Adolf Pichler
Der Flüchtling
Adolf Pichler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Eine Erinnerung an Adolf Pichler – Von Peter Rosegger

Es gibt Bücher, hinter denen ein Künstler steht, und es gibt Bücher, hinter denen ein Mann steht. Des Künstlers Werk ist Form und Spiel, des Mannes Werk ist Geist und Tat. Der Künstler will überreden, der Mann will überzeugen. Wo Künstler und Mann sich vereinigen, da gibt's Vollendung.

In Adolf Pichlers Dichtungen ist Mann und Künstler oft vereinigt, aber nicht immer. Bisweilen hat er so elementar etwas zu sagen, daß er Form und Spiel außer acht läßt, daß er gerade und derb seine Natur ausspricht. Da ist er ganz Mann und als solcher mir am liebsten. Man muß den Mann persönlich gekannt haben, um manche seiner Schriften just so zu verstehen, wie sie gemeint sind. Ich wäre beinahe um diesen Vorteil gekommen. So viele Briefchen und Kärtchen im Laufe der Jahre auch hin und her flogen zwischen Steiermark und Tirol, so oft wir uns auch Stelldichein gaben, persönlich begegnet sind wir uns doch nur dreimal. Das erstemal im Jahre 1887 in München. In ein Kaffeehaus hatten wir uns zusammenbestellt, beide trafen wir genau zur Stunde ein, fanden und erkannten uns aber lange nicht. Ich hatte mir den Professor als Stadtherrn gedacht und er sich den Waldpoeten als bärtigen Bauernkerl. In der Tat: den Verfasser der »Hymnen«, der »Tarquinier«, der »Marksteine« usw., der in den Revolutionszeiten die Freiheitsfahne schwang, der dann so und so lange als Naturforscher in den Bergen umherhämmerte und in den Lehrsälen dozierte, und dessen Name mir seit Kindheit bekannt als Halbvergangener erschien, – diesen Mann stellte ich mir vor als gebrechliches Greislein mit weißem Haar und eingekniffenem Mund. – Aber der Recke, der dort am Pfeiler saß, wo die Mäntel hingen, den breiten Schlapphut auf dem Kopf, das Gesicht oft nach dem Eingange wendend – er kam mir doch nicht recht vor. Das braune Gewand, mehr Bauernloden als Herrentuch, war gebirglerisch, das Glas Milch, das er vor sich hatte und in das er vorhin sein Brötchen getaucht, wies weniger auf einen Bergbauer als auf einen Poeten. Kurz, ich stand auf und ging langsam gegen seinen Tisch hin. Er faßte mich ins Auge, erhob sich ebenfalls und sagte: »Sind wir's oder nicht?«

»Ich denk', wir sind's.«

Und wir waren es. Ein stattlicher, aufrechter Mann mit breiten Schultern und mächtigem Haupte, das noch dunkle Haar reich über den ein klein wenig vorgeneigten Nacken wallend, das längliche, markige Gesicht mit schlichtem Bart, das Auge buschig und mild, der Mund zart voller Zähne, die sich bei seinem Lächeln zeigten – so stand er da, und der alte Tiroler Dichter Adolf Pichler. – Er hatte sich an mir wohl in der umgekehrten Weise getäuscht. Solche Überraschung hatte uns beide einigermaßen gedämpft und wir nebelten längere Zeit mit banalen Redensarten umher, von der Reise, vom Wetter, von der Gesundheit. Dann fielen Bemerkungen über Anzengruber, den er einen Hauptkerl nannte, und über Hamerling, dem er nicht gerecht wurde. Dann kam das Gespräch auf die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der Tiroler und Steirer, auf den ewigen Kampf der freisinnigen und klerikalen Elemente in Tirol, auf die Vor- und Nachteile des Fremdenzuflusses. Der Achensee, wo er bei der Scholastika die Sommer zuzubringen pflegte, war ihm bereits verleidet worden. Er gehe nicht auf Sommerfrische, um den Berliner Schöngeistern und den Wiener Juden die Honneurs zu machen oder von den Dresdener Blaustrümpfen angestaunt und um Autographen angebettelt zu werden. Er gehöre zu den Tirolern, und auch da wieder nur zu den Steinschädeln, die Funken geben, wenn man auf sie schlägt. Ja, der alte Pichler war einer von denen, deren trotzige Kraft durch Anfeindungen geweckt wird, einer der Feuersteine, die in der weichen Hand kalt bleiben und erst sprühen, wenn sie geschlagen werden. Im Grunde friedfertige Menschen, aber der unbändigsten Opposition fähig, wenn ihre geraden Wege tückisch durchkreuzt werden.

