Adolf Pichler
Der Flüchtling
Adolf Pichler

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Der Flüchtling

Geschichte aus Tirol

Hinter dem Hause Scholastikas erhebt sich ein steiler, waldiger Berg, der Unutz. Er liefert zwar den Bauern nur wenig Holz, die breite Fläche, die sich über seinen Hochrücken hinzieht, ist dürr und wasserarm, spärliche Seggenbüschel auf kalkigem Grunde gewähren Schafen und Rossen ein dürftiges Futter; dessenungeachtet hat er in neuester Zeit eine gewisse Berühmtheit erlangt. Sein Gipfel, den auch Damen in zwei bis drei Stunden ohne Gefahr ersteigen, gewährt eine Aussicht, noch viel großartiger als die von der hohen Salve, indem man die Gletscher der Zentralalpen, das schroffe Kalkgebirge, das sie einfaßt, und das bayerische Flachland, so weit das Auge trägt, überschauen kann. Wohl die wenigsten der zahlreichen Bummler, die eigentlich nur hinaufsteigen, um sagen zu können, sie seien droben gewesen, werfen von der scharfen Kante, mit der gegen Ost die Hochebene abbricht, einen Blick in den Abgrund, der sich gegen Steinberg niedersenkt. Die steile Lehne ist nur stellenweise von Zundern überwachsen, erst weiter unten beginnt der Wald und bedeckt fast ohne Unterbrechung den Abhang, der hier sanfter ausläuft. Die Hochfläche des Unutz ist durch eine Furche fast in der Mitte gespalten; an dieser Stelle beginnt eine Schlucht, die sich allmählich zu einem Tälchen vertieft und ausweitet und selbst noch den Gürtel der Föhren und Tannen durchschneidet. Rechts und links erheben sich pralle Wände, der Boden ist von Steintrümmern übersät, im Schatten der Vorsprünge liegt noch im August grobkörniger Schnee als letzter Rest der Lawinen, die hier niederbrausen. Willst du Einsiedler werden, hier ist ein Plätzchen, wo dich niemand stört, du hörst nichts als den Pfiff der Schneefinken, das Ächzen der Jochdohle und den heiseren Schrei des Alpenadlers, der auf Beute ausfliegt, aber du darfst nicht zittern vor dem Blitze, der neben dir in die kahlen Felsenschädel schlägt, vor dem Donner der Lawinen, vor dem Sausen des Sturmes, welcher Felsenblöcke von den Wänden losreißt und auf die Bäume tief unten schleudert. Hier und da klingt das Glöckchen von Steinberg und mahnt dich, daß über dir derselbe Herrgott walte wie über den Menschen drunten im Tal, deren Gesellschaft du unmutig geflohen. Durch diese Schlucht vom Grat des Unutz den Weg nach Steinberg zu suchen, fällt nicht einmal Sennern ein; wenn ich es unternahm, so geschah es um Petrefakten zu holen. Den Plan dazu hatte ich schon längst entworfen, die Ausführung jedoch auf den Frühling verschoben, wo noch die Mulden Schnee ausfüllt, der festgefroren einen viel leichteren Übergang gestattet als das lockere Steingerölle, das leicht kollernd jeden Schritt unsicher macht.

Ich erstieg voriges Jahr zu Pfingsten den Unutz. Unter mancherlei Schwierigkeiten hatte ich endlich die Mitte des Absturzes erreicht, wo sich die Schlucht erst ein wenig erweitert und dann wieder zusammenschnürt. Die Buchen trugen bereits junges Laub, blühende Sträuche von Steinmispel und Schlingbaum hingen aus den Felsenritzen, während an einem kleinen Wasserfalle, der von einem Absatze niederflatterte, die Moospolster schon mit frisch grünem Überzuge prangten. Der Platz schien mir zu einer kleinen Rast geeignet, um so mehr, da ich erst über die Fortsetzung meines Weges nachdenken mußte. Die Welt war hier wie mit Brettern vernagelt, an den Schrofen könnte nur eine Fliege emporklettern, der Rinne zu folgen hinderte ein steiler, schlüpfriger Abbruch. Unschlüssig klomm ich hin und her, da fand ich, verdeckt von einem Vorsprunge, die Trümmer einer Hütte. Nur einzelne Pfähle ragten noch empor, dazwischen faulten die Planken, auf dem Boden zerstreut, ganz hinten lag ein Viereck von angerauchten Steinen, die einmal zum Herde gedient hatten. Wer mochte hier gehaust haben? Ein Wurzelgräber hatte an diesen Schrofen nichts zu holen, für eine Alm war der Platz zu klein, Rinder konnten gar nicht hergetrieben werden, und selbst für Ziegen, sollten sie ihre Weide nicht stundenweit zusammenlesen, war kein Futter da. Ein wackliger Pfosten trug ein halbverwittertes Gemälde im schrecklichen Stile der Martersäulen, die man in den Tiroler Alpen an Plätzen, wo sich ein Unglück zugetragen, nicht selten sieht. Mit Mühe entzifferte ich die Vorstellung; es waren die armen Seelen, die aus einem fürchterlichen Feuer die Hände zum Himmel streckten. Darunter stand mit Bleistift: »Betet für mich, ich bete für euch, damit wir frei werd . . .« Hier war ein rostiger Nagel durchgeschlagen. An einem Querbalken, den der Ruß vor Vermoderung geschützt hatte, waren unter zwei brennenden Herzen einige Buchstaben eingeschnitten: N. M. und K. N. Ich forschte weiter, da entdeckte ich auf einem Brette ein kunstloses Basrelief, es stellte einen Schützen dar, der über Felsen kletterte, unten standen Soldaten mit ungeheuren Federbüschen und schossen auf ihn, man sah die Kugeln aus dem Rohre fliegen. Zur Seite hing ein Schiff in der Luft, es trug ebenfalls Soldaten und eine Kanone. Eingekratzt war die Jahreszahl 1809. Sonst war nichts zu entdecken, was auf Person und Absicht des ehemaligen Bewohners gedeutet hätte.

