß in der Zeit, da die hesiodische Poesie blühte, die homerische sich wirklich noch eines lebendigen Verkehrs erfreut haben könnte. Folglich mußte auch Homer wieder hervorgesucht werden, als die neue Poesieperiode anfing und die Nation wieder empfänglich für ihn geworden war.

Wenn wir nun den Gang der Natur beobachten, ohne auf willkürliche Machwerke Rücksicht zu nehmen, so zeigt sich, daß überall das Epos vorangeht und durch die Lyrik der Uebergang zum Drama gegeben ist, wodurch der Cyklus der Poesie als vollkommen abgeschlossen erscheint. Denn der dramatische Dichter, durch das lyrische Element hindurchgegangen, konzentriert in sich als Individuum die Poesie, deren Stoff er durch Epos und Historie vom Volk empfangen hat und die er nun vom Theater herab dem Volke wieder zurückgibt. So ist also, um mich eines bildlichen Ausdrucks zu bedienen, das Drama nichts anderes als das wiedergewonnene Paradies der Dichtkunst, welches der Nation durch das Absterben des epischen Zeitalters verloren gegangen war, dessen Erinnerung jedoch wie eine heilige Glut in einzelnen noch fortglimmte, bis es dem dramatischen Dichter gelingt, die verirrten Strahlen wieder in einen Brennpunkt zu sammeln. Er ist berufen, ein vollendetes, geschlossenes, abgerundetes Ganzes in einem Sinne zu bilden, wie es den epischen Dichtern noch nicht möglich war, Das Lied der Nibelungen erscheint hierin wundervoll, indem es schon als Epos ein dramatisches Ganzes im höchsten Sinne bildet. Es hat mich auf den Gedanken gebracht, daß die Dichtkunst, so wie sie bei einzelnen Völkern den Gang vom Epos zum Drama geht, so auch in Bezug auf ihre allgemeine Weltentwicklung denselben Weg verfolgt, so daß zwar die Nibelungen, zur deutschen Poesie gerechnet, als Epos anzusehen sind, hingegen, mit dem Homer verglichen und weltgeschichtlich betrachtet, eher als Drama gelten müssen. Doch ist dies vielleicht ein bloßer Einfall. und die Poesie mit dem Leben zu versöhnen. Denn nicht bloß durch die lebendige Darstellung auf der Bühne fließt das Leben mit dem Drama zusammen, sondern auch in einem höheren Sinne. Denn das Leben selbst ist nicht Erzählung, nicht Gesang; es ist Rede, Handlung, Drama.

Aus dem Jüngstgesagten erhellt, daß die Lyrik eine doppelte Gestalt annehmen wird: sie wird auf der einen Seite sich, der Zeit nach, dem Epos anschließen, wie dies bei den Homerischen Hymnen und im Deutschen bei den Minnesängern der Fall ist, auf der andern Seite wird sie dem Drama vorangehen. Beim griechischen Drama zeigt sich der lyrische Ursprung noch deutlich im Chor, bei den Deutschen ist dieser Uebergang durch Goethe gesetzt. Es klingt paradox, aber es ist wahr: Goethe ist der deutsche Chorus. In seinen Werken ist häufig eine vollkommen lyrische Tendenz mit der dramatischen Form vereinigt. Nach ihm kommt Schiller, der erste eigentliche dramatische Dichter der Deutschen, der mich schon von früheren als mir der Schöpfer des deutschen Theaters genannt worden. Man hat ihm häufig unrecht gethan, indem man von seinen Werken jenen zarten lyrischen Grundton forderte, der in den Goetheschen herrscht und der ihm weder eigen sein konnte noch durfte. So wenig war die Nation noch an ein eigentliches Drama gewöhnt. Man verdachte Schillern, daß seine Stücke nicht für das Kabinett, sondern für die Bühne bestimmt seien. Versöhnen wir die Manen des großen Mannes, der für die Kunst gestorben ist! Hüten wir uns, ihn zu lesen; aber stellen wir ihn dar, so oft wir können, und wir dürfen versichert sein, daß er uns immer gefallen wird!

Goethe hat der Lyrik eine Tiefe und einen Umfang gegeben, wie nie vor ihm ein Dichter. Weil man sich aber in den Kopf setzte, seine Werke, wovon viele die dramatische Form haben, durchaus als Dramen zu vindizieren, während sie doch auf dem Theater keine bedeutende Wirkung hervorbrachten, so ist man so weit gegangen, einen Unterschied zwischen dramatisch und theatralisch zu statuieren, der von Gutmeinenden nachgebetet worden ist. Dieser Unterschied, welcher höchstens in Bezug auf unsere schlechten Theatereinrichtungen eine gewisse Bedeutung haben kann, findet keineswegs statt. Ein Volk, das kein Theater hat, hat auch kein Drama, und es kann höchstens allenfalls den Alten nachgeäffte Schulexercitien hervorbringen. Wie es denn möglich wäre, daß schon zur Zeit der Nibelungen, also in einer gänzlich undramatischen Periode, von irgend einem Mönch ein terenzianisierendes Lustspiel in lateinischen Versen ausgeheckt worden wäre. Die Nachwelt weiß aber so wenig davon, als sie von den sogenannten Epopöen unsrer Tage etwas wissen wird; denn nur das Zeitgemäße dauert.

So ist es klar, daß zu einer vollkommen lebendigen Darstellung in unserer Zeit von den verschiedenen Formen der Poesie nur das Drama gelangen kann. Nur der dramatische Dichter redet noch öffentlich zur Nation.

Die alten Rhapsoden, welche die melodischen Strophen der Nibelungen recitierten, sind nicht mehr, und auch der lyrische Dichter, der nicht mehr eine Person mit dem Musiker ist, bedarf des gefälligen Tonsetzers, um in den Mund des Volks zu kommen.

Sei mir aber hierüber noch eine Abschweifung erlaubt! Es muß das Bestreben jeder Nation sein, auch die erloschenen und halb erloschenen Formen seiner Poesie noch, soweit es möglich ist, im lebendigen Verkehr zu erhalten, wie es die Griechen auch immer gethan haben. Für unsere Lieder ist mehr oder weniger durch zahlreiche Komponisten gesorgt; nur vernachlässigen aber fast ganz das epische Element, das eigentlich den Deklamatoren und Deklamationsübungen der Jugend übertragen sein sollte, welche aber meist eine ganz verkehrte Richtung genommen haben. Sie recitieren entweder lyrische Stücke, die dem Gesang angehören, oder dramatische Bruchstücke, die, aus dem Zusammenhange gerissen, ihre beste Wirkung verfehlen. Das Epische hingegen ist nicht nur die reinste Schule der Deklamation, sondern auch ihr geeignetster Stoff. Man hört ein Lied lieber singen und ein Drama lieber darstellen; wenn aber ein einzelner vor uns tritt, uns etwas vorzusagen, so wünschen wir am liebsten, daß es etwas Erzählendes sein möchte. Dies ist die Kunst der italienischen Tagdiebe und Improvisatoren, welche uns Stellen aus dem Tasso zu recitieren pflegen. Tasso ist kein ursprünglich epischer Dichter, und seine Poesie ist gleichsam nur aus der zweiten Hand; allein die Nation hat ihn, um mich so auszudrücken, vollkommen episiert. Wiewohl das gemeine Volk in Italien meistens sehr falsch deklamiert, so scheint mir doch der Tasso durch ihren feurigen, lebhaften Vortrag unendlich zu gewinnen, und er ist mir nie so trefflich erschienen als aus dem Mund dieses Gesindels. Wir, die wir das Epos nur vom Blatt weg lesen, haben kaum einen Begriff, wie herrlich es durch den lebendigen Vortrag wird. Leider ist die Sprache der Nibelungen bei uns noch zu wenig gang und gäbe, um sie zu deklamatorischen Vorträgen zu wählen. Allein man könnte Stellen aus dem Vossischen Homer, aus dem Griechischen Tasso, aus Hermann und Dorothea und ähnlichen Werken aussuchen, wenn es ähnliche gibt. Die herrlichste Wirkung würde jedoch die Heldengröße der Nibelungen, wenn sie auf eine lebendige Art rentiert würden, hervorbringen. Man sollte unsre Jugend so früh als möglich mit den Formen der altdeutschen Sprache, die für einen Deutschen so leicht sind, bekannt machen und lieber ein oder das andere lateinische Pensum vernachlässigen. Ich wüßte nicht, was gegen die Heroen des Cornelius Nepos einzuwenden wäre, und ob seine Darstellung die Jugend anzieht, will ich nicht entscheiden; aber wer wollte leugnen, daß der herrliche Siegfried, der finstere Hagen, der tapfere Volker, der milde Rüdiger unendlich größere Bilder sind? Die Helden im Homer sind bloße Kinder dagegen. Kommt, ihr Knaben, schüttelt den Schulstaub von euch und lernt statt römischer Vokabeln das Gedicht eurer Väter auswendig! Auch wir wollen lauschen jenen herrlichen Thaten, denen das Ohr unsrer Väter lauschte! Laßt uns hören, wie Siegfried stirbt, wie Chriemhilde klagt, wie Volker mit seiner Geige die müden Burgunden einschläfert! Laßt uns hören den mächtigen Dankwart, der gegen Tausende kämpft, den grimmigen Hagen, der des ermordeten Kindes Haupt in den Schoß der Mutter schleudert, den edelen Dietrich, der um seine gefallenen Helden weint! Laßt uns hören die große Frau, die am Eingange des Gedichtes als zarteste Jungfrau steht, wie sie, durchs Leben gereift, durch Schmerz und Rache gehärtet, ihres verratenen Gatten Schwert aus der Scheide zieht und das Haupt ihres Feindes abschlägt! Laßt uns hören endlich die Klagen des König Etzels, daß der größte Held von eines Weibes Händen fiel!

Man verzeihe mir diesen kurzen Hymnus und verzeihe mir auch, wenn ich noch etwas über die äußere Form der Nibelungen hinzufüge, da diese bei dem öffentlichen Vortrage wesentlich ist, Der nun folgende Teil dieser Abhandlung bis S. 113 Anmerkung bildet in den bisherigen Ausgaben einen Teil der folgenden Abteilung; er ist hier aus der Hempelschen Ausgabe nach dem Tagebuch des Dichters mitgeteilt. (Anm. des H.) Sie wird von denen, die sie nicht kennen, für roh und ungebildet ausgeschrieen, ungefähr so, wie einer die Form des Homer für ungebildet ausgeben würde, der den Hexameter nicht zu lesen verstünde, oder der das Griechische nach den Accenten läse, wie man jetzt auch auf Schulen eingeführt findet. Nicht die Form der Nibelungen ist roh, sondern unsere Metrik ist es, da wir, an das einförmige Ticktack der Jamben und Trochäen gewöhnt, für kunstvollere Maße gar keinen Sinn mehr zu haben scheinen. Hiedurch ist es so weit gekommen, daß wir, was den Reim betrifft, alle unsere spondäischen und antibacchischen Reime, die in den Nibelungen oft von der schönsten Wirkung sind, d. h. fast ein Drittel unseres Sprachschatzes, vom Reim selbst ausgeschlossen haben und daß wir, was die Prosodie anlangt, für unsere anapästischen, daktylischen, spondäischen und antibacchischen Worte und Wortzusammensetzungen beinahe gar keinen Platz mehr haben, da sich unsre ganze Metrik in einem beständigen Lang-kurz oder Kurz-lang auf das eintönigste fortbewegt. Hier findet sich in den bisherigen Ausgaben noch folgende Stelle: »Alles, was wir aus der Fremde entlehnt haben, der Hexameter, die Stanze, die Terzine, mag als vortrefflich für kleinere, dem Idyllischen oder Lyrischen sich nähernde Gedichte anerkannt werden, für umfangreiche sind sie vollkommen untauglich. Die italienischen Maße, wie auch der französische Alexandriner, erfreuen sich einer großen Mannigfaltigkeit in der Ursprache; vermöge unserer Prosodie hingegen werden sie eintönig und matt, wie es auch unser fünffüßiger Jambus ist, ein barbarischer und armseliger Vers, der hoffentlich bald aus der Sprache verschwinden wird. Wenn der Verfasser es für ratsam hielt, in seinen dramatischen Werken den Trimeter statt des fünffüßigen Jambus anzuwenden, so kann er auf Treue und Glauben versichern, daß er es nicht den Griechen zuliebe gethan, sondern daß ihn gerade das Studium des Nibelungenverses darauf geführt hat. Denn dieser sowohl als der Hexameter, die überhaupt verwandt sind, lösen sich rhetorisch in den Trimeter auf.« (Anm. d. H.)

Von dieser Monotonie, die im Epos vollends unerträglich sein würde, weiß das Lied der Nibelungen freilich nichts, wiewohl es eine große Regelmäßigkeit mit einer höchstmöglichen Varietät vereinigt, was die höchste Aufgabe eines epischen Versmaßes ist und auch von dem Hexameter gelöst wird. Was den deutschen Hexameter betrifft, so scheint mir in Bezug auf Uebersetzungen aus den Alten der Vossische meisterhaft und nachahmungswürdig, in Bezug auf eigentlich deutsche Werke der Klopstockische und Goethesche Hexameter der vorzüglichere zu sein. Wir wollen ja kein griechisches, sondern ein deutsches Versmaß, dem der Trochäus, wie ich glaube, keineswegs zur Unzier gereichen kann. Denn da wir so viele Wortzusammensetzungen in der Sprache besitzen, wie z. B. Vaterland, Aberglauben, seelenvoll und taufend andre, bei denen der Trochäus unausweichlich ist, so würde es auf eine Künstelei hinauslaufen, wenn wir alle diese Worte vom Hexameter ausschließen wollten.

Das Gesetz des Nibelungenmaßes ist folgendes: Ein sechsfach betonter Vers wird durch die Cäsur in zwei Hälften zerschnitten, so daß drei Betonungen auf die erste, drei Betonungen auf die zweite Hälfte fallen. Zwischen diesen sechs betonten Silben können aber willkürlich eine beliebige Anzahl unbetonter Silben eingereiht werden, insoweit es nämlich Sprache und Harmonie des Versbaus erlauben. Das Ganze zerfällt in Strophen, jede Strophe in vier Zeilen. Hiebei ist noch zu bemerken, daß die letzte Hälfte des letzten Verses sich zuweilen in vier Betonungen ausbreitet, welches zwar häufig eine sehr schöne Wirkung thut, doch wohl aber erst durch spätere Ueberarbeiter des Gedichts hinzugefügt worden ist. Hiedurch entsteht nun eine reiche Mannigfaltigkeit und für den, der den Vers zu lesen versteht, die größte Harmonie. [Anmerkung des Herausgebers an dieser Stelle aus technischen Gründen gelöscht. Re]

Oft gewinnt er daher, wenn es der Gegenstand mit sich bringt, einen sanften, hüpfenden Gang, wie folgender:

Do entswebete er an den betten viel manegen sorgenden man.

Vers

Zuweilen wird, anders geordnet, dieser daktylische Sprung auch ernsten Gegenständen angepaßt, wie z. B. der letzte Vers des dreiunddreißigsten Gesangs:

Diu swert von handen legeten die chunen recken gemeit.

Vers

Eine prachtvolle, aber auch schauerliche Wirkung entsteht, wenn im Gegenteile die unbetonten Silben fast ganz herausfallen, wie z. B. im letzten Halbvers folgender Zeilen, die zugleich als Muster dienen können, wie schön die antibacchischen Reime sich ausnehmen:

Wie gerne ich dir wäre gut mit meinem schilde,
torst' ich dir'n bieten vor Chriemhilde!

Vers

Diese Versart wird auch zuweilen gebraucht, um eine malerische Wirkung hervorzubringen, z. B.

Gegen Mutaren die Tunowe nieder.

Vers

Reine Jamben und Trochäen sind nicht selten; doch hat der Dichter Sorge getragen, daß sie eine ganze Stanze ausfüllen. So sind z. B. in folgender Strophe die ersten Halbverse der ersten und zweiten Zeile jambisch, die sich ihnen anschließenden trochäisch, bis der Jambus, der sich nicht abweisen läßt, das Uebergewicht gewinnt und die beiden Verse ganz jambisch gebildet sind:

Do sucht er nach dem vergen
er horte wazzer giezen,
in einem schönen brunnen
diu wolden sich da chulen
wider unde dan,
losen er began:
daz taten wisiu wip,
und badeten ir lip.

Zum Schluß erlaube man mir noch eine besonders kunstvoll gebildete Stanze mit ihrer metrischen Einteilung anzuführen, da sie fast alle Tonarten des Liedes in sich vereinigt:

Do rief der herre Gieselher
»owe, daz ich so grimmen
edel ritter chüne,
ich wil'z helfen enden,
Wolfharten an:
vient ie gewan!
nu wendet gegen in:
ez en-mag nicht lenger gesin.«
Vers Vers

Um den Nibelungenvers immer richtig zu lesen, gehört allerdings auch eine nähere Kenntnis der alten Sprache, die, wie die homerische, sich noch in manchen schwankenden Formen bewegt. Hieher sind besonders die Eigennamen zu zählen, deren Prosodie meist schwankend ist. So wird z. B. Gunther — U und — — accentuiert, Rüdiger — U U und — U —. Hieher gehört auch das Participium Präsentis, das bei uns schon immer daktylisch ist, bei den Alten aber noch häufig antibacchisch, z. B.

Allez howende die Guntheres man.
— U — — U  |  U —  — U  —

Man verzeihe diese Abschweifung einem Dichter, der vermöge seines eigentlichen Berufs wohl nie mehr Muße und Gelegenheit finden wird, sich über diese Dinge, die ihm doch, als der deutschen Nation angehörig, am Herzen liegen, öffentlich zu äußern. Er würde sich sogar aus dieser kleinen Schrift einen Vorwurf machen, wenn eine ununterbrochene poetische Wirksamkeit möglich wäre, und wenn dieser Aufsatz nicht in einer eigentümlichen Lage entstanden wäre, indem der Verfasser desselben in einer Art von Gefangenschaft einer vollkommenen Einsamkeit wider seinen Willen genießt und sich daher aufgefordert sieht, seine Thätigkeit zu vervielfältigen, um die Länge des Tages immer auf eine würdige Weise auszufüllen. Bei Gelegenheit seiner ersten Reise nach Oberitalien hatte der Dichter seinen Urlaub überschritten und mußte dieses Beruhen mit einem mehrwöchentlichen engen Arreste in Nürnberg abbüßen.

Indem wir zum Drama zurückkehren und auf dem historischen Wege bei den Griechen beginnen, zeigt sich, daß dieses Volk die Aufgabe, das Theater als ein Nationalinstitut zu behandeln, auf das vollkommenste gelöst habe. Wie wenig uns Neuern dieses aber zur unmittelbaren Nachahmung frommen kann, haben die Franzosen gezeigt, indem alles, was bei den Griechen Natur war, bei ihnen zur Grimasse geworden ist. Sie haben den Stoff, statt ihn aus sich selbst zu schöpfen, von den Griechen entlehnt; aber sie haben nicht bedacht, daß er bei den Griechen eine tiefe religiöse Bedeutung hatte, die er bei ihnen nie gewinnen konnte. Sie haben die sogenannten Einheiten nachgeahmt; aber sie haben nicht bedacht, daß diese eine ganz natürliche Bedingung des griechischen Chors und sonstiger Theatereinrichtungen waren, während sie bei ihnen selbst zu einer lächerlichen Beschränkung ausgeartet sind. Wehe der Nation, deren Dichter von den Kritikern am Gängelbande geführt werden!

Weit eher und leichter hätten die äußerlichen Bedingungen der griechischen Bühne nachgeahmt werden können. Die Wettstreite der Dramatiker, die öffentlichen Richter, der vor dem Volke zuerkannte Ehrenpreis: lauter musterhafte, echt nationelle Bestimmungen, um Talente zu wecken, zu befeuern, aufs höchste zu steigern.

Es gehört nicht zu meiner Absicht, über die einzelnen griechischen Dichter zu sprechen, über die schon hinlänglich gesprochen worden ist. Ich gehe zu den Römern über, und wir sehen, daß sich kein eigentliches Nationaltheater bei ihnen gebildet hat. Virgil, der größte römische Dichter, lebte in einer Zeit, die dem Epos entwachsen war und für das Drama hätte fruchtbar sein können; seine eigenen Talente, sein Pathos, seine Präcision, lauter unepische Eigenschaften, bestimmten ihn zum Dramatiker. Er aber wollte ein Homer und kein Aeschylus werden, wodurch er keines von beiden geworden ist. Sein Gedanke war groß, sein Geist umfassend, er wollte die Mythen seiner Nation auf das herrlichste ausbilden; allein er verfehlte die Form. Daß er dies am Ende seines Lebens selbst fühlte, daß er ein Gedicht wie die Aeneis, in dessen prachtvollen Versen sich die Größe des damaligen Roms abspiegelt, vernichten wollte, dies sichert ihm das ewige Staunen der Nachwelt. Wenige Dichter sind fähig, einen so großen Irrtum so groß zu begehen, als Virgil gethan hat. Gleichwohl konnte er das Ursprüngliche seines Geistes nicht ganz unterdrücken. Sein Epos verfällt in einzelne Tragödien, denen bloß die dramatische Form fehlt. Dies ist besonders auffallend im zweiten, neunten, zwölften Buche. Das vierte Buch könnte man beinahe ein vollendetes Drama nennen. Man hat es ihm für sklavische Nachahmung angerechnet, daß er einzelne Verse aus dem Homer wörtlich übersetzt hat. Mit nichten! Es war die Mode seiner Zeit, der sich alle Dichter bequemten; man that sich etwas darauf zu gute, solche Verse aus dem Griechischen umzusetzen; keineswegs ward es als ein Fehler betrachtet. Es schmeichelte dem Ohr der Römer, die mit der griechischen Litteratur früher als mit ihrer eigenen vertraut waren, und es ist die Pflicht des Dichters, dem Ohre seiner Nation zu schmeicheln. Ebenso haben späterhin Tasso und Camoens Verse aus dem Virgil nachgebildet; aber keineswegs aus Armut, von der ihr Geist nichts wußte. Ueberhaupt sollte man einmal den abgedroschenen Zank über Originalität aufgeben. Das Talent ist immer original, der mittelmäßige Kopf niemals. Große Vorgänger gehabt zu haben, ist kein Vorteil für einen Dichter, wie Unwissende glauben, sondern der größte Nachteil. Es führt ihn gewöhnlich auf Irrwege, denen er erst entgeht, wenn er zum Bewußtsein seines eigenen Talents kommt. Das Genie ist bekanntlich eine Sache, die kein Mensch dem andern ablernen kann, und das übrige ist von wenig Belang, wenn das erstere fehlt. Wenn z. B. Voltaire nie eine Tragödie von Racine zu Gesicht bekommen hätte, so würde er selbst etwas weit Größeres geleistet haben; denn sein Geist war nicht für die Ketten aus dem vergoldeten Zeitalter Ludwigs XIV.

Ovid, dem Virgil nicht an die Seite zu setzen, war gleichwohl durch und durch Poet. Wunderbar genug hat auch er sich fast immer im Epischen herumgetrieben; lyrisches Talent war ihm wenig verliehen; seine Elegieen stehen denen der andern Elegiker weit nach. Er hat nach Quinctilian eine Medea geschrieben, die von diesem Kritiker sehr gerühmt wird. Gewiß war sie nicht nur das beste seiner Werke, sondern auch die Blüte der römischen Tragödie überhaupt; denn er hatte eine große Beweglichkeit des Geistes und die höchste Meisterschaft über die starre Unbehilflichkeit seiner Muttersprache, die selbst im Virgil noch oft wie versteinert scheint.

Wenn ich bei diesen beiden kaum hierher gehörenden Dichtern länger verweilte, so geschah es, weil ich das Verkannte nicht gerne verkannt sehe.

Unter den Neuern hat Shakespeare das nationellste Drama hervorgebracht. Es wäre überflüssig, etwas zu seinem Lobe sagen zu wollen. Seinem Lustspiele hat er romantische Novellen oder Märchen zu Grund gelegt, weil sie seinem Genie den weitesten Spielraum verschafften. Ohne in die Pedanterie Molières verfallen zu sein, der mit unpoetischer Absichtlichkeit einzelne Charaktere ausmalt, steht gleichwohl seine Charakteristik unendlich über der Molièreschen oder irgend einer andern. Auch für die Tragödie wählte er immer den würdigsten Stoff, meist aus der Geschichte seiner eigenen Nation, Gleichwohl würde neuern Dramatikern bei der Wahl historischer Stoffe bloß die Alternative bleiben, entweder halbepische, weitschweifige Dramen zu bilden, die nicht einmal für die jetzige Bühne taugten, oder vollkommene Trauerspiele zu schreiben, aber die Geschichte zu verdrehen oder nach ihren Zwecken zuzustutzen, wie so viele gethan haben. Shakespeare ist in den erstgenannten Fehler verfallen, da ihm die Geschichte heilig war; seine deutschen Nachahmer jedoch in alle beide. Sie tischen historische Lügen in der ungeschicktesten Form auf. zum Teil auch, wie im Hamlet, aus den tiefsinnigen Sagen anderer Völker, denen er das ganze Feuer seines unsterblichen Geistes einhauchte. Er war unbekannt mit der rhetorischen Manier, deren sich die Franzosen auf der Bühne bedienen; vielmehr ist er durch und durch anschaulich, das heißt durch und durch Künstler. Die Franzosen haben ihm viele Fehler vorgeworfen, von denen aber nur diejenigen gegründet sind, die sich auf die Einzelheiten des Stils beziehen, während hingegen das französische Theater in seiner Ganzheit auf einem eingehenderen Fehler beruht. Was das Bedeutende des Gegenstandes, das Kunstvolle des Plans, die Schärfe der Umrisse, den Reichtum der Darstellung anlangt, ist er unerreicht geblieben. An Umfang und Tiefe des Geistes übertrifft er die Griechen weit, in der Form konnte er sie nicht erreichen; denn er gehörte einer Nation an, die keine bildende Kunst besitzt.

Man hat ihn für gänzlich unbesorgt um seinen Nachruhm gehalten, weil er seine Stücke nicht selbst herausgegeben. Viele sind jedoch, während er noch lebte, gedruckt worden. Er selbst ist, wie es scheint, plötzlich gestorben, und es kommt darauf an, ob er seine Schauspiele nicht gänzlich an die Theater verkauft hat, oder vielmehr den Druck als Nebensache geachtet und die Bühne, wie billig, als die eigentliche Fortpflanzerin eines dramatischen Kunstwerks. Die dem Theater feindlichen Religionsunruhen, die bald nach seinem Tode ausbrachen, konnte er nicht voraussehen. Es versteht sich von selbst, daß in seinen Schauspielen nicht von seinem Nachruhm die Rede ist; in seinen lyrischen Gedichten verspricht er sich wiederholt die Unsterblichkeit. Statt vieler Stellen nur eine, Sonnet CVII:

Now with the drops of this most balmy time,
My love looks fresh, and Death to me subscribes,
Since spite of him I'll live in this poor rhyme,
While he insults o'er dull and speechless tribes,
And thou in this shalt find thy monument,
When tyrants' crests and tombs of brass are spent.
Da er und seine Zeitgenossen durch das Drama die Poesieperiode abschlossen, so mußte man, wenn man noch etwas leisten wollte, wieder ab ovo anfangen, was freilich schwer war. Gleichwohl kam unmittelbar nach ihm der epische Milton, dessen Gedicht aber trotz außerordentlicher Vorzüge nicht als ursprünglich betrachtet werden kann.

Ich gehe zu einer andern Nation über, der vorigen fast ganz entgegengesetzt.