Nach etwa einer Stunde trennten wir uns und jeder mochte nachher gesagt haben: Ich habe mir ihn anders gedacht. Die Briefe und Karten, die wir wechselten, waren seit dieser Begegnung nicht länger geworden. Die seinen, oft mit Bleistift auf Papierschnitzeln geschrieben, waren schwer zu entziffern, aber es lohnte sich der Mühe. Irgend eine treffende Bemerkung über Zeitfragen, ein Kernspruch, ein Zuruf, manchmal auch ein kräftiger Fluch über moderne Dummheiten. Dem »Heimgarten« war er ein ständiger Mitarbeiter, besonders auch als Vertreter der jungen Tiroler Poeten, denen er ein verehrtes Vorbild und ein herzhafter Ermutiger gewesen. »Unsere jungen Leute dürfen nicht auf Abwege kommen,« schrieb er einmal, »was wir begonnen, müssen sie vollenden. Es ist unsere Rebe, es ist unser Gären, es wird unser Wein.« Er hat die Freude gehabt, eine junge, kräftige Tiroler Literatur um sich erstehen zu sehen, die »sich nur erst selber bändigen muß, um die widerstrebenden Geister des Tages bändigen zu können, die noch einen großen Schritt zu machen hat aus der Verneinung zur Bejahung, aus dem Kritischen zum Schöpferischen.«

Meine zweite persönliche Begegnung mit Adolf Pichler war vor drei Jahren in Innsbruck. Er lag auf dem Krankenbette an einem gichtischen Leiden. Aber sein Geist, obschon nahe dem achtzigsten Lebensjahre, kam mir frischer, munterer vor, als damals in München. Er hörte noch gut und verstand zu hören; sein Sprechen hatte nichts Greisenhaftes, es war lebhaft, deutlich, klar, bestimmt. In leichter Tirolerbetonung gab er von den Gedankenschätzen, den Erfahrungen, den überzeugten Meinungen, die ein langes, reiches Leben in ihm gezeitigt hatte. Wir waren übrigens beide aufgeregt, denn es war nach den beispiellosen Vorgängen im Abgeordnetenhause, an dem Tage nach dem Sturze Badenis. Ich war gerade aus Graz gekommen, wo die Menge durch die Straßen tobte und wo von bosnischen Soldaten auf das Volk geschossen wurde. »Österreich so weit!« murmelte Pichler. Dann richtete er sich, mit dem Ellbogen stützend, ein wenig auf, und das Donnerwetter, das aus ihm losbrach, darf ich nicht beschreiben! – Mit rücksichtsloser Schärfe bezeichnete er die Grundursachen solch politischer Katastrophen in Österreich. Niemals zuvor hatte ich an einem Greise diesen wilden Zorn gesehen. Die loderndsten Proteste und Kraftreden seiner Gedichte, hier waren sie, ins Grandiose gesteigert, in wenigen Sätzen zum Ausdrucke gekommen!

