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IV

In das Hotelzimmer in der Rue Chanoinesses, mit dem Fenster auf den Hof, mit den grauen Vorhängen und den schmutzigen Würfeln, blickte mittags ein schmutziger und grauer Tag. Das Papier auf den gelblichen Wänden, der vernachlässigte Fußboden, die vier Möbel und der Koffer bildeten das Heim eines Straßenmädchens, zu fünf Francs in der Woche. Der Tisch aus weißem Holz, von Feuchtigkeit durchdrungen, die beiden aufgeschlitzten Lehnstühle, der zweite Tisch mit dem Waschbecken schienen nicht alte Sachen zu sein, sondern traurige und verschimmelte Sachen, die das Leben zerfressen hat; und es war ein zerworfenes Bett da, auf dessen verbrauchten Tüchern brauner Schweiß zwei Körper abzeichnete, dieses Bett der Hotelzimmer, wo die Körper schmutzig sind und die Sachen auch.

Berthe stand eben im Hemd auf. Mit schmalen Schultern, das Hemd grau und die Füße unsauber, mager und gelb, sah auch sie lichtlos aus. Mit geschwollenen Augen und zerzaustem Haar war sie inmitten der Unordnung des Zimmers selbst in Unordnung, und die Gedanken hockten zusammengekauert in ihrem Kopfe. Das Erwachen um Mittag ist schwer und pechtrüb wie das Leben des vergangenen Tags mit seiner Liebe, Alkohol und Schlaf. Man hat ein Gefühl von Verfall im Vergleich zu dem Erwachen von einst, als die Gedanken so klar waren, daß man gesagt hätte, der Schlummer habe sie rein gebadet. Wenn du ausgeschlafen sein wirst, mein Bruder, wirst du nichts vergessen. Sie verspürte noch die beengende Last, die sie seit gestern am Atmen hinderte. Sie erinnerte sich an alles, und das kniete auf ihre Brust wie ein wütendes Ungeheuer. Wahrhaftig, ihre eingesunkenen Schläfen, ihre entfärbten Wangen und ihre schlaffen Lippen ließen mitfühlen, daß sie wenig Gedanken und wenig Mut hatte, und man fühlte noch, daß das Leben schlecht ist, weil es mit schweren Schlägen auf die Kinder niederfährt, die Übles tun, ohne dessen Umfang zu ermessen.

»Du weißt, Maurice, es wird das sein, was ich gemeint habe. Ich habe gestern mit meiner Schwester Blanche darüber gesprochen. Sie hat mir alles erklärt, wie sie's bekommen hat, und es ist dasselbe.«

Er antwortete kein Wort.

Sie stieg von Tag zu Tag bis zum Ursprung des Leidens hinab, aus Bedürfnis, den Urheber zu erforschen. Man müsse vierzig Tage warten, hatte man ihr gesagt. Sie ging daher Mann für Mann durch, bedachte der Reihe nach die Umstände, und Waschbecken für Waschbecken. Der ganze Vorbeimarsch der Liebe mit ihren Worten und Gebärden zog durch die Hotelzimmer, aber sie hätte, in der Vergangenheit sich versenkend, mit beiden Händen einen Mann fassen wollen, ihn erkennen und den Tag austilgen, an dem sie ihn kennengelernt hatte. Sie glaubte ihn gefunden zu haben, dann sagte sie sich, daß es jetzt vergeblich sei und daß alles vergeblich sei! Da ergab sie sich und ließ sich von ihren traurigen Gefühlen treiben.

Maurice unterbrach die Stille.

»Ich möchte den kennen, der dir das hinterlassen hat, und ich würde ihm den Schädel einschlagen.«

Rasch kleidete sie sich an, dann ging sie einen Liter Wein und Aufschnitt einholen. Sie aßen, sich gegenüber sitzend, an dem feuchten Tisch. Die schmutzige Flasche der Mieter, die das klebrige Wasser der Hotels trinken. Maurice kaute, den Kopf gesenkt, mit Kraft große Bissen, die seine Backen hervorwölbten.

Er nahm zugleich mit seiner Mütze ein Hundert-Sous-Stück vom Nachttisch und ging fort.

 

Der Augustnachmittag breitete sich auf dem blauen Himmel aus und fiel auf die Schultern wie ein schwerer Mantel. Maurice folgte dem Quai aux Fleurs, wo die Blumen dürsteten und die Händler friedlich schwitzten, indem sie die Vorübergehenden betrachteten. Die Wärme drückte auf seinen Kopf und belud ihn mit einer ungestalten Last von Gedanken, die er nicht formen konnte, die er aber alle durcheinander jagen fühlte. Zum erstenmal in seinem Leben lernte er die Unentschlossenheit kennen. Er, der gewöhnlich ohne Bedenken aufs Ziel losging, schritt den wenig bevölkerten Quais entlang ziellos hin und hörte seine Schritte klingen. Er schlug den Weg über den Quai de l'Horloge ein, schritt längs der Mauer des Justizpalastes, die nach Gefängnis riecht, überquerte die Place Dauphine, den Pont Neuf und folgte der Linie der Quais zwischen den Bäumen und den Büchern, mit großen schweren Schritten, als wollte er seine Gedanken niedertreten. Er beachtete nichts, nicht einmal die Erdarbeiter und die Maurer am Orléans-Bahnhof, nicht einmal die fliegenden Fährboote und die Schlepper. Er schritt energisch hin im Gewoge der Gedanken, die so in seine Gliedmaßen übergingen wie bei Menschen der Tat, bei denen Gedanken zu Gebärden werden. Er machte Kehrt an der Concorde-Brücke, ging wieder über die Linie der Quais, dann trat er in die Rue Bonaparte, um seine Schritte nach Plaisance zu lenken.

Das große Wort entschlüpfte ihm, als er mit großen Schritten dahinging, und schlug ein wie der Donner, während er marschierte, und rollte dann, ihm den Marsch trommelnd wie ein schwarzer Tambour. Die Seuche, Berthe und die Seuche! Er fühlte sie an seiner Seite wie einen roten und blutenden Gefährten, wie einen unglaublichen und grausamen Gast. Er wandte sich in die Rue Bonaparte, wie man sich ins Wasser wirft, wenn einen die Flammen verzehren, und stieg nach Plaisance hinauf. Die Seuche, Berthe und die Seuche! Er kannte seine Feinde und blickte ihnen ins Gesicht wie ein Mann, der keine Furcht hat. Er verstand sich zu schlagen, und er ging durchs Leben ohne Bedauern und ohne Schande, und er nahm den Zufall so an, wie man ihn auf den Straßen von Paris mit Diebstahl, Verbrechen und Gefängnis trifft. Aber die Seuche, Berthe und die Seuche! Er hätte sie nehmen und sie rütteln wollen, Auge in Auge, bis in den Tod und bis zum Sieg.

Er dachte an Dramen, an »Roberts Schmach«, an Gebrüll und Niederlagen. Er erinnerte sich des wissenschaftlichen Namens »Syphilis«. Die unerbittliche und schneidende Wissenschaft, die die Krankheiten benennt und kennt, flößte ihm Angst ein, weil sie uns in Spitäler treibt, weil sie uns erblickt und durchschaut, weil sie ihre Worte und ihre Instrumente in unser Leben senkt, als wären wir nichts als Leib, Krankheit und Tod.

