Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 3. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Fragmente aus Gilberts Leben.

Erster Abend.

Wie ist es Ihnen denn in Deutschland ergangen, lieber Vater? fragte Louise den ehrwürdigen Gilbert, als er eines Abends im Kreise des dreifachen Paares, auf den Altar der Freundschaft gestützt, in der Gartenlaube sas. So wohl, antwortete er, daß ich meine Tage in N** beschlossen haben würde, wenn nicht die Stimme der Freundschaft und der Religion mich in mein Vaterland zurückgerufen hätte. Wir kennen die Deutschen mehrentheils nur aus der Geschichte unsrer Kriege; nur wenige unter uns wissen ihre Verdienste um die Wissenschaften zu schätzen, und wer vollends nicht unter ihnen gelebt, wer sie nicht mit unbefangenem Auge beobachtet hat, der kann leicht die interessantesten Züge ihrer Geistesphysiognomie übersehen. Der stete, gerade und gesetzte Charakter dieser Nation, ihr Biedersinn, ihre Ehrfurcht für Moralität, ihre rührende Gutmüthigkeit, alle diese Eigenschaften werden einem aufmerksamen Forscher nicht entgehen, und wenn Tugend und Rechtschaffenheit ihm heilig sind, so muß er sie an den Deutschen ehren und lieben. Freilich, fuhr er fort, hatte ich das Glück gleich 127 in den ersten Tagen meines Aufenthalts in N** durch eine alte Bekanntschaft in Verbindung mit Menschen zu gerathen, die auch in Deutschland selten sind, und wohl überall noch lange selten seyn werden.

Louise. Durch eine alte Bekanntschaft? wie kam das? vermuthlich war es ein Ausgewanderter?

Gilb. Das nicht, wohl aber eine Landsmännin, deren Ahnen wenigstens Erulanten waren.

Louise. Eine Landsmännin? vielleicht gar eine alte Liebe aus dem siebenjährigen Kriege. Unser guter Vater hat uns oft erzählt, daß Sie in jüngern Jahren mit ihm unter einem Regimente dienten und erst nach dem Frieden in den geistlichen Stand traten. O erzählen Sie uns etwas von dieser Landsmännin. Wie haben Sie ihre Bekanntschaft erneuert?

Gilb. Eigentlich sollte ich Ihnen zuerst erzählen, wie ich sie gemacht habe; doch es sey darum! das Sonderbarste ist immer, daß wir uns nach einer Trennung von dreißig Jahren und zwar in einem Lande wiederfanden, wo wir einander nie gesucht hätten.

Louise. Lieber Vater, unsre Neugierde ist schon hoch genug gespannt, Sie brauchen sie nicht noch mehr zu reizen.

Ad. Da Sie mir Louisens Rechte 128 eingeräumt haben, so müssen Sie meinen Wunsch, ihre Bekannten auch zu den meinigen zu machen, ganz natürlich finden.

Gilb. Nicht nur ganz natürlich, sondern auch sehr gerecht. Weniger natürlich werden Sie, meine Freundin, es finden, daß ich die Erneuerung dieser Bekanntschaft einer protestantischen Predigt zu danken habe. Bald nach meiner Ankunft in N**, wo sich seit hundert Jahren eine Colonie Hugenotten niedergelassen hat, bekam ich Lust, ihren Gottesdienst zu besuchen. Man hat mir viel Gutes von ihrem Prediger, Herrn Dürand, gesagt, und ich fand noch mehr an ihm, als ich erwartet hatte. Seine Rede, worin die Einfalt und Würde des Evangeliums sich mit den wärmsten Ergiessungen einer gefühlvollen Seele paarte, machte einen so tiefen Eindruck auf mich, daß ich dem Drange nicht widerstehen konnte, diesen schäzbaren Mann zu besuchen, und ihm für die schöne Stunde zu danken, die er mir gemacht hatte. Ich ließ mich unter meinem Namen anmelden. Herr Dürand empfieng mich mit einem edlen, offenen Wesen, daraus sein ganzer Charakter hervorleuchtete. Ich sagte ihm, daß ich ein Opfer der philosophischen Intoleranz sey, so wie seine Vorfahren Opfer der jesuitischen Intoleranz waren. Er reichte mir die Hand. Unsere Verfolger dachten es bös zu 129 machen, und haben es gut gemacht: ich hoffe, Sie werden das einst auch von den Ihrigen sagen können. – Betrachten Sie mich unterdessen als einen Landsmann, und, wenn Sie wollen, als einen Amtsbruder, der Ihnen für jede Gelegenheit danken wird, die Sie ihm verschaffen werden, Ihnen Ihr Exil erträglich zu machen. Sie wissen nicht, sezte er hinzu, daß noch eine andere Verwandtschaft als Stand und Vaterland uns vereinigt. Meine Gattin führt Ihren Namen; sie ist würklich nicht zu Hause: allein wenn Sie diesen Abend mein Gast seyn wollen, so sollen Sie ihre Bekanntschaft machen. Sein Anerbieten hatte sogar keine Aehnlichkeit mit einem Compliment, daß ich keinen Augenblick Bedenken trug, es anzunehmen.