Ich schloß, daß hier doch irgendwo ein Ausweg sein müsse; wie wäre sonst die Hütte hergekommen? Sie stand ja bereits über der Holzgrenze, wo die Bäume zum Gebüsch verkrüppeln; Balken und Bretter von der anderen Seite des Joches herüberzuschleppen, war fast geradezu unmöglich. Sie mußten also von unten hergebracht sein. Da erblickte ich weit rückwärts am Felsen einige Grasbüschel übereinander, an denen man sich halten und emporklimmen konnte. Wirklich erreichte ich so den niederen Grat. Auf der anderen Seite hingen dann lange Äste der Zundern wie Seile hinab, ich ließ mich, bis meine Füße wieder festen Grund berührten, mit den Händen hinunter. Von dieser bedenklichen Stelle abwärts mußte ich noch einige hundert Schritte durch Gebüsch kriechen, allmählich zeigten sich Spuren eines Ziegenpfades, das Schwerste war überstanden. Das Bächlein, das oben in der Schlucht entsprang, war zum Bach angeschwollen, ich wusch mir in seinem eisigen Wasser die Glieder und eilte sodann neugestärkt den Abhang hinunter, bis mich der Schatten eines herrlichen Waldes, eines der wenigen, wo die Bäume noch unverstümmelt wachsen dürfen, umfing.

Ich suchte die Straße, die Achenkirch mit Steinberg verbindet. Gerade gegenüber der weißen Kalkpyramide des Guffert, der fast leuchtend aus dem dunklen Himmel niederschaute, ist ein höchst anmutiges Plätzchen in der Waldeseinsamkeit. Schattige Buchen wölben sich über eine Quelle, die in mächtigem Strome aus dem Boden steigt und von dem schönsten Borde aufgenommen wird. Weißer und goldgelber Steinbrech erheben sich zu vollen Sträußen, daneben träumt das Vergißmeinnicht am Wasserspiegel, auf der aromatischen Minze spielen blaue Käfer, kaum vermag der zarte duftende Stendel durch das breite Farnkraut durchzugucken. Neben der Quelle ragt ein großes Kreuz, den Fuß desselben hält eine Magdalena umschlungen, deren Hand, so oft ich vorüberging, einen frischen Strauß trug. Am Stamme ist ein Draht angebracht mit einer Reihe Korallen, fromme Wanderer schieben einige derselben vor- oder rückwärts und verpflichten sich dadurch, ebensoviele Vaterunser zu beten. Darüber liest man auf einem Täfelchen: »Erbarmt euch einer armen Seele.«

Ich hatte hier auf dem Betschemel eine Weile gerastet, da trat ein Bauer aus dem Gebüsche; er warf Axt und Reisigbündel auf den Boden und setzte sich zu mir. Nachdem wir die ersten Begrüßungen getauscht, zu denen auch das Wohin und Woher gehört, fragte ich ihn, wer denn jene Hütte bewohnt habe, deren Trümmer mir droben in der Schlucht aufgefallen waren.