Aber dies Wort, die »Seuche«, war noch schrecklicher. Gewiß, Maurice hatte keine Furcht vor Worten. Die Worte sind Ausgeburten kranker Phantasie, über die das Leben erhaben ist, das man leben muß, ohne an Worte zu denken. Er war ein »Zuhälter«, ein »Subjekt ohne Beschäftigung«, und darüber mußte er oft lachen. Über »das öffentliche Mädchen Berthe Méténier« auch. Was hatten Worte für einen Wert, wenn man nur nach Belieben lebte! Aber die Seuche! Er erinnerte sich an eine Geschichte seiner Kindheit. Er war vierzehn Jahre, als einer der Nachbarn zweiundzwanzigjährig starb. Die Nachbarinnen sagten: »Er ist als ein wahrer Düngerhaufen gestorben. Man sagt, daß er durch und durch verfault war.« Durch und durch verfault sein ... Ihm kamen andre Kindheitserinnerungen und Gedanken an Reinheit. Niemals war er krank gewesen. Seine Mutter, die aus der Provinz stammte, hatte gesagt: »Das sind Krankheiten, die man in unsern Familien nie gesehen hat.« Durch und durch verfault sein ... Er stellte sich rote und feuchte Wunden vor, Verbände und Watte, und sah sich in einem Spitalsbett ausgestreckt mit einem grünlichen und durch und durch verfaulten Leib. Zur Zeit, da er Kunsttischler war, sagte einer seiner Kameraden: »Wenn mich einmal die Syphilis erwischt, jage ich mir eine Kugel in den Kopf.«

In Plaisance ging er schnurstracks zu seiner Mutter. Sie lebte in einem Krämerladen ein bescheidenes und bedrängtes Leben. Sie verkaufte nur Kleinigkeiten zu zwei Sous, da die »Verpflegungsmagazine« alles Geld der Viertel verschlingen. Sie stand hinterm Ladentisch, bediente und plauderte mit dem zutraulichen geschwätzigen Gehaben der Kleinhändlerin.

Eine Nachbarin, die da war, sagte: »Da kommt ja Ihr Sohn.«

Er hatte jene betonte Höflichkeit, die in den Leuten eine bessere Meinung erweckt und bewirkt, daß unsre Eltern uns niemals verleugnen. Er ging in den Hinterraum. Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und sah die Gegenstände des Zimmers nach den Klängen einer Musik tanzen, die seinen verstörten Kopf erfüllte. Gewöhnlich sah er sie an, wie man ein kärgliches Leben ansieht, dachte an seine Freiheitsideen und kostete ein Gefühl von Überlegenheit aus. Aber diesmal sah er, Maurice, der kein Bedauern kannte, wie friedlich der Raum hinterm Laden und wie gut der Frieden war, obgleich sein gänzlich aufgeregter Kopf tanzte und wie ein Wrack endlos von Strudel zu Strudel wirbelte und tanzte.

Er schüttelte den Alpdruck ab:

»Gib mir ein Glas Wein.«

Sie fürchtete übrigens, daß er gekommen wäre, um ihr Geld abzuverlangen. Sie sagte:

»Du siehst traurig aus.«

Er trank und antwortete:

»Ja, es geht mir dreckig heute abend.«

Dann erhob er sich und ging.

Er flüchtete sich und schritt mitten durch die schwarzen und volkreichen Häuser, vorbei an den Läden und den Schenken seiner Jugend, während die Wagen auf dem Pflaster schmetterten; er sah die Passanten der Vorstadt dahingehen, angefangen bei den Arbeiterfrauen, die auf der Straße keiften, bis zu den Kameraden in blauem Kittel, die ein Straßenmädchen, ihr Weib, lachend begleitet. Das Leben erwachte und lebte in einer Art Fieber, angefangen bei dem Geschrei und Rennen der einen bis zum Alkohol und der Liebe der andern. Die Luft roch wie am Eingang eines Gewürzladens en gros oder am Eingang einer Weinhandlung. Da, im Viertel Plaisance, dachte er an seinen Freund, den langen Jules, und fühlte wieder die Hoffnung wachsen. Man geht eines Nachmittags im August durch die Rue de Vanves, man erinnert sich, daß der lange Jules die Syphilis gehabt hat, es fällt einem ein, daß Charlot, Paul und andre sie noch haben, und man denkt, daß diesen allen die Syphilis nichts angetan hat. Dann sagt man sich: »Aber nichts spricht dafür, daß ich selbst die Krankheit habe.« Und man versucht, sich zu beweisen, daß man sie nicht haben kann, weil Berthe die ersten Anzeichen bemerkt und man sich sofort enthalten hat.

So kam er in der Avenue du Maine an, in bekannter Gegend. Es gibt hier Bars, wo die Freunde sich aufhalten. Schon wollte Maurice sie aufsuchen, als er auf einer Terrasse den langen Jules bemerkte.

»Ich dachte an dich. Da bist du.«

Der lange Jules trank einen Mokka auf der Barterrasse, ganz allein, und blickte auf die Straße. Die Mütze im Nacken auf seinem festen und geraden Kopf, blickte er auf die Dinge und die Passanten, und seine Gedanken, sicher und ruhig wie er selbst, nahmen jeder seinen richtigen Platz ein, sicher und ruhig, und hoben ihm den Kopf. Maurice setzte sich neben ihn. Der lange Jules hatte ihn gern, obwohl er klein war, seines Willens wegen, der seine Muskeln und seine Kinnbacken straffte. Die Fußgänger zogen an ihnen vorüber, während sie sie betrachteten. Das erinnerte an den Schöpfungstag, als Adam, der König der Welt, am Fuße einer Eiche sitzend, die Tiere an sich vorüberziehen sah, sie prüfte und sie benannte.

Schließlich hielt sich Maurice nicht länger zurück.

»Du hast Syphilis gehabt. Ist es wahr, daß sie einen umschmeißt?«

»Du hast Syphilis?«

»Nein, aber sie ist mir auf den Fersen.«

»Ha, ha, ha! ...« machte der lange Jules. »Auf den Fersen ist sie nicht. Bah! Die Syphilis tut nicht weh. Ich hatte sie vor zwei Jahren. Sie haben mich Pillen einnehmen lassen, als ich in der Santé war. Ich hatte nie etwas gehabt. Erst Francine, du kennst sie, hat sie mir eingewirtschaftet. Ich hätte es vermeiden können, man hatte mich voraus gewarnt, aber man läßt eine Frau nicht, weil sie krank ist.«

Er erklärte darauf, daß man Flecke auf der Haut und Belag im Munde hat und daß das ganz von selbst vergeht. Auf seinem Stuhl sitzend, erklärte er die Krankheit mit gleichmütigen Worten, dann, nachdem er gesprochen hatte, dachte er an etwas andres. Weder das Gefängnis noch die Krankheit hatte ihm je Pein bereitet, weil sein Wille stärker war, als alle Übel. Er wanderte geraden Schrittes mitten durch die Gefahren und kämpfte ohne Zorn und ohne Fieber, sobald er sich zum Kampf entschlossen hatte. Ich sagte, daß er stärker war, als die Syphilis.

Er war übrigens erstaunt, daß Maurice sie noch nicht hatte: »Wir haben sie alle«, wiederholte er. Maurice bestellte zwei Glas Mokka und leerte das seine auf einen Zug. Wenn er die Krankheit nicht hatte, war es hohe Zeit, Berthe zu verlassen. Er konnte sie nicht haben, da sie erst vom ersten Anzeichen gesprochen hatte. Die Frauen wechseln, sie folgen einander und sind so zahlreich, daß ein geschickter Mann nicht zu fürchten braucht, keine zu haben. Diese heimlichen Gedanken schlichen sich in sein Gehirn ein und schienen es zu umstricken. Aber die Gedanken, die ihm der lange Jules mit sicherer Geste vorgeführt hatte, lebten vor seinen Augen und er sah sie, wie sie, Seite an Seite, aufrecht marschierten. Er leerte sein Glas auf einen Zug.

Jeder zahlte seine Runde, sie erhoben sich. Es war vier Uhr. Sie gingen die Avenue du Maine hinab, die Hände auf dem Rücken, langsamen Schrittes, mit dem kecken Blick der Mädchenhirten. Auf beiden Seiten der breiten Straße schienen die Häuser niedrig, die Auslagen dürftig und die Fußgänger spärlich zu sein. Um so mehr schienen Jules und Maurice zu wachsen. Mit dem langsamen Schritt des Besitzers, dem kecken Blick des Herrn, fühlten sie sich in ihrem Viertel, das sie kannten, wie man einen Teil seiner selbst kennt, und über das sie Rechte besaßen. Maurice fand ein wenig Selbstbewußtsein wieder: Ich bin Maurice, den man auch Bübü von Montparnasse nennt. In diesem Viertel, wo er seine ersten Schritte getan hatte, fühlte er sich angeregt und frei wie am ersten Tag, betrachtete die Dinge und dachte, daß er sie schon früher gekannt, daß er sie aber heute noch besser kannte, weil er mehr Erfahrung hatte.

