Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 10. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Mariechen.

Eine wahre Anekdote.

In E. lebte unlängst eine arme Wittwe mit ihrer Tochter, die sich mit Spinnen in den dortigen Manufakturen ernährten. Die Wittwe wurde krank und lag lange; Mariechen that, was sie konnte, um ihrer armen Mutter zu pflegen, ihr geringer Taglohn reichte aber so wenig zu, daß sie endlich genöthigt ward, des Abends umher zu gehen, und mildthätige Herzen um ein Allmosen anzusprechen. Endlich starb die Mutter, und kaum war sie begraben, so verschwand Mariechen, niemand wußte, wo sie hingekommen war.

Sie hatte viel von Holland gehört, wo so manche Fremden schon ihr Glück fanden, und die Ueberlegung, daß es ihr da wenigstens eben so gut als in E. gehen könne, führte sie dahin. Den ganzen Weg über bettelte sie, und lebte überaus kümmerlich, um so viel Geld zu sparen, daß sie sich kleiden und die mißempfehlende Lumpen ablegen könnte. Sie war bis nach 129 Rotterdam gekommen, wo sie sich endlich im Stande sah, sich einen zwar schlechten, aber reinlichen Anzug anzuschaffen. Von aussen geputzt, und innerlich mit einem allmächtigen Zutrauen auf Gottes Führung gestärkt, ging sie nun in den Straßen dieser Stadt umher, fest entschlossen, sich gänzlich der unsichtbaren Hand zu überlassen, die ihr auf ihrem weitem Wege so manchen Wohlthäter erweckt hatte. Zuletzt fasste sie sich ein schönes, großes Haus in's Auge, und ohne langes Bedenken ging sie hinein. Eine freundliche Matrone fütterte im Hofe ihre Hühner, und fragte sie sehr liebreich: Was willst du, mein Kind? Madame, antwortete sie in ihrer plattdeutschen Landessprache, ich komme weit her, bin arm, suche Dienste und fürchte, keine zu bekommen, weil ich meine ganze Habe auf dem Leibe trage. Die sollst du bei mir haben, meine Tochter, antwortete die Dame. Mariechen blieb da, diente von unten auf durch alle Stufen, und bekam endlich wegen ihres Wohlverhaltens die Stelle einer Kammerjungfer.

Die Dame war eine geborne Engelländerinn, und Wittwe eines holländischen Kaufmanns. Ihr Neffe war der englische Doktor B., der in Genua bei seinen dortigen Landsleuten die Arzneiwissenschaft ausübte. Dieser Doktor B. hatte die Gewohnheit, alle paar Jahre seine alte Tante 130 zu besuchen, und kam auch jetzt nach Rotterdam, als Mariechen eben die Kammerjungferstelle erhalten hatte. Sie war wegen ihres Verstandes und Herzens der Liebling ihrer Herrschaft geworden. Doktor B. sah sie nur, als sie einmal durchs Zimmer ging: ihre Bildung gefiel ihm außerordentlich, und als er die Lobeserhebungen seiner Tante hörte, beschloß er, sie zu heirathen. Diesem Entschlusse war die Wittwe auch so wenig zuwider, daß sie die Dollmetscherinn bei der Liebeserklärung ihres Neffen abgab. Mariechen, die nicht wußte, wie ihr geschah, konnte nur auf vieles Dringen ihr Ja aussprechen.

Indessen wollte der Bräutigam sie nicht so unwissend mit sich nehmen. Er fragte sie, was sie noch lernen wollte. Außer der englischen, französischen und italiänischen Sprache wählte sie noch die Erdbeschreibung, Geschichte, Naturlehre und Zeichenkunst, und auf sein Bitten entschloß sie sich, auch reiten zu lernen. Doktor B. bezahlte alle Lehrer zum voraus, und reiste so nach Genua zurück. Die bisherige Kammerjungfer wurde nun die Gesellschafterinn ihrer Gebieterinn, und lernte so fleißig, daß vom ganzen Tag ihr nur Eine Stunde zur Erholung übrig blieb, und diese wandte sie dazu an, ihrem Bräutigam Proben ihrer wachsenden Geschicklichkeit zuzusenden. Nach 131 Jahresfrist kam Doktor B. wieder, und fand, daß sie ihre Zeit über alle Erwartung wohl angewandt hatte. Er war darüber so entzückt, daß er nicht einmal warten konnte, bis Mariechen ganz fertig war. Im Pudermantel und mit halb vollendetem Haarputze ließ er sich mit ihr trauen. Nun ging er mit ihr nach Italien, mußte ihr aber die Freude machen, sie zuvor nach E. zu führen. Der Wirth in E., wo sie abstiegen, war nicht wenig erstaunt, als die gnädige Frau im Amazonenkleide ihn bey seinem Namen nannte, und ganz vertraut bewillkommte. Er wußte sich vollends nicht zu fassen, als sie ihm mit der größten Freundlichkeit sagte: Ei! kennen Sie das arme Mariechen nicht mehr? Ich bin gekommen, nicht nur Ihnen, sondern allen meinen edelmüthigen Wohlthätern, die mich und meine arme Mutter ehmals mit einem Allmosen erquickten, zu danken. Das that die nunmehr reiche Maria wirklich, in ganz E. wurde kein Haus übergangen, und überall dankte Doktor B. auch. Allein der große und kleine Pöbel in E. war so moralisch orthodox, daß man den Gassenjungen durch die Finger sah, welche auf die bloße Vermuthung, Mariechen möchte entweder Doktors B. Gemahlinn nicht seyn, oder auf bösen Wegen dieses Glück erlangt haben, das edle Paar mit Koth und Steinen warfen, so daß sie sich mehrmals in die Häuser flüchten mußten.

132 Mariechen hatte noch drei Brüder in E., davon waren zween Weber, und der dritte hatte noch keinen eigentlichen Beruf. Der erste Bruder saß ganz fleißig am Webstuhl, als die vornehme Dame mit dem Herrn hereintrat, und meinte zu träumen, als sie ihm mit dem ganzen Entzücken einer Schwester um den Hals fiel. Er machte einen Kratzfuß über den andern, und wollte durchaus nicht glauben, daß die Dame seine Schwester sey, bis sie ihn durch viele kleine Umstände davon überzeugte. Eben so ging's bei den zween andern Brüdern: allen wurde von Doktor B. eben so brüderlich als großmüthig begegnet.

Weil die beiden Aeltesten ihr Gewerbe nun schon erwählt hatten, so war das weise Paar weit entfernt, sie davon abzuziehen, vielweniger durch übermäßige Geschenke sie so zu bereichern, daß sie gar nicht mehr arbeiten durften; dieses wäre kein Glück für sie gewesen, Beide mußten Weber bleiben, und jedem wurde jährlich so viel ausgesetzt, als er brauchte, um nothdürftig zu leben; wollte er gut leben, so mußte er arbeiten. Dem jüngsten Bruder wollten sie eine Stelle unter den Truppen kaufen. Sie konnten ihn aber nicht weiter als bis nach Bern bringen, da bekam er das Heimweh, und ging wieder nach E. zurück.

Nicht sowol zur Ehrenrettung des dortigen Magistrats, als zur Beglaubigung dieser 133 Geschichte ist noch anzumerken, daß derselbe, durch Mariechens prächtige Erscheinung aufmerksam gemacht, in Rotterdam von ihr und ihrer Heirath Erkundigung eingezogen, und, nach Aufklärung aller seiner Zweifel, bei Doktor B. wegen des schlechten Betragens der Landsleute seiner Gattinn sich schriftlich entschuldigt hat.

Vermuthlich leben beide noch in England, wohin der Doktor nach dem Tode eines Oheims zurückzukehren gedachte, von dem er ein beträchtliches Vermögen und einen Titel zu gewarten hatte. 134

 


 


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