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III

Pierre Hardy fühlte sich am Tage nach der Begegnung mit Berthe ein wenig beruhigt. Die kleine Frau, die er für fünf Francs eine ganze Stunde gehabt hatte, war schmiegsam und gefällig wie die Frauen sein sollen, die man nicht bezahlt. Seit langem hatte er, da er arm war, ein Verhältnis zwischen der Freude und ihrem Preis hergestellt. Er wußte, daß die Frauen begehrlich sind und daß sie im Handumdrehen den Tagesverdienst eines Mannes verzehren. Als Sohn sparsamer Eltern taten ihm, wenn er nicht immer Willensstärke genug hatte, um sich eines Vergnügens zu berauben, wenigstens die Kosten leid. Aber wenn er an den Körper Berthes dachte und an den elektrisierenden Druck ihrer Arme, als sie ineinander aufgegangen, da war diese Erinnerung so gut wie etwas von jener Wollust, die man mit zwanzig Jahren erhofft. Da wir in einer Welt leben, wo die Freuden bezahlt werden, hielt Pierre diese Freude für fünf Francs wert. Er gab ihr ein Stelldichein für die nächste Woche. Achteinhalb Uhr abends an der Ecke des Pont Neuf und des Quai du Louvre.

Pierre war der Erste beim Stelldichein. Er sah sie bald kommen. Sie hatte eine weiße Matrosenmütze auf dem Kopf, und ihr schwarzes Haar mit dem dicken Knoten ließ ihr Antlitz wie etwas Weißes und unerwartet Zartes hervortreten. Pierre empfand eine Art Stolz darüber. Er hätte mit ihr Arm in Arm spazierengehen wollen, damit ihnen ein Freund begegnete.

»Meine liebe kleine Freundin, ich bin glücklich, daß du gekommen bist.«

Sie hatte das Lächeln eines armen Hürchens, jenes Lächeln, das sie für diejenigen haben, die bezahlen. Sie antwortete:

»Wirklich?«

Der Abend war mild und bewegt. Längs der Seine war ein wenig Wind, der wie Wasser floß und die Blätter zu haschen schien. Die Schatten, leicht gewiegt über den Fußgängern, sprachen zu den Seelen und liehen ihnen das leichte Wiegen. Man gewann alles lieb, weil es beruhigte. Die Seine, der Himmel und die Wagen glänzten schlicht, und die Linie der Quais schien mit ihren Bäumen eine Allee zu sein, in der man sich ergeht und allein ist.

»Wir wollen einen kleinen Spaziergang machen.«

»Wenn du willst, ich habe keine Eile.«

Sie gingen über den Quai de la Megisserie. Pierre sagte:

»Ich habe dich mit deinen kleinen Schritten kommen sehen. Du bewegst deine Beine unter dem Rock, drehst dich ein wenig hin und her, lächelst und siehst sehr süß aus. Man fühlt, daß du einen guten Charakter hast. Ich würde dich deshalb unter allen Frauen wiedererkennen, und es ist doch zum zweitenmal, daß wir uns sehen. Aber mir ist, als würde ich dich lang kennen.«

»Das ist nett, was du mir da sagst«, erwiderte sie. »Wir gehen auch lieber mit Leuten, die wir schon gesehen haben.«

Sie schritten Arm in Arm, redeten einander in die Augen blickend, und Pierre dachte sich daß sie wie zwei Liebende aussahen. Dieses zarte und schmiegsame Frauchen glich den Frauen, denen man auf der Straße mit Männern begegnet, die ihre Taille umfangen. Wenn der Abend sinkt und sie gehen draußen, überkommt ein großes Verlangen die Welt. Herr, sende uns solche kleine Frauen wie Berthe, daß wir sie küssen und daß ihre zwanzig Jahre in unsern Küssen sich lösen. Pierre dachte nicht mehr daran, daß dies Vergnügen ihn fünf Francs kosten sollte.

Kurz hinter dem Rathaus vereinigen sich die beiden Arme der Seine, die die Insel Saint-Louis umgeben, und bilden einen breiten Strom. Diese Wasserfläche floß dahin, glitt über die Reflexe der Lichter und setzte ihren Weg mit dem einschläfernden Gang des Wassers fort. Aber dunstig und grün wiegte die Luft sich darüber bis zum melancholischen Ende des Quai Bourbon. Die Welt war ruhig und flimmernd wie die Luft und wie das Wasser. Die Schiffe, bis auf den Grund der Seele erleuchtet, zerrissen das Kleid des Flusses mit einer sichern großen Gebärde. Schöne Liebende, durchdrungen von den Schönheiten der Welt! Auch Pierre fühlte sich bis auf den Grund seiner selbst erleuchtet.

»Wie schön die Seine ist, o meine kleine Freundin!«

Er sagte noch:

»Sieh den Himmel. Da sind zwei-, dreihundert rote Wölkchen. Ich möchte dir am liebsten ein Kompliment machen. In meinem Herzen sind zwei-, dreihundert Gefühle, die für dich brennen.«

Sie lächelte und fragte:

»Was bedeutet das, wenn der Himmel rot ist wie heute abend?«

Er antwortete:

»In meiner Heimat behauptet man, daß das Krieg bedeutet. Aber ich denke, daß wir beide uns nicht schlagen werden.«

Sie schritten langsam über den Rathausquai und einer fühlte den andern neben sich. Die Tramways fuhren vorüber mit ihrem: Uan! Uan! wie wilde Tiere. Aber Pierre vernahm nicht ihren Lärm, denn Berthe erzeugte in ihm ein ganz andres Tosen. Die Häuser gegenüber erschienen fern, und die Fußgänger auf dem andern Bürgersteig störten nicht. Er schritt neben ihr mit übervoller Seele. Er sagte:

»Das erinnert mich an mein Städtchen.«

Es war nicht wahr, aber neben ihm schritt eine Frau und er wollte sie in seine Neigungen und sein Leben einweihen. Er wollte sie mit seinem Herzen vertraut machen, damit sie dachte: Das ist ein junger Mann mit schönem Herzen, der aus einer Gegend schattiger Bäume und der Liebe kommt. Er wollte sie mit all seinen Vertraulichkeiten anziehen.

»Das erinnert mich an mein Städtchen. Dort ist das Haus meiner Eltern, umgeben von einem großen Garten. In Paris kennt man keine Gärten. Am Abend wird das Leben dort angenehm. Man trinkt Milch, man ißt Hühner vom eignen Hof. Da ist ein kleiner Bach und ein großer Wald. Die Bäume des Waldes sind kühl. Ich habe einen Freund, der sagt: Sie sind grün wie die Jugend und so kühl, daß man denken möchte, sie machen den Wind. Meine kleine Berthe, ich würde dich auf den Wegen küssen. Wir würden uns ins Moos setzen und, ohne daß uns jemand stört, alle deine Spiele spielen.«

Sie sagte:

»Ich kenne das Land nicht weiter als bis Clamart. Der Arzt wollte, daß ich auf drei Monate wegen der guten Luft hinausgehe. Die Ärzte bilden sich ein, man kann alle ihre Vorschriften befolgen.«

Er sagte noch:

»Wir spazieren beide auf diesen ruhevollen Quais. Es ist sehr gemütlich, wenn ich bei dir bin, denn du läßt dich führen und legst dir keinen Zwang auf. Du bist nicht wie manche, die Eile haben und nicht einmal plaudern wollen. Es ist tierisch mit ihnen. Man merkt zu deutlich, daß sie arbeiten und daß sie an der Arbeit kein Vergnügen haben.«

Und er wiederholte:

»Es ist sehr gemütlich, wenn ich bei dir bin. Du redest nicht viel heute abend, aber ich rede, denn ich bin zufrieden. Du wirst sehen, daß ich ein guter Kerl bin und daß ich den kleinen Frauen alles Gute machen kann, was möglich ist. Ich küsse sie so, daß sie lachen, und ich könnte sie mein Leben lang lieben, damit sie glücklich werden. Aber du, du hast mir sofort gefallen. Du hast die Gestalt meiner Schwester. Wir gehen beide spazieren und ich erzähle ihr meine Geschichten. Ich möchte sie auch dir erzählen, weil du lieb bist und Vertrauen erweckst. Ich möchte dir alles sagen, was ich weiß. Ich bin ganz allein in Paris, aber ich bin im Grunde nicht unglücklich. Ich arbeite und schreibe nach Hause und man antwortet mir. Mama antwortet mir. Sie kann nicht sehr gut schreiben, aber wenn sie sagt: ›Ich liebe dich sehr, sehr, mein Pierre‹, so fühle ich, daß die Worte ganze Sätze aufwiegen.«

»Ich«, sagte Berthe, »habe meine Mutter mit sechzehn Jahren verloren. Sie starb, als ich im Krankenhaus war. Man wollte nicht, daß ich sie sehe. Ich hatte die Bleichsucht, und das hat mich nicht gesund gemacht. Ich sagte mir: Jetzt, wo meine Mutter tot ist, werde ich's schlimm haben. Ich weinte trotzdem nicht, denn ich war zu krank, aber ich spürte ihren Tod in allen Gliedern. Sie liebte uns sehr. Manchmal, am Sonnabend, sagte sie: ›Gehen wir, Kinder, ich zahle einen Kaffee.‹ Wir gingen in die Bar mit meiner Schwester Marthe und meiner Schwester Blanche. Die Kinder spielten vor der Tür. Ich hatte das sehr gern, weil viele Leute da waren.«

Dann sagte sie:

»Wenn du willst, gehen wir jetzt zurück. Ich muß dich gegen zehn Uhr verlassen, sonst könnte ich gar nicht lang genug bleiben.«

Sie kehrten um. Pierre henkelte sich aus, um ihre Taille zu umfangen, und schloß sie im Gehen an sich. Er näherte sie seinem Körper, weil er sie seinem Herzen genähert hatte. Er berührte dabei alles, was man berühren kann: die schwebenden Hüften, die biegsame Taille, die sich schmiegt und wiegt, die süßen und schon reifen Brüste der Straßenmädchen von zwanzig Jahren. Er berührte alles, was man berühren kann, aber er hätte noch mehr berühren wollen. Er hätte gewollt, daß sie ganz nackt wäre, und sie spüren, und sie ganz abküssen, und sie schmecken. Alle Ströme seines Blutes rollten in schweren roten Wellen und trieben seine Sinne auf wie schwellende Früchte. Soeben hatte er daran gedacht, ihr von Louis Buisson zu erzählen, von seiner Mutter und von seinen Schwestern, um seine Seele völlig in die ihre zu schütten. Nun gab es nichts auf der Welt außer ihr. Antlitz an Antlitz, küßte er sie auf die Lippen, und sein Körper brach schon aus.

Aber Berthe sprach nicht. Sie sprach nicht und konnte nicht von ihrem Leben und ihren Wünschen sprechen. Sie hörte Pierre zu. Die sanfte kleine Prostituierte und Anfängerin dachte noch sanft: »Dieser junge Mann hat ein gutes Herz und redet wie ein Verliebter.« Es war nicht möglich, sein Herz über die fünf Francs hinaus auszubeuten, denn er verfügte nicht über mehr. Was die Liebe betrifft, so war sie ihr allzu verbraucht. Sie wußte, woraus die Liebe sich zusammensetzt, seitdem sie die Männchen sich nachlaufen ließ, die alle Schwächen ausnützen und alle Bedürfnisse befriedigen. Sie wußte, daß man die Liebe in Münzen umwandeln muß, denn die Liebe ist ermüdend, das Geld aber verleiht neue Kraft. All dies wußte Berthe mit zwanzig Jahren. Wer wovon zu leben hat, sucht die Liebe, weil sie glücklich macht, doch die Straßenmädchen dämpfen die Liebe ihrer Kunden, weil sie Schmerz bereitet. Und Pierre, dieser glühende große Junge, war für Berthe ein Mann mehr, den sie zu erdulden hatte.

Sie dachte an ihren Liebhaber Maurice, an ihr Kleid, an ihre Schuhe. Gestern abend hätte sie ihr Zimmer bezahlen müssen. Die Hotelbesitzer trauen nicht den Mädchen, die von Liebe leben. Sie hätte bezahlen müssen. Aber sie konnte nicht sieben Francs hergeben, da sie nur fünf hatte. Er bewilligte ihr einen Tag Gnadenfrist für die restlichen vierzig Sous, aber es war selbstverständlich, daß sie im Falle der Nichtzahlung in ihr Zimmer nicht zurückkehren würde. Daher aßen sie zu Mittag einige Überreste von gestern, aber abends aß sie nichts. Maurice sagte: »Du bist ein Dummkopf, der sein Geschäft nicht versteht.« Sie hatte keinen Hunger, denn in den vielköpfigen Familien werden die Magen der Kinder elastisch und können sich zusammenziehen, ohne zu weh zu tun. Sie hätte dennoch gern Fleisch und kräftige Speisen gegessen, um sich von der Erschöpfung durch die Liebe und die schlaflosen Nächte zu erholen. Da bewirtete sie Pierre mit Reden! Sie beklagte sich nicht darüber, denn manche Kunden sind grob. Gewiß, sie hätte ihm die Sache gestehen können, aber sie fürchtete, daß er den Preis der Mahlzeit von den fünf Francs abziehen würde. Sie begnügte sich mit dem Gedanken: »Ich habe heute abend nichts gegessen, und das ist sehr langweilig.«

Und dann hatte sie ein Kleid an, dessen Rock schlampig war und dessen Leibchen verschossen. Man findet im Carreau du Temple Wunder, die zwanzig Francs kosten. Ihre Schwester Blanche hatte ein Seidenkleid gekauft; übrigens stand es ihr schlecht.

Ihre Matrosenmütze war schmutzig und aus der Form gekommen, und nun gar ihre Stiefel! In diesem Beruf, in dem man geht, werden die Absätze schiefgetreten, die Sohlen durchlöchert, das Oberleder platzt ... Aber man braucht schöne Stiefel! denn die Eleganz des Stiefels hebt die Fußform hervor, wenn man den Rock rafft, um den Mann anzuziehen. Und es ist gewiß, daß Berthes Stiefel ihr in weniger als zwei Tagen vom Fuße fallen werden. Glücklicherweise ist das Wetter schön. Sie berechnete, ob ihr, nachdem sie morgen und übermorgen gegessen haben wird, etwas übrig bleibt, damit sie sich Stiefel kauft.

Sie wird einen Händler in der Rue des Prêtres-Saint-Germain-d'Auxerrois aufsuchen, bei dem man Gelegenheitskäufe für drei Francs findet.

Berthe dachte an all diese Dinge ihres Prostituiertenlebens. Sie dachte, daß sie heute abend nach Pierre noch mit einem andern gehen müsse und daß sie morgen noch mit zwei Männern gehen werde. Übermorgen müsse sie für ihr Kleid arbeiten, darauf für ihren Hut, und dann würden die Stiefel verbraucht sein.

Den Tagen der Ermüdung folgen die Tage der Vernichtung durch all die Zeit, die wir durchschreiten. Der Boulevard Sebastopol und die großen Boulevards mit ihren Linien von Bürgersteigen sind hart wie Stein, wenn man sie lang begangen hat. Nirgends begegnet man ein wenig Barmherzigkeit. Der junge Mann von heute abend wird Berthe wenigstens zweimal benützen. Die andern werden sie für ihr Geld wollen. Die Männer mißbrauchen unsern Körper und schinden ihn dafür, daß sie uns Brot geben. Und diese Gedanken kreisten in ihrem Kopfe wie eine Welt von schwarzen Tierchen, die summen, stechen und den Kindern wehtun.

Sie kamen vor Pierres Tür an. Hinter der Schwelle nahm er sie in seine Arme und sagte:

»Ich liebe dich, o meine kleine Berthe!«

Dann fuhr er ihr in das Leibchen.


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