Ich kehrte des Abends zu meinem neuen Gastfreunde zurück, und wurde von ihm seiner Gattin vorgestellt. Madam Dürand war eine liebenswürdige Frau von ungefehr sechs und dreißig Jahren. Die Schönheit ihrer Jugend war noch nicht verblüht, oder vielmehr, sie besas eine von jenen glücklichen Physiognomien, deren geistiges Gepräge die Zeit nicht auslöscht. Ich habe ihr Ebenbild in jenem Meisterstücke der Angelika gefunden, das über Louisens Schreibtische hängt.

Louise. Ach! Sie meinen den herrlichen Farbenstich Conjugal peace. 130

Gilb. Eben den. Der Anblick des edlen Weibes drang mir in die Seele: er weckte plözlich ein schlummerndes Andenken in ihr auf, das sie wie Wehmuth erfüllte. Ich konnte nicht gleich sprechen; endlich nahm ich mich zusammen. Ich verdanke, sagte ich, meinem Namen zum zweitenmal eine seltene Bekanntschaft. Ein Seufzer entfuhr mir wider meinen Willen: Madame Dürand bemerkte es, sie schrieb ihn meiner dermaligen Lage zu. Sie bedürfen Ihres Namens nicht, mein Herr, um uns willkommen zu seyn; wir sind Landsleute, und Ihre Verdienste werden bei uns mehr Gerechtigkeit finden, als in unserm alten Vaterlande. Oh, Madame, erwiederte ich, Deutschland ist mir nicht ganz fremd: schon vor dreißig Jahren fand ich in Cassel als Feind Edelmuth und Freundschaft in einer Familie meines Namens, die mir ewig unvergeßlich seyn wird. In Cassel? unterbrach mich Madame Dürand lebhaft, ei das ist ja meine Geburtsstadt. Sprachlos heftete ich meinen Blick auf sie: nein, rief ich endlich, ich betrüge mich nicht. Großer Gott! ja sie ist es, sie war ja schon damals ihr kleines Ebenbild. Ein Schleier fällt von meinen Augen, wie konnte ich Amaliens Züge einen Augenblick verkennen? Amalie! sagte Madame Dürand tief gerührt, so hieß meine älteste Schwester, ich war noch ein Kind als sie starb. 131 Ein Kind von fünf Jahren, erwiederte ich, das ich oft auf meinem Schoose wiegte: Lottchen ist Ihr Name. Getroffen! rief Herr Dürand: seine Gattin konnte nicht sprechen, sie war in tiefes Nachdenken verlohren. Ich ergriff ihre Hand, ich drückte sie an mein Herz, ich nezte sie mit meinen Thränen. Vergeben Sie mir, edler Mann! sagte ich zum erstaunten Pfarrer, ohne die traurigste Begebenheit meines Lebens würde ich jezt Charlottens und Ihr Bruder seyn. Seyn Sie es dennoch, versezte er, indem er mich in seine Arme schloß. Nun erwachte Charlotte wie aus einem Traume, ich erinnere mich noch wohl, sagte sie, eines Lieutenants Gilbert, der im siebenjährigen Kriege bei meinem Vater im Quartier lag und . . .