Das Selbstbewußtsein! Wer sich selbst prüft und sich alles mögliche Unglück einbildet, findet die alten Kräfte wieder, die ihn belebten, und fühlt, daß sie ewig sind und das Unglück niederzwingen werden. Sie begegneten der Dirne Cecile, die ohne Hut, in der Schürze, ebenso wie sie selbst, gern in den Straßen des Viertels herumstrich. Sie war braun, ein wenig dick, mit scharfen Zügen und ließ an Messerstiche denken. Sie sagte:

»Ich habe Machin versetzt. Er will mir den Hals umdrehen. Ich habe ihm gesagt: Oh! la, la, mein Kleiner! Du hast noch keinem Spatzen eine Feder gebrochen.«

Der lange Jules lächelte, denn sie war eine seiner Frauen. Er wollte keine behalten, hatte sich aber im Bereich seiner Tätigkeit gewisse Rechte auf ihre Liebe gewahrt. Er nahm jeden Abend auf dem Heimweg eine mit und schlief mit ihr ohne Umschweife.

Maurice lächelte, denn er war denen weit überlegen, die man versetzt.

Da kehrte ihm das ganze Selbstbewußtsein wieder: Ich bin Maurice, den man auch Bübü von Montparnasse nennt. Er richtete sich auf, wölbte die Brust, klappte die Hacken zusammen und fühlte vom Kopf bis zu den Zehen, daß er Bübü von Montparnasse war.

Der lange Jules neben ihm ging seines Weges, still und seines Ruhmes sicher wie eine vorwärtsmarschierende Armee. Maurice wußte nun, daß die Syphilis zum männlichen Leben gehört. Schon lange wußte er's, aber es gibt Kenntnisse, die nicht tief in unser Herz gegraben sind. Wie alle Menschen gelangte Maurice zu vollem Wissen erst nach vielem Leiden. Durch und durch verfault sein ... Diese Worte belustigten ihn jetzt, wenn er an Jules dachte und an alle, die nicht durch und durch verfault waren. Die Syphilis und die Wissenschaft widersetzen sich unserm Willen wie Ärzte, die man an der Straßenecke angreifen und berauben kann. Und der Kramladen seiner Mutter war ein elendes Gewerbe, bei dem man sich bückte und in Stücke riß, um einen Sou zu erraffen. Das nennt man Pech haben. Das Pech der Syphilis ist ähnlich wie das Gefängnis, das man vermeiden kann oder aus dem man unversöhnlich und gestärkt herauskommt.

Und in seiner neuen Freude bekam er Lust, zu trinken. Trinken ist Freude, und wenn man schon ohnedies voll Freude ist, macht trinken glückselig und berauscht uns. Sie ließen sich gegenüber dem Bahnhof Montparnasse nieder. Zwei Absinth. Rüttelnde große Wagen, Fiaker mit tanzenden Scheiben, Omnibusse und Tramways mit ihrem Gepolter und ihrem Trompeten, Lokomotivpfiffe, schwitzende Passanten, die drückende Sonne von fünf Uhr, der Staub eines Augustnachmittags, das Ankommen und Abreisen, und dies Gehen von tausenden Menschen schufen ein höllisches Leben zusammen mit den Dampfkranen, Waggons, Menschen, Fahrzeugen, Tieren und Kisten, mit der Menge von Werkstätten und Bahnhöfen, mit allem, was fährt, und allem, was vorübertollt, mit der Zeit, die brüllend vergeht.

Man sagt sich: Das sind zwei Zuhälter, die ihren Absinth trinken, und nimmt an, daß der Absinth das Gehirn der Zuhälter nicht beunruhigt. Maurice hatte, während er neben dem langen Jules die Avenue du Maine hinabgeschritten war, seinen Menschenglauben wiedergefunden und kostete in seinem Bewußtsein alles Gute und alles Böse aus. Das Wissen um das Böse ist gut wie eine gute Frucht auf trockener Straße und hilft uns, zwischen Syphilis und Gefängnis ohne Heuchelei und ohne Furcht vorwärts zu kommen wie große Reisende. Der Absinth setzte sein Gehirn in Bewegung, trieb Fieber und Glück hinein. Ich bin Maurice, den man auch Bübü von Montparnasse nennt! Maurice ist ein Mann, der die Frauen packt und sie formt. Er packt Berthe, das Kunstblumenmädchen, wählt sie, weil sie schön und jungfräulich ist, erst zu seinem Vergnügen, dann zu seinem Lebensunterhalt. Er sieht sich um, erfaßt die Dinge auf einen Blick, und für die Fahrräder und für die Schaufenster sind seine Finger rasch wie ein Augenaufschlag. Er kennt die verwickelte Wissenschaft der Umklammerung, die aus Handgriff und Muskeldruck besteht und uns die Menschen preisgibt wie Kinder und die Panzerkassen wie Spielzeug. Er kennt den leisen Schritt, den man Wolfsschritt heißt, und weiß die Nacht zu durchspähen mit glühenden Augen. Er kennt den Hieb, der betäubt, und den, der tötet, den Angriff und die Abwehr, und die Messerklinge, die einen Weg zu bahnen vermag, wenn man in Gefahr schwebt. Er wandelt sorglos durch die Straßen der Städte, während die einen leiden und die andern sich rackern; was ihn umgibt, das kann er sich holen; er schreitet dahin und ist wie ein Mensch, der sein eigenes Haus durchschreitet. Er fühlte sich frei und vollkommen in seinen Ideen, in seinen Organen, in seinem erträumten Leben, in seinem gelebten Leben ...

Der lange Jules schlug ihm auf die Schulter:

»He, Maurice, schlafe nicht!«

Er antwortete:

»Es macht mir Spaß, an meine Syphilis zu denken.«

Der lange Jules brach in Lachen aus:

»Du denkst an deine Syphilis!«

Er bestellte zwei weitere Absinths.

Der zweite Absinth erfüllte Maurice mit Gemurmel und floß wie eine Welle und umspülte sein Herz. Er spürte im Kopfe tausend erwachte Gedanken summen, die strömten, lachten und sangen. Das Echo des Guten antwortete dem Echo des Bösen wie Stimmen, die sich locken, und wie Schritte, die sich fliehen. Berthe neigte sich, um ihn zu lieben, und lachte über die Krankheit. Die Welt ähnelte einem Menschen, der unschuldig und verseucht Absinth trinkt auf den Terrassen. Große Gefühle wandelten schreiend auf den Straßen, nahe den Bahnhöfen, ähnlich der Liebe, dem Glauben, dem Wissen. Man sah Freude, die Bewegungen glichen Tänzen, die Menschen waren klein neben dem, der träumte, und das Leben lachte wie eine Frau, die man kennt und die man zu lenken versteht.

Plötzlich erinnerte er sich des Liedes. Deiner, das tröstet, o altes Lied von der Seuche, das die Kranken besingt. Du stimmst uns mild und dichterisch wie das Leiden der Verwundeten:

»Alter Kunde vom Spitale ...«

Du birgst ein Großteil Liebe und Ergebung und du birgst noch mehr als Ergebung. Du schlägst uns ans Kreuz auf unserm Kalvarienberg, du weisest uns unsre Wundmale, du besingst die Arzeneien und verlachst die Schmerzen, du tanzest um unsretwillen und du läßt uns glauben, daß unsre Leiden glorreich sind. Oh, sei gesegnet! Altes Lied von der Seuche! Im Hospital, wo du geboren wardst, sangst du dich von Bett zu Bett in alle Herzen hinein, du verklärtest die Sterbenden und du senktest deine Flügel auf die Stirn der Siechen, altes Lied von der Seuche!