»Das ist eine alte Geschichte!« erwiderte er. »Es war lang' ein starkes Gerede darüber, jetzt ist es aber vergessen und man soll es nicht aufrühren, denn jeder Tag hat ohnehin seine Plag'. In jener Hütte hat der Wegmacher Klaus mehrere Monate gewohnt; jetzt geht es ihm freilich besser. Seht Ihr das Haus dort?«

Er deutete mit dem Finger auf einen Bauernhof, der einige Büchsenschüsse vor uns auf der Höhe von Steinberg lag. Es war ganz im Stil ähnlicher Gebäude dieser Gegend: ein steinerner Unterbau, darüber der erste Stock von Holz. Die Vorderwand nahm ein Söller mit einem zierlichen Gitter ein. Ich erinnerte mich sehr wohl, daß ich gelegentlich ein Freskobild über der Tür betrachtet hatte. Es stellte einen Tannenbaum vor, auf und um den wie in der Arche Noah fast alle Tiere des Waldes versammelt waren, etwas seitab stand ein Bär auf den Hinterpranken, dem ein Jäger die Büchse auf die Brust drückte.

»Nun, was ist mit dem Haus?« fragte ich weiter.

»Das gehört ihm mit den Feldern bis zum Zaune. Er vermag etwa fünfzehn Stück Kühe zu halten, gewiß viel in unserer Gegend. Übrigens kann ich auch die Sache nicht genau erzählen, denn ich hab' erst vor einigen Jahren hereingeheiratet. Die Lena bei der Scholastika – weil Ihr dort übernachtet – weiß, was im Achental seit fünfzig Jahren fliegt und stiebt, die redet Euch wie ein Buch; erkundigt Euch nur nach dem Klaus.«

»Nun, so teilt wenigstens mit, was Euch bekannt ist.«

»Der Klaus ist ein Deserteur gewesen und hat im Jahre 1809 unter dem alten Aschbacher mitgerobelt. Gehabt hat er anfangs nichts, dann aber das Gütchen dort gekauft und geheiratet. Da soll sich allerlei zugetragen haben, was man gewiß beschreiben tät', wenn der Klaus ein General oder gar ein König wär'. Übrigens darf man ihm nichts Übles nachreden, er ist ein braver christlicher Mensch.« Er schlug Feuer und legte den glimmenden Schwamm auf seinen Nasenwärmer. »Jetzt behüt' Euch Gott, ich muß heim, fragt nur die Lena.« Er warf das Bündel über den Rücken und ging fort.

Eine Geschichte, würdig in einem Buche beschrieben zu werden und noch dazu wahr! Wer möchte darüber nicht Petrefakten und Schwämme vergessen, um sich überraschen zu lassen und dann auch die Leser zu überraschen? Ich trabte daher rüstig vorwärts. Als ich die Poststraße am Saume des Waldes erreicht hatte, spähte ich nach allen Richtungen, ob der alte Klaus, der mir plötzlich zu einer wichtigen Person geworden, nicht sichtbar würde. Am Weg zum Pulverer traf ich ihn endlich und betrachtete ihn als künftigen Helden meiner Erzählung mit mehr Andacht als gewöhnlich. Er stand etwas vorgebeugt vor einem Steinhaufen; von Zeit zu Zeit ein kleines Rauchwölkchen aus der Pfeife blasend, zerklopfte er emsig die größeren Stücke und schob sie in die ausgefahrenen Furchen der Straße. Auf dem Zaune hing sein grobwollener Kotzen, daneben ein Säckchen mit einem Stück rauhen Bohnenbrotes und einer Butterschachtel, das Mittagsessen des ehrwürdigen Alten.

Ich rief ihn an: »Wie geht's?«

Er strich das sparsame graue Haar aus der hohen Stirn und betrachtete mich mit den großen wasserblauen Augen, als ob er sich erst besinnen müßte. »Ja ja,« sagte er endlich, »jetzt kenn' ich Euch erst wieder, Ihr seid ja der Steindlnarr, – verzeih' mir's Gott, daß ich Euch so heiße, aber die Leute nennen Euch so, weil Ihr alle Felsen abhämmert; wo kommt Ihr her?«

»Vom Unutz. Ich bin durch die Runse herab, und hab' Eure Hütte gesehen!«

»Meine Hütte? Ihr schnuffelt doch alles aus! Ich bin jetzt viele Jahre nicht mehr dort gewesen, muß aber vor meinem letzten End' doch noch einmal hinauf und dem Herrgott danken. Nun – Euch geht die Sache gerade nichts an.« Er fing wieder an zu klopfen, plötzlich stützte er sich auf den Stiel des Hammers: »Ist sie noch nicht aus den Fugen?«

»Einige Pfähle stehen noch, sonst ist alles ein Trümmerhaufen.«

»Gerade wie ich!« murmelte er, »behüt' Euch Gott!«

Ich kannte den alten Klaus zu gut, um noch eine Antwort von ihm zu erwarten, und eilte der Scholastika zu.

Wer noch nie einen Nachmittag auf ihrer Terrasse vorn am See zugebracht hat, folge ja recht bald meinem Beispiel, hier ist einer der anmutigsten und stillsten Erdwinkel, die ich kenne. Vom Südwind leise bewegt, rauschen die Wogen des blauen Sees an das Ufer, und neben dir steht Moidele, das hübsche Mädchen, mit goldenem Haar, und plaudert mit den Wellen lustig und heiter um die Wette. Ab und zu füllt sie das Glas mit feurigem Rotwein, oder wechselt die Teller und stellt dir ein Stück Auerhahn, Reh und blaugesottene Forellen auf den Tisch. Von Zeit zu Zeit schaut die behäbige Wirtin Scholastika nach, ob es dir wohl auch gut gehe und für dein irdisch Teil ordentlich gesorgt sei.

Mir lag indessen dieses Mal weniger an Scholastika und Moidele, als an Lena, der Chronik von Achental.

»Lena, Lena, Lena!« und im Chor von Scholastika und Moidele noch einmal »Lena!« Endlich trat sie zu mir, angekündigt vom Klirren des Schlüsselbundes; ich teilte ihr mein Begehren mit, sie schüttelte jedoch bedenklich den Kopf und meinte: »Bei Ihnen darf man eigentlich dem Landfrieden nie trauen, Sie sind leicht wieder imstande und lassen mich drucken, wie in Ihrem Buche ›Aus den Tiroler Bergen‹. Da fragen mich die Fremden: ›Ist's wahr, daß Sie im Winter Homer, Goethe und Schiller lesen?‹ ich muß mich schämen, sage aber stets: Erlogen ist es, alles erlogen, der Doktor lügt ja ganz grausig, wie ein Bote.«

Endlich ließ sie sich doch erweichen und erzählte mir ausführlich, was sie wußte. Obwohl ich es wünschte, konnte ich das Gehörte doch nicht am gleichen Abend niederschreiben; als ich nach meiner Rückkehr zu Innsbruck daran ging, hatte sich mancher Zug von Unmittelbarkeit verwischt, vielleicht wider meinen eigenen Willen manches aus meiner Phantasie angefügt. Was übrigens Lena betrifft, so hat sie viel erlebt und bei einer scharfen Beobachtungsgabe sich manches Ergebnis der Erfahrung zurecht gelegt.

Doch zur Sache.

»Wenn Sie über die Brücke bis zum Baunzner gehen, schließt den Hintergrund des Tales der waldige Mamos. Von den Hügeln, die ihm vorliegen, leuchten jedem drei große, aus Stein gebaute Bauernhöfe entgegen, deren Aussehen auf einen bedeutenden Wohlstand der Besitzer schließen läßt. Sie heißen: Beim untern, mittlern und obern Nidinger. Die Bauern sind nahe verwandt und gemeinsamen Stammes. Ihrem Urgroßvater, vielleicht reicht es auch weiter zurück, zeigte ein Venedigermandl, das er mit einer geweihten Stutzenkugel vor dem Rachen einer Schlange gerettet, zum Danke das Goldbrünnlein auf dem Sonnenwendjoch. Dieses fließt über einen grauen Letten, der, wenn man ihn zu Hause trocknet, ganz von Goldflinserln schimmert. Da holte sich nun der alte Nidinger, so viel er zu schleppen vermochte, und hatte er wieder etliche Zentner beisammen, so fuhr er mit dem Kohlenwagen nach Brixlegg in das Hüttenamt, wo man ihm das edle Erz teuer bezahlte. Als er grau zu werden anfing und an die vier letzten Dinge dachte, entschloß er sich, den Söhnen die Quelle des Reichtumes zu zeigen. Diese waren jedoch liederlich; je mehr der Vater Geld herbeischleppte, desto mehr verputzten sie. Das machte ihm viel Kummer und er verschob deshalb die Erfüllung seiner Absichten von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, mochten auch die Buben schmeicheln, wie sie wollten. Endlich beriet er sich mit einem Geistlichen und vollführte treulich, was ihm der empfahl. Er kaufte Grund und Boden zusammen, rodete Wälder aus und baute die drei Höfe. An seinem Geburtstage behielt er die drei Söhne nach dem Essen bei sich und sagte ihnen: »Jeder von euch erhält ein Gut; dem, der es drei Jahre hindurch am besten bewirtschaftet, zeige ich das Goldbrünnlein, bis dahin kriegt aber keiner einen Kreuzer, der ihn nicht verdient.« Da hättest sehen sollen, wie die arbeiteten, nirgends waren die Felder so gut bestellt wie bei den Nidingern; Rindvieh und Schafe gediehen, daß sie bei der Leonhardskapelle stets den Preis davontrugen. Der dritte Geburtstag brach an, aber der Alte war verschwunden. Statt seiner erschien der Abt von Fiecht und sagte den Buben: »Auf euren Vater braucht ihr nicht mehr zu warten, ebenso dürft ihr euch keine Mühe geben, das Goldbrünnlein aufzuspüren. Es ist verschüttet für immer. Jeder von euch hat zu leben, wenn er arbeiten will, und ihr seid auch, das muß man bestätigen, die bravsten Bauern vom Tal. So wollte euch der Vater; das ist Gott wohlgefälliger als Reichtum, der mißbraucht wird. Aber auch an eure und seines Geschlechtes Zukunft hat er redlich gedacht und eine Kirche gestiftet, die den Nießbrauch gewisser Grundstücke so lange zieht, als keiner von euch ohne seine Schuld verarmt. Tritt dieser Fall ein, so darf er den Anspruch auf ein Drittel des Betrages erheben, bis er sich erholt. So ist's, da liegt die Urkunde. Euer Vater hat sich eine Zelle in einem Kloster ausbedungen, dort hofft er ein seliges Ende zu erlangen. Ist er abgeschieden, werd' ich es euch sagen, damit ihr für sein Heil in der andern Welt Messen zahlen könnt. Seid brav und gottesfürchtig wie er, und jetzt kniet nieder und nehmt durch mich seinen Segen.« Die Bauern knieten schluchzend nieder, jeder gelobte sich im stillen zu tun, wie der Vater befohlen – sie sind auch rechtschaffen geblieben. Ihr Stamm pflanzt sich in Ehren fort: wie der Vater, so der Sohn.

Der mittlere Nidinger hatte einen Buben und eine Tochter, das Burgele. Obgleich sie erwachsen waren und sehr brav arbeiteten, reichten ihre Kräfte doch nicht aus, das weitschichtige Gut ordentlich zu bewirtschaften. Der Alte dingte deswegen zu Georgi einen Knecht, unsern Klaus. Er war ein bildsauberer Bursch, daß ihm die Mädeln auf der Straße nachguckten, ebenso flink beim Tanz als beim Mähen; rechtschaffen in allen Stücken schaute er auf das Gut seines Herrn, wie auf sein eigenes. Doch da hatte er freilich nicht viel zu schauen; unehelicher Sohn einer Bauerndirne, die starb, als er eben ausgeschult war, lernte er bald, wie bitter es sei, fremdes Brot zu essen, erlangte aber auch das stolze Gefühl, daß, wer von eigener Arbeit lebe, selbst dem, der ihm das Brot dafür gibt, völlig gleichberechtigt sei und sich vor ihm nicht zu demütigen brauche. Mit diesem Grundsatz kam er freilich nicht überall zurecht und verließ daher manchen Dienst, wo ihm ein hochmütiges Bürschlein auf den Fuß treten wollte, aber von jedem Haus schied er mit vollen Ehren. Der Nidinger, selbst ein tüchtiger Charakter, wußte ihn zu schätzen, Burgl lernte bald ihn lieben. – Und auch er vergaß, wenn er dem netten Dirndl in die nußbraunen Augen guckte, nur zu bald, daß er nichts sei als ein armes Knechtl, dessen ersparte Kreuzer kaum ausreichen würden, eine Kuh zu kaufen. Das Mädchen dachte nur an ihn, an ihn allein, er aber hatte zu viel erfahren und gelitten, daß ihm nicht endlich Bedenken aufsteigen sollten. Was wird der Nidinger sagen? Er konnte es nicht länger mehr über das Herz bringen, den alten Mann, der ihn in ganz anderer Absicht aufgenommen und stets liebreich behandelte, zu täuschen, aber das Reden war ebenso schwer. Nur noch bis zum Herbst wollte er warten, Nidinger sollte ihn ganz kennen lernen, die Kraft seiner Arme war ja auch ein Kapital, das mit Gottes Hilfe Zinsen tragen konnte.

Aber Feuer und Liebe, wer kann die verbergen? Dem Alten ging, wie er sich ausdrückte, längst schon der Hund vor dem Licht um. Doch wer ehrlich ist, sucht andere nicht hinter dem Ofen, daher traute er auch Klaus keine Schlechtigkeit zu. Es war im Juli beim Heuen. Was eine Hand regen konnte, führte die Sense und in langen Schwaden trocknete das Gras an der glühenden Sonne. Die Arbeiter blickten oft nach dem Schatten eines Ahorns, ob er nicht von West nach Osten vorrücken und ihnen endlich die Raststunde zwischen Vor- und Nachmittag verkünden möchte. Das war ihre Uhr, denn vom Dorfe herauf hörte man keinen Glockenschlag. »Laßt jetzt gut sein!« rief endlich der alte Nidinger, und die Sensen sanken zu Boden. Die Mäher zogen sich unter das breite Laubdach des Baumes zurück, nur Klaus eilte auf die mäßige Höhe vor der Wiese, um auszuschauen, ob Burgl nicht bald das Essen bringe. Da stieg sie auf der Seite des Abhanges langsam empor, auf dem Kopf einen Korb mit einem weißen Tuch überdeckt, zwischen dem Weidengeflecht guckten die braunen Schmalznudeln durch, in der Hand trug sie eine zinnerne Flasche mit saurer Milch als Labung in der Hitze des Tages. Klaus sprang ihr entgegen, er nahm ihr das schwere Geschirr aus der Rechten; wie sie aber mit der Linken nach dem Korbe griff, um ihn im Gleichgewicht zu halten, ließ er die Gelegenheit nicht unbenutzt und gab ihr rasch einen Kuß. Er hatte nicht bemerkt, daß ihm der Alte folgte, im weichen Gras hörte er auch dessen Schritte nicht; dieser nahm schweigend den Hut ab, kratzte im Haar und ging, ohne sich bemerkbar zu machen, rasch zurück. Auch während des ganzen Nachmittags verriet er mit keinem Laute, was er beobachtet.

Klaus lag nachts schon in tiefem Schlafe, und wohl auch im ganzen Hause mochte kein Auge mehr offen sein, da wurde er plötzlich von einer rauhen Hand gerüttelt. Erschrocken fuhr er auf, neben seinem Bette stand der alte Nidinger und forderte ihn auf, sich rasch anzukleiden. Willig gehorchte Klaus, der glaubte, er müsse vielleicht noch irgend ein Gerät zum Schmiede tragen, damit man es morgen zeitig erhalte. Als er fertig war, stellte der Bauer die Lampe auf den Tisch und zog einen Schlüssel aus dem Sack. »Du hast mit der Burgl angebandelt?« begann er.

Klaus schwieg.

»Du brauchst nicht zu leugnen, ich habe es ja selbst gesehen, gesehen mit diesen Augen.«

»Wer sagt dir denn, daß ich leugnen will? Wo hab' ich je gelogen?«

Der Bauer trat überrascht einen Schritt zurück.

»Wenn man freien will, muß man die Trauung zahlen können, und ist die bezahlt, braucht man Geld für den Haushalt, wo hast du das?«

Klaus erwiderte mit einem finstern Blick.

»Ja, sei nur trotzig,« fuhr jener fort, »wie alle, welche ein Unrecht anrichten.«

»Ein Unrecht? Zwar hat es mich lang' gedrückt, daß ich mit dir nicht reden konnte, für den Herbst war es jedoch mit Wallburg ausgemacht; ich sollte vor dich hintreten und sie fordern. Arbeit ist auch was wert und arbeiten kann ich, das mußt du selbst bezeugen, übrigens würdest du wohl auch der Wallburg mitgeben.«

»Das sind die rechten Schwiegersöhne, die ihrem Weib an der Schüssel hocken wollen. Hab' ich denn nicht auch einen Buben? Er muß Stamm und Namen fortpflanzen, bei ihm bleibt das Gut, und zwar ohne Schulden. Das Mädel kriegt nicht viel, die soll was Rechtes lernen, damit sie ihren Mann findet, der sie heimholt und erhält. Als Bauernsohn solltest du wissen, – doch Bauernsohn, was red' ich da!«

Klaus maß ihn mit funkelnden Augen, er hob den Arm, ließ ihn jedoch rasch wieder sinken.

Dieser hatte die Bewegung beobachtet und sagte: »Ich will dich nicht verhohnekeln, im Gegenteil, wenn du deinen Spruch: ›Der Mann tut selbst!‹ zur Wahrheit machst, ehr' auch ich den Mann in dir. Bis dahin hat es noch weit. Wir wollen übrigens die Zeit nicht länger verschwätzen, der Wagen am Himmel hat sich schon gedreht. Du verläßt mein Haus augenblicklich, Lohn und Kleider schick' ich dir zum Mohrenwirt nach Schwaz. Eines aber versprich mir noch: du läßt die Sache auf sich beruhen und gibst dem Mädel nie eine Nachricht von dir. Versprich mir's!«

»Nein,« antwortete Klaus ruhig und fest. »Dieses wär' Unbill gegen Wallburg und mich selbst. Du hast kein Recht, das von mir zu verlangen, und ich hab' keine Pflicht gegen dich, es zu erfüllen. Merk' dir, was ich jetzt sage, und ich schwör' es zu halten: Wallburg bleib' ich treu wie ein gewissenhafter Bräutigam der Braut, sie soll das erfahren, und nur wenn sie mich meines Wortes entbindet, erkenne ich mich frei. Ich bleib' ihr treu bis zum letzten Atemzug, du wirst sehen, daß auch ein armer Mensch es zu etwas bringen kann. Vielleicht brauchst du mich noch!«

Der Bauer lächelte.

»Mag' es der Himmel fügen, daß du mich brauchst, – Wallburg ist deine Tochter, ich werde dann daran denken.«

Er nahm den Hut und ging ohne Abschied fort.

Der Alte trat auf den Söller, um zu wachen, daß Klaus nicht zum Fenster des Mädchens emporsteige, um Abschied zu nehmen.

Dieser bemerkte ihn und rief zurück: »Leg dich nur zu Bett, die Ruhe Wallburgs ist mir heilig!«

Die dunkle Nacht nahm ihn auf, bald hörte man nur mehr den Hall seiner Tritte.

Er kam an der Mauer des Friedhofes von Achenkirch vorbei. Kein ihm teurer Toter schlummerte hier, er öffnete aber dennoch das Gitter und trat herein.

Oben zogen klar und leuchtend die Sterne, er kniete auf einem Stein nieder, faltete inbrünstig die Hände und rief die armen Seelen im Fegfeuer an.

»Ihr wißt ja auch da drunten,« seufzte er, »wie Leiden tut; die Reichen, solang' sie ihren Grund und Boden treten, kennen das freilich nicht. Heilige Mutter Gottes, erlöse sie, damit sie vor dem Throne deines Sohnes fürbitten, daß auch ich von meinem Leid erlöst werde.« Schwere Tränen rollten auf seine schwieligen Hände.

Da schlug es dumpf zwölf Uhr . . . ein Schauer durchrieselte ihn, er wollte aufstehen und fortgehen. Noch einmal faltete er die Hände. »Das ist die Stunde, wo ihr aus den Gräbern dürft . . . ich brauch' euch nicht zu fürchten! Heilige Mutter Gottes, erlöse sie und tröste meine Wallburg.«

Plötzlich war es ihm, als taue überirdischer Trost in seine Seele . . . er empfand den Segen eines aufrichtigen Gebetes. Beruhigt erhob er sich. Er wollte bei einem ihm bekannten Bauern sich ein Nachtlager erbitten, gab jedoch seine Absicht auf, um sogleich nach Schwaz zu gehen.

* * *

Für Wallburg brachen traurige Tage an. Am nächsten Morgen teilte ihr der Vater mit, was vorgefallen, nicht ohne strenge Vorwürfe, daß sie sich in diesen Handel eingelassen. Sie erwiderte: »Alle haben ihn geschätzt und geliebt, und ich sollte ihn nicht gern haben?«

»Schlag dir die Sache aus dem Kopf,« sprach der Alte unmutig, »da wird nie etwas draus.«

Sie schwieg und damit hatte die Sache vorläufig ein Ende, denn er berührte sie mit keinem Worte, indem er auf das Vergessen rechnete. Dem aber war nicht so; Wallburg war und blieb traurig, niemand konnte sie bewegen, einen Heimgarten oder gar den Tanzboden zu besuchen. »Wenn mir nur irgend jemand von Klaus Botschaft brächte!« dachte sie oft im stillen. Aber Woche um Woche verrann, ohne daß sie etwas von ihm hörte, kein Mensch redete mehr von ihm, als ob er längst gestorben wäre. Dem Alten entging ihr Zustand nicht, er war überzeugt, daß Vorstellungen und Zureden nichts nützen würden, und beschloß, einen anderen Weg einzuschlagen. Der Nachbar Angerer hatte einen Buben, den Naz, der schon lange Wallburg umschlich, aber von ihr auch nicht im mindesten beachtet wurde. War er Nidinger zwar nicht gerade willkommen, so ließ sich gegen ihn doch nicht viel einwenden; er hatte Aussicht, als einziger Sohn einmal das Gütchen seines freilich noch rüstigen Vaters, der vorläufig zum Abdanken wenig Lust zeigte, zu übernehmen; bezüglich Gestalt und Sitten gehörte er zu jener großen Mittelklasse, die im Guten wie im Schlechten am wenigsten durch die Mäuler der Leute läuft. Angerer konnte seine Arme leicht entbehren, er und die Töchter reichten für Haus und Feld aus, und so ging er mit Freuden auf den Antrag Nidingers ein, ihm den Burschen als Knecht zu schicken. Schon am nächsten Morgen lief dieser freudestrahlend, das Bündel unter dem Arm, daher, war ihm doch nichts erwünschter, als mit Wallburg unter einem Dache zu wohnen. Die Wonne währte aber gar nicht lange. Sie trumpfte ihn, als er sich ihr nähern wollte, so scharf ab, daß ihm die Lust verging, sie noch einmal anzureden.

Einige Tage darauf, nachdem er sich von dem ersten Schreck erholt, lief bei dem Gemeindevorsteher ein Schreiben mit dem bayerischen Amtssiegel ein. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, daß bis zum ersten November 1808 eine Truppenaushebung stattfinden solle, wobei alle Burschen vom vollendeten neunzehnten bis zum zweiundzwanzigsten Jahre losen müßten. Das war ein großer Jammer, nicht bloß im Tal, sondern durch ganz Tirol, wo bisher kein Zwang zum Waffendienste galt. Was half aber das Murren? Man tröstete sie auf den nächsten Frühling, und ballte vorläufig die Faust im Sack. Der Gemeindevorsteher vollendete die Listen, ein Anschlag am schwarzen Brett lud die Pflichtigen auf den Sonntag zum Riederer neben der Kirche. Da war der Tanzsaal gesteckt voll, es rührte jedoch keiner von den Burschen, die sich hier oft lustig getummelt, einen Fuß, sondern sie starrten in banger Erwartung auf den Tisch, hinter dem ein leerer Stuhl stand. Der Gemeindevorsteher trat ein, sein betrübtes Gesicht verkündete nichts Gutes, hinter ihm trottete der Schullehrer mit einem Bündel Akten unter dem Arme. Jener hustete und begann dann seine Rede: »Warum ihr da seid, wißt ihr; jetzt werd' ich die, welche da sein sollen, verlesen und wenn sie da sind, schreit jeder: hier! wie in der Schule.« – Er verlas das Verzeichnis – Hier! – hier! – hier! Keiner fehlte.

»Es ist zwar eine wüste Geschichte,« fing er von neuem an, nachdem er sich mit dem Rockärmel den Schweiß von der Stirne gewischt, »aber weil es halt eine wüste Geschichte ist, so müssen wir, hat der Aschbacher beim Zoll gesagt, folgen, sonst wird es noch wüster. Richtet euch halt, die's trifft, auf den 30. Oktober, das ist der St. Wolfgangstag, her und kommt hier zusammen, die Gemeinde läßt euch auf Leiterwagen bis Schwaz führen und dort müßt ihr losen. So will's der Napoleon, aber wart' nur! Im Frühjahr wollen wir dem Saggeraschwanz schon helfen. Jetzt geht und sagt niemand etwas.«

Diese Rede verfehlte ihren Eindruck nicht. »Ja, helfen wollen wir dem Saggeraschwanz!« klang es im wilden Wirrwarr der Stimmen, als die Burschen zur Tür hinausschoben.

Am gefürchteten Tage des Abschieds klangen schon früh die Glocken vom Turme, der Pfarrer wollte eine feierliche Messe halten, ein Totenamt, wie manche, Übles vorausahnend, meinten. Die Kirche war gedrängt voll, wie kaum zu Weihnachten oder Ostern, alle beteten andächtig, die Mütter machten heimliche Gelübde. Wenn das Los ihren Sohn nicht traf, fiel es auf einen anderen, denn das Regiment forderte unerbittlich seinen Blutzins. Als der letzte Segen erteilt war, standen vor Riederers Wirtshaus bereits drei Leiterwagen mit Brettern über quer, welche grobe Kotzen deckten; Bogen aus Fichtengezweig, die sich darüber wölbten, verliehen dem Ganzen einen festlichen Ausdruck. Auf dem ersten saß der Postillon in seiner bunten Tracht und blies lustige Fanfaren über die Szene eines traurigen Abschieds. Dort machte ein Mütterlein dem Sohne, zu dessen Stirn es kaum hinaufreichte, das Zeichen des Kreuzes; seitab knüpfte ein Diendl, das die Scheu vor den Zuschauern überwunden, dem Herzensschatz einen Strauß von Rosmarin auf den Hut; Geschwister reichten sich die Hand; . . . nur Wallburg hatte niemand, dem sie ein freundliches: Behüt Gott! sagen konnte. Da trat Naz zu ihr: »Willst du mir nicht einmal heut' ein Blumensträußchen schenken?«

»Ich wünsche dir gewiß alles Gute,« erwiderte sie, »Strauß kriegst du keinen, es geht ein Besserer als du mit dem leeren Hute herum. Nimm mir nichts für ungut.« Sie bot ihm wehmütig lächelnd die Hand, er drückte sie und verlor sich unter der Menge.

Der Gemeindevorsteher machte der Versammlung ein Ende, indem er zum Aufbruch mahnte. Noch einmal wiederholten sich kurz alle Szenen des Scheidens . . . das Posthorn tönte, die Peitsche knallte und die Burschen schwangen sich auf die Wagen.

Die Rosse flogen vorwärts, die Bauern hatten ihre besten vorgespannt. Noch ein Gruß mit Hand und Hut, der Zug war verschwunden.


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