Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 3. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Beitrag
zur Leidens-Geschichte der Menschheit.

Aus einem ungedruckten französischen Schreiben.

B** bei Gr** den 24. Mai 1794.

Ich schreibe Ihnen, mein theurer Freund, aus der Wohnung der leidenden Tugend. Ihr fühlendes Herz bürgt mir für den Antheil, den Sie an dem Schicksal der jungen unglücklichen Freundin nehmen werden, bei der ich hier die ersten Wochen des Frühlings zugebracht habe. Alles was mir die Zeugen ihres Unglücks von ihren Leiden und von ihrer Standhaftigkeit erzählten, alles was ich selbst Großes in ihrer Sinnesart und Heldenmüthiges in ihren Handlungen bemerkte, hat mich so tief gerührt, daß ich den Eindruck desselben unmöglich in meinen Busen verschließen kann. Sie müßen mit mir die zärtliche, trostlose Victorine bedauern. Die guten, liebevollen Wesen, die Sie umgeben, werden ihrer Tugend ihre stille Bewunderung, ihren Unfällen ihr warmes Mitgefühl nicht versagen, und so wird es mir ein süßer Gedanke seyn, Victorinen, ohne ihr Vorwissen, einer größern Anzahl edler, empfindsamer Herzen theuer und ehrwürdig gemacht zu haben.

182 In der That ist es schwer ein Weib zu finden, das mehr psychologisches und moralisches Interesse und mit einnehmendern Geistesgaben eine zärtere Reizbarkeit des Herzens in sich vereinigte. Was bei ihr den Werth dieser letztern Eigenschaft erhöhet, ist der Umstand, daß, indem sie die lebhaftesten, erhabensten, heldenmüthigsten Empfindungen ausdrückt, ihre Sprache, ihr Ton, ihr ganzes Wesen dennoch nichts als die reinste Natur ist. Mit der tiefsten Innigkeit lieben und reden, wie sie empfindet, edel denken und handeln, wie sie denkt, sind bei ihr so gewöhnliche Verrichtungen des Lebens, als Athemholen und Bewegung es bei andern sind. Sie ließ bei Zeiten das feine Gepräge ihres Geistes und das sanft-rührende Wesen blicken, die sie auszeichnen. Man erinnert sich noch zu Aix (in Savoyen), daß sie, als sie in einem Alter von 8 Jahren ihre Mutter in das dortige Bad begleitete, der Liebling der zahlreichen und ausgesuchten Gesellschaft wurde, die sich daselbst versammelt hatte. Als sie durch einen Zufall hinkend geworden, führte man sie jederzeit als ein Beispiel der Bemerkung an: daß die körperlichen Gebrechen oft durch moralische Vorzüge ersetzt werden, bei denen man jene vergißt. Uebrigens war ihre Bildung, ohne regelmäßig schön zu seyn, voll Anmuth und Lebhaftigkeit, und besonders voll 183 Ausdruck. Noch itzt, da das Unglück sie ausgemergelt hat, behält ihre Physiognomie etwas anziehendes, das ich noch nirgends angetroffen habe. Es ist eine rührende Harmonie von Empfindsamkeit und Heldenmuth. Kein Weib hat jemals diese beiden Eigenschaften in einem höhern Grade besessen: man wundert sich, wie in einem so schwachen Körper eine so starke Seele wohnen kann. Sie hatte ihr sechs und zwanzigstes Jahr zurückgelegt, und beweinte noch ein geliebtes Kind, die zwote Frucht einer glücklichen Heirath, das in seinem zartesten Alter die außerordentlichsten Gaben blicken ließ: als die traurigen Auftritte in Lyon ihren Schmerz zerstreuten, oder vielmehr durch neue Qualen verdoppelten. L . . . . . r, der Gatte, den ihr Herz gewählt, der Gatte, der sechs Jahre lang sie glücklich gemacht, und der, um sich mit ihr zu verbinden, sein Ohr vor den lauten Einwendungen des Eigennutzes verschlossen hatte; der muntere, liebenswürdige, geistreiche L . . . . .r ließ sich zur Parthei der Föderalisten hinreißen. Die ängstliche Zärtlichkeit seines Weibes hatte bei dem denkwürdigen Auftritt des 29. Mai seinen Muth zurückgehalten und in den Augen seiner Landsleute seiner Ehre geschadet. Victorine, die nur in ihm lebte, fürchtete seine kränkenden Vorwürfe zum zweitenmale zu verdienen: sie 184 beantwortete seinen Entschluß, in der unglücklichen Stadt zu bleiben, mit Stillschweigen, und verlangte blos von ihm, daß er ihr nie zumuthen wolle, ihn zu verlassen. Schon damals ahnete sie das tragische Schiksal, das ihn erwartete; allein sie versüßte sich den bittern Gedanken seines Verlustes durch die Hoffnung, ihn nicht zu überleben. Fällt er, sagte sie, so tödte ich mich: und dieses war keine fliegende Hitze, sondern ein überlegter Vorsatz, darin sie eine Art von Trost und Beruhigung fand. Als aber während der Belagerung das Bild des Todes und der Zukunft ihr beständig vor der Seele schwebte; ward sie allmählig zu den Grundsätzen der Religion hingeführt, die sie nie ganz vergessen hatte. Nur war ihre Stimme durch den Umgang mit der Welt geschwächt und durch die gewaltigen Erschütterungen, die ihr Herz bestürmten, übertäubt worden. Dabei sah sie gar wohl ein, daß sie aller Heiterkeit des Geistes bedurfte, um den Kummer ihres Mannes zu lindern, den der Gedanke, sie in Verzweiflung zurück zu lassen, unaufhörlich martern würde.

