Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 10. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Victorine,Im Original Claudine, und als Mannsperson verkleidet Claude. Dieser letztere für eine deutsche Uebersetzung nicht wohl brauchbare Name wird die Verwechslung desselben mit einem andern in Savoyen eben so gewöhnlich rechtfertigen.

eine savoyische Novelle.

Nach dem Französischen des Hrn. von Florian.

Als ich mich im Sommer des 1788sten Jahres wieder zu Ferney befand, das seit Voltaire's Tode jenen wüsten Schlössern gleicht, die vor Alters von Genien bewohnt waren, entschloß ich mich, die berühmten savoyischen Gletscher zu besuchen. Einer meiner Genfer Freunde hatte die Gefälligkeit, mich zu begleiten. Ich will diese Reise nicht beschreiben; um sie unterhaltend zu machen, müßte ich jenen gespannten hochfliegenden und für ungeweihte Leser unverständlichen Styl nachahmen, dessen ein Reisender, so bald er eine Meile zurückgelegt, und eine empfindsame Seele 144 hat, in unsern Tagen nicht entbehren kann. Ich müßte nur von Entzückungen, Herzensbeklemmungen und Nervenerschütterungen sprechen, und ich gestehe, daß diese so alltäglich gewordenen Ausdrücke mir noch nicht recht geläufig sind. Ich habe den Montblanc, das Eismeer und die Quelle des Arveron gesehen. Ich habe lange mit stummer Bewunderung jene schrecklichen Schneethürme, jene die Wolken zertheilenden Eisspitzen, jenen breiten Fluß angestaunt, den man ein Meer nennt, der plötzlich seinen Lauf hemmt, und dessen schon erstarrte Wogen noch zu toben scheinen, jenes unermessliche aus dem Schnee vieler Jahrhunderte aufgeführte Gewölbe, aus dem ein milchweißer Strom hervorstürzt, der ungeheure Eisschemmel zwischen zerstückten Felsen mit sich fortwälzt. Das alles hat mich mit Schrecken erfüllt, und mit Traurigkeit durchdrungen. Ich glaubte, das entsetzliche Bild der verwaisten Natur zu sehen, wie sie ihrer Sonne beraubt, den Furien der Gewitter Preis gegeben wird. Indem ich diese schöne Greuel betrachtete, dankte ich dem allmächtigen Wesen, daß es sie zu Seltenheiten machte. Ich wünschte wieder aufzubrechen, um durch das reizende Thal vor Maglan heimzukehren.Ein entzückendes Thal am Ufer der Arve, durch das man kommt, wenn man nach Chamouny reist. Hier hoffte ich 145 mein leidendes Auge wieder zu erquicken, indem ich diese liebliche Landschaft langsam durchstreifte, und am Ufer der Arve jene reichen Teppiche, jene stillen Wälder, jene in bunten Farben geschmolzenen Wiesen, jene Strohhütten, jene zerstreuten Häuser betrachtete, darin meine Einbildung mir einen von seiner Familie umringten Greis, eine ihren kleinen Liebling säugende Mutter, ein vom Altar zurückkommendes Brautpaar vormahlte. Dieses ist das Schauspiel, das meinen Augen gefällt. Dieses sind die Ansichten, die mein Herz rühren und ihm bald eine süße Rückerinnerung, oder eine angenehme Sehnsucht mittheilen.

O Geßner, mein trauter Freund, du dachtest auch wie ich, du, der du – in dem, mit den mannigfaltigsten Gemählden geschmückten, zu den verschiedensten Beschreibungen geschicktesten, Lande geboren, – die Kunst der Beschreibungen nie mißbraucht, der du nie geglaubt hast, daß ein Gemählde, so glänzend auch sein Colorit seyn mag, die Personen entbehren könne. Du besingest die dunkeln Gebüsche, die grünenden Matten, die silberhellen Bäche. Allein holde Schäferinnen, liebenswürdige Hirten geben darin Unterricht in der Liebe, in der Frömmigkeit, im Wohlthun. Wenn man dich liest, so spähet das vergnügte Auge die Landschaft durch, die du gemacht hast. 146 Die noch vergnügtere Seele nährt sich mit nützlichen Lehren, und genießt einer sanften Rührung.

Dieses waren die Gedanken, die mich zu Chamouny beschäftigten, indem ich auf dem Rückwege vom Eismeere den Montenvert herunter stieg. Nach einem zweistündigen beschwerlichen Zuge erreichte ich die Quelle, bei der ich des Morgens geruhet hatte. Ich wollte da noch einmal ruhen, denn so wenig ich die Waldströme liebe, so sehr schätze ich die Quellen. Dabei war ich von Mattigkeit erschöpft, ohne mich dafür belohnt zu fühlen. Ich bat meinen biedern und gefälligen Führer, Namens Franz Paccard, sich neben mich niederzusetzen, da wir denn ein sehr unterhaltendes Gespräch über die Sitten, den Character und die Lebensart der Einwohner von Chamouny anfingen. Der gute Paccard zog mich durch das Gemählde dieser so einfachen Sitten, wovon man sich so gerne unterhält, an sich, wenn es auch nur darum geschähe, um zu bedauern, daß man sie nicht auch besitzt, als ein hübsches junges Mädchen zu mir trat, und mir ein Körbchen Kirschen anbot. Ich nahm es an und bezahlte es ihm. Sobald es sich entfernt hatte, sagte mir Paccard mit Lachen: Vor zehn Jahren kam es einem unserer Bauermädchen theuer zu stehen, daß es, wie dieses, einem Reisenden Obst anbot. Ich bat den Paccard, mir die Geschichte zu erzählen. »Sie 147 ist ziemlich lang, antwortete er mir. Ich habe auch ihre kleinsten Umstände von dem Herrn Pfarrer zu Salenches erfahren, der selbst einen großen Antheil an dieser Begebenheit hatte.« Ich drang in den Paccard, mir alles zu wiederholen, was er vom Pfarrer von Salenches erfahren hatte, und indem wir, an zwo Tannen gelehnt, im Grünen saßen, und unsere Kirschen verzehrten, fing Paccard seine Geschichte an.

Sie müssen wissen, mein Herr, daß unser Thal von Chamouny vor zehn Jahren noch nicht so berühmt war, wie heut zu Tage. Die Reisenden brachten uns ihre Goldstücke noch nicht, um unsere Schneeberge zu sehen, und unsere Kieselsteine auszulesen. Wir waren arm, unwissend im Bösen, und unsere Weiber und Töchter, die sich nur bloß mit dem Hauswesen beschäftigten, waren noch weit unwissender als wir. Dieses sage ich Ihnen zuvor, damit Sie den Fehler, den Victorine beging, desto verzeihlicher finden. Das arme Kind war so unerfahren, daß es nur allzuleicht war, es zu betrügen.

Victorine war die Tochter des alten Simon, eines Bauers im Dorfe Prieure.Das vornehmste Dorf des Thales von Chamouny. Dieser Simon, den ich sehr gut kannte, weil er erst 148 vor zwei Jahren starb, war der Schulze unserer Gemeinde. Jedermann hielt ihn wegen seiner Rechtschaffenheit in Ehren, allein er war von Natur streng, er ließ sich selber nichts, und andern wenig, hingehen. Man fürchtete ihn eben so sehr, als man ihn schätzte. Wenn einer unsrer Dorfleute mit seiner Frau Streit gehabt, oder des Sonntags ein Glas Wein zuviel getrunken hatte, so wäre er die ganze Woche nicht so keck gewesen, ein Wort mit dem alten Simon zu sprechen. Ging er vorbei, so machten unsere kleinen Jungen keinen Lermen mehr, zogen geschwind ihren Hut ab, und fingen ihr Spiel erst wieder an, wenn Hr. Simon weit weg war.