Dieser Lieutenant Gilbert war ich; so traurig mein Andenken Ihrem ehrwürdigen Vater seyn mußte, so wird er Ihnen doch gewiß meine Geschichte nicht verhehlet haben. Oh nein, riefen beide zugleich, er hat sie uns mehr als einmal erzählt. Schnell entfernte sich Charlotte und nach einigen Minuten kam sie mit einem offenen Briefe zurück, den sie mir vorhielt. Da sehen Sie den Beweiß, daß Sie uns nicht fremd sind. Ich erkannte meine Hand, es war der Abschiedsbrief, den ich in der Nacht vor meiner Abreise aus Cassel an den Vater meiner Amalie schrieb. Den 132 Rest dieser Szene brauche ich Euch, meine Freunde, nicht zu schildern. Sie wurde durch die Ankunft der beiden hoffnungsvollen Kinder des würdigen Paares, eines dreizehnjährigen Sohnes und einer neunjährigen Tochter, unterbrochen, welche dem kleinen Gastmahle beiwohnten.

Eug. Allein, lieber Vater Gilbert, Herr und Madam Dürand wußten Ihre Geschichte, wir aber wissen sie nicht.

Louise. Diesesmal kam Eugenie meiner Neugier zuvor.

Ad. Ich denke, es ist niemand unter uns, der nicht die Ungeduld meiner Schwestern theilte.

Theod. Recht so, meine Adelaide, ein Zug aus dem Leben eines tugendhaften Mannes ist, wie Gilbert uns einst selbst sagte, eine Beilage zur göttlichen Offenbahrung.

Gilb. Ihr sollt alles erfahren, meine Kinder, obgleich dieser Theil meiner Lebensgeschichte höchstens unter die apokryphischen Supplemente der Offenbarung gehört. Nur erlaubt mir meine Erzählung bis auf morgen zu versparen, ich muß Kräfte dazu sammeln.


Zweiter Abend.

Des folgenden Tages vereinigte sich die Gesellschaft in der Kastanienallee, die Theodors 133 Baumgarten umkränzte. Ungefähr vier Wochen, sagte der ehrwürdige Priester, lagen wir in Cassel, als mich ein glücklicher Zufall mit Herrn Gilbert in Bekanntschaft brachte. Ich hatte einen Wechsel auf Frankfurt, den ich zu Gelde machen wollte. Ich wandte mich deßwegen ohne Erfolg an verschiedene Kaufleute: endlich kam ich auch zu ihm. Er las meinen Wechsel: ich brauche würklich kein Geld in Frankfurt, sagte er, allein der Namens-Verwandtschaft wegen will ich Ihnen die Summe bezahlen. Dieses Betragen rührte mich: ich ließ mich mit dem Manne in ein Gespräch ein, und so erfuhr ich, daß seine Vorfahren aus dem Delphinat abstammten und sogar entfernte Verwandte der meinigen waren.

Des andern Tages stattete ich ihm einen Dankbesuch ab: er stellte mich seiner Familie vor: seine Gattin sas an einem Nährahmen, die kleine Charlotte hüpfte in der Stube umher, ihre beiden Schwestern arbeiteten an der Seite ihrer Mutter. Amalie, die älteste, war damals in ihrem achtzehnten Jahre eine schöne Paradiesblume, die in ihrer vollen Blüthe stand: doch ich habe ja bereits ihr Bild entworfen, meine welke Hand kann es nicht ausmahlen. Urtheilet, meine Kinder, was für einen Eindruck eine solche Erscheinung auf einen jungen Mann machen mußte, dessen Herz blos darum 134 müssig war, weil es bei den Zerstreuungen der Garnisonen und unter dem Geräusche der Waffen noch keinen Gegenstand gefunden hatte, der fähig gewesen wäre, es auszufüllen.