Durch dieses zwiefache Gefühl hingerissen, ruft sie ihre fünfjährige Tochter, ein Kind voll Reiz und Sanftmuth, das ächte Ebenbild seiner Mutter, legt in einer unbeschreiblichen Extase von heroischer Empfindsamkeit die Hand auf den Scheitel 185 des theuren Geschöpfes, und leistet Gott das Gelübde, zu leben: ein wahres, großes Opfer für sie, die sich so sehr nach dem Ziele ihrer Leiden sehnte. Auch wünschte sie nun, da sie es verschworen hatte, sich selbst das Leben zu nehmen, daß eine fremde Hand es endigen möchte.

Ihrer Meinung nach hätte Lyon sich nie ergeben sollen, und seine Einwohner, welche alle zugleich unter den Ruinen ihrer Stadt gefallen wären, würden, wie sie sagte, in dem Troste eines gemeinschaftlichen Todes ein weit vorzüglicheres Schicksal als in der langwierigen Marter des Ueberlebens gefunden haben. Die erste Nachricht von der Uebergabe erfüllte sie mit dem bittersten Unwillen, sie hoffte aber noch, daß die republikanische Armee, durch die Ursache und die Länge der Belagerung aufgebracht, ihren Sieg durch ein allgemeines Blutbad bezeichnen würde. Allein umsonst erwartete sie gleich einer Römerin den Tod in ihrem Hause. Ordnung und Stille begleiteten eine Eroberung, auf welche die schröcklichsten Greuel folgen sollten.

Victorine blickt in die Welt zurück, und erfährt, daß ihr Mann gefangen ist. Er hatte in derselbigen Nacht die Colonne des Percy bei ihrem Ausfalle begleitet, und von seiner Gattin den schmerzlichsten Abschied genommen, nachdem er ihr 186 auf das dringendste angelegen, ihm zu folgen. Zweimal kam er in diesem Augenblicke der Gefahr und des Schreckens zurück, um seine Bitte zu wiederholen: immer weigerte sie sich mit liebevoller Standhaftigkeit, ihn zu begleiten. Ich könnte, antwortete sie, nichts zu deiner Rettung, wohl aber sehr viel zu deinem Verderben beitragen. Der Gedanke der mir drohenden Gefahren würde dich der zu deiner eigenen Erhaltung nöthigen Kaltblütigkeit berauben, du würdest meinen Wagen nicht verlassen wollen, du würdest dich tödten lassen, um mich zu vertheidigen. Er zog also ohne sie fort: die Colonne ward angegriffen und niedergemacht: nur einige wenige, die dem Blutbade entgiengen, wurden mit ihm gefangen genommen. Ihr Schicksal schien nicht zweifelhaft: seine Entscheidung konnte nicht ferne seyn.

Stellen Sie sich, liebster Freund, Victorinens Verzweiflung vor, als sie von den schröcklichsten Besorgnissen zur schauerlichen Gewißheit übergieng, ihren Gatten auf dem Blutgerüste sterben zu sehen. Trostlos und entgeistert durchlief sie, ihrer Beschwerlichkeit ungeachtet, allein und ohne Stütze, die Plätze und Straßen der weitläuftigen Stadt. Sie langt bei dem Gefängnisse an, darin sich ihr Gatte befindet: sie will wenigstens die Mauern ansehen, die ihn einschließen. 187 Unvermögend sie durchzuschauen und eben so unvermögend sie zu verlassen, verlangt sie endlich, ihn selber zu sehen. Sie wird mit Härte abgewiesen: ihr Flehen, ihr Geschrei, die schröcklichen Zuckungen ihres Jammers, alles ist vergebens, alles bleibt fühllos um sie her. Dieses war zu viel für ihre Seele. In einem Anfall von Wahnsinn warf sie den ihrem Manne bestimmten Pack mit Wäsche und Lebensmitteln der Schildwache zu Füßen, und schoß wie ein Pfeil der Saone zu, um sich hineinzustürzen. Ein Häscher hält sie auf: er kann dem Anblicke der entsetzlichsten Verzweiflung nicht länger widerstehen, er faßt sie beim Arme und stößt sie mit Ungestüm zum Gefängnisse hinein, als hätte er seine Nachgiebigkeit durch diese scheinbare Härte verzeihlich machen wollen. Nun ist sie wieder bei ihrem Geliebten; sie glaubt ihm ihr letztes Lebewohl zu sagen. Des folgenden Morgens sieht sie ihn wieder, noch zween Tage wiederholt sie ihre Besuche; alle Augenblicke, die sie nicht bei ihm zubringt, wendet sie an, ihn zu rechtfertigen, ihn zu vertheidigen, ihm seine Richter günstig zu machen. Verschiedne unter ihnen waren Menschenfreunde: Victorinens Bemühungen waren nicht vergebens: er wird losgesprochen, er ist frei.

Ich habe den Muth nicht, Ihnen, mein Freund, eine Freude zu schildern, die, wie die anscheinende 188 Besserung eines Todtkranken, nur wenig Stunden dauerte. Eben die Hand, die L . . . . rs Freiheit unterzeichnet hatte, verordnete zween Tage darauf neuerdings seinen Verhaft. Nun verlohr sie alle Hoffnung. Die Nationalrache hatte ihre Strenge verdoppelt, und ihre Diener verschärften noch die blutigen Aechtungen des Gesetzes. Es blieb der unglücklichen Victorine nichts als der leidige Trost übrig, die wenigen Tage, die ihr Gatte noch zu leben hatte, an seiner Seite zuzubringen. Mit dem Morgenroth erschien sie vor dem Gefängnisse, und verließ es erst mit einbrechender Nacht. Vielleicht glauben Sie, mein Freund, daß sie sich bei ihm ihrem Schmerz überließ, und ihn mit ihren Thränen benezte; nein, ihr Auge war trocken, ihr Ton ruhig, ihre Haltung gefaßt. Sie hätte gefürchtet, den Harm ihres Gatten durch das Bild des ihrigen zu vermehren, und strengte alle ihre Kräfte an, um ihre Marter in ihrem Busen zu verschließen. L . . . . r, der sich mühsam vorbereitet hatte, sie zu beruhigen und zu trösten, sah nun, daß seine Mühe unnöthig war, und konnte sein Herz durch alle Aeußerungen des Kummers erleichtern, den der Gedanke einer so traurigen Trennung in ihm erregte.

Welch einen rührenden Anblick mußten nicht diese beiden Geschöpfe darstellen, wovon jedes 189 seinen eignen Kummer vergaß, um blos an den Kummer des andern zu denken, jedes sich seine Leiden zu verhehlen suchte, und kein Mittel sah, das andere zu beruhigen, als ihm seine eigene Ruhe zu zeigen! Welch ein Anblick bei Victorinens beharrlicher Standhaftigkeit, ihren Gatten unter seinen peinlichen Gefühlen erliegen und den Mann weinen zu sehen, indeß das Weib nicht weinte. Die finstern Bilder der Verzweiflung wurden je mehr und mehr durch die Trostgründe der Religion von ihnen entfernt, der auch L . . . . r in den Stunden der Trübsal sich wieder genähert hatte. Er, der sich anfänglich den falschen Freuden des Jünglings und hierauf den Zerstreuungen des Weltmanns überließ, hat seine Laufbahn als ein christlicher Philosoph beschlossen, und eben der Mann, den man bald für schwach hätte halten mögen, hat den Tod mit kaltem Blut betrachtet und als ein Held erduldet.

Der verhängnißvolle Tag erschien. L . . . . r ward aus dem Gefängniß vor das Blutgericht und aus dem Blutgerichte in das Gefängniß geführt. Victorine errieth, daß ihr Gatte verlohren sey. Vergebens trachtete sie, ihn noch einmal zu sprechen; sie begab sich nach Hause, um an ihn zu schreiben. In den 24 Stunden, welche zwischen dem Urtheil und seiner Vollziehung verstrichen, 190 unterhielt das unglückliche Paar einen traurigemsigen Briefwechsel. Dreimal wiederholte L . . . . r seiner zärtlichen Freundin das herzzerreißende Lebewohl der ehelichen Liebe, die brennenden Ausdrücke seiner Zärtlichkeit und seines Schmerzes waren mit den erhabensten Empfindungen der Religion untermischt, und er pries sich glücklich, durch seinen blutigen Tod die Verirrungen und Schwachheiten eines zu leichtsinnigen Lebens büßen zu können. Er versicherte seine Gattin, daß der Friede seines Herzens und die Hoffnungen der Unsterblichkeit, die es erfüllten, durch nichts als den Kummer, von ihr getrennt zu werden, und durch die Besorgniß, daß sie unter ihren Leiden erliegen möchte, gestört werden können. Er beschwor sie, ihre Betrübniß zu bekämpfen, und ihm durch den Muth, ihn zu überleben und sich für die junge Pauline, die einzige Frucht ihrer Liebe, zu erhalten, den letzten Beweis ihrer Zärtlichkeit zu geben: bis die ewige Güte ihre Laufbahn endigen und sie im Schooße einer unveränderlichen Glückseligkeir wieder vereinigen würde. Der letzte seiner Briefe war mit seinem Blut geschrieben. Victorine stieß bei seiner Eröffnung einen Schrei des Entsetzens aus; sie beantwortete ihn in der Feuersprache der Andacht und der Liebe. Die schröckliche Stunde nahte heran; ohne Zittern 191 übergab sie dem Häscher diese Zeilen, die lezten, die ihr Gatte auf Erden lesen sollte. Sie warf sich diesem treuen Vermittler ihres schmerzlichen Abschieds um den Hals, und mit einer durch die wärmste Begeisterung beseelten Stimme und Geberde rief sie: es ist nicht genug, daß Ihr ihm diesen Brief und diesen Kuß bringet, den ich Euch für ihn mitgebe; sagt ihm, o sagt ihm zugleich, daß Ihr mich aufrecht, mit unbewölktem Auge und mit gefaßter Miene gesehen habt; sagt ihm, daß die Verzweiflung ferne von mir ist, daß ich für ihn und für seine Tochter leben will. Sagt ihm, daß ich zwar nicht ohne Schmerz, aber doch ohne Marter leben werde. Sagt ihm, daß ich in der süßen Ueberzeugung, ihn endlich auf ewig wieder zu finden, mir hienieden noch einige glückliche Tage verspreche.

Indessen war dieser Tag für sie eine schreckliche Ewigkeit. Sie dachte unaufhörlich an die grausamen Erwartungen, darin ihr Gatte schweben mußte; sie zählte die Augenblicke, und jeder Stundenschlag erschütterte sie mit einem convulsivischen Schauer. Als endlich der fatale Augenblick vorbei war, ließ die tugendhafte Mutter meines Freundes C** sich bei ihr melden, und kündigte ihr an, daß ihr Gatte ausgerungen habe. Ach! rief sie in einer plötzlichen Verzückung aus, der eine 192 Art Freude unter ihrem Schmerz hervorstrahlte: Nun habe ich also nur allein zu leiden! Sie richtete ihr Gebet für ihren Gatten zu Gott, bat ihn um eine baldige Vereinigung mit ihm, und gelobte ihm, das Leben zu dulden. Nachdem sie, in tiefe Betrachtungen versenket, einige Zeit geschwiegen hatte, stand sie mit einer heldenmüthigen Würde von ihrem Stuhle auf, machte ihre Zubereitungen zu ihrer Abreise, und des andern Tages begab sie sich auf das Rathhaus, um ihren Paß zu begehren. Sie gieng, ohne sich zu entfärben, über den Richtplatz, der noch mit dem Blute ihres Gatten befeuchtet war; sie, die nie ohne die heftigste Gemüthsbewegung und selbst eine Art von Ohnmacht eine Familienfreude genießen, oder den Verlust einer geliebten Person vernehmen konnte. Sie verfügte sich zu ihren eigenen Verwandten, und ohne ihre Standhaftigkeit zu verläugnen, gab sie selbst ihnen den Trost, den sie sich zwingen mußten, ihr einzusprechen. Hier lebt sie seit einigen Monaten unabläßig mit der Erziehung ihrer Tochter und mit dem Andenken ihres Gatten beschäftigt. Täglich erzählt sie ihre Unfälle allen fühlenden Seelen, die ihr um die Wette die zärtlichste Theilnahme bezeugen. Aber sie ist von dem Weibe, das man durch Zerstreuungen trösten muß, so ganz verschieden, daß man ihren Gram 193 nur dadurch lindern kann, wenn man ihr Gelegenheit gibt, sich ihm zu überlassen. Sie sagt selber: da sie ihre Gedanken unaufhörlich auf die grausame Abgeschiedenheit ihrer jetzigen Lage und auf die entsetzliche Katastrophe hinrichte, die sie verursacht hat, so könne es nichts anders als Trost für sie seyn, davon zu reden; da sie sonst das Gefühl, das sie beklemmet, in ihr Herz verschließen müßte. Allein mit welcher Delikatesse, mein Freund, erlaubt sie sich nicht diesen Genuß; immer fürchtet sie durch das Mitleid, das sie einflößt, beschwerlich zu fallen. Bei dem täglichen Gefühl ihres herzzermalmenden Grames hat sie Stärke und Edelmuth genug, um sich Gewalt anzuthun, die sie umgebenden Personen durch die äußern Zeichen ihrer Leiden nicht zu ermüden. Sie nimmt Antheil an den Vergnügungen ihrer Freunde; sie weiß noch Witz und Heiterkeit in ihren Zirkel zu bringen; ihr Ansehen ist nicht allzu ernsthaft. Ihr Gesicht trägt kein Merkmal einer zu düstern Schwermuth; man sieht ihr an, daß das Glück anderer Menschen ihr Unglück vermindert. Wenn sie ihre Thränen nicht mehr zurückhalten kann, entfernt sie sich, um sie in der Einsamkeit fließen zu lassen, und ihre Freunde müssen sie gewißermaßen nöthigen, ihren Trost und ihren Beistand anzunehmen.

Eines Tages hatten wir einen herrlichen 194 Frühlingsmorgen unter schönen Alleen von Tannen und Pappeln zugebracht. Wir hatten in einer innigst vertrauten, lieben Gesellschaft des ganzen Zaubers der Natur und des Umganges genossen. Der nahe Zeitpunkt einer Trennung hatte unter uns das heilige Gelübde veranlaßt: daß die Freundschaft stets die Abwesenden vereinigen sollte; und um die Feierlichkeit unsers letzten Beisammenseyns zu erhöhen, hatten wir einige Stunden der Lesung jenes Meisterstückes der Moral und Empfindsamkeit gewidmet, das sein VerfasserBernardin Saint Pierre. die indianische Hütte überschrieben hat. Die Episode des Grabes, wo die Bramin ihre Mutter beweint, und die rührenden Schilderungen des Paria machten auf Victorinen einen starken sichtbaren Eindruck, der sich schnell allen Umstehenden mittheilte. Als wir nach Hause kamen, trat sie an meinen Schreibtisch, um einige Stellen auszuziehen, die ihr besonders aufgefallen waren. Ich erbot mich, ihr diese Mühe zu ersparen: sie suchte sie auf, um sie mir zu weisen. Schnell aber hielt sie inne: »Nein, nein,« sagte sie, »ich mag Sie nicht mit den melancholischen Bildern beschäftigen, die mich umgeben. Nur zu sehr habe ich Sie schon durch traurige Gespräche betrübt; vergessen 195 Sie diese Ausbrüche der Unbescheidenheit und des Egoismus; vergessen Sie, daß Sie mich haben weinen gesehen. Erinnern Sie sich blos, daß Sie durch Anhörung meiner Klagen meinen Schmerz erleichtert haben.«

Jeden Donnerstag (es ist der Todestag ihres Gatten,) durchliest sie die letzten seiner Briefe. Mit dem Schlage 4 Uhr, der sie an den tragischen Augenblick erinnert, begiebt sie sich auf ihr Zimmer, um diese Lesung vorzunehmen und sich den Betrachtungen und Gebeten, die sie ihr einflößt, zu überlassen. Einst wollten wir sie von diesem Andenken abziehen; wir glaubten, es sey uns gelungen; sie spielte und lachte mit uns; sie mischte sich in die Unterredung; sie schien mit keinen fremden Gedanken beschäftigt. Allein zur gewöhnlichen Stunde entwich sie, ohne ein Wort zu sprechen, an den Ort, wo die Religion und der Schmerz ihrer warteten. Ich war sehr begierig, jene Briefe zu lesen, wollte es aber nicht wagen, sie ihr abzufordern. Sie selbst kam meinem Wunsche zuvor, indem sie einst sich erbot, sie mir vorzulesen. Ich denke, sagte sie, die Gesinnungen, die darin herrschen, können das Herz eines jungen Mannes erheben und stärken. Wie soll ich sie Ihnen malen, mein Freund? Zitternd, mit gehemmtem Athem, und unbeweglich im Auge, war sie 196 nach jedem Briefe genöthigt, einige Minuten auszuruhen. Es sind wirklich erhabene Urkunden der Zärtlichkeit, der Religion und des Heldenmuthes. Ich habe die mit L . . . . rs Blute geschriebenen Zeilen gesehen, worin er seine unglückliche Gattin beschwöret, für ihn und für ihre Tochter zu leben, und in dem er ihr das Bild seines innern Friedens und seiner Hoffnungen an dem Rande des Grabes vorhält, ihr von Ferne den Tag zeigt, der sie im Schooße einer seligen Unsterblichkeit wieder vereinigen wird. O! wahrlich nur dieser liebevolle, heilige Befehl und die Grundsätze der Religion konnten sie abhalten, das Leben abzukürzen, das nichts mehr als eine beständige Trauer ist. Jeden Augenblick verräth sie das Verlangen nach ihrer Abrufung. Bedenken Sie, sagte sie mir einst im Tone des bittersten Harmes, daß ich vielleicht bestimmt bin, 80 Jahre zu leben. Aber da ihr der Selbstmord eine ewige Kluft zwischen ihr und ihrem Gatten zu öffnen drohet, so hat sie diesen Gedanken immer von sich gestoßen. Eine solche Trennung wäre für sie die grausamste Pein, die sie zu befürchten fähig ist: und nun, da sie es bereuet, ihn einst gehegt zu haben, gestehet sie, daß die Vereinigung mit ihrem Gatten ihr oft als der süßeste Genuß vorkömmt, den die bessere Welt ihr gewähren kann. Diese Begierde, in der sie lebt 197 und webt, macht sie oft wegen ihrer geringsten Unvollkommenheiten, ja selbst über ganz gleichgültige Dinge unruhig; es sind aber nicht die kleinlichen Bedenklichkeiten der Bigotterie; vielmehr malt sich darin die Zärte ihres Herzens mit neuen lebendigen Zügen. Man hat mir erzählt, daß, als sie einst einem Kaufmann einige Stickereien zustellte, woran sie sichs zur Pflicht macht, beständig zu arbeiten, obgleich die Glücksumstände ihrer väterlichen Familie sie über den Mangel hinaussetzen, sie ihn gebeten habe, sie zu benachrichtigen, wenn er Gefahr laufen sollte, etwas auf der Waare zu verlieren. Gleichwohl war der Preiß, den sie verlangte, kaum die Hälfte ihres eigentlichen Werthes. Bei der Confiskation des gesammten Vermögens ihres Mannes hat sie einige Bücher seiner Bibliothek gerettet. Weil ihr aber die Zeit nicht erlaubte, einige andere wegzuschaffen, die meine Schwester ihr geborgt hatte, konnte sie ihr nicht geschwind genug eröffnen, daß sie verlohren seyen. Ich habe also, sagte sie, besser auf mein eigenes als auf das fremde Gut Achtung gegeben. Das that ihr wehe, sie fühlte das Bedürfniß, es meiner Schwester zu gestehen, welche sich alle Mühe gab, sie in den wärmsten Ausdrücken der Freundschaft zu beruhigen. Eben diese Schwester hatte aus einem ganz natürlichen Triebe von Billigkeit 198 und Liebe einige kleine Schulden bezahlt, deren Tilgung L . . . . . r seiner Gattin wenig Stunden vor seinem Tode empfohlen hatte. Victorine, die damals außer Stand war, es zu thun, konnte davor weder schlafen noch ruhen, und nun fand sie keine Worte für ihre Erkenntlichkeit.

Noch einen Zug muß ich Ihnen anführen, der beides ihr Herz und ihre Einbildungskraft bezeichnet. Sie äußerte einst mit ihrer gewöhnlichen Lebhaftigkeit ihre Begierde, ihren Gatten zu sehen, gegen einen Mann, der als Martinist an die Möglichkeit eines Umganges mit den Verstorbenen glaubte. Er antwortete ihr mit versteckten Worten: Sie haben eben nicht nöthig zu sterben, um zu diesem gewünschten Glücke zu gelangen. Dieses war ein Blitzstrahl in Victorinens Seele: gerührt, entzückt und wonnetrunken wollte sie sich den Augenblick in die geheimnißvolle Sekte aufnehmen lassen, und ich weiß nicht, wohin es mit ihr gekommen wäre, wenn nicht eine weise, fromme Freundin ihr das Thörichte dieser Spielwerke zu Gemüthe geführt hätte.

Ich will Ihnen, mein Freund, hier zween kleine Aufsätze einrücken, woraus Sie die Feinheit ihrer Feder ersehen können. Auf das Lob, das man ihr beigelegt, hatte ich sie von ihr verlangt. Als sie unter meiner Schwester Aufschrift sie mir 199 zuschickte, sagte sie ihr: »Ich habe alles übersudelt, indem ich die Fehler verbessern wollte. Ich war so verwirrt, als ich meine gegenwärtige Lage mit der vergangenen zusammenhielt. O Gott! welche Veränderung! der gute Lorenzo ist nicht mehr, und ich bin vielleicht noch auf lange, lange Zeit hier. Vielleicht muß ich sehr alt werden . . . . ich schaudere vor diesem Gedanken. Zanken Sie mich nicht, meine Josephine. Ferne von mir sey die That, die für mich alles, ja wohl alles endigen könnte. Ich betrachte die Spitze meines Felsen; es ist mir nie besser, als wenn ich des Abends die Augen auf den höchsten Gipfel dieses lieben Felsen hefte. Dann scheint es mir, er sey dort oben . . . . und bisweilen erblicke ich ein weißes Wölkchen, wie eine große Schneeflocke; dann schwindelt mir der Kopf und ich gräme mich, daß meine Füße noch die Erde berühren. Dort, dort möchte ich hin! . . . . Doch was thue ich? Ich schwärme, ich betrübe dich; vergib mir diese Ausschweifung; balle mein Papier zusammen, wirf es weit von dir weg, und behalte blos das Andenken meiner Freundschaft.«

In dem ersten dieser Aufsätze schilderte sie noch als Mädchen ihren Charakter mit geographischen Ausdrücken. Hier ist er: 200

Man findet in der Landschaft Victoria:

Güte, die Hauptstadt.

Vier große Städte:
    Munterkeit,
    Empfindsamkeit,
    Freymuth,
    Freundschaft.

Unwissenheit, eine alte schlechtgebaute Stadt.

Witz, ein kleines Dörfchen.

Gesunder Verstand, ein ziemlich ansehnlicher Flecken.

Den Berg Muthwillen nahe bei Munterkeit.

Laune, ein kleiner Waldstrom, der bisweilen Güte, Witz und Munterkeit verheeret.

Beständigkeit, ein großer, schöner Bach, der die Mauren von Empfindsamkeit bewässert.

Koketterie, ein kleiner Hohlgraben, nahe bei Freimuth.

Sanftmuth, ein Fluß, der bei Güte entspringt und die ganze sonst unangenehme Gegend verschönert und befruchtet.


In dem zweiten Aufsatze entwarf sie die allegorische Geschichte ihrer Verbindung mit L . . .  r und das Lob der Gesellschaften, welche ihr in Lyon die Entfernung von ihren Verwandten versüßten. 201

 


 

Die kleinen Quellen.

Eine Allegorie.

Der Zauberer Lorenzo reiste in die Landschaft D**. Eines Tages gieng er am Ufer der I** spazieren. Einige Schritte vom Ufer heftete er sein Auge auf eine kleine Quelle, deren Wasser ruhig daher floß. Ohne schön zu seyn, war es rein und heiter; er trat hinzu. Die Quelle wallte auf und stockte . . . . Einen Augenblick darauf sprudelte sie schneller . . . . Der erstaunte Lorenzo kam am folgenden Tage wieder: gleiche Wirkung, gleiches Erstaunen. Nein, sagte er, ich will nicht von hier weggehen, ich will dieser Erscheinung nachspühren. Täglich kam er zur Quelle, wurde tiefsinnig und seufzte. Als aber einige Zeit hernach ein höherer Befehl ihn in sein Vaterland zurückrief, mußte er diese liebliche Gegend verlassen. Er besuchte zum letztenmal sein Brünnchen. wie groß war seine Bewunderung! das Brünnchen rieselte traurig daher, sein Murmeln drückte den Schmerz aus. Liebes Quellchen! sagte er, wie glücklich würde ich seyn, wenn ich durch meine geheime Kunst dich in mein Land leiten, und stets neben dir Kühlung und Frieden athmen könnte! Wenn ich dich verlasse, ach! so wird vielleicht ein frecher Wanderer seine lechzende Zunge kühlen aus deiner reinen Fluth, 202 ach! er wird sie trüben, ja vielleicht gar versiegen machen; und ich habe bei meinem heißen Durst es nicht gewagt, meine brennenden Lippen deinem Becken zu nähern. Liebes Quellchen! Warum muß ich dich fliehen? Warum besitze ich keinen Talismann, der mächtig genug wäre, dich an den Ort zu versetzen, wo das Schicksal mir hinwinkt? »Lorenzo, dieser Talismann ist in deinem Herzen,« antwortete eine girrende Stimme. Plötzlich schwang Lorenzo seinen Zauberstab, und befand sich mit seinem Brünnchen am Ufer des Rhodans. Nun ist die Quelle sein: er verlebt seine Tage unter dem zarten Gebüsche, das sie decket, und fürchtet sich nicht mehr, sie zu trüben, wenn er mit ihrem Nasse seinen heißen Durst löscht.

Indessen ließ sein liebes Quellchen bisweilen ein trauriges Gemurmel hören. Es schien nach seinem alten Ufer sich zurück zu sehnen. Er hoffte es zu trösten, indem er ihm einige Gespielinnen zuführte. Zum zweitenmal schlägt sein magischer Stab den Boden, und siehe! ein prächtiger Zaun von Weißdorn, Jesmin, Waldrosen und Akazien umringet die Quelle. Dieser grünende Zwinger enthielt fünf liebliche Brünnchen, die durch die Lauterkeit ihres Wassers, durch den glatten, glänzenden Sand, darüber sie hinströmten, und durch die Blumen, die ihre Ufer schmückten, Heil und 203 Freude zu verkündigen schienen. Aus ihrem Schooße stiegen fünf Nymphen, schön wie Cythere, jung wie Hebe, sittsam wie Diana heraus. Jede hatte ein Turteltäubchen bei sich, das auf ihrem Busen ruhete. Drei von ihnen traten zu Lorenzos Quelle, indem sie die Wonne der Freundschaft besangen. Von der andern Seite näherten sich die beiden übrigen mit einer kleinen Hacke in der Hand; im goldenen Alter war dieses Werkzeug nicht verachtet. Auf den Ruf des Lorenzo erhob sich aus seiner traurenden Quelle eine weinende Nymphe, die einen Cypressenzweig in der Hand hielt. Die fünf Nymphen traten zu ihr, und reichten ihr ihre Turteltäubchen. Nimm sie hin, sagten sie, und weine nicht mehr. Du hast Freundinnen verlohren, wir wollen die Deinigen werden. Behalte diese Sinnbilder und Pfänder unsrer beständigen zärtlichen Freundschaft. Die zwo Nymphen mit den Hacken sagten zu ihr: wir wollen kleine Rinnen graben, damit dein Wasser sich mit dem unsrigen vermische . . . . Sieh diesen hehren Busch; unsre beste Freundin, unsre Mutter bewohnt ihn. Alsbald trat ein schönes Weib heraus; sie hatte die stille Würde der Minerva. Ihre edle, große Seele war auf ihr Antlitz gezeichnet. Dieses himmlische Weib schloß die sechs Nymphen in ihre Arme, und sprach zu ihnen: O meine 204 theuren Kinder! ich unterscheide Euch nicht mehr; ich trage Euch alle in meinem Herzen. Und Du, Quelle des Lorenzo! wirf diese Cypresse weg, Du wirst glücklich seyn durch Liebe und Freundschaft. Wohne unter uns; liebe immer Deine Mutter und Deine Schwestern; aber weine nicht mehr um sie. Lorenzo liebt Dich, und in uns findest Du Mutter und Schwestern. Seit diesem Tage fließen die sechs Quellen mit einander im Schatten des schönen Busches, der sie vor den Beleidigungen der Vorübergehenden schützet. Die Quelle des Lorenzo murmelt nun frölicher, und wenn sie ja seufzen will, so schlängelt sie sich leise auf die Seite, um den Frieden der andern nicht zu stören.

Victorine hatte folgende Zeilen angehängt, die sie mir mit sichtbarer Bewegung vorlas:

Großer Gott! ein Gewitter . . . . der Strahl hat eingeschlagen! . . . . Lorenzo ist nicht mehr! Seine traurige Quelle wird künftig nur durch Thränenweiden beschattet werden. Wanderer, stehe nicht stille. Hier ist der Tod . . . ! Hörst du nicht das ängstliche Geräusche dieser von Sturm gepeitschten Fluth? ach! merke nicht auf . . . . Dein Herz würde Dir brechen . . . . . sey glücklich! der Geist Lorenzo's wache über Dir!


205 Zum Beschlusse meiner Erzählung von dieser rührenden Person, will ich Ihnen die Zeilen hersetzen, die sie gestern meiner Schwester in ihr Stammbuch schrieb. Sie saß nachläßig am Ende eines Tisches, und ohne durch die zahlreiche Gesellschaft zerstreut zu werden, ließ sie ihre Feder mit unglaublicher Schnelligkeit fortlaufen:

Victorine fühlt sich glücklich, eine Stelle in diesem Buche zu finden. Meine Feder wird nichts artiges hineinzeichnen; der Witz tritt auf die Seite, wenn ich für meine Josephine schreibe. Das Herz allein spricht, es ist allein geschäftig in der Rolle, die ich mit Dir spiele. Diese Rolle ist, Dich innig zu lieben, Dir innig zu danken; meine Freundschaft und meine Dankbarkeit wächst mit jedem Tage. Bald werde ich Dich nicht zärtlicher lieben können, und wenn ich nicht gewiß wäre, daß ich Dich heute mehr als gestern liebe, so würde ich sagen, daß ich Dich morgen nicht mehr als heute werde lieben können. Ich liebe Dich, nur das kann ich sagen, nur das empfinden. Möge dieser süße, einfache Ausdruck Dir meine Gefühle mahlen! . . . Ich will Dir nicht sagen: glaube an Victorinens Zärtlichkeit; wozu würde diese Phrase dienen? Du weist wohl, daß Deine warme, großmüthige Freundschaft, Deine Wohlthaten, Deine standhafte Liebe zu mir, Deine Gedult, mich zu 206 trösten, mich aufzurichten, ja Du weist, daß alles dieses in mein Herz gegraben ist . . . . und Du must glauben, daß ich Dich auf Erden am meisten liebe. Der Schatten meines Freundes lächelt, indem er seiner Victorine zusieht, wie sie sich in Josephinens Arme flüchtet, um Trost und Ruhe darin zu suchen. Ach! entferne Dich nie von mir; halte vielmehr die Unglückliche auf, welche noch an Glückseligkeit glauben kann, wenn Dein liebkosender Blick sie erinnert, daß ihre Traurigkeit und ihre Thränen Dir wehe thun. Theile immer meinen Schmerz, denn das thut mir so wohl. Vergib Deiner Freundin, daß sie nie die Vorsicht hat, Dir ihre Leiden zu verbergen. Ach! ich glaube Dich glücklich, wenn Du meinen Kummer lindern kannst, und ich gestehe es, ich mag nicht durch andere als durch Dich in diesen Augenblicken getröstet werden, da ich von Deiner Freundschaft alles begehren darf . . . . Minder unglücklich dadurch, daß ich alles Dir schuldig bin, segne ich Dich tausendmal des Tages. Du machst meinen Schlaf ruhig und mein Erwachen weniger bitter. Du hast weit von mir jene schrecklichen Wolken verjagt, die meine Vernunft verfinsterten: Du halfst mir den letzten Willen des Mannes vollstrecken, den ich anbete. Allmächtiger Gott! sieh auf meine Josephine herab; wache über sie; laß ihr 207 Leben lang und lieblich und friedsam seyn. Sie dienet den Unglücklichen, und durch ihre Tugend erweckt sie den Glauben an die Gottheit! Josephine! leite immer meine Schritte; verliere mich nicht aus den Augen; mein Gang ist schwach und wankend, laß mich Dir folgen und in Dir eine Freundin finden, die das gute Wesen mir zusandte, um mich zu versichern, daß es mir, mit dem, der mich glücklich machte, nicht alles genommen habe. Ich betrachte Dich als das Unterpfand einer wohlthätigen Gottheit, die über mir waltet, Josephine, wie groß ist Dein Beruf! mit welchem Muthe weist Du ihn zu erfüllen! Schmecke den süßen Genuß alle des Guten, das Du thun kannst, indem Du mich wie Deine Brüder und Deine Schwester liebst! Möge der Name Victorine unter den Freunden dieser Schwester genannt werden! Doch das ist zu viel gefodert; aber mit Dir ist der gröste Schritt gethan. Ich habe alles begehrt, alles erlangt, nichts wird mich aufhalten. Ich werde nie vergessen, daß Du die Gesandte bist meines Freundes dort oben. Wie herrlich wird Dein Lohn seyn! O, meine Josephine! Groß und mächtig ist das Wesen, von dem Du ihn empfangen wirst . . . . Wie soll ich mich ausdrücken, um Dir zu sagen, was ich empfinde? . . . Mein Kopf sinket, aber dennoch will ich die Feder nicht 208 hinlegen . . . . Oft habe ich Dir gesagt, daß die zärtlichste, gewaltigste Liebe, daß mein brennendes Herz, daß mein ganzes Wesen, daß alles dem zugehört, den ich seit 8 Jahren anbetete . . . . Er ist nicht mehr . . . . Alles ist hinuntergesunken mit ihm . . . . aber mein Herz ist geblieben . . . Ach! meine Freundin! meine Josephine! dieses Herz ist Dein, der Freund dort oben vermacht es Dir: er, der mit Wohlgefallen seine Victorine ihre zärtlichsten Gefühle Dir zuwenden sieht. Halte mir Dein Herz immer offen, ich lasse mich darin nieder, nur der Tod kann mich daraus vertreiben . . . . Sey meine Freundin, meine Beschützerin . . . . Der Freund Lorenzo wache über Dir; er genieße seine Ruhe in Frieden! . . . . seine Gattin, seine Geliebte, seine Victorine hat eine Stütze gefunden! Josephine ist ihre Freundin.

Hier, werther Freund, breche ich meinen Brief ab, ohne seine Länge zu entschuldigen, da ich überzeugt bin, daß Sie mit warmer Aufmerksamkeit alles gelesen haben, was eine so unglückliche, so gefühlvolle, so heldenmüthige Frau mahlen konnte. Mündlich werde ich Ihnen noch mehr, weit mehr von ihr sagen.

 


 


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