In dieser schlichten Poetenstube, deren einziger Schmuck die Sonne war und die Bilder des Hochgebirges, die zum Fenster hereinleuchteten, wohnte das Feuerherz, an dem die jungen Poeten des Alpenlandes sich entzündeten. Daß er mit den Deutschen, die er doch so sehr liebte, gar besonders zufrieden war, kann man nicht behaupten. Auf den Absatz seiner Bücher anspielend, sagte er: »Gibt es einen schundigeren, launenhafteren Herrn als den deutschen Michel? Seine angebliche Verehrung für Poesie – nur Heuchelei, in seinem Herzen kniet er nur vor zwei Göttern: dem hohen Titel und dem Geldsack. Ich verdanke mein bescheidenes Einkommen dem Hammer des Geologen.« Er hatte außerdem noch in seinen letzten Jahren schlechte Erfahrungen mit Verlegern gemacht. »Die Schriftstellerei,« schrieb er mir schon früher einmal, »verleidet's mir nach und nach, man muß nur der Mode huldigen und dazu habe ich nicht das Zeug. Liegt mir auch nichts dran, ich treibe lieber geologische Allotrias.« Ein anderes Mal, als ich ihm vorgehalten, daß der »Heimgarten« wieder lange nichts von ihm bekommen, antwortete er: »Was haben Sie denn zu klagen, Sie alter Bär! Ich bin alt, ein Schlagfluß hat mich heimgesucht. Kommen Sie lieber nach Tirol! Müssen Sie denn immer an der Schürze der Mutter Styria hängen?« – Nun, so hatte ich ihn endlich vor mir, und in dieser einen Stunde des persönlichen Verkehres zeigte es sich, wie traut wir uns unvermerkt geworden waren. Seine Tochter Mathilde, die ihm das Haus besorgte, die ihn pflegte, man merkte ihr's an, wie froh sie war über die geistige Frische und Wärme ihres Vaters. »Wir wollen auch was zu lachen haben,« sagte er plötzlich und zeigte mir ein klerikales Tiroler Blatt, in welchem er heftig angegriffen war. »Solche Ergötzlichkeiten fehlen auch mir in Steiermark nicht,« darauf meine Bemerkung, »sie können uns nur stärker und zielbewußter machen. Besonders ich habe von Zeit zu Zeit solche Gifttraktätlein nötig, um nicht in Vertrauensseligkeit einzuschlafen.« Er lachte und zitierte einen bekannten Spruch Mephistos. Als ich mich verabschiedete, sagte Pichler: »Allzulang' dürfen Sie nicht ausbleiben, wenn Sie mich noch einmal sehen wollen.«

Und zwei Jahre später, da sah ich ihn noch einmal. Er hatte die Ehren des achtzigsten Geburtstages hinter sich; das deutsche Volk, besonders aber die Tiroler, hatten sich erinnert daran, was Adolf Pichler bedeutet. Er hatte noch einmal die Fahne umarmt, unter der er einst den Freiheitskampf mitgerungen, er war ein begeisterter Mitarbeiter des jungen deutschnationalen Kampfblattes »Der Scherer« geworden – er fühlte sich wieder jung. Schlank aufrecht im bequemen Hausrock mit lustigem Willkommgruß empfing er uns, als wir, Arthur v. Wallpach, der Dichter der »Sonnenlieder« und ich, bei ihm eintraten. Mit teils mildem, teils scharfem Humor leitete er das Gespräch, in seinem Wesen lag eine ebenmäßige Überlegenheit über Welt und weltliche Werte. Aber die Glut für das deutsche Vaterland und seine Freiheit war noch vorhanden. Mancherlei brennende Tagesfragen wurden besprochen, darunter der Hirtenbrief, den kurz zuvor der Fürstbischof von Brixen gegen die nationale Zeitschrift »Der Scherer« erlassen hatte. Pichler machte gleich ein Paar Epigramme über die »Los von Rom«-Bewegung und blitzenden Auges sagte er: »Nun, nun, Freunde, ich wollt' schon noch dreinschlagen! Aber das Gerüst ist morsch.«

Als ich mich erhob, um wieder der Steiermark zuzutrachten, stand er hochaufgerichtet vor mir und bei dem Händedrucke sagte er: »Leben Sie wohl! Auf dieser Welt sehen wir uns nicht mehr – gewiß aber in einer anderen.«

Die Berufung auf dieses Stelldichein war sein Glaubensbekenntnis. So unversöhnlich Adolf Pichler gegen den Ultramontanismus stand, so innig war er im Herzen Christ. Sein Beruf als Naturforscher hinderte ihn, wie er mir einmal schrieb, nicht einen Augenblick, an ein ewiges Leben der Menschenseele zu glauben. Für sein Grab erbat er sich ein einfaches Holzkreuz.

Acht Monate nach jenem Abschiede ist es aufgerichtet worden.

 


 


 << zurück weiter >>