Ich erhielt die Erlaubniß, meine Besuche in diesem schäzbaren Hause zu wiederholen. Gilbert und seine verdienstvolle Gattin unterschieden mich bald von dem großen Haufen meiner Kriegskammeraden, deren geringster Fehler die Frivolität war und die in so mancher Familie Deutschlands schmähliche Denkmäler ihrer Sittenlosigkeit zurückliessen. Mein Geschmack an einem eingezogenen Leben und meine Liebe zu den Werken des Witzes erwarben mir das Zutrauen der Eltern und bahnten mir den Weg zu dem Herzen der Tochter, welche die glücklichsten Geistesanlagen mit dem tiefsten und reinsten Gefühle für das Schöne und Gute verband. Es war Herbst; jeden Abend versammelten wir uns in dem Zimmer der Mutter, und indem sie und die beiden Töchter, die zweite war erst zwölf Jahr alt, sich mit weiblichen Arbeiten beschäftigten, las ich ihnen die alten und neuen Meisterstücke unsrer Literatur vor. Amaliens Wangen glühten bei jedem Zuge des Genies und oft hielt ich meine Anmerkungen zurück, um die ihrigen anzuhören, die als Orakel der schlichten Natur einen ganz eigenen Werth für mich hatten und 135 denen die Liebe gar bald noch einen neuen Reiz beilegte.

Nach einigen Wochen gieng der Offizier, der bei Gilbert wohnte, auf Urlaub und ich hüpfte hoch auf, als die ganze Familie mich einlud, sein Zimmer zu beziehen. So verstrich mir mehr als die Hälfte des Winters im reizenden Genusse häußlicher Freuden. Gilbert nannte mich seinen lieben Vetter und sein edles Herz bestimmte mir einen noch schönern Titel. Meine Zärtlichkeit gegen Amalien blieb ihm nicht lange fremd, weil ich sie ihm nicht verbarg, und Amaliens Eltern waren zu sehr die Vertrauten ihrer Tochter, als daß sie ihnen ihre Neigung zu mir hätte verhehlen sollen.

Eines Abends führte der wackre Vater mich in sein Cabinet. Er rückte mir einen Stuhl vor das Kaminfeuer und sezte sich neben mich. Gilbert, sagte er, Sie lieben meine Tochter und Amalie entspricht Ihrer Liebe. Sie haben mir mehrmals gesagt, daß Ihr Vater Ihnen nichts als seinen Degen hinterließ. Ich kann diese Ungerechtigkeit des Glückes gut machen: wenn Sie sich entschliessen, Ihren Stand mit dem meinigen zu verwechseln und in diesem Lande zu bleiben, so sollen Sie mein Sohn werden. Ich sprang von meinem Stuhl auf und fiel dem Rechtschaffnen um den Hals. Bedenken Sie sich, sagte er, indem er mich an 136 sein Herz drückte, heute nehme ich Ihre Antwort nicht an. Sie brauchen sich nicht zu übereilen, da mein Vorschlag ohnehin erst nach dem Kriege in Erfüllung gehen kann. Hätten Sie, fuhr er fort, Güter in Frankreich oder andere Gründe, es nicht zu verlassen, so könnte ich Ihre Bekanntschaft für kein Glück weder für mich noch für Amalien halten. Denn ich gestehe Ihnen freimüthig, daß es mich sehr sauer ankommen würde, mich von meinem Kinde zu trennen und es in ein Land zurück zu schicken, das uns zwar immer noch lieb, aber doch weniger lieb ist, als die Gewissens-Freiheit, der unsre Väter so vieles aufgeopfert haben. Ich weiß, mein Freund, Sie schreiben diese Gesinnungen keiner Bigotterie zu; behalten Sie Ihren Glauben, Sie dürfen ihn hier öffentlich bekennen und ich würde Sie verachten, wenn er Ihnen für eine schöne Braut oder für eine reiche Mitgift feil wäre.

Ich hoffe, sagte ich zu meinem neuen Vater, daß Sie mir keine lange Bedenkzeit vorschreiben werden. Erinnern Sie sich, daß jede Stunde mich ein Jahr dünken wird. Ich schränke mich auf drei Tage ein, erwiederte er, sind Sie das zufrieden? allein geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie vor Verfließung dieser Frist Amalien nichts von dieser Unterredung sagen wollen. Dieser Zwang kostete mich 137 viel; die Freude läßt sich weit schwerer verbergen als der Kummer. Amalie las die meinige in meinen Augen: sie fragte mich nach der Ursache meiner ungewöhnlichen Munterkeit. Ich habe diese Nacht einen sehr süßen Traum gehabt, antwortete ich: eine ehrwürdige Gestalt erschien mir und sagte zu mir: in drei Tagen sollst du einen Schaz heben. Sie lachte und drohete mir mit dem Finger. