Adolf Pichler
Der Flüchtling
Adolf Pichler

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Als er an den verabredeten Platz kam, erwarteten ihn bereits Nidinger und Wallburg. Sie reichte ihm die Hand und brach in lautes Schluchzen aus.

»Nun, was ist denn?« rief er befremdet.

»Gestern erhielt der Gemeindevorsteher,« erwiderte der Alte, »eine Amtsschrift, worin dem, der dich lebendig oder tot den Behörden einliefert, hundert Gulden versprochen werden.«

»Ist unser Herr für dreißig Silberlinge verkauft worden, so mögen sie mich immerhin auch für Geld ausschreiben. Übrigens wird im Achental kein Judas den Sündenlohn verdienen. Tröste dich, Burgl, ich bin ja ohnehin vogelfrei, was liegt daran?«

Das Mädchen wischte die Augen mit der Schürze und wurde, weil sich Klaus aus der Sache nichts machte, wieder ruhig. Sie übergab ihm einige Dinge, von denen sie meinte, er brauche dieselben in seinem dürftigen Haushalte, auch das Bildchen mit den armen Seelen erhielt er.

Nach kurzem Gespräche, denn der ängstliche Greis, den das Rauschen eines jeden Blättchens erschreckte, gestattete nicht mehr, kehrte Klaus in die Einsamkeit zurück. Beim Emporsteigen hörte er aus den Lüften ein unheimliches Rauschen, über das Sonnenwendjoch legte sich ein feiner Wolkenstreif, hier und da flog ein Schwarm abgefallenen Laubes wirbelnd in die Höhe. Es war der Scirocco. Über Nacht schwoll er so mächtig an, daß Klaus bei dem Geheul an die Felszacken ängstlich auffuhr und horchte. Er wußte, was es zu bedeuten hatte: der Südsturm bringt dem Gebirge meistens Schnee; wenn sein Gluthauch ausatmet, braust der Nord heran und verdichtet die Wasserdünste zu heftigem Gestöber.

Im Tal war mit dem Scirocco ein anderer Gast eingetroffen. Naz hatte, nach dem Friedensschluß mit Österreich, das Tirol seinem Schicksal überließ, Urlaub erlangt, er brachte für seine Heldentaten an der Glashütte und bei der Brücke die goldene Medaille mit. »Die Achentaler werden dreinschauen,« dachte er, »wenn sie diese auf meiner Brust sehen; auch Burgl mag beilegen, denn jetzt bin ich mehr als die Bauernlümmel landaus landein.« Diese Wirkung sollte durch die bayrische Montur, die er in einem Bündel bei sich trug, verstärkt werden. Deswegen beschloß er, sich abends niemand mehr zu zeigen, sondern die Gemeinde, vorzüglich aber Wallburg am Sonntag in der Kirche zu überraschen.

Der Sonntag brach richtig an. Klaus stieg trotz des Sturmes, der wütend über den Unutz hinfuhr, auf den Grat empor, von wo er die Kirche erblicken konnte. Er hörte den Klang der Glocken, er sah, wie die fromme Gemeinde zusammenströmte, während es ihm nicht vergönnt war, im Hause des Herrn mitzubeten, und kniete, als halbverloren ein Orgelklang zu ihm emporwehte, mit entblößtem Haupte hinter einem Steinblock nieder. Bald klang das Zeichen der Wandlung, wo der Priester dem versammelten Volke die Hostie zeigt; er klopfte an das Herz und bat unseren Herrgott, vorlieb zu nehmen, weil er es auf der Bergspitze nicht besser einrichten könne.

Erst nach dem Evangelium trat Naz in die volle Kirche und schob sich durch die Menge, die scheu vor ihm wich – aus Ehrfurcht, wie er meinte – zum Altar vor. Dort kniete Wallburg, er hustete, sie blickte jedoch gar nicht um. Nach dem Hochamte verließ sie mit ihrem Vater die Kirche durch eine Seitentüre, so daß er ihr nicht alsogleich folgen konnte. Die Bauern verliefen sich, ohne auf ihn zu achten, er eilte unwillig über die Felder zu Nidingers Hof. Der Alte schmauchte auf der Hausbank, wo er vor dem Sturm gesichert war, gemütlich ein Pfeiflein. Er ließ den Burschen ruhig zu sich herankommen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.

»Grüß' Gott, Nidinger!« rief dieser mit dem Finger die Haube leicht berührend, »grüß' Gott!«

Der Bauer nahm die Pfeife aus dem Munde: »Was suchst hier? Bin ich dir noch etwas schuldig?«

»Nein, du hast mich auf den Pfennig bezahlt!«

»Nun gut, dann brauchst nicht zu kommen.« Er steckte die Pfeife wieder in den Mund und rauchte weiter.

»Ich möcht' aber doch nachschauen, wie's Burgl geht!«

Diese sah zum offenen Fenster heraus. Als sie die Rede vernahm, rief sie hinunter: »Trag deinen bayrischen Gnadenpfennig nicht zu mir herauf, willst ein Tiroler sein? schäm dich!«

Sie schlug unwillig das Fenster zu, der Alte stand brummend auf und sagte, indem er ihm den Rücken kehrte: »Schau, daß du weiter kommst, hier hast du keinen Anwert.« Er ging in das Haus.

Naz stand einen Augenblick unschlüssig, dann eilte er heimwärts.

Unterdes hatte sich der Himmel mehr und mehr getrübt, schwere Wolkenballen häuften sich, über den Wäldern flatterten Nebel, zum Zeichen, daß der Kampf der Gegenwinde bereits beginne. Über das Stanerjoch zog ein Regen, plötzlich wehte es kalt durch das Tal und schwere Tropfen prasselten nieder. Auf den Gräten und Spitzen der Gebirge schneite es, nachmittags senkte sich der grauweiße Schleier immer tiefer, bald fielen unter dem Regen einzelne Flocken, beim Anbruch der Dämmerung schneite es tüchtig.

Versetzen wir uns an den Achensee. Das Schneegestöber hatte aufgehört, über den Wellen jedoch, die unheimlich an das Ufer rauschten und halbgelösten Schnee ausspieen, lastete dumpf und schwer das Dunkel. Es mochte Mitternacht sein, da versammelten sich an der Schiffshütte beim abgebrannten Zoll zwölf Bauern, tief in ihre Mäntel gehüllt. Nach kurzer, leiser Verabredung schlichen zwei auf der Straße gegen Achenkirch, zwei auf der gegen Jenbach vor, und stellten sich nach einigen hundert Schritten als Wachen hinter Steinblöcke. Die übrigen öffneten leise die Schiffshütte, lösten drei Kähne von der Kette und schoben sie in das Wasser.

Als die vier das Geräusch hörten, kehrten sie eiligst zurück, alle stiegen ein und verschwanden bald im Dunkel gegen den Seekar, dessen Wände hier steil in den See stürzen. Nur an einer Stelle, fast in der Mitte des Sees, lagern zwei mächtige Schuttkegel; sie bestehen aus den Steintrümmern, welche die Lawinen niederrissen. Sehen Sie das Hüttchen dort mitten im Mahd, das wie ein Smaragd herüberleuchtet? Sie kennen es ja und haben im Grase nebenan unter dem Ahorn manches Stündlein verduselt.

Dort auf der Geisalm zogen sie die Kähne auf den Kies des Ufers und gingen, nachdem sie die Ketten um Pflöcke gewunden, zur Hütte. Einer klopfte dreimal; von innen erscholl eine Stimme:

»Was soll sein auf Erden?«

Jener, der geklopft hatte, entgegnete: »Gerechtigkeit muß werden!«

Behutsam wurde geöffnet, – der Aschbacher Anton bot jedem schweigend die Hand und führte sie an das Feuer, das auf dem Herd loderte. In der Mitte des Blockhauses stand ein Tisch aus ungehobelten Brettern kunstlos gezimmert mit dem blanken Säbel darauf, – dessen Griff das österreichische Portepee schmückte. In einem Winkel lehnten mehrere Stutzen, den Hahn aufgezogen; über dem Schragen, wo ein Strohsack lag, hing die Uniform des Majors: ein Hut mit grünweißem Federbusch, ein hechtgrauer Frack und grüne Hosen. Aschbacher trug das Lodengewand eines Bauern. So wie Klaus am Unutz, hatte er sich hier versteckt und wartete die günstige Jahreszeit ab, um der Acht zu entrinnen. Betrachten wir die Männer, die sich am Feuer die Hände wärmen, es sind ehrwürdige Greise. Einer zog zwei kleine Wachskerzen hervor und schmolz sie angezündet auf den Tisch fest, rechts und links von dem Kreuze, das ein anderer von der Wand genommen und hingestellt hatte. Dann trat der Älteste vor Anton, neigte sich und sprach:

»Wir wollen ein Gericht,
Nu weiger' es uns nicht!«

Er antwortete feierlich:

»Daß es werde Gott zu Ehren,
Rufet jetzt zu Gott dem Herrn!«

Sie machten das Kreuz und beteten leise, dann sprach Anton:

»Wer ist's, der hier als Kläger spricht
Vor Gottes allwissendem Angesicht?«

Der Älteste erwiderte:

»Ich tue es hier in Gottes Namen,
Ich fordere Recht, sprecht alle Amen!«

»Amen!« tönte es aus dem Kreise. Anton trat als Obmann zu Häupten des Kruzifixes. Nun begann der Älteste: »Ihr alle habt heute den Naz gesehen, frei und offen geht er daher und trägt den Preis seines Frevels an der Brust. Er hat das Land an Napoleon verraten und wenn es leicht sein kann, verrät er es noch einmal. Das ist die Anklage, so wahr mir Gott helfe!«

»Zeugen sind wir alle!« rief der zweite Bauer.

»Spricht niemand für ihn?« fragte Anton.

Allgemeines Schweigen.

»Dann werfe ich ihn in den großen Bann!« rief Anton und legte den Finger auf den gezogenen Degen. »Niemand gewähre ihm Obdach, niemand atze ihn, niemand tränke ihn, niemand rede ihn an, es sei denn der Priester, der ihn zur letzten Beichte mahnt. Spricht niemand für ihn?«

Allgemeines Schweigen.

Noch einmal wiederholte er die Formel, und der Kreis löste sich auf.

Nicht wahr, das ist eine sonderbare Szene, fast wie bei der Feme in einem Ritterbuche? So haben jedoch unsere Alten über Leute gerichtet, die sie in ihrem Gewissen einer Untat schuldig hielten, welche sonst auf Erden nicht gestraft worden wäre. Das Haberfeldtreiben gehört auch hierher, das ist aber jetzt zu einem Gassenunfug frecher Burschen herabgesunken und war bei uns in Tirol nie recht üblich, wenn es auch, wie Sie vielleicht vernommen, jüngst einem Pfarrer widerfuhr, den man wegen seines Geizes allgemein nicht Seel-, sondern Geldsorger nennt. Ja, so war es; jetzt hat es ein Ende, wenigstens hört man nichts mehr davon.

Die Männer redeten nach dem kurzen Prozesse noch von Geschäften und Neuigkeiten, dann fuhren sie wieder über den See zurück. Am nächsten Morgen lagen vor Nazens Tür zwölf angesägte Späne, er sah dieselben und – erblaßte. Schon wollte er in das Haus zurückkehren, rasch besann er sich jedoch, drückte die Kappe auf das linke Ohr und murmelte: »Wär' nicht übel, wenn sich ein Soldat vor diesen Bauern fürchten wollte!«

Auf der Straße kam ein Mädchen daher, er rief sie an: »Wohin, Zenzele?«

Sie eilte vorüber wie taub.

Er lachte und ging vorwärts. Einige Burschen begegneten ihm. »Hast du Feuer in der Pfeife, Jagg?« sagte er zum ersten.

Sie ließen ihn stehen wie einen Zaunpfahl, er knirschte unwillig: »Bin ich mit den Kerlen nicht in die Schule gegangen und auf der gleichen Bank gesessen?«

Er war an dem Kirchhof vorüber an das rote Marmorportal der Post gelangt, »Soll ich hineingehen?« überlegte er. »Ei was, ein Schnäpschen tut auch vormittags gut.« Er trat in die Wirtsstube. »Kellnerin, ein Stamperl!« Sie bediente die Gäste, für ihn hob sich keine Hand. »Kellnerin!« Keine Antwort.

»Ist das eine Bedienung? Schnaps will ich!«

Die Kellnerin pfiff dem »Amorl«, so hieß ein gewaltiger schwarzer Hund mit stacheligem Halsband. Er kroch gähnend unter dem Tisch hervor, reckte sich und fletschte auf Naz die Zähne.

»Sind doch Vieh und Menschen gleich zuwider!« fluchte dieser und verließ die Stube. Er wollte zum Krämer, Zunder und Feuerstein kaufen. Männer, Weiber gingen an ihm vorüber, niemand schaute ihn an. Es wurde ihm fast unheimlich zumute. Er trat in den Laden: »Zunder und Feuerstein!«

Die Leute taten, als sähen und hörten sie nichts.

»Bin ich denn unsichtbar?« schrie er und schlug auf den Tisch, daß Schachteln und Büchsen tanzten.

Niemand antwortete.

Da stürzte er hinaus, fast wahnsinnig lief er heim. Er stolperte über einen Stein und fiel, daß das Blut über sein Gesicht rann. Langsam wischte er sich ab und starrte auf seine geröteten Finger: »Nein, ich lebe noch, Geister haben ja kein Blut,«

Zu Hause war bereits der Tisch gedeckt. Sein Vater zog eben die schnarrende Schwarzwälderuhr im Winkel auf, er erzählte ihm, was ihm widerfahren. Der Alte sah ihn schweigend an, über seine braunen, gefurchten Wangen floß eine Träne.

Die Suppe wurde aufgetragen, wie bei einem Totenmahle war alles stumm.

Naz legte den Löffel beiseite und stieg auf den Söller. Hier brütete er lange, den Kopf auf den Arm gestützt, vor sich hin, endlich stand er auf, ging in die Kammer, nahm einen Stutzen von der Wand und besah sorgfältig Lauf und Schloß. Es war ein wenig angerostet, er goß einen Tropfen Öl hinein und prüfte die Schärfe des Steines mit dem Nagel. Nachdem er alles in Ordnung gebracht, schaute er mit vorgehaltener Hand zum Himmel. Alles war hell, an den sonnigen Lehnen floß bereits der geschmolzene Schnee nieder.

Diesen Tag blieb er zu Hause, am nächsten Morgen schritt er, den Stutzen auf der Schulter, langsam durch das Oberautal dem Juifen zu. Er kehrte erst nach Anbruch der Dunkelheit heim. So verbrachte er Tag für Tag, sein Gemüt verbitterte sich immer mehr, und allmählich faßte er einen grimmigen Haß gegen seine Landsleute, die ihm fast das Leben verleideten.

Dem Klaus ist es indes gar nicht schlecht gegangen. Zu essen hatte er, aber noch mehr Langeweile, die konnte er nicht hinaussperren, die saß ihm auf dem Genick, wenn er bei schlechtem Wetter in der Hütte träumte. Ans Mädel denken, das tat er oft genug, ohne daß es ihm jemand zu gebieten brauchte, der Tag aber hat vierundzwanzig Stunden. Er verlegte sich auf das Schnitzeln, bald waren alle Pfähle und Bretter der Hütte mit Szenen aus seinem Leben verziert. Dann schnitt er in einige Bergstöcke, die er zufällig beim Streifen durch die Wälder entdeckt und mitgenommen, allerlei Gestalten und Geschichten, einen davon besitzt gegenwärtig noch der Pfretschner in Jenbach, er gefällt Ihnen gewiß, wenn Sie ihn anschauen. So füllte er die müßigen Stunden aus.

Einmal – es war um Maria Empfängnis – harrte er wieder im Gebüsch auf die Ankunft Nidingers und Wallburgs, die sich etwas verspätet hatten. Da nahte durch die Dunkelheit ein Mann mit einem Mädchen zur Seite, – »Grüß Gott!« rief Klaus und trat aus dem Gebüsch. Erst als er vor ihnen stand, sah er, daß er sich geirrt und lief schleunig davon. Sie hatten ihn nicht genau erkannt und würden ihn auch in diesem Falle nicht verraten haben, allmählich jedoch verbreitete sich unter den Achentalern das Gerücht, Klaus sei irgendwo im Gebirge versteckt. Naz hörte zufällig durch seinen Vater auch davon, ohne jedoch vorläufig weiter darauf zu achten. Da lehnte er einmal am Zaun, zwei Bauern gingen vorüber, sie bemerkten ihn nicht, er vernahm jedoch jedes Wort.

»Der Klaus ist also da,« sagte der eine; »wüßt' ich, wo er steckt, ich brächt' ihm Schmalz, Eier und Mehl, soviel er zwingen könnt', denn er hat's verdient durch seine Bravheit.«

»Recht hast,« erwiderte der andere, »nur möcht' ich auch noch den Naz, der dem ganzen Dorfe Schande macht, hängen.«

Mehr konnte er nicht hören, es war genug. Überdies wußte er bereits, daß ihn Klaus bei Wallburg ausgestochen; ein Gedanke der Rache zuckte blitzähnlich durch seinen Kopf. »Er ist da,« sprach er, die Faust ballend, vor sich hin, »aber ich bin auch da, das Blutgeld, das auf seinem Kopfe steht, mag ich nicht verdienen, eine Kirche soll es für Messen erhalten, aber sein Leben . . . Es ist kein Mord, der König hat ihn als Rebellen erklärt, ich kenne meine Pflicht als treuer Soldat. Hab' doch auf andere geschossen, die mir nichts zuleid getan.« Er sann dem schwarzen Entwurfe nach und bald hatte er sich eingeredet, er müsse Klaus fangen oder töten.

Schon am nächsten Morgen streifte Naz in den Wäldern gegen Steinberg, ohne eine Spur zu entdecken. Tags darauf stieg er gegen den Unutz empor, der von der Morgensonne hell beleuchtet war. Da schien es ihm, als ob sich hoch oben etwas über die grelle Schneefläche bewege. Das war kein Hirt, die hatten längst abgetrieben, kein verlorenes Stück der Herde, das wäre ja verhungert, – vielleicht eine Gemse, – vielleicht Klaus. In jedem Falle schien es der Mühe wert, darauf zu birschen. Eine halbe Stunde klomm er durch das Gebüsch empor, wobei er den Gegenstand seiner Verfolgung aus den Augen verlor. Als er vorsichtig an den Kanten hinkriechend eine Ecke erreichte, die eine Übersicht gestattete, sah er Klaus, der bereits umgekehrt war, etliche hundert Schritte tiefer auf einem Steinblocke sitzen. Er prüfte die Entfernung, sie war noch zu groß, rasch sprang er an der abgewendeten Lehne bergab und schlich wieder vor, als er in gleicher Höhe mit seinem Gegner zu sein meinte. Dieser saß noch immer unbeweglich, Naz war so nahe, daß er das Weiße in dessen Aug' unterscheiden konnte. Lebendig oder tot galt gleich, warum sollte er sich in einen gefährlichen Kampf einlassen? Er riß den Stutzen von der Schulter, beugte sich vor und glitt aus. Die Kugel ging fehl und prallte flach an einem Steine in der Nähe von Klaus ab. Dieser war mit einem Satz in der Höhe, – Naz konnte sich nicht verbergen. Bereits einmal waren sie sich auf Tod und Leben gegenüber, auch jetzt galt es Tod und Leben! Ohne sich zu besinnen, schlug Klaus an – Naz sank mit einem lauten Schrei in den Schnee. Klaus lief hinzu, jener atmete nicht mehr, die Kugel hatte das Herz getroffen und die Rückenwirbel zerschmettert. Ein Strom lauen Blutes rieselte über den Schnee hinab. »So schnell tot, daß er mir gar nicht einmal seine Beicht' auftragen kann!« sagte er und betrachtete ihn, auf den Stutzen gestützt, eine Weile. Dann nahm er den Hut ab, kniete neben der Leiche nieder und betete für die abgeschiedene Seele ein andächtiges Vaterunser. Er blieb dabei so kalt und ruhig, daß er gar nicht einmal über Schuld und Unschuld nachdachte; ein Beweis dafür, wie wenig er sich im Unrecht wußte. Dann überblickte er die Gegend, ob wohl alles sicher sei, und schleppte Naz bei einem Fuß über den Schnee abwärts in den Wald. Dort legte er ihn, so daß er sich nicht mit Blut besudeln konnte, quer über die Schulter und verbarg ihn unter zusammengescharrtem Laub am Schafbachl. Bei Nacht kehrte er mit einem Pickel zurück, grub ein Grab und beerdigte ihn. Um die Stelle unkenntlich zu machen, legte er sorgfältig Moos darauf und trat es fest.

Samstag war nicht mehr fern. Wenn ihn auch nicht die leiseste Gewissensangst drückte, so fühlte er sich doch im Innern beunruhigt; es gibt eben Verhältnisse, wo der Mensch des Menschen bedarf, um sich ihm gegenüber voll und warm auszusprechen. Dafür eignen sich jene, die uns durch die heiligsten und edelsten Bande verknüpft sind, nicht immer; wir suchen einen Mann, der, weil er uns ferner steht, die Sache ruhiger und von allen Gesichtspunkten anschaut, einen Mann, der uns zugleich mit höherer Würde entgegentritt. In solchen Fällen entspricht die Beichte einem echt menschlichen Bedürfnisse und auf dieser unleugbaren Grundlage ist jenes Sakrament gegründet.

Deswegen vertraute er auch weder Burgl, noch dem Alten, was sich ereignet, wohl aber bat er letzteren, er möge den Kuraten von Steinberg besuchen, ihm seinen Aufenthalt und was sonst nötig unter dem Beichtsiegel mitteilen und bitten, ihm heimlich die heiligen Sakramente zu spenden, damit er nicht wie ein Heide über Weihnachten in das neue Jahr wandere.

Der Alte ging Sonntags nach der Vesper zum Kuraten. Dieser war über das, was er hörte, höchlich erstaunt; das Wasser schoß ihm vor Freude in die Augen, daß er einem so wackeren Tiroler, der mannhaft für das Vaterland gestritten, einen wichtigen Dienst erweisen könne. »Sag Klaus,« sprach er zum Alten, »er möge morgen das Gewissen erforschen und von zwölf Uhr mittags nichts mehr essen; ich werde ihn, sobald es dunkelt, am Schafbachl aufsuchen.«

Der Priester hielt Wort. Er nahm sein Brevier, legte eine Hostie hinein und ging, nachdem er eine Schale Kaffee geschlürft, langsam fort. Klaus hatte den Tag in religiösen Übungen zugebracht; als er des Geistlichen ansichtig geworden, nahm er den Hut ab, begrüßte ihn ehrerbietig und küßte ihm die Hand. »Ich dank Euch,« sagte er, »daß Ihr Euch eines armen Menschen erbarmt, mög' es Euch Gott in der Sterbestunde vergelten!« Dann führte er ihn tief ins Gebüsch, der Priester setzte sich auf einen Stein, Klaus kniete in das Moos zu seinen Füßen und beichtete ihm mit wahrhaft kindlichem Vertrauen. Als er fertig war, begann der Priester die herkömmlichen Gebete, tröstete ihn über sein ungewisses Los und sprach ihm zu, er möge alle Leiden, die er bereits geduldet und noch dulden müsse, Gott als Buße aufopfern. Segnend hob er die Hand: »Ego absolvo te a peccatis tuis!« Dann forderte er Klaus auf, sich kurz auf das heilige Abendmahl vorzubereiten, und weihte, während dieser, die Augen mit den Händen bedeckend, inbrünstig betete, die Hostie. Als dieses geschehen war, legte er sie Klaus auf die Lippen. Dieser konnte, nachdem er sich erhoben, lange vor Rührung nicht sprechen. Der Geistliche fragte ihn sanft: »Wo liegt der Tote?« Klaus führte ihn schweigend an das Grab, es war nicht weit von der Stelle, wo er die Sakramente empfangen. Jener befahl ihm, mit dem Hut Wasser zu schöpfen, er segnete es und besprengte den Boden. Schließlich verrichtete er mit Klaus noch die vom Rituale der katholischen Kirche vorgeschriebenen Gebete, damit der Tote Ruhe finde und auferstehen möge zum ewigen Leben.

Sie verließen nun die Stätte. Der Priester trug Klaus auf, sobald es ihm die Umstände gestatteten, hier ein Kreuz zu errichten. Er hat es redlich getan. Beim Abschied riet er ihm noch, weil er keine Kirche besuchen könne, eine gute Meinung zu erwecken und alles dem Herrn anheimzustellen, so oft er das Geläut der Glocken aus dem Tal höre.

In der Christnacht wird um zwölf Uhr zur Erinnerung an die Stunde, wo die Engel ihre Botschaft über die öde Erde hinaussangen, die feierliche Mette gehalten. Jeder Bauernhof entsendet einen Teil seiner Bewohner, um dem neugeborenen Herrn des Weltalls die Huldigung darzubringen. Da steigen sie dann herab von den einsamen Höhen; durch die kalte Nacht flimmern oben die ewigen Sterne, unten tanzen die Lichter, wie sie eben die Hand der frommen Träger schwingt, auf allen Pfaden daher – ein ebenso seltsamer wie lieblicher Anblick. Auch Nidinger schickte Knecht und Magd zur heiligen Feier; nachdem die Luft rein war, erschien Klaus, um mit seinem Diendl den Weihnachtszelten anzuschneiden.

Wie wohl tat es ihm, daß er wieder beim warmen Ofen in einer Stube sitzen konnte! Not und Harm waren vergessen, fröhlich aß er vom Birnbrot und trank den aromatischen Kirscheler dazu; wie an den glatten Fensterscheiben schimmernd und zierlich eine Eisblume aus der anderen entsprang, zeichnete er die Pläne einer heiteren Zukunft. Auch das Mädchen lächelte, und doch wußte keines von beiden, wann sie wieder so traulich zusammensitzen und ob sie je noch einen Zelten genießen würden. Ist doch die schnell welkende Blume des Glückes am schönsten, wenn man sie am Rande des Abgrundes pflückt. Selbst der Alte, der sich sonst nur zu sehr grämlichen Bedenklichkeiten hingab, überließ sich den behaglichen Eindrücken dieser Stunde, Stunde, ja! Man konnte von der Stube die Kirche sehen; da wurden bereits wieder auf dem Kirchhofe die Kienfackeln angezündet und begannen sich nach allen Richtungen zerstreuend, zu wandern.

»Es ist Zeit!« unterbrach der Alte die Fröhlichen, »es ist Zeit, du mußt in deine Einsiedelei!« Klaus schaute vorsichtig durch das Fenster; während des Gottesdienstes hatte es geschneit. »Das ist schlimm!« rief er. Allein die Liebe weiß stets einen Ausweg. Wer kennt nicht die anmutige Geschichte von Eginhard und Emma? – Sie meinen vielleicht, Burgl habe Klaus auf der Schulter fortgetragen? Das wäre ein schweres Stück Arbeit gewesen, den ungeheueren Burschen huckepack zu schleppen. Der Alte wußte etwas Besseres. In seiner Jugend war er wie andere gern fensterln gegangen, was sein Vater, der strenge Zucht hielt, durchaus nicht leiden wollte. Da band er sich, um den Argwohn zu täuschen, die Schuhe verkehrt unter die Füße, so daß es, wenn er von Hause fortging, schien, er sei heimgekehrt. Freilich war es schwer, auf diese Art längere Strecken Weges zurückzulegen; Klaus brauchte jedoch nur die nahe Straße aufzusuchen, dort vermischten sich seine Tritte mit denen der Kirchgänger, und es war unmöglich, sie zu unterscheiden. Während er sich in dieser Weise rüstete, steckte ihm Burgl ein tüchtiges Stück Zelten in den Sack und mit einem saftigen Schmatz und herzlichen »Geltsgott!« trollte er davon.

Der Winter hatte sich bis jetzt sehr mild gezeigt, nur selten schneite es, und der Frost dauerte nicht an; nun enthüllte er aber allmählich sein strenges Gesicht. Nicht ohne Mühe und Gefahr erstieg Klaus den Abhang; obwohl es nicht wehte, lag doch, als er seine Hütte erreichte, der Schnee bereits einen halben Fuß hoch. Von der Anstrengung ermattet, warf er sich auf sein Lager und schlief ein. Als er aufwachte, war noch alles dunkel, er legte sich auf das andere Ohr und schnarchte ruhig weiter. Er erwachte wieder; es war alles dunkel. »Will es denn heute gar nicht mehr Tag werden?« rief er sich aufrichtend, »oder hab' ich den Tag bereits verschlafen und es ist neuerdings Nacht angebrochen?« Er zündete einen Span an und hielt die Uhr an das Licht. »Eins!« Das konnte aber auch eins nach Mitternacht sein. Zweifelnd hielt er die Uhr an das Ohr, sie war nicht stehen geblieben und tickte fleißig fort. Zugleich fühlte er Hunger und Durst wie noch nie, wenn er in der Frühe das Lager verließ. »Will doch sehen, wie weit die Sterne sind!« Er öffnete die Tür, die nach innen aufging, eine Schneemauer starrte ihm entgegen. »Ah so,« meinte er, »das ist was anderes,« er griff zur Schaufel, die er für alle Fälle bereit hielt. Schräg durch den Schnee empor grub er einen Stollen, schlug den Boden und die Wände fest, um vor einem Zusammensturz sicher zu sein; bald hatte er sich an das Licht emporgearbeitet. Das war ein Tag! Der Schnee fiel in so schweren Flocken, daß man kaum zwei Schritte weit sehen konnte.

Klaus blieb einen Augenblick stehen und kehrte kopfschüttelnd um. Den Anbruch des Abends erkannte man bloß daran, daß es noch dunkler wurde, als es schon war. Er machte Licht und las des heiligen Tages wegen in einer vergilbten Postille, die er von Nidinger ausgeborgt. Nach Mitternacht hörte es auf zu schneien, dafür quoll ein dichter Nebel über das Gebirge und seine Schluchten. Nachdem Klaus seine Morgenandacht verrichtet, griff er zur Schaufel, säuberte den Gang vom Schnee, der ihn wieder halb ausfüllte, und holte dann zwei Bretter. Er legte das erste am Mundloch seines Stollens wie eine Brücke über den Schnee in der Richtung des nahen Vorsprunges, von dem er einen Ausblick auf das Tal hatte. Nachdem er jenes Brett abgeschritten, legte er das zweite auf den Schnee und hob das erste auf, so wechselnd gelangte er, ohne einzusinken, an sein Ziel. Von den Grasbüscheln, an denen er sich sonst emporgearbeitet, klopfte er die Schneepolster, bald stand er auf der Kante, wo er sich aber erst ein Plätzchen ausschaufeln mußte. Ein frischer Wind wehte ihm von Osten entgegen, über dem Kaiserberg wurde bereits ein blauer Streif sichtbar, der Nebel zerflatterte wie Wollflocken, die ein Knabe spielend zerbläst. Bald war alles klar und rein.

Die Gegend bot ein wundervolles, prächtiges Schauspiel, alle Schärfen und Kanten waren unter dem weichen Flaum, der sich gleichmäßig darüber breitete, verschwunden, nur eine Farbe schien zu herrschen: ein glänzendes Weiß, noch glänzender durch den Gegensatz zum blauen Schatten der Schluchten. Wie Armleuchter von Silber ragten die Tannen empor, dazwischen gleich riesigen Meereskorallen Buchen und Birken. Alles hatte sich verwandelt: eine tote Pracht, geeignet, Bewunderung zu erwecken, aber keine Freude. Klaus schaute, geblendet von Licht und Glanz, eine Zeitlang herum, dann rutschte er vom Felsen zurück, um Wasser zu holen. Die Quelle war aber eingeschneit, nur aus der Klamm, die ebenfalls von Schnee verstopft war, hörte er ein leises Glucksen herauf, das Wasser hatte seine Decke unten geschmolzen und tropfte von Stein zu Stein. Jammernd umflatterte ihn ein Schwarm Jochdohlen, schöne Vögel mit schwarzem Gefieder, gelbem Schnabel und roten Füßen. Er verstand ihre Not und warf ihnen Speisereste und Brotkrumen auf den Schnee, welche sie lebhaft zankend aufpickten. Er kehrte in die Hütte zurück und begann zu kochen. Sankt Stephan zu Ehren wollte er ein Übermäßiges tun; er sott daher ein Stück geräucherten Gemsschlegel zu einer Pfanne voll Nocken. Nebenan duftete in einem Gläschen, auf das Rosen und Vergißmeinnicht gemalt waren, echter Kranebitter. Gemütlich und voll Behagen schmauste er. Tscha! tscha! flogen auf einmal draußen wild und verwirrt die Jochdohlen auf; es begann zu krachen, als wollte der Berg einstürzen, und wie mit einem Schlage war er in schwarzes Dunkel gehüllt. Mit großer Mühe öffnete er die Türe, deren Bande straff angespannt waren, er mußte neuerdings schaufeln, bis er endlich wieder an das Licht gelangte. Eine Lawine war losgebrochen und durch die Schlucht hinabgerollt; konnte sie auch sein Hüttchen nicht erreichen, so warf doch die Erschütterung den Stollen ein. Er kletterte auf den Felsen, die Lawine hatte am Abhange des Berges eine breite Furche gerissen und in ihrem Laufe den Wald niedergeschmettert. Zwischen den ungeheueren, schmutzigen Schneeblöcken ragten gebrochene Bäume in allen Richtungen empor. Der streckte die Wurzeln mit den schwarzen Erdklumpen in die Höhe, jener war in der Mitte geborsten, der lag der Länge, der ganz zerschunden der Quere nach. Die Bäume am Rande, welche die Lawine nur berührt hatte, standen schief, wie Trunkene. Vor der Hütte traf Klaus seine Gäste, die Jochdohlen. Sie wurden nach und nach ganz zahm; täglich versammelten sie sich, nahmen ihre Brosamen in Empfang, einige pickten sie ihm sogar aus der Hand.

Grimmiger Frost wechselte mit Tauwetter. Klaus konnte nicht daran denken, in das Tal hinabzusteigen, dafür erhielt er jedoch einen sehr unerwarteten Besuch. Er hatte sich abends niedergelegt und war bereits fest eingeschlafen, da wurde er durch ein Kratzen und Schaben an der Türe aufgeweckt; erst glaubte er, es sei der Sturm, nun schien es ihm gar, als wolle jemand einbrechen. Rasch griff er zum Stutzen; was sollten Diebe bei ihm suchen? Das Gebirge war für sie ebenso unwegsam wie für einen Verräter, der etwa seinen Kopf holen möchte. Die Balken krachten, durch eine Luke schob sich ein struppiges Gesicht, aus dem zwei Augen in das Dunkel funkelten. »Jesus Maria!« rief Klaus erschrocken, »das ist ja gar der Teufel, was will der bei mir? ich hab' ja ordentlich gebeichtet und kommuniziert!« Fast unwillkürlich drückte er den Stutzen los; der böse Geist taumelte brüllend noch einmal an die Tür, dann war alles still. Klaus betete in Höllenangst einen Rosenkranz um den anderen, bis es endlich kümmerlich zu tagen begann. Er schlich zur Türe, die halb zerbrochen in den Angeln schlotterte, und guckte hinaus. Da lag ein ungeheurer Bär verendet im Schnee. Nun riß Klaus die Türe auf und sprang hinaus, als könnte ihm das tote Ungeheuer noch entrinnen. Seit langem zum erstenmal jauchzte er, daß die Felsen widerhallten. Er balgte den Bären auf dem Platz aus bis auf den Kopf, den er abschnitt und im Schnee vergrub. Jetzt flogen auch die Krähen daher, eine lockte die andere zum Schmause; er warf ihnen die nutzlosen Gedärme hin: »So, guten Appetit! laßt es euch schmecken!« Das Fleisch zerstückte er und trug es in die Hütte, Es war ihm hochwillkommen, denn er besaß nur noch wenig eingesalzenes; auch mit Mehl und Brot kargte er, um nicht ausgehungert zu werden. Das ist der letzte Bär, der im Achental geschossen wurde; seitdem hat sich keiner mehr sehen lassen.

Der Schnee wurde allmählich körnig und starr, die Oberfläche desselben sinterte in eine Kruste zusammen, die wie ein schimmernder Panzer Scheitel und Flanken der Berge umhüllte und weithin leuchtete. Ist der Boden auf diese Art fest geworden, so mag man ohne Gefahr und Beschwerde über die tiefsten Tobel und Windwehen hinweggehen, insbesondere wenn man sich noch durch Schneereife, die radförmig unter dem Fuße ausgespannt sind, vor dem Einsinken sichert.

In einer mondhellen Nacht wagte sich Klaus, nachdem er den Bärenkopf im leeren Schnappsack verborgen, auf den Weg zum Nidinger. Bald saß er mit dem Alten und seiner Braut am warmen Kamin und erfreute sich des langentbehrten Gespräches Aug' in Auge. Er legte den Bärenkopf auf den Tisch.

»Siehst du,« sagte Nidinger, »da hab' ich dich auch unrecht im Verdacht gehabt. Bald wurden zu Steinberg, bald auf den Einzelhöfen von Achenkirch Schafe und Kälber gestohlen; ich dachte, du hättest es aus Not getan, und fürchtete, abgesehen davon, daß es kein schönes Handwerk ist, du könntest einmal einem Aufpasser in die Hände fallen. Nun, da ist ja der Dieb!«

»Es war auch,« entgegnete Klaus, »meine Absicht, mir auf jene ungesetzliche Art Lebensmittel zu verschaffen; bis jetzt bedurfte ich es aber nicht, und hätt' ich es getan, oder sollte es dazu kommen, so ist mein fester Vorsatz, dich immer alsogleich zum betreffenden Bauern zu schicken und mit ihm nach mäßiger Schätzung abzurechnen. Die Achentaler lassen mit sich reden, jeder würde sich ein Gewissen daraus machen, mich zu verraten.«

»Der dich allenfalls verraten würde, ich meine den Naz, ist ohnedem spurlos verschwunden, übrigens fragt ihm außer seinem Vater niemand nach.«

Klaus schwieg gedankenvoll.

Nidinger fuhr fort: »Das mit dem Bären ist ein wahrer Glücksfall. Weißt du was, ich trag' ihn morgen zum Landgericht und lass' mir das Kopfgeld auszahlen, das auf die Erlegung solcher Räuber gesetzt ist. Werd' einfach sagen, mein Sohn hat ihn erschossen, und das ist ja eigentlich wahr. Den Stammbaum brauch' ich den Blauröcken nicht auf die Nase zu binden.«

Klaus lachte laut auf: »Das ist ein köstlicher Spaß, wenn die Feinde, die für mich einen Preis gestellt, nun mir einen solchen auszahlen müssen. Schad' ist's nur, daß ich mit meinem Wildbret nicht im Triumph zu Achenkirch einziehen kann. Dieses hätt' beim Riederer einen Tanz gegeben, daß man noch nach fünfzig Jahren davon reden tät'.«

»Mein lieber Klaus,« sagte Wallburg lächelnd, »mit den Tanzgedanken hat es noch gute Zeit.«

»Auf unserer Hochzeit muß getanzt werden,« rief Klaus, »daß die Röcke fliegen, verlaß dich drauf!«

So scherzten und schäkerten sie noch eine Weile, bis der Hahnenschrei mit unerbittlicher Notwendigkeit ihn zum Aufbruch zwang.

Auf dem Rückwege jagte Klaus zufällig ein Reh aus dem Gebüsch, das Tier floh über die Schneefläche, brach aber mit seinen schlanken Beinen immer ein, so daß er es leicht einholen und durch einen Kolbenschlag töten konnte. Nun war er wieder auf mehrere Wochen mit Mundvorrat versehen, was ihm um so besser zu statten kam, da längere Zeit Stürme und Schneefälle wechselten, wie es gegen Ende des Winters im Gebirge häufig geschieht.

Tags darauf lieferte der Alte den Bärenkopf zum Landgericht, er bekam fünfzig Gulden und wurde überdies seines Sohnes wegen noch ausdrücklich belobt.

Allmählich rückte der Frühling in das Land. Im Tale drunten schmolz der Schnee, ein sanftes Grün überhauchte die Blößen, ein durchsichtiger grüner Schleier spann sich über die braunen Äste des Waldes.

Als Klaus von seiner Warte auslugte, flog aus der Tiefe ein gelber Schmetterling empor, der fröhliche Bote des Lenzes, und er hörte deutlich den Schlag der Amsel herauf. Der Frühling kletterte höher, schmutzige Bäche quollen nieder, an sonnigen Felsen erschlossen sich die duftigen Blüten der Jochprimel, und die weißen Sterne der Steinmispel schmückten jede Wand.

Klaus konnte ohne Gefahr den Unutz ersteigen und überzeugte sich von dort, daß die Gebirgspässe allseits schneefrei waren. Die Herrlichkeit der Rundschau beachtete er kaum, sein Herz beschlich der traurige Gedanke, daß er jetzt Tirol und was darin lieb und gut, verlassen müsse.

Samstag kündete er dem Alten und Wallburg seinen Entschluß an, in der nächsten Woche aufzubrechen. Sie mußten sich einverstanden erklären. Er räumte nach und nach seine Hütte aus und verbarg die Gerätschaften in den Stauden am Schafbachl, wo sie Nidinger abholte. Nachdem diese Arbeit getan war, setzte Klaus den Mittwoch Abend zum Abschied fest. Mit tiefer Trauer verließ er die Stätte, die ihm gastliche Herberge geboten hatte und durch so manche Erinnerung wert geworden war.

Noch größer war sein Schmerz, als er Nidinger und Wallburg antraf, die bereits auf ihn harrten.

»Das Scheiden ist ein bittres Muß!«

Es war um so bitterer beim Gedanken an die Gefahren, die Klaus noch zu überstehen hatte, bis er in volle Sicherheit gelangte.

Allein auch das wurde überwunden.

Er schlich über das Wibnerjoch nach Brandenberg und von hier durch das Zillertal bis in die Nähe vom Gerlos. Dort überraschte ihn die Morgenröte, er verbarg sich tief im Gebüsch, einen Teil des Tages verschlief er, um sich von den Beschwerden des Marsches zu erholen. In der folgenden Nacht erreichte er das Pinzgau. Hier hielt er sich vormittags im Walde versteckt; nachdem es zu Mittersill zwölf geläutet, umging er über die Felder den Markt, wo die Bürger ruhig aßen, und betrat bei Uttendorf die Straße, die er jetzt nicht mehr verließ. Hier hatte er nichts zu besorgen, wenn er auch bei Tag reiste, denn er durfte nicht erwarten, von jemand erkannt zu werden. Über Nacht wagte er sich jedoch in kein Wirtshaus, sondern schlief in Heuställen, wie er eben Unterkunft fand.

Am Abend des vierten Tages, seit er Achental verlassen, erreichte er die österreichische Grenze. Wie vom Tode errettet, warf er sich auf die Knie, küßte den Grenzpfahl und betete für die armen Seelen, die so treu über ihn gewacht, ein andächtiges Vaterunser. Dann schritt er wacker dem nächsten Städtchen zu – der Name ist mir entfallen – und stellte sich dort dem Landrichter. Er überreichte ihm sein Schützenzeugnis, worin alles aufgeführt war, was er vollbracht, und ersuchte ihn um einen Paß nach Wien. Abends im Gasthause kamen die Honoratioren des Ortes zusammen, sie bewirteten ihn vortrefflich, wobei er alles, was er erlebt, berichten mußte.

Ehe er sich zu Bett legte, bat er sich noch Schreibzeug aus und kritzelte einen kurzen Brief an sein Diendl, daß er bereits auf Österreichs Boden in Sicherheit sei. Dann legte er sich nach vielen Monaten das erste Mal – in ein Federbett! Das tat wohl!

Zu Linz stieg er in ein Schiff und fuhr nach Wien. Dort wies man ihm zu seinem Unterhalt ein Plätzchen als Wegmacher an. An das Heiraten konnte er vorläufig nicht denken, doch blieb er seinem Diendl und sie ihm gewissenhaft treu.

Tirol wurde wieder kaiserlich. Nun kehrte Klaus eilig heim. Hier erhielt er den Dienst als Wegmacher. Der alte Nidinger hatte für das Einstandsgeld das Gütchen, das Klaus wünschte, bereits angekauft, das Paar besaß nun ein Nestlein und heiratete. Als er zu altern anfing, nahm er bei einem Bauer an der Straße Wohnung, um seinem Geschäft näher zu sein; nur an Sonn- und Feiertagen kehrt er auf das Gütchen heim, das das Weib mit den zwei Buben, deren einer wohl sein Nachfolger sein wird, bearbeitet. Es ist ihm bis jetzt recht gut gegangen, nur bei der Polizei kam er trotz seiner Verdienste ein wenig in Verruf, weil er wie andere von 1809 das Maul etwas weit auftat und mit manchen Dingen in Österreich nicht zufrieden war.

Das war' also die Geschichte. Jetzt fängt es übrigens an zu dämmern, Scholastika wird mit dem Braten auch schon fertig sein; soll ich Ihnen ins Pedantenstübl Licht bringen?«

Ich bejahte es.

»Aber die Geschichte dürfen Sie nicht drucken lassen,« rief Lena noch von der Treppe zurück, »sonst erzähle ich Ihnen gewiß nichts mehr!«

Ich folgte ihr in das Pedantenstübl.

»Das Pedantenstübl?« fragt der Leser.

Es ist zu ebener Erde das Zimmerchen links von der Haustür. Da pflegten sich in der guten alten Zeit abends die gelehrten Stammgäste der Scholastika zu versammeln, meistens Professoren von Innsbruck, die hier einige Sommerwochen zubrachten. Es war ein heiterer Kreis, der sich hier gebildet; jetzt deckt die meisten Glieder desselben bereits die kühle Erde. Ja ja, die Welt wird älter und wir nicht jünger!

Am Sonntag ging ich nach Achenkirch zur Messe. Da humpelte auch Klaus daher, neben ihm Wallburg und zwei Söhne, einer bereits ein reifer Mann mit einem Knaben an der Hand, folgten mit frommem Schritt. Sie war ebenso grau wie er; beide besprengten mit dem Buchszweig, der im Weihbrunnkessel vor der Kirchtür lag, sorgfältig die Gräber – für die armen Seelen.

Er blieb einen Augenblick vor mir stehen: »Hat Euch die Lena alles verratscht?«

»Ich denk', Ihr braucht Euch nicht zu schämen!«

»Das nicht,« erwiderte er ruhig, »Ihr mögt es seinerzeit auch andern erzählen, man kann wenigstens etwas daraus lernen – daß der liebe Herrgott keinen ehrlichen Tiroler verläßt. Heut' ist der achtundvierzigste Jahrestag, daß ich von der Flucht ins Landl heimkehrt bin; deswegen bring' ich meine ganze Familie mit, um Gott zu danken.«

»Nun, ich wünsch' euch, daß ihr die goldene Hochzeit erlebt!«

»Dank Euch,« erwiderte das greise Paar und trat in die Kirche.

Selbstverständlich werde ich die goldene Hochzeit besuchen. Will vielleicht jemand dem alten Klaus für diesen Tag eine Flasche Extrawein schicken, so wollen wir seine Gesundheit trinken!

 


 


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