»Wem mehr gegeben ist zu leiden, der ist wert, mehr zu leiden.« Du erinnerst an dies schöne Wort. Bist du das Wissen vom Guten, bist du das Wissen vom Bösen? Du schmiegst deinen alten Leib an den unsern, du sprichst von Quecksilber und du sprichst von Liebe. Du sagst:

»Mein Bruder, dein Schwesterlein sitzt an des Bettes Rand
Und legt dir aufs heilende Herz die Hand.«

Als Maurice Jules verlassen hatte, wandte er sich in die Rue de Rennes und wollte nach Hause zurückkehren. Die frischere Luft von sieben Uhr wehte zwischen den Häusern, kühlte die Stirne und sänftigte die Gedanken nach der Tagesarbeit. Die Fußgänger, etwas schwer, spürten ihre Schultern von der Arbeit befreit und wanderten nach ihren Häusern und zu ihren Frauen mit dem hellen Gefühle des Sommers. Maurice war in besserer Laune als gewöhnlich. Berauschtes Blut rann in seinen Gliedern, munter bald, bald gütig. Warum ist das Menschenherz so groß?

»Ich bin heute abend drollig«, sagte er sich.

Er kam an einem großen Kolonialwarenladen vorüber und sah, die Auslagen betrachtend, Schachteln mit Mandarinen. Kleine Mandarinen, kleine saftige Nichts, ihr seid nicht für den Mund von Mädchenhirten geschaffen! Er kam vor einen andern Laden und sah nach, ob es auch hier Schachteln mit Mandarinen gab. Man hält es für schwer. Zunächst muß der Blick entschlossen sein. Niemand sieht zu. Darum muß der Griff rasch und unbefangen sein. Maurice schob die Schachtel mit Mandarinen unter seine Weste, ohne sich aufzuhalten. Es war, um Berthe ein Vergnügen zu bereiten, freigebig zu sein mit einem Geschenk, ein wenig Arbeit, ein wenig Liebe, ein paar Mandarinen für einen feinen Mund!

Dann fiel ihm die Syphilis ein. Eh, wenn er nicht die Syphilis hatte! wenn er nicht die Syphilis hatte! Da war es ihm, als würde das seinem Ruhm schaden. Er schritt mit solcher Leidenschaft aus, daß seine Beine zu fliegen schienen. Wenn er nicht die Syphilis hatte, war es hohe Zeit, sie zu haben. Er ging auf sein Ziel los, die Mandarinen unter dem Arm, die Seele geweitet, so stark vorwärts getrieben, daß er nicht daran dachte, sich umzublicken.

Als er in sein Zimmer trat, kochte Berthe eine Kleinigkeit zum Abendessen. Er sagte:

»Da schau her, ich bring dir eine Schachtel Mandarinen.«

Sie lächelte zart:

»Oh! Maurice! das hat aber was zu bedeuten, daß du so lieb bist.«

»Küß mich.«

Sie näherte sich, und wie sie ihm einen herzhaften Kuß auf die Lippen gab, legte er ihr beide Arme um die Schultern und hielt sie fest. Er küßte sie auch auf den Mund. Dann fuhr er fort: einmal sehr kräftig, einmal leicht, dann sehr kräftig, dann weniger leicht ... Währenddessen zog er sie an sich, drückte sie sich an den Leib. Sie sagte:

»Laß mich los, sonst brennt mir das Fleisch an.«

Er lachte.

»Das ist mir egal.«

Er nahm sie in den Arm, hob sie ein wenig, bog sie rückwärts, schmiegte sie an seine Haut. Gewöhnlich war er nicht so eilig. Er zog sie in den Kleidern ans Bett. Berthe sah ihm mit ihrem traurigen Blick in die Augen:

»Du darfst nicht, Maurice, du weißt ...«

Er sagte:

»Ich pfeif drauf.«

Als er sie durchdrang, fühlte er sein Herz zergehen, wurde sehr zärtlich und sagte:

»Tu ich dir weh, meine kleine Frau?«


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