Die französische Sprache, für den geschichtlichen Stil geeignet, für die Konversation und Rednerbühne unübertrefflich, ist beschränkt und nüchtern in Bezug auf das Poetische. Schon aus dem Ebengesagten geht hervor, daß das, was von epischer Anlage im Volk lag, höchstens in einer Zeit gedeihen konnte, in welcher die Sprache noch eine ganz andere Gestalt hatte, und daß auch die Lyrik nie einen hohen Schwung nehmen konnte. Weit mehr Anlage war zum Drama in der Sprache vorhanden. Leider bildete sich die Bühne bloß als ein Hoftheater Ludwigs des Vierzehnten aus. Die Nation und ihre Könige auf die Bühne zu bringen, würde als Majestätsverbrechen gegolten haben; ja, man dachte nicht einmal daran, wiewohl die französische Geschichte sehr dramatisch ist. Die griechische Mythologie war von den poetischen Schneidermeistern der Zeit zum allgemeinen Verbrauch ziemlich zugeschnitten. Die Kritiker wiesen mit Macht daraus hin. Boileau bedauert denjenigen, der sich einen Chilperik zum Helden wählen könne, da der Name Agamemnon doch weit wohllautender sei. Corneilles besserer Geist sträubte sich lange; Racine, der die Sache schon eingeleitet vorfand, wußte sich in das vorgeschriebene System zu finden. Späterhin konnte sich Voltaire von der alten Manier nicht völlig losmachen, weil er zu eitel war, um auch nur auf kurze Zeit von der Nation oder vielmehr von den Kritikern verkannt werden zu wollen.

Die Griechen, die man längst übertroffen zu haben glaubte, wurden gleichwohl als Muster aufgestellt. Die Nachahmung ging aber einigermaßen ungeschickt von statten. Den Chor, die Grundlage des griechischen Dramas, setzte man ab, wie billig; denn man hätte auch nicht lyrisches Talent genug besessen, um ihn beizubehalten. An seine Stelle traten die Vertrauten. In der That bleibt es unbegreiflich, wie eine geistreiche Nation diese nichtssagenden Figuren, denen die Langeweile angeboren ist, auf den Brettern ertragen konnte. Eine neue Grille kam durch den Machtspruch eines Ministers hinzu, die drei Einheiten.

Es ist viel dagegen geschrieben worden, das Treffendste von Goethe in seinem Jugendaufsatz über Shakespeare. Viele, welche die Einheit der Zeit und des Orts verwarfen, glaubten, durch ein Mißverständnis, wenigstens die Einheit der Handlung statuieren zu müssen. Mit nichten! Eine taugt so wenig als die andere. Es gibt nur eine Einheit (wie es das Wort schon mit sich bringt): die Einheit des Charakters, d. h. die Einheit des ganzen Dramas mit sich selbst. In Shakespeares Macbeth kommen eine Menge von Handlungen vor: Dunkans Ermordung, die Flucht der Prinzen, Macbeths Thronbesteigung, Banquos Tod, das Treiben der Zauberschwestern, bis herunter zu den letzten Schicksalen des Helden selbst; allein sie sind alle so meisterhaft zu einem Ganzen verflochten, daß nur der beschränkteste Kritiker dieser Tragödie die dramatische Einheit absprechen könnte.

Indem nun die Franzosen den andern Nationen vorwarfen, daß ihr Drama auf einer bloßen Grille ( caprice) beruhe, sind wir genötigt, ihnen diesen Vorwurf im vollsten Sinn des Worts zurückzugeben. Das französische Theater ist es, das auf der Grille der sogenannten difficulté vaincue beruht, die nicht den mindesten poetischen Wert hat. Auch von den Franzosen wird angenommen, daß Racines Athalie das vorzüglichste Trauerspiel sei, das sie besitzen. Sie ist es nicht bloß durch das charakteristische Element, das darin vorwaltet, sondern auch dadurch, daß der Gegenstand, aus der Bibel genommen, dem Volke weit näher liegt, als die Andromache oder eine anderweitige Witwe dieser Art. Aber die Athalie und ihre Entstehung ist zugleich das beißendste Pasquill auf das französische Theater selbst. Racine schrieb dieses Stück, als er sich aus Gewissensskrupeln von dem Theater ganz zurückgezogen hatte, und so verdanken die Franzosen ihre beste Tragödie einer poetischen Verirrung des Dichters.

Auch hierin ist die Athalie musterhaft, daß das lyrische Element wieder in sie aufgenommen ist, das Racine früherhin aus Liebe zu einer toten Regelmäßigkeit verwarf, wiewohl es im Corneille noch hie und da vorkommt.

Bewunderungswürdig sind die Franzosen in der konsequenten Durchführung ihres einseitigen Systems; Wiewohl auch hierin viel Wunderliches mit unterläuft. Denn wenn man sich z. B., um die Einheit des Orts aufrecht zu erhalten, erlaubt, bei einer Verschwörung die Verschworenen ihre Zusammenkünfte in der Wohnung desjenigen halten zu lassen, gegen den man sich verschwört, so hat man die Sache sich ebenso leicht gemacht, als dem Publikum lächerlich. Bei allen Gelegenheiten kommt das Kindische und Fratzenhafte der drei Einheiten, dem modernen Theater fremd, zum Vorschein. die Form ist äußerst eintönig, aber meisterhaft, wenn man sie nur aus sich selbst beurteilt.

So große Fehler nun aber auch das französische Theater haben mag, so ist es doch gegenwärtig das einzige Nationaltheater in Europa; weniger durch sich selbst, als durch den Willen oder, wenn man will, durch die Eitelkeit der Nation. Selbst die Engländer führen nur wenige Stücke von Shakespeare auf, zum Teil wegen Veraltung der Sprache und Veränderung des Theaterwesens, zum Teil vielleicht auch, weil sie kleiner als Shakespeare sind. Ganz das Gegenteil bei den Franzosen, die ihren Dichtern überlegen erscheinen. Aber eben deswegen ist der Umsturz des bisherigen Systems unvermeidlich, und die Kritiker sträuben sich umsonst dagegen. Sie verhindern dadurch jüngere Talente, eine kräftigere Richtung zu nehmen, weil diese fürchten müssen, zum Lohn ihrer Mühe ausgepfiffen zu werden. Zu bedauern sind diejenigen, die dem alten System noch einzelne Kunststücke nachliefern, wodurch sie selbst als bloße Lückenbüßer erscheinen und einem augenblicklichen Beifall ihren Nachruhm aufopfern. Wie sollte es einer Nation, wie sollte es einem einzelnen Dichter schädlich sein, sich ewig zu verjüngen? Der Racinische Achill kann den Besiegern Europas nicht mehr imponieren. Ja, die Unzufriedenheit mit sich selbst geht bei den Franzosen so weit, daß einige die Poesie bloß noch als einen Luxusartikel betrachten, Wie die meisten der deutschen Theaterintendanten. was nicht mehr der Fall sein würde, wenn man nationelle Gegenstände aus die Bühne brächte. Dann würde der Dichter dem Helden und dem Staatsmann ebenbürtig sein, welche letztere das Theater, ohne sich herabzustimmen, besuchen könnten. Auch würde die alte Kunst durch eine neue nicht vernichtet werden, wiewohl jene vom Theater selbst verschwinden müßte.

In Italien, oder vielmehr in Venedig, haben Goldoni und Gozzi die nationellen Sitten im Lustspiel dargestellt, der erste auf eine sehr gewöhnliche Weise; Gozzi, der den Beifall des Publikums ganz auf seiner Seite hatte, indem er sie mit phantastischen Märchen zusammenstellte, die er ebenfalls aus dem Munde des Volks schöpfte. Er verschmolz die verschiedenartigsten Elemente mit Glück und sicherte ihnen dadurch wechselseitig einen Gehalt zu. In der Sprache wäre ihm eine schönere Ausbildung zu wünschen. Dem Volke würde er wohl noch ebensosehr gefallen wie ehemals, wenn er dargestellt würde. Die gebildeten Venetianer jedoch schämen sich dieses großen Dichters, weil man ihnen von Mailand aus, dem Sitz der klassischen Pedanterie, in den Kopf gesetzt hat, das Märchen könne kein Stoff für das Lustspiel sein. Uebrigens werden auch Goldonische Stücke äußerst selten gegeben.

Außer Venedig ist kaum ein nationelles Theater in Italien entstanden. Erst einige Jahre später lernte der Verfasser das wahrhaft nationelle Theater San Carlino in Neapel kennen, das er als solches schätzte. Von Poesie und Litteratur kann dabei freilich nicht die Rede sein. Metastasio hat die Heroen des Altertums karrikiert und läßt sie singen wie die Rotkehlchen, was ihm nicht einmal die Tonsetzer besonders Dank gewußt haben. Ueber Alfieri mögen diejenigen sprechen, die ihn besser kennen und besser zu schätzen wissen als ich.

In Spanien existierte gegen Ende des sechzehnten und im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts ein reichhaltiges, echt nationelles Theater, welches den Spaniern noch immer teuer sein würde, wenn sie, von der französischen Kritik und den mehr oder weniger veränderten Religionsbegriffen absehend, die Kunst als Kunst zu schätzen wüßten.

Die Stücke von Cervantes sind nicht mehr aufführbar, und Lope de Vega erinnert zuweilen noch sehr an die erste Kindheit des Theaters. In Calderon erscheint eine vollkommene Herrschaft über die Sprache sowohl als über das angenommene System. Wie bei den Griechen zeigt sich meist eine nationell religiöse Grundlage, wie bei den Griechen ist die Form durchaus vollendet, aber auch wie bei den Griechen ist das Charakteristische nie bis zu einer Shakespeareschen Meisterschaft gesteigert, wiewohl Calderon auch hierin viel vermochte, wenn es ihm darum zu thun war.

Auch an dramatischer Fruchtbarkeit sind die Spanier den attischen Dramatikern an die Seite zu setzen. So sind sie denn den Griechen am nächsten gekommen, während sie nichts von ihnen wußten, während sie, was Stoff und Schreibart betrifft, sich am meisten von ihnen entfernten und nur ihrer eigenen Entwicklung nachgingen. Aber weder uns, noch den Franzosen, noch den nordischen Völkern können sie zum Muster dienen, da wir auf das Charakteristische angewiesen sind und bloß durch das Charakteristische befriedigt werden können.

Es bleibt uns wenig mehr zu betrachten übrig. Mehrere Nationen haben noch kein eigentliches Theater bei sich ausgebildet. Die Dänen besitzen zwei bedeutende Schriftsteller dieser Gattung. Von Holberg spreche ich nicht, da ich ihn zu wenig kenne und nie im Original gelesen habe; Oehlenschläger ist ein eigentliches dramatisches Talent, fast immer glücklich in der Wahl des Stoffs, einfach, gedrängt, fruchtbar, der Muttersprache vollkommen Meister, der deutschen sogar in einem hohen Grade, so daß er die Armut unserer Bühne mit mehreren seiner Stücke zwar nur bereichern wollte, denn soviel ich weiß, sind sie bis jetzt wenig aufs Theater gekommen.

Hans Sachs und seine Zeitgenossen sind von keinem Belang mehr für unsere jetzige Bühne. Bei dem Wiederaufwachen der Poesie sind mehrere Dramen entstanden, die größtenteils die Bretter nie betreten haben. Klopstocks Hermannsschlacht, in Bezug auf das Theater betrachtet, erinnert an die Worte eines römischen Geschichtschreibers über den edlen, von den Poeten so oft mißbrauchten Arminius: Caniturque adhuc barbaras apud gentes.

Der große, nie genug zu schätzende Lessing war kein Schulmeister. Er kannte das Theater und schrieb für das Theater, und so haben sich auch einige seiner Stücke auf dem Theater erhalten, und andere wären der Erneuerung wert statt des charakterlosen Plunders, der uns gegenwärtig für Lustspiel gilt. Er versuchte, was Kritik und Geschmack in der Kunst vermöchten. Sie vermochten viel; aber ein eigentliches Drama im höhern Stil vermochten sie doch nicht. Er ist hierin den Franzosen ähnlich, daß seine Werke dem Geschmack mehr als dem Genie verdanken. Nathan ist sein bestes Drama, dadurch bewundernswürdig, daß eine solche Klarheit des Bewußtseins mit so viel darstellender Kraft verbunden sein konnte.

Goethe ist kein dramatischer Dichter seines ursprünglichen Berufs nach. Seine Schauspiele, wenn man sie als Dichtungen betrachtet, erscheinen großenteils meisterhaft; allein aus allen zusammen geht kein dramatischer Charakter hervor. Er selbst hat auf das gründlichste im Wilhelm Meister, im Prolog zum Faust, in den Wanderjahren und anderwärts einmal über das andere am Theater verzweifelt. Goethe hat sich, wenn ich so sagen darf, niemals ganz in den fremden Stoff hineingeworfen: vielmehr sehen wir ihn mit einem gewissen Bewußtsein, von einem lyrischen Mittelpunkte aus sich nach allen Seiten ausbreiten und auch der dramatischen Form sich bequemen, mehr, wie es scheint, aus Wahl, als aus einem notwendigen Impuls seiner innersten Natur. Deshalb sind auch seine weiblichen Charaktere, wie sich aus seinen eigenen vielfachen Verhältnissen zu den Frauen erwarten läßt, von der größten Mannigfaltigkeit und Meisterschaft; er übertrifft hierin alle seine Vorgänger weit, und ich zweifle, ob das weibliche Geschlecht sich jemals eines größeren Darstellers zu erfreuen haben wird. Aber was die männlichen Charaktere betrifft, so hat er hierin häufig sich selbst gehuldigt, und daraus geht abermals seine lyrische Natur hervor. Man hat mit Recht seine Objektivität gerühmt; aber die lyrische Poesie ist so wenig subjektiv, als es überhaupt die Kunst sein kann; im Gegenteil, der lyrische Dichter steigert das Objektive zu einem so hohen Grade, daß er sich selbst als Objekt zu betrachten imstande ist. Wenn die lyrische Poesie subjektiv wäre, so müßte jeder Mensch von Gefühl auch Dichter sein. Nicht das bloß hat Goethe gethan, sondern er sammelt die Welt um seine Persönlichkeit herum, und so hat er der Lyrik den höchsten Grad von Ausbildung gegeben, an das dramatische Gebiet gestreift, es betreten, aber niemals ausgefüllt. Und bedarf es hierüber noch eines entschiedeneren Beweises, als seinen eigenen Ausspruch: man solle seine Werke als Bruchstücke einer großen Konfession betrachten? Ich frage, ob jemals Schiller oder Shakespeare oder irgend ein dramatischer Dichter so was von sich sagen wird, er müßte denn, wie der ewige Jude, durch alle Zeiten persönlich geschritten sein.

Goethes Verdienst ist so groß, daß man wohl die Wahrheit über ihn aussprechen darf. Auch fühlt jeder Einsichtige, daß diese Darstellung Goethes nicht dazu abzweckt, sein Verdienst zu verkleinern, sondern es bloß in sein eigentliches Licht zu setzen. Aber man hat ganze Bände preciöser Faseleien über ihn geschrieben, ohne auf das einfache Resultat zu kommen, das jedem Unbefangenen in die Augen springen muß.

Götz von Berlichingen und Iphigenia sind unter seinen Dramen am meisten dramatisch. Zu dem ersten scheint ihn Shakespeare, zu dem letzten die Alten begeistert zu haben. Shakespearen hat er nicht erreicht, auch ist der Götz nicht einmal für die Bühne bestimmt, die Alten hat er insoweit übertroffen, als er vermöge seiner lyrischen Grundanlage der Iphigenia eine so seelenvolle Tiefe einzuhauchen wußte, wie sie dem Altertum überhaupt ganz fremd war. Egmont scheint sich diesen Werken am meisten anzuschließen. Aber der Schluß des Dramas und das Verhältnis Egmonts zu Klärchen verraten den Lyriker; denn das Lyrische liegt nicht in einzelnen eingestreuten Partieen, die im Gegenteil dem Drama zu wünschen sind, sondern in der Anlage selbst muß sich offenbaren, ob das Drama sich zum Lyrischen neigt oder nicht. Die Liebe zu Klärchen ist so meisterhaft dargestellt, als irgend etwas von Goethe Dargestelltes; aber es ist der Geschichte zuwider, und Egmont würde mehr Haltung gewonnen haben, wenn er als Gatte und Vater dastünde. Das eheliche Verhältnis ist unpoetisch und unbrauchbar für den lyrischen Dichter, für den dramatischen keineswegs. Der dramatische Dichter stellt alle Lebensverhältnisse dar und erfreut sich an der Darstellung aller.

Faust und Tasso scheinen mir am wenigsten für das Theater geeignet, wiewohl ich deswegen den letzteren keineswegs davon entfernen möchte. Aber es ist ein gewagter Versuch, einen Dichter zum Helden eines Dramas zu machen, da seine Größe allzusehr innerlich ist. Ein Maler taugt nicht viel besser dazu, wiewohl Oehlenschlägers Correggio ein so schöner Irrtum ist, daß man ihn um alles nicht unbegangen wünschte. Auch besitzt diese Sage einen dramatischen Gehalt, der aber doch sehr ans Lyrische und Symbolische grenzt. Diese beiden herrlichen Schauspiele haben aber eine Unzahl von Nachahmungen hervorgebracht, und jeder Meßkatalog bringt wieder ein paar arme Maler oder Dichter, die von dramatischen Stümpern gerädert werden.

Der Faust hatte ursprünglich, indem seine erste Entstehung in die Zeit des Götz von Berlichingen fällt, einen raschen dramatischen Gang, der aber immer mehr gehemmt wurde. Was das Theater betrifft, so ist die frühere Ausgabe als Tragödie, die spätere als Fragment zu bestimmen, wiewohl diese Bestimmungen vom Dichter verwechselt worden. Der Schluß des sogenannten Fragments, welches mit Gretchens Ohnmacht in der Kirche endigt, könnte zwar auf den ersten Anblick als unbefriedigend erscheinen; allein er ist wenigstens klar, und die Wirkung dieser Szene würde so furchtbar sein, daß das Publikum das Theater mit einem Gemisch von Schauer und Bewunderung verlassen würde. Der Schluß der sogenannten Tragödie ist nicht klar genug, um auf dem Theater zu befriedigen, und die Brockenszene fällt aus dem Ton und satirisiert die deutsche Litteratur, die freilich, als Masse betrachtet, dein Blocksberg ähnlich sehen mag.

Die natürliche Tochter und Pandora sind wegen ihrer Kunstvollendung bewundernswert, und besonders die erste ist ein Werk, dessen Lektüre mich immer von neuem erfreut; allein als Muster für ein deutsches Drama kann ich sie nicht betrachten. Gerade das Individuelle und Sinnvolle, das sie auszeichnet, diese moralische Allgemeinheit der Charaktere, die bis zur Durchsichtigkeit gesteigert ist, dieses sich leidend Verhalten der durch Verhältnisse eingezwängten Persönlichkeiten hat nur geringe Wirkung auf dem Theater. Man will entschiedene Charaktere, einen sichtbaren Fortschritt der Handlung und einen raschen schlagenden Dialog.

Noch einmal, die Goetheschen Dramen haben keine eigentliche Tendenz zum Theater; allein sie haben so viel Inhalt, daß wir sie immer auf dem Theater wünschen müssen. Es gibt Menschen, die sich in den Kopf gesetzt haben, Goethe zum einzigen deutschen Dichter zu machen, wodurch sie den Deutschen und ihm selbst ein schlechtes Kompliment gemacht haben. Denn was müßte das für eine Nation sein, die nur einen Dichter aufzuweisen hätte, und wie kümmerlich müßte dieser Dichter ausfallen! Einige haben die Sache so gedreht: Weil Goethe kein dramatischer Dichter sei, so habe die Nation kein dramatisches Talent. Dieser Beweis ist unvergleichlich. Eine Nation, die sich einer ebenso reichhaltigen epischen als lyrischen Litteratur zu rühmen hat, darf kein dramatisches Talent besitzen, darf kein Drama aus sich entwickeln. Es ist gut, daß die Kritiker und Philosophen nicht um Rat gefragt werden, was eine Nation darf und nicht darf. Es ist nichts so leicht, aber es rächt sich auch nichts so sehr, als etwas a priori zu vernichten. So hat man früherhin den Deutschen den Humor abgesprochen, und nun besitzen sie schon lange einen humoristischen Schriftsteller, der alle andern überbietet.

Diejenigen, die sich auf das Drama verstehen, wissen wohl, daß Schiller ein dramatischer Dichter im eigentlichen Sinne des Worts ist; und die es nicht wissen, kommen einem ebenso vor, wie z. B. Frau von Staël, wo sie mit der größten Unbefangenheit ihre Landsleute versichert, die Deutschen hätten ebensowenig ein eigentliches Nationalepos als die Franzosen.

Ich habe schon früher erwähnt, daß man an die Schillerschen Dramen die ungereimte Forderung machte, es solle sich in ihnen ein lyrischer Grundgedanke auffinden lassen, und da sich dieser nicht fand, so hat nicht viel gefehlt, daß man den äußerst geistvollen Mann für gedankenlos ausgegeben hätte. Gleichsam als hätte Schiller z. B. im Wallenstein etwas andres darstellen wollen, als eben den Wallenstein selbst, und als wäre die Geschichte nicht der hinlängliche und größte Stoff für den dramatischen Dichter.

Ein ähnlicher Kritikus, oder derselbe, sucht die Schillerschen Tragödien auch dadurch herabzuwürdigen, daß er in ihnen ein revolutionäres Princip, ein beständiges Auflehnen gegen alles Bestehende aufschnoppert. Dieser Spürhund würde wahrscheinlich den großen Mann, wenn er noch lebte, als Demagogen denunziert haben. Allerdings hat Schiller immer die bewegtesten Momente, wie sich von selbst versteht, aufgegriffen. Wehe der kleinen nüchternen Seele, die in den großen Epochen der Geschichte nichts als ein Auflehnen gegen das Bestehende zu erblicken weiß, und wehe allen denen, die, der neuen Zeit uneingedenk, auf den Trümmern der alten faulen!

Nach Schiller trat eine große Ebbe ein, oder vielmehr eine Flut von Armseligkeiten, aus der nur wenig Treffliches auftauchte. Mehrere gute Dramen, z. B. die Renata von Heyden, hat man, soviel ich weiß, niemals aufgeführt. Ebensowenig die zum Teil theatralischen Komödien von Tieck. Hie und da befand man sich mit der Mittelmäßigkeit au niveau und verabscheute das Ueberlegene.

Dramatischer Stoff ist hinlänglich in der Nation vorhanden, gesetzt auch, wir wollten uns ganz auf das Nationelle in Sage und Geschichte beschränken. Was die Sage betrifft, so ist von vielen behauptet worden, daß die modernen Mythen in Vergleich mit den antiken überaus viel Ungereimtes und Absurdes enthielten, ja die ganze moderne Poesie wäre gleichsam eine Mischung des Absurden und Erhabenen. Ich muß gestehen, daß ich mich nicht in diese Behauptung zu finden weiß. Gesetzt auch, die Alten hätten uns in der Behandlung weit übertroffen, so kann doch nicht geleugnet werden, daß ihre Mythen unbeschreiblich viel Gräßliches und poetisch Abgeschmacktes enthalten, ja daß sie uns hierin überlegen sind. Ich glaube, daß der deutsche Dramatiker noch manchen Schatz in den uns zum Teil von epischen Dichtern mitgeteilten als auch anderweitig aufbewahrten Mythen zu heben hat. Die bisherigen Ausgaben haben hier noch folgende Einschaltung: »Die Kunst bedarf einer gewissen Beschränkung, wenn sie sich wahrhaft konzentrieren soll, worauf zuletzt alles ankommt. Auch im Drama müßte poetische Form als wesentlich festgesetzt werden. Es kann dem Genie kein größerer Dienst erzeigt werden, als es zur höchsten Vollendung anzureizen. Die höchste Vollendung der Form ist Schönheit selbst und fällt mit der Seele der Kunst in eins zusammen.« (Anm. d. H.)

Trotzdem daß sich unser Theater noch in seinen Anfängen befindet, so könnte doch schon jetzt aller Plunder von den Brettern ausgeschlossen und das Publikum an das Poetische und Charakteristische mehr und mehr gewöhnt werden. Wenn man, wie man hie und da ohnedem thut, Uebersetzungen aus dem Englischen, Spanischen, Französischen, Dänischen zu Hilfe nähme, so ließe sich ein reichhaltiges Repertoire herstellen, ohne seine Zuflucht zu Kotzebues Trivialitäten zu nehmen oder vollends zu seinen Nachahmern, die noch viel schlechter sind als er, da er doch wenigstens das Mechanische in seiner Gewalt hatte und ein Drama so zuzuschneiden wußte, daß es Anfang, Mitte und Ende hatte, während man jetzt Dinge auf dem Theater sieht, die weder Hand noch Fuß haben. Von Kotzebues Stücken würde ich seine eigentlichen Possen in Schutz nehmen. Hier paßt das Kostüm zum Ganzen. In komischen Situationen war er sehr erfinderisch, und Charakter wird niemand von solchen Produktionen verlangen. Stücke wie den Wirrwarr und die Pagenstreiche wird man von Zeit zu Zeit immer mit Vergnügen sehen.

Einigen neueren Dichtern hat die Natur bei sonstigen Vorzügen das eigentlich schöpferische und charakteristische Talent gänzlich versagt. Sie haben sich daher, wie Kotzebue, auf die Situationen geworfen und, um den Mangel an Charakter zu verstecken, eine Menge der unnatürlichsten Greuel auf das Haupt ihrer Helden gehäuft, den Tierkreis und die mathematischen Polarbegriffe zu Motiven herbeigerufen und sogar bei Frauen den gemeinen sinnlichen Trieb als charakteristisch eingeführt, was doch höchstens bei einem faunischen Stallknecht in Anwendung gebracht werden könnte. Dadurch mußte natürlich ein Effekt entstehen, der ihnen um so mehr zu gönnen ist, da er wegen seiner zweideutigen Natur kaum auf die Nachwelt übergehen wird. Da man die vielen Nachahmungen, die Werners Vierundzwanzigster Februar nach sich gezogen hat, so häufig auf unsern Bühnen sieht, so steht zu verwundern, daß dieses Stück selbst so selten dargestellt wird, da es weit entfernt ist, die Fehler der erwähnten Nachahmungen an sich zu tragen. Denn Werner, so barbarisch und mystisch er sein mag, ist keineswegs charakterlos und verdiente, mehr für die Bühne benutzt zu werden. Ich spreche nicht insbesondere von ihm, da ich nur wenige seiner Stücke kenne. Dasselbe ist auch bei den neueren Dramen überhaupt der Fall. Denn es war nicht meine Absicht, eine dramatische Litterärgeschichte zu geben, wozu ich mich überhaupt nicht befähigt fühle, da ich in dieser Art wenig mehr lese, wiewohl ich in früheren Jahren viel verschlungen habe, wie man aus dem Vorhergegangenen ersehen kann. Denn da ich von frühster Jugend auf eine große Neigung zur dramatischen Poesie in mir verspürte, und auch meine ersten Kinderversuche alle dramatisch waren, bis ich später, durch Liebe und leidenschaftliche Freundschaft, vielleicht auch durch das Studium des Orients angeregt, mich auch im Lyrischen umzuthun Gelegenheit nahm (was ich keineswegs bereue), so fühlte ich frühe den Trieb, mich mit den dramatischen Dichtern bekannt zu machen, wovon ich nicht weiß, ob es gut für mich oder schlimm war. Einem ähnlichen Impuls verdanke ich diese kleine Schrift, von der ich ebensowenig zu sagen vermag, ob sie gut oder schlimm sei. Ich bin aber weit entfernt, ihr einen absoluten Wert beizulegen.

Die Gelegenheit, bei der sie entstanden ist, habe ich schon früher erwähnt. Ich mache sie bekannt, weil ich glaube, daß sie von einigem Nutzen sein kann. Unsre Jugend, die sich so gern mit Theorieen beschäftigt, wird sie vielleicht daran erinnern, daß man das, worüber man theoretisiert, erst erfahren haben muß und daß dann die Dinge von selbst in ihr gehöriges Licht treten. Denjenigen, die mit den Gegenständen, die sie berührt, vertraut sind, wird sie keine Langeweile machen.

Betrachte man sie übrigens als fragmentarische Mitteilungen eines jungen Mannes, dem zwar einzelne mit ziemlich kecker Stirn geradezu den Geist abzusprechen für gut fanden, dem aber nicht sonderlich davor bange ist, daß die Nation und die Besten der Nation diesem Urteile beizutreten jemals Gelegenheit finden werden. Ohne frevelhaften Hochmut, aber auch ohne kriechende Bescheidenheit tritt er da, wo ihn Talent und Schicksal hinstellten, auf, im Bewußtsein mancher vergangenen und ohne Zweifel mancher noch bestehenden Irrtümer, aber auch im Bewußtsein, das Edle zu wollen und das Schöne zu können.


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