Simon war der Wittwer einer braven Frau, Namens Lene, die ihm zwo Töchter hinterlassen hatte. Nanette, die ältere war ziemlich hübsch, allein Victorine, die jüngste, war schön wie ein Engel. Ihr niedliches rundes Gesicht, ihre schönen schwarzen und geistvollen Augen, ihre großen Augbraunen, ihr kleiner Mund, der dieser Kirsche glich, ihre unschuldige fröhliche Miene machte alle junge Leute unsers Dorfs in sie verliebt, und wenn sie des Sonntags mit ihrem blauen tuchenen Mieder, das sich an ihre schlanke Weiche schmiegte, mit ihrem mit Bändern gezierten Strohhut, und ihrer kleinen Haube, die kaum ihre langen Haare fasste, zum Tanz unter 149 die Linde kam, so drangen sich alle junge Bursche zu Victorinen, um sich einen Tanz bei ihr zu bestellen.

Sie war erst vierzehn Jahre, ihre Schwester Nanette neunzehn alt, und diese blieb immer zu Hause, um die Wirthschaft zu besorgen. Victorine, als die Jüngste, hütete die Herde auf dem Montenvert. Sie nahm ihr Essen, und ihren Rocken mit sich, und vertrieb sich die Zeit mit Spinnen, mit Singen, oder durch Gespräche mit den andern Schäferinnen. Des Abends kam sie zu ihrem Vater zurück, der nach dem Essen seinen Töchtern eine Geschichte aus der Bibel vorlas, dann gab er ihnen seinen Segen, und alles ging zu Bette.

Um jene Zeit fingen die Fremden an, unsere Gletscher zu besuchen. Ein junger Engländer, Namens Hr. Belton, der Sohn eines reichen Kaufmanns aus London, der über Gens nach Italien reisen wollte, hatte die Neugierde, das Thal Chamouny zu besuchen. Er trat bei der Frau Couteran abDieses ist der bekannte Name des ältesten Wirthshauses von Chamouny., und des andern Tages bestieg er des Morgens um vier Uhr den Montenvert, um unter der Leitung meines Bruders Michel, der jetzt der älteste Wegweiser ist, das 150 Eismeer zu besehen. Um eilf Uhr kam er zurück, und ruhte, wie wir, hier an dieser Quelle aus, als Victorine, die in dieser Gegend ihre Schafe hütete, da sie ihn so sehr erhitzt sah, herbei kam, und ihm die Früchte und die Milch anbot, die sie für ihr Mittagessen bei sich hatte. Der Engländer dankte ihr, sahe sie oft an, schwatzte eine Weile mit ihr, und wollte ihr sechs oder sieben Guineen schenken, die Victorine ausschlug. Allein das arme Mädchen weigerte sich nicht, Hr. Belton unter jene großen Bäume zu führen, wo sie ihre Herde gelassen hatte. Der Engländer bat, seinen Führer zu warten, und ging mit Victorine fort. Er blieb zwo gute Stunden aus. Was sie mit einander sprachen, kann ich nicht erzählen, weil niemand ihnen zuhörte. Es wird genug seyn, zu wissen, daß Hr. Belton noch denselben Abend abreiste, und daß Victorine, als sie zu ihrem Vater zurück kam, nachdenkend, trübsinnig, und ziemlich traurig war, und daß sie an ihrem Finger einen schönen grünen Diamant trug, den der Engländer ihr geschenkt hatte. Ihre Schwester fragte sie, wo sie diesen Ring her habe? Sie antwortete, sie habe ihn gefunden. Alsbald nahm Simon mit unzufriedener Miene den Ring, und trug ihn selbst zur Frau Couteran, damit man die Person entdecken könne, die ihn verloren hätte. Kein Reisender foderte ihn zurück. Hr. Belton 151 war schon über alle Berge, und Victorine, der man den Ring zurück gab, wurde täglich schwermüthiger.

Vier bis fünf Monate verstrichen. Victorine, die jeden Abend mit verweinten Augen heim, kam, fasste endlich den Entschluß, sich ihrer Schwester Nanette anzuvertrauen. Sie gestand ihr, daß sie an dem Tage, da sie Hr. Belton auf dem Montenvert antraf, er zu ihr gesagt habe, daß er in sie verliebt sey, daß er sich zu Chamouny niederlassen wollte, um sie nicht mehr zu verlassen, und um sie zu heurathen. Ich glaubte ihm, setzte Victorine hinzu, denn er schwur mir's mehr, als hundertmal. Er sagte mir, seine Geschäfte nöthigten ihn, nach Genf zurück zu kehren, er wolle aber spätstens in vierzehn Tagen wieder hier seyn, und bei uns ein Haus kaufen, und daß gleich darauf unsere Heurath vor sich gehen sollte. Er hat sich neben mich gesetzt, hat mich umarmt, indem er mich sein Weibchen nannte, und hat mir diesen schönen Diamant zum Trauringe gegeben; ich habe das Herz nicht, liebe Schwester, dir mehr zu erzählen, allein ich habe große Bangigkeiten, ich bin krank, ich weine den ganzen Tag, und ich mag auch noch so fleißig nach der Genfer Straße sehen, Hr. Belton kömmt nicht zurück.

Nanette, die sich kurz zuvor verheurathet hatte, setzte der armen Victorine mit ihren 152 Fragen zu. Endlich erfuhr sie nach vielen Thränen, daß der Engländer das arme einfältige Mädchen schändlich betrogen habe, und daß Victorine schwanger sey.

Was war zu thun? Wie sollte man dieses Unglück dem furchtbaren Hrn. Simon ankündigen? Und doch konnte man es ihm unmöglich verbergen. Die gute Nanette vermehrte das Unglück ihrer Schwester nicht durch unnütze Vorwürfe. Sie suchte sie sogar durch die Hoffnung einer Vergebung zu trösten, die sie in ihrem Herzen für unmöglich hielt. Nachdem sie es lange mit ihr überlegt hatte, ging Nanette mit ihrer Einwilligung zu unserm guten Herrn Pfarrer, entdeckte ihm alles unter dem Siegel des Geheimnisses, und bat ihn, es ihrem Vater zu eröffnen, ihn zu besänftigen, ihm darzuthun, daß der boshafte Engländer allein Victorinens Fehler auf dem Gewissen habe, und kurz, alle Mittel zu ergreifen, um der armen Unglücklichen, wo nicht die Ehre, doch wenigstens das Leben zu retten. Unser Pfarrer, den diese Nachricht sehr betrübte, übernahm es dennoch, sie dem Simon mitzutheilen, und besuchte ihn zu einer Stunde, da er gewiß war, daß Victorine sich auf dem Montenvert befand.

Simon las seiner Gewohnheit nach im alten Testamente. Unser gute Pfarrer setzte sich neben 153 ihn, sprach von den schönen Geschichten, die in diesem göttlichen Buche stehen, bewunderte vornemlich die von Joseph, als er seinen Brüdern vergab, die vom großen Könige David, als er seinem Sohne Absalon verzieh, und andere, die der Herr Pfarrer besser als ich weiß. Simon war seiner Meinung. Der Herr Pfarrer sagte ihm, Gott habe uns diese Beispiele der Barmherzigkeit geben wollen, damit, wenn wir sanftmüthig und barmherzig gegen unsere Brüder wie Joseph, und gegen unsere Kinder wie David seyn würden, wir uns bei unserm gemeinschaftlichen Vater des gleichen Mitleids getrösten könnten. Das alles war weit besser gesagt, als ich es sagen kann. Allein Sie sehen schon, daß der Pfarrer den Alten nach und nach auf die böse Nachricht vorbereiten wollte. Simon verstund ihn lange nicht, endlich aber mußte er ihn verstehen. Plötzlich stand Simon bleich und vor Zorn zitternd auf, und sprang nach der Flinte, womit er die Gemsen zu schießen pflegte, um seine Tochter umzubringen. Der Pfarrer fiel über ihn her, entwaffnete ihn, hielt ihn auf, und indem er ihm bald mit Nachdruck seine Christenpflicht zu Gemüthe führte, bald ihn umarmte, ihn beklagte, ihn an sein Herz drückte, brachte er es so weit, daß der alte Simon, der bisher mit trocknen Augen und blassen Lippen am ganzen Leibe gezittert hatte, in seinen Armstuhl zurück sank, seine 154 bei den Hände vors Gesicht hielt, und in Thränen zerfloß.

Der Pfarrer ließ ihn eine Zeitlang weinen, ohne ihm ein Wort zu sagen. Dann wollte er sich mit ihm über die Mittel berathen, wodurch Victorinens Ehre gerettet werden könnte. Allein Simon unterbrach ihn. Herr Pfarrer, sagte er zu ihm, was verloren ist, lässt sich nicht erhalten. Jedes Mittel, das wir ergreifen, würde uns selbst strafbar machen, weil wir lügen müßten. Die Elende darf nicht mehr hier bleiben. Sie würde für jedermann ein Aergerniß, und für ihren Vater eine Folter seyn. Sie mag fortgehen, sie mag leben die Ehrlose, weil sie doch leben kann, ich aber will ferne von ihr sterben, sie soll mir heute noch aus dem Hause, aus dem Lande soll sie, und sich nie wieder vor meinen grauen Haaren zeigen, die sie entehrt hat.

Der Herr Pfarrer wollte es versuchen, den Simon zu besänftigen. Seine Bemühungen waren vergebens. Simon wiederholte den gemessenen Befehl, daß Victorine fort müsse. Unser guter Pfarrer ging traurig davon, als der Alte ihm nachlief, ihn in seine Stube zurückführte, die Thür abschloß, und, indem er ihm einen alten ledernen Beutel mit fünfzig Thalern zustellte, zu ihm sagte: Herr Pfarrer, das unglückliche Geschöpf wird an allem Mangel leiden, geben Sie ihr diese fünfzig 155 Thaler, aber ja nicht in meinem Namen, sondern als ein Almosen von Ihnen. Sagen Sie ihr, daß es das Gut der Armen sey, daß das Mitleiden es dem Laster schenke, aber hüten Sie sich, meinen Namen dabey auszusprechen, und wenn Sie an jemand schreiben könnten, um sie ihm zuzuweisen, oder gar zu empfehlen . . . . . ich kenne Ihre Menschenliebe, ich will nichts sagen, und von nichts wissen.

Der Pfarrer antwortete ihm mit einem Händedruck. Er lief zu Nanette, die ihn mehr todt als lebendig auf der Gasse erwartete. Geht nach Hause, sprach er, geht in die Kammer eurer Schwester, packt ihre Kleider zusammen, nehmt alles, was ihr findet, und bringt es in mein Haus: ich kann nur dort mit euch sprechen. Nanette gehorchte mit Thränen, sie konnte leicht errathen, was vorging, und steckte in Victorinens Sack ihre eigenen Kleider, ihre Wäsche und das wenige Geld, das sie besaß. Hierauf kam sie zum guten Pfarrer, der ihr seine Unterredung mit Simon erzählte, ihr einen großen Brief für den Pfarrer zu Salenches zustellte, und ihr sagte:

Mein liebes Kind, Ihr müßt heute noch Eure Schwester nach Salenches begleiten, erzählet ihr die ganze Sache, ich brauche sie nicht zu sehen. Mein Amt würde mich nöthigen, ihr 156 Vorwürfe zu machen, die in diesem Augenblicke Grausamkeit seyn würden. Stellt ihr diesen Beutel zu, dem ich einige Thaler von meinen Ersparnissen beyfügen will. Gebt ihr diesen Brief für meinen Amtsbruder, den Pfarrer von Salenches. Führt sie bis an das Pfarrhaus. Ihr habt nicht nöthig, hinein zu gehen. Dann kehrt zu Eurem Vater zurück. Er hat Eurer nöthig, mein Kind, Eure gute Aufführung wird, wie ich hoffe, den Kummer lindern, den Eure Schwester ihm verursacht. Geht, meine Tochter, macht euch sogleich auf den Weg, morgen wollen wir uns wiedersehen.

Nanette nahm seufzend ihren Pack, den Brief und den Beutel, und begab sich auf den Montenvert. Sie fand Victorinen auf der Erde liegend, welche weinte, und mit der Verzweiflung rang. Nanette milderte, so gut sie konnte, den Befehl, den sie ihr brachte. Als aber Victorine hörte, daß sie auf der Stelle fort müsse, erhob sie ein jämmerliches Geschrey; sie riß sich die Haare aus, zerkratzte sich das Gesicht, und schrie nur immer: Man jagt mich fort, mein Vater gibt mir seinen Fluch. Bringe mich um, Schwester: Bringe mich um, oder ich stürze mich in den Abgrund.

Nanette umarmte sie, und hielt sie zurück. Sie wandte mehrere Stunden dazu an, sie zu beruhigen, indem sie ihr Hoffnung machte, daß 157 Simon sich endlich besänftigen würde, und ihr versprach, daß sie sie öfters besuchen, und nie verlassen wolle. Endlich vermochte sie Victorinen, abzureisen, und beyde nahmen bey einbrechender Nacht den Weg nach Salenches, ohne durch unser Dorf zu gehen, wo, der Dunkelheit ungeachtet, die arme Victorine sich eingebildet hätte, daß jedermann ihren Fehler auf ihrer Stirne lesen würde.

Sie können sich leicht einbilden, daß die Reise sehr traurig war. Sie langten erst bey Tagesanbruch an. Nanette konnte sich nicht entschließen, mit ihrer Schwester vor dem Herrn Pfarrer zu Salenches zu erscheinen. Sie nahm vor der Stadt von ihr Abschied, drückte sie lange an ihren Busen, übergab ihr alle ihre Geräthschaften, und verließ sie fast eben so trostlos, als es ihre unglückliche Schwester war.

Sobald diese sich allein sah, verließ sie ihr Muth, sie verbarg sich in das Gebürge, und brachte den ganzen Tag ohne Speise zu, fest entschlossen, hier den Tod zu erwarten. Als aber die Nacht einbrach, wandelte sie eine Furcht an, sie ging in die Stadt, wo sie mit leiser Stimme nach dem Pfarrhause fragte. Man wies es ihr; sie klopfte schüchtern an. Eine alte Haushälterinn öffnete ihr die Thür.

Victorine sagte, sie käme vom Hrn. 158 Pfarrer von Prieure. Die Haushälterinn führte sie sogleich zu ihrem Herrn, der gerade an seinem Kaminfeuer allein zu Nacht aß. Ohne das Herz zu haben, die Augen aufzuschlagen, oder ein Wort zu reden, überreichte ihm Victorine ihren Brief mit zitternder Hand, und indem der Pfarrer ans Licht trat, und las, bedeckte das arme Mädchen ihr Gesicht mit beyden Händen und kniete an der Thür nieder.

Der Herr Pfarrer zu Salenches ist ein braver und würdiger Mann, seine ganze Gemeinde liebt und ehrt ihn als einen Vater. Als er nach Lesung des Briefes den Kopf umwandte, und das junge Mädchen in Thränen schwimmend so da knien sah, fing er auch an zu weinen. Er hob sie auf, lobte ihre Reue, ließ sie die Vergebung eines Fehlers hoffen, der ihr so vielen Schmerz verursachte, nöthigte sie, ihrer Weigerung ungeachtet, zu essen, und nachdem er seine Haushälterinn hereingerufen hatte, befahl er ihr, ein Bette für Victorinen zu rechte zu machen.

Das arme Kind erstaunte, jemanden zu sehen, der sie nicht verachtete: sie küßte ihm die Hand, ohne zu antworten, und küßte sie auch der Haushälterinn, welche ihr Speise vorlegte, der Pfarrer setzte sich neben sie, ließ sich mit ihr in ein liebreiches Gespräch ein, und sagte kein Wörtchen, das sie an ihr Unglück erinnern konnte. Er 159 fragte sie um Nachrichten vom wackern Pfarrer, seinem Mitbruder. Er erzählte die guten Handlungen, welche dieser Gottesmann verrichtet hatte, und wiederholte geflissentlich, daß das schönste, und zugleich das süßeste Geschäft ihres Amtes sey, die Unglücklichen zu trösten, und die Verirrten auf den guten Weg zurückzubringen. Victorine hörte ihm mit einer Ehrfurcht, mit einer Erkenntlichkeit zu, worüber sie das Essen vergaß. Sie blickte ihn mit thränenvollen Augen an, sie glaubte einen Engel zu sehen, den Gott ihr zusandte, um sie wieder aufzurichten. Als die Mahlzeit vorbey war, verkündigte ihr die Haushälterinn, daß ihre Kammer bereit sey. Victorine ging ziemlich beruhigt zu Bette. Sie schlief nicht, aber sie konnte doch wenigstens ausruhen.

Gleich des folgenden Morgens lief der gute Pfarrer in Salenches umher, um ein kleines Obdach ausfindig zu machen, wo Victorine ihr Wochenbette halten könnte. Eine alte Frau, welche allein wohnte, und Frau Felix hieß, bot ihm eine Kammer an, und versprach Geheimniß. Victorine zog bey der Nacht ein, der Pfarrer bezahlte drey Monate Kostgeld aus seinem Beutel voraus, und Frau Felix kam mit ihm überein, Victorine für eine ihrer Nichten auszugeben, die in Chambery verheurathet sey. Alles wurde veranstaltet, und es war hohe Zeit, denn die 160 Beschwerlichkeit des Weges, der Kummer, die heftige Erschütterung, welche Victorine ausgestanden hatte, verursachten ihr noch denselben Abend Kindeswehen. Ob sie gleich nur erst sieben Monate schwanger war, so brachte sie doch einen engelschönen Knaben zur Welt, den Frau Felix über der Taufe hob, und ihm den Namen Benjamin beylegte.

Der Pfarrer wollte das Kind sogleich zu einer Amme schicken, allein Victorine bat ihn so inständig, sie sagte ihm mit so vielen Thränen, daß sie lieber sterben, als von ihrem kleinen Benjamin getrennt seyn wollte, daß er ihr ihn wenigstens für die ersten Tage lassen mußte, und da diese ersten Tage vorbey waren, hatte die mütterliche Zärtlichkeit nur noch zugenommen. Der Pfarrer erschöpfte alle Vernunftgründe, er stellte ihr vor, daß sie ihre Rückkunft nach Chamonny, und ihre Aussöhnung mit ihrem Vater unmöglich machte. Victorine hörte ihn mit niedergeschlagenen Augen an, und gab ihm keine andre Antwort, als daß sie ihren Benjamin umarmte.

Eine Woche verstrich nach der andern. Victorine vollendete ihre Ammenzeit, und blieb immer bey der Frau Felix, die sie von ganzem Herzen liebte. Die fünfzig Thaler ihres Vaters, und die, welche Nanette zu ihrem Geräthe gelegt hatte, waren hinreichend, ihr Kostgeld zu 161 bestreiten. Diese gute Nanette getraute sich nicht, ihre Schwester in Salenches zu besuchen, aber alles, was sie ersparen konnte, brachte sie unserm Pfarrer, der es seinem Amtsbruder zuschickte. Hiemit ging Victorinen nichts ab, sie brauchte auch sehr wenig. Sie ging nie, als des Sonntags aus, um die Frühmesse zu besuchen. Die übrige Zeit brachte sie mit ihrem Kinde und der Alten zu, die, weil sie vormals Schulmeisterinn zu Bonneville gewesen, Victorinen gut lesen und schreiben lehrte, und ihr eine Art von Erziehung gab. Kurz, Victorine war nicht unglücklich: der kleine Benjamin war ein allerliebstes Kind, allein dieses Glück konnte nicht immer dauern.

Achtzehn Monate waren bereits verstrichen. Benjamin konnte schon allein gehen. Victorine hatte den Unterricht der guten Frau Felix so wohl benutzt, daß sie im Stande war, einst ihren Sohn selber zu unterrichten. Dieser wurde täglich liebenswürdiger. Victorine konnte sich nicht satt an ihm sehen; sie beschäftigte sich nur mit ihm, ihr Herz hing nur an ihm, als der Pfarrer von Salenches eines Morgens zu ihr kam.

Liebe Tochter, sagte er zu ihr, als ich Euch aufnahm, als ich Eure Fehler mit dem Mantel der Liebe zudeckte, war meine Absicht, Euer Kind 162 zu einer Amme zu thun, es in einem Dorfe erziehen zu lassen, und ihm hierauf Mittel zu verschaffen, sein Brod zu gewinnen. Ich hoffte, während dieser Zeit den Zorn Eures Vaters zu besänftigen, ihn zu vermögen, Euch wieder in sein Haus aufzunehmen, wo Eure Reue, Eure Sittsamkeit, Eure Liebe zur Tugend und zur Arbeit den ihm verursachten Kummer in Vergessenheit gebracht hätte. Diese Aufführung war die einzige vernünftige, die einzige, die Euch die Liebe Eures Vaters und die Hochachtung Eurer Freunde wiedergeben konnte. Ihr allein widersetzt Euch diesem Plane. Eure übertriebene Zärtlichkeit für Euer Kind, Euer Entschluß, es nie zu verlassen, verbannt Euch auf immer aus dem väterlichen Hause. Meint ihr, Simon werde dieses Kind vor Augen sehen können? Was würde es ihm und dem ganzen Dorfe anders seyn, als ein immerwährender Gegenstand der Scham und des Verdrusses? Ihr habt Vernunft, Herz und Einsicht genug, um zu begreifen, daß Ihr entweder Eurem Kinde, oder Eurem Vater, Eurer Familie und Eurem Geburtsort entsagen müsset. Ich lese in Euren Augen, daß Eure Wahl entschieden ist. Ich muß Euch aber zu bedenken geben, daß Ihr nicht immer bey einer armen guten Frau bleiben könnt, die, ich weiß es wol, Euch herzlich liebt, die vielleicht verlangen wird, daß Ihr 163 sie nie verlasset, deren Dürftigkeit aber ihr nicht erlaubt, Euch unentgeldlich bey sich zu behalten. Ich selbst kann Euch die schwache Unterstützung nicht fortsetzen, die ich Euch bisher zufließen ließ, weil sie das Gut aller Unglücklichen ist, und ich, nach Erfüllung aller Pflichten, die mir Eure Lage vorschrieb, strafbar wäre, wenn ich andere Nothleidende wegen einer Liebe vernachlässigte, die ich entschuldige, die mich rührt, die ich aber nicht aufmuntern darf. Ihr werdet mir vielleicht antworten, daß Ihr von dem Gelde leben könnt, das Eure Schwester Euch zuschickt, allein dieses Geld bricht sie ihrem Munde, dem Unterhalt ihres Mannes, und ihrer Familie ab. Nanette arbeitet auf ihrem Acker, indem Ihr euern Benjamin liebkoset. Nanette schickt Euch ihren sauern Verdienst, und Nanette hat keinen Fehler begangen. Ich frage Euer Herz, liebe Tochter, erlaubt es Euch, noch lange solche Wohlthaten anzunehmen? Noch ein Ausweg bliebe Euch übrig, nämlich zu Genf, oder zu Chambery in Dienste zu treten. In Eurem Alter, mit Eurer Gestalt, und vielleicht gar in einem Zirkel böser Beyspiele würde dieser Entschluß Euch mancherley Gefahren aussetzen, über dieses zweifle ich, ob eine Herrschaft Euch mit einem Kinde aufnehmen würde, das Ihr nicht verlassen wollt. Ueberlegt alle diese Bedenklichkeiten, und fasset 164 einen reifen Entschluß. Ich gebe euch zwei Tage Frist. Alsdann müßt Ihr mir sagen, wozu Ihr Euch entschlossen habt, und auch dann verspreche ich Euch, auch noch alles mögliche für Euch zu thun.

Nach diesen Reden ging der Pfarrer fort, und ließ Victorinen in großer Ungewißheit, und in noch größerer Betrübniß zurück. Sie fühlte die Wahrheit alles dessen, was der weise Pfarrer ihr gesagt hatte. Noch mehr fühlte sie, daß es ihr unmöglich seyn würde, ohne ihren Benjamin zu leben. Sie sann den ganzen Tag und die ganze Nacht auf ein Mittel, wie sie ihrer Schwester nicht mehr zur Last seyn, und doch ihr Kind nicht verlassen könnte. Nachdem sie vergebens hin und her gedacht, verfiel sie endlich auf einen Entschluß, der freylich auch mißlich genug war, aber doch allein ihren Bedenklichkeiten abhalf. Sie faßte festen Vorsatz, ihn auszuführen, stand mit Tagesanbruch auf, und schrieb dem Pfarrer ungefähr diese Worte:

»Mein theurer Wohlthäter.«

»Es schmerzt mich in der Seele, daß ich Ihnen alle Ihre Gutthaten durch keinen, meiner Erkenntlichkeit angemessenen, Gehorsam vergelten kann. Der liebe Gott weiß, wenn ich, um Sie zufrieden zu stellen, nur mein Leben hingeben müßte, so würde ich minder unglücklich seyn. Aber welch ein Unterschied zwischen sterben, oder 165 meinen Benjamin verlassen! Ich kann es nicht, lieber Herr Pfarrer. Ich habe alle meine Kräfte versucht, werden Sie nicht böse auf mich, ich kann es nicht. Ich will weder meiner armen Schwester, noch der guten Frau Felix, noch Ihnen, der Sie so viel für mich gethan haben, weiter zur Last fallen. Wenn Sie diesen Brief erhalten, werde ich schon weit von Salenches seyn, und nicht mehr hinkommen. Ich habe ein Mittel gefunden, zu leben, ohne in Jemandes Dienste zu treten, und ohne Gefahr zu laufen, von der Tugend abzuweichen, die mir durch Sie so lieb geworden ist. Seyn Sie über diesen Punkt ruhig, mein theurer Wohlthäter. Ich verreise, ohne der guten Frau Felix etwas davon zu sagen, sie möchte mich aufhalten wollen, und ich würde die Kraft nicht haben, ihr zu widerstehen. Ich lasse in dem Schubkasten meines nußbaumenen Tischchens fünf und vierzig Livres, die ich ihr für das zu Ende laufende Quartal schuldig bin. Ich bitte Sie, ihr dieses Geld zu geben, und ihr zu sagen, daß ich immer für sie beten, und über meine Trennung von ihr trauern werde. Sie, mein theurer Wohlthäter, wird der liebe Gott segnen, denn Sie sind sein Ebenbild auf Erden, und nach ihm sind Sie es, den ich am meisten schätze, verehre und liebe.

Victorine

166 Nachdem sie diesen Brief versiegelt hatte, ließ sie ihn auf dem Tische liegen, machte ihr Päckchen zusammen, band ungefähr zwanzig Thaler, die ihr noch übrig blieben, in ihr Schnupftuch, nahm ihren Benjamin auf den Arm und ging zu Salenches hinaus.

Sie nahm den Weg nach Genf, übernachtete zu Bonneville, weil ihr Kind ihr nicht erlaubte, geschwind zu gehen. Des andern Tages kam sie zu Genf an. Ihre erste Sorge war, alle ihre Kleider und Wäsche zu verkaufen, und aus dem erlösten Gelde drey Mannshemden, ein Paar niedere Schuhe, ein Paar Beinkleider, einen Brustlatz, eine braune Tuchweste, ein seidenes Halstuch, und eine rothe Mütze anzuschaffen. Sie schnitt ihre schönen schwarzen Haare ab, die sie an einen Perückenmacher verkaufte, machte sich einen Ranzen von einem Kalbfell, worein sie ihr Geräthe steckte. Sie zog den schönen grünen Diamantring ab, den sie nie vom Finger gelassen hatte, hing ihn an einer Schnur um den Hals, und verbarg ihn unter dem Hemde. So zog sie, als ein kleiner Savoyard gekleidet, mit einem dicken Stock in der Hand, den Tornister auf den Schultern, den Benjamin auf dem Tornister sitzend, der mit seinen Händen Victorinen um den Hals faßte, zur Stadt Genf hinaus, und fragte nach der Straße, die nach Turin führte.

167 Zwölf Tage brauchte sie, um die Gebirge zu übersteigen, ohne daß ihr ein Unfall zustieß. Im Gegentheil, in allen Wirthshäusern, wo sie zu Mittag aß und übernachtete, reizte das Alter und die Gestalt des kleinen Savoyarden, nebst dem Kinde, das er auf den Schultern trug, und sein Brüderchen nannte, jedermanns Aufmerksamkeit. Ueberall wurden die kleinen Reisenden wohl aufgenommen, und wenn Victorine des Morgens die Zeche zahlen wollte, forderte man ihr um die Hälfte weniger, als den Andern. Bisweilen verlangte man nichts, als daß sie das berühmte Leyerliedchen ihres Landes singen sollte. Alsdann fing Victorine, ohne sich lange bitten zu lassen, mit einer sanften und rührenden Stimme jene bekannte Arie an, die sie ein wenig geändert hatte.

O Hannchen, schönes Hannchen
Du, die so lieblich sang,
Was gehst du stets alleine
Und warum tönt im Haine
Nie deiner Stimme Klang?

Ach er, mein trauter Buhle,
Zog weg von unsrer Flur,
Nun hängt mein Geist die Schwingen,
Mein Mund kann nicht mehr singen,
Ach seufzen kann er nur.

Ey, sieh dich, schönes Hannchen,
Nach einem andern um, 168
Sieh, alle Hirten streuen
Die Blumen, alle weihen
Sich dir zum Eigenthum.

Ich flöh' sie, wenn darunter
Auch gleich ein Herzog wär',
Der Millionen zählte:
Ein Herz, das einen wählte,
Wählt keinen andern mehr.

Victorinens Reise war nicht kostbar. Bey ihrer Ankunft in Turin blieb ihr noch einiges Geld übrig, sie miethete sich ein Kämmerchen unter dem Dache eines Gasthofes, sie kaufte sich den wenigen Hausrath, den sie nöthig hatte, einen Fußschemel, etliche Schuhbürsten und eine Flasche mit Oehl, und in Begleitung ihres Benjamins, der sie nie verließ, schlug sie unter dem Namen Victor ihren Aufenthalt auf dem Schloßplatze auf, wo sie den Vorbeygehenden die Schuhe putzte.

Die ersten Tage trugen ihr wenig ein, weil sie das Ding ungeschickt angriff, und viel Zeit brauchte, um ein paar Heller zu verdienen, bald aber begriff sie es, und da ging das Werk herrlich von statten. Victor, der gescheute, flinke und muntere Victor, machte alle Bestellungen des Quartiers. Während seiner Abwesenheit setzte sich Benjamin auf seinen Schemel, um ihn zu hüten. Gab es einen Brief, oder ein Päckchen 169 fortzutragen, eine Kiste auf ein Zimmer zu bringen, einen Korb mit Wein-Flaschen in den Keller zu schaffen, so wurde Victor vor allen andern gerufen. Alle Bedienten, alle Thürsteher, alle faule Köchinnen hatten ihn zu ihrem vertrauten Geschäftsträger gemacht, und oft brachte Victor mehr als einen Thaler nach Hause, den er verdient hatte. Dieser Gewinn war mehr, als sie für sich und Benjamin brauchte, der zusehends aufwuchs, täglich schöner ward, und von jedermann geliebt wurde.

Schon über zwey Jahre hatte dieses nicht unglückliche Leben gedauert, als eines Tages Victorine und ihr Kind, auf dem Schloßplatze, indem sie sich beyde niederbückten, um ihren Schemel zurecht zu setzen, einen Fuß sahen, der sich darauf stellte. Victorine griff sogleich zur Bürste, und ohne den Besitzer des Schuhes anzusehen, schritt sie hurtig zum Werke. Als das Schwerste fertig war, hob sie den Kopf empor. Die Bürste fällt ihr aus der Hand, sie erstarrt, es ist Belton, den sie erkannt hatte. Der kleine Benjamin, der keine Zerstreuungen hatte, und niemand erkannte, hob schnell die hingefallene Bürste auf, und wollte mit seinen schwachen Händchen die Arbeit seiner Mutter fortsetzen, die noch immer unbeweglich vor dem Engländer kniete, und die Augen auf ihn heftete. Der erstaunte Belton fragte 170 Victorine, was sie aufhalte, und lachte über die Versuche des Kindes, dessen Gestalt ihm gefiel. Nun besann Victorine sich wieder, entschuldigte sich bey Herrn Belton mit einer so süßen Stimme, mit so wohl gesetzten Worten, daß der Engländer noch mehr erstaunte, und sie über ihr Land und über ihre Umstände befragte. Victorine antwortete mit ruhiger Stimme: sie und ihr Bruder wären ein paar Waisen, die ihr Brod mit Schuhputzen verdienten, und daß sie im Thale Chamouny geboren seyen. Dieser Name erschütterte den Herrn Belton, er sah Victorinen steif an, und da er einige Züge zu erkennen glaubte, die er nicht vergessen hatte, so fragte er sie nach ihrem Namen. Ich heiße Victor, sagte sie. Und ihr seyd von Chamouny? – Ja, mein Herr, aus dem Dorfe Prieure. – Habt ihr keine andere Brüder? – Nein, mein Herr, ich habe nur Benjamin. – Auch keine Schwester? – O ja. – Wie heißt Eure Schwester? – Sie heißt Victorine. – Victorine? – Ja, so heißt sie. – Wo ist sie? – O ich weiß es nicht. – Wie kann es euch unbekannt seyn? – Aus vielen Ursachen, mein Herr, deren Erzählung Sie wenig bekümmern, und mich Thränen kosten würde. Sie hatte in der That Thränen in den Augen. Hr. Belton schwieg, indem er sie aufmerksam betrachtete. Victorine 171 erinnerte ihn, daß die Arbeit vollendet sey. Herr Belton, der nicht fortging, zog eine Guinee aus seiner Tasche, reichte sie ihr, und schien sehr bewegt. Ich kann Ihnen nicht herausgeben, sagte Victorine. Behaltet alles, erwiederte der Engländer, und antwortet mir: »Würdet Ihr nicht gern Euer jetziges Handwerk gegen einen guten Dienst vertauschen? – Unmöglich, mein Herr. – Warum nicht? – Weil mich nichts in der Welt von meinem Bruder trennen kann. – Wenn man ihn aber mit Euch zugleich annähme. – Das wäre ein anders. – Nun dann, Victor, Ihr seyd mein Bedienter, Ihr sollt es in meinem Hause sehr gut haben, und Euer Bruder kann bey Euch wohnen. – Mein Herr, antwortete ihm Victorine ganz bestürzt, seyn Sie so gütig, mir ihre Addresse zu geben, so werde ich Sie morgen sprechen. Hr. Belton riß ihr den Umschlag eines Briefes ab, empfahl ihr, ja nicht auszubleiben, und ging weiter, nachdem er sich öfters nach ihr umsah.

Es war hohe Zeit für Victorinen, daß diese Unterredung ein Ende nahm, ihre Thränen hätten sie bald erstickt. Sie eilte auf ihre Kammer, schloß sich ein, und überlegte, was sie thun sollte. Es schien ihr gefährlich, bey dem jungen Engländer in Dienste zu treten: gleichwol zog ihr Herz sie zu ihm, und die Begierde, ihrem 172 Benjamin einen Vater zu geben, war ihr ein mächtiger Beweggrund. Hingegen machte die Art, wie Belton sie betrogen, und das Versprechen, das sie dem Herrn Pfarrer zu Salenches und sich selbst gethan hatte, alle für ihre Tugend gefährliche Gelegenheiten zu fliehen, sie wieder so unschlüssig, daß sie sich nicht zu helfen wußte. Endlich behielt die Sorge für Benjamin die Oberhand, und sie beschloß, nach reifer Ueberlegung, zu Herrn Belton zu gehen, ihm redlich zu dienen, ihm Liebe für seinen Sohn einzuflößen, ihm aber auch sorgfältig zu verbergen, daß sie jene Victorine sey, die er wol gar erkannt haben mochte. Nun bereute sie es, daß sie sich vielleicht zu weit herausgelassen hatte, und nahm sich fest vor, kein Wort mehr zu sagen, das den Engländer vollends belehren könnte.

Diesem Entschluß zufolge ging sie des andern Tages zu Herrn Belton. Sie wurde von ihm sehr wohl empfangen. Der Engländer versprach ihr einen sehr guten Lohn, wies ihr und Benjamin ein Zimmer an, und befahl, daß sie ungesäumt gekleidet würden. Nach diesen Anstalten wollte Herr Belton das Gespräch des vorigen Tages wieder anknüpfen, und befragte seinen neuen Bedienten über jene Schwester, von der er gesprochen hatte. Allein Victorine unterbrach ihn. Mein Herr, sagte sie, meine 173 Schwester ist nicht mehr, sie muß vor Elend, Kummer und Reue gestorben seyn. Unsere ganze Familie hat ihr Unglück beweint, und wer nicht unser Verwandter ist, hat vielleicht kein Recht, uns an ein so trauriges Andenken zu erinnern. Belton erstaunte mehr als jemals über den Ton und den Verstand seines Bedienten, und stellte von nun an seine Fragen ein, allein er fasste viele Hochachtung, und empfand eine wahre Freundschaft für diesen seltenen Jüngling.

Victor war in kurzer Zeit der Günstling seines Herrn. Der kleine Benjamin, an den ein unwillkührlicher Zauber das Herz des Herrn Belton fesselte, war allezeit in seinem Zimmer, und wurde vom Engländer mit Geschenken überhäuft. Das liebenswürdige Kind, welches zu errathen schien, daß es Herrn Belton sein Daseyn schuldig war, liebte ihn beynahe eben so sehr, als Victorinen, und sagte es ihm mit so vieler Anmuth, mit so unschuldigen Liebkosungen, daß der Engländer seiner nicht mehr entbehren konnte. Victorine weinte darüber vor Freuden, allein sie verbarg ihre Thränen, und verdoppelte ihre Sorgfalt, unerkannt zu bleiben. Beltons zerstreute Lebensart, seine Verbindungen, seine Liebeshändel mit verschiedenen Frauenzimmern von Turin betrübten Victorinens Herz, 174 und liessen sie fürchten, daß der Augenblick, sie zu entdecken, vielleicht nie kommen würde.

In der That hatte Herr Belton, den der Tod seiner Eltern mit neunzehn Jahren zum Herrn eines sehr großen Vermögens machte, es bisher dazu angewandt, Italien zu durchstreifen, und sich überall aufzuhalten, wo er sich vergnügen konnte, das ist überall, wo er Weiber antraf, die ihm gefielen, ihn betrogen, und um sein Geld brachten. Eine Dame des Turiner Hofes, die zwar nicht mehr jung, aber noch schön war, wurde damals von ihm geliebt. Dieses rasche jähzornige Weib war über Herrn Belton sehr eifersüchtig. Sie verlangte, daß er jeden Abend mit ihr zu Nacht speisen, und ihr jeden Morgen schreiben sollte. Der Engländer wagte es nicht, ungehorsam zu seyn. Dennoch gab es öftere Zänkereyen und Mißverständnisse. Wegen jeder Kleinigkeit wollte die Dame sich umbringen, weinte, raufte sich die Haare aus, und spielte Comödien, deren Herr Belton anfing überdrüssig zu werden. Victor sah das Alles, denn er begleitete des Abends seinen Herrn. Er bediente ihn bey der Tafel, und des Morgens brachte er der Dame seine Briefe. Sein armes Herz litt dabey nicht wenig. Allein er duldete, ohne ein Wort zu sprechen, er gehorchte Herrn Belton, der ihm täglich mehr Vertrauen bezeigte, und sich oft gegen ihn über 175 das traurige und beschwerliche Leben beklagte, das er führte. Alsdann wagte Victor einige kleine, halb scherzhafte, halb ernstliche Lehren, die sein Herr mit Beyfall anhörte, und wol auch versprach, sie morgenden Tages zu befolgen. Der morgende Tag erschien. Herr Belton kehrte mehr aus Gewohnheit, als aus Liebe zu seiner Dame zurück, und Victor, der ingeheim weinte, zwang sich zu lächeln, indem er seinen Herrn begleitete.

So verstrichen einige Monate, endlich entstand ein so heftiger Streit zwischen dem Engländer und der Marquisinn, daß jener beschloß, ihr nicht mehr über die Schwelle zu treten. Um sein Wort zu halten, machte er mit einer andern Dame des Hofes Bekanntschaft, welche nicht besser war, als die, so er verließ. Victorine fand in dieser Veränderung bloß eine neue Quelle des Kummers. Alles, was sie gesagt, Alles, was sie gethan hatte, war vergebens, sie mußte wieder von vorn anfangen. Sie ergab sich darein, ohne sich zu beklagen. Immer eben so gehorsam, eben so sanftmüthig, eben so ergeben gegen ihren Herrn, hörte sie seine neuen Geheimnisse ebenso geduldig an, und bediente ihn mit der nämlichen Treue.

Allein die Marquisinn war nicht gesonnen, das Herz ihres Engländers so gutwillig fahren zu lassen. Sie ließ ihn ausspähen, entdeckte gar bald ihre Nebenbuhlerinn, und da sie entschlossen war, 176 Alles zu versuchen, um Herrn Belton herumzubringen, oder zu bestrafen, so erschöpfte sie zuerst alle Ränke der Arglist, um ihn wieder zu sich zu locken. Ihre Bemühungen waren vergebens. Der Engländer ließ ihre Briefe unbeantwortet, verschmähte ihre Einladungen, verspottete ihre Drohungen. Nun gerieth die Marquisinn außer sich, und sann bloß auf Rache.

Als eines Tages Herr Belton seiner Gewohnheit nach, von Victorinen begleitet, um zwey Uhr des Morgens von seiner neuen Geliebten wegging, und, weil er ihrer bereits müde war, zu seinem treuen Victor sagte, daß er große Lust habe, nach London zurückzukehren, fielen auf einmal vier Bösewichter, die hinter einem Eckhause versteckt waren, mit gezückten Dolchen Herrn Belton an, der kaum Zeit hatte, sich den Rücken durch eine Mauer zu decken, und den Degen zu ziehen. Bey Erblickung der Mörder warf Victorine sich ihrem Herrn entgegen, und fing mit ihrer Brust den Dolchstich auf, der Hn. Belton durchbohren sollte. Sie fiel augenblicklich zu Boden. Der Engländer brüllte vor Wuth, lief auf den los, der Victorn verwundet hatte, stürzte ihn zu Boden, und fiel die drey andern mit solcher Hitze an, daß sie die Flucht ergriffen. Herr Belton verfolgte sie nicht, er kam zu seinem Bedienten zurück, hob ihn auf, umarmte ihn, und 177 rief ihn weinend bey seinem Namen. Allein Victorine antwortete nicht, sie lag in Ohnmacht. Herr Belton nahm sie in seine Arme, trug sie in seine nahgelegene Wohnung, legte sie auf sein eigenes Bette, und indeß alle seine Leute auf seinen Befehl nach einem Wundarzte riefen, knüpfte Hr. Belton voll Ungedult, zu sehen, ob die Wunde gefährlich sey, Victorinens Weste auf, schob das blutige Hemd weg, und wurde versteinert, als er einen weiblichen Busen erblickte.

In dieser Minute erschien der Wundarzt. Er besichtigte die Wunde, und fand sie nicht tödtlich, weil der Dolch an einer Rippe abglitte. Allein Victorine kam nicht zu sich. Man verband sie, man gab ihr Tropfen zu riechen. Herr Belton, der ihr den Kopf hielt, bemerkt eine Schnur an ihrem Halse, er zieht sie hervor, und erblickt einen Ring . . . . es ist der seinige, eben der, welchen er auf dem Montenvert der schönen Hirtinn ansteckte, die er so grausam verließ. Nun wird ihm alles klar, er erkennt Victorinen, allein er zwingt sich. Er lässt eine Wärterinn rufen, die sie entkleidet, und in ihr Bette trägt. Als das arme Mädchen sich endlich erholte, wirft sie erstaunende Blicke auf die Wärterinn, auf den Wundarzt, auf ihren Herrn und auf Benjamin, der, durch das Getöse aufgeweckt, halb nackend aufgestanden und zu seinem 178 Bruder gelaufen war, den er mit lautem Geschrey umarmte.

Victorinens erste Bewegung war, ihren Benjamin zu trösten; als sie sich hierauf an das Vergangene erinnerte, und sich in einem Bette befand, bedachte sie, daß sie ausgekleidet worden, und griff mit unruhiger Hurtigkeit nach ihrem Ringe. Herr Belton, der sie beobachtete, las in ihren Blicken das Vergnügen, das sie hatte, ihr Kleinod wiederzufinden. Er hieß alsbald jedermann hinausgehen, kniete neben das Bette nieder, und nahm Victorinen bey der Hand.

»Fasse, rief er, fasse dich, liebe Freundinn, ich weiß Alles, zu unser beyder Glücke weiß ich es, du bist Victorine, und ich bin ein Ungeheuer. Ich weiß nur ein Mittel, es nicht mehr zu seyn, »und du allein kannst mir es geben. Ich verdanke dir schon mein Leben, ich will dir auch meine Ehre verdanken. Ja, meine Ehre, denn ich habe sie verloren, du nicht. Deine Wunde ist nicht gefährlich, in Kurzem wird sie geheilt seyn. Sobald du ausgehen kannst, mußt du mir vor dem Altare den Namen deines Gatten geben, und mir ein abscheuliches Verbrechen verzeihen, das ich mir nie verzeihen werde; diese Verbindung, um die ich dich auf den Knien bitte, muß in den Augen der Tugend mich ehren und adeln. Lange, gute Victorine, vergaß ich sie, diese so liebenswürdige 179 Tugend, allein sie wird mir um desto theurer, da du ihr mein Herz wieder zuwendest.«

Urtheilen Sie von dem Erstaunen, von der Entzückung der guten Victorine. Sie wollte sprechen, ihre Thränen erstickten ihre Worte. Auf einmal erblickte sie den kleinen Benjamin, den man mit den andern hinaus geschafft hatte, und der, voll Unruhe wegen seines Bruders, die Thür ganz sachte aufmachte, und sein holdseliges Gesichtchen hereinstreckte, um zu sehen, was in der Kammer vorging. Victorine wies ihn Herrn Belton und sagte: Hier ist Ihr Sohn, er wird Ihnen besser als ich antworten. Der Engländer sprang auf Benjamin zu, nahm ihn auf seine Arme, und bedeckte ihn mit Küssen, und nachdem er ihn zu seiner Mutter getragen, brachte er den Rest der Nacht zwischen seiner Gattinn und seinem Kinde in einem Seelenvergnügen zu, das er noch nie gekannt hatte.

Nach vierzehn Tagen war Victorine wieder hergestellt. Sie hatte Herrn Belton von allem unterrichtet, was ihr begegnet war. Diese Erzählung machte sie dem jungen Engländer nur noch theurer, der nun weit verliebter in sie war, als das erste Mal, da er sie kennen lernte. Sobald sie die Reise ertragen konnte, stieg Victorine in einem weiblichen aber sehr bescheidenen Anzuge mit dem kleinen Benjamin in den Wagen des Engländers, und alle drey kehrten, ihrer Verabredung 180 gemäß, zu Salenches bey dem Pfarrer ein. Der gute Priester erkannte Victorinen nicht. Der Engländer belustigte sich eine Zeitlang an seiner Verlegenheit. Endlich erinnerte ihn Victorine, indem sie ihm um den Hals fiel, an alle seine Wohlthaten, und unterrichtete ihn von dem Beweggrunde ihrer Reise. Der gute Pfarrer dankte Gott, er lief hinein, und holte die Frau Felix, die noch lebte, und die vor Freuden bald gestorben wäre, als sie Victorinen und ihren Benjamin erblickte. Des folgenden Morgens verreisten sie alle nach Chamouny, wo Herr Belton, der katholisch war, sich öffentlich in der Pfarrkirche zu Prieure trauen lassen wollte.

Noch am Abend ihrer Ankunft schickte der junge Engländer den Herrn Pfarrer von Salenches zum furchtbaren Herrn Simon, um bey ihm um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Der Alte empfing ihn mit gesetztem Ernste, hörte ihn ohne sonderliches Vergnügen an, und gab seine Einwilligung nur mit zwey Worten. Victorine kam, und warf sich zu seinen Füßen, ihr Vater ließ sie einige Augenblicke liegen, hob sie sodann, ohne das geringste Zeichen des Wohlgefallens, auf, umarmte sie, ohne sie an sein Herz zu drücken, und empfing Herrn Belton mit einem frostigen Gruße. Die gute Nanette, die man gleich anfangs herbeygerufen hatte, lachte und weinte unaufhörlich. Bey dem 181 Kirchgange trug sie den Benjamin auf einem Arme, und mit dem andern fasste sie ihre Schwester, die ihr Bräutigam führte. Die beyden Geistlichen gingen voran, die alte Frau Felix hinten drein mit Herrn Simon, den sie zankte, hierauf folgten alle Kinder des Dorfs mit frohen Gesängen.

So ging man in die Kirche, wo der Hr. Pfarrer von Chamouny den Herrn Pfarrer von Salenches die Messe lesen ließ. Die Hochzeit war herrlich, das ganze Dorf tanzte acht volle Tage. Herr Belton hatte auf der Wiese am Ufer der Arve Tische aufschlagen lassen, woran jeder nach Herzenslust schmausen konnte. Er kaufte für den alten Herrn Simon die besten Aecker. Dieser aber weigerte sich, sie anzunehmen, und ereiferte sich sogar über unsern Pfarrer, der ihm diese Weigerung verwies. Nanette war nicht so hart. Sie nahm diese Aecker und ein hübsches Haus an, das Herr Belton ihr schenkte. Sie ist jetzt die reichste und glücklichste Bäuerin im Dorfe. Herr und Madame Belton verreisten nach einem Monate, und der Segen der ganzen Gemeine folgte ihnen nach. Sie wohnen in London, wo Benjamin schon fünf oder sechs Geschwister hat.

Dieses ist ihre Geschichte, die ich nicht kürzer fassen konnte, weil ich sie gern so erzählen wollte, wie der Herr Pfarrer sie erzählt, von dem ich sie 182 oft und viel gehört habe. Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich Ihnen lange Weile machte.

Ich sagte dem Franz Paccard vielen Dank, und versicherte ihn, daß seine Erzählung mich sehr gerührt habe. Hierauf stieg ich den Montenvert hinab, und dachte nur immer an Victorinen. Nach meiner Rückkunft in Genf schrieb ich diese Geschichte mit Paccards eigenen Worten auf, ohne die Fehler gegen den Geschmack und die Schreibart zu verbessern, welche Kenner darin finden werden. 183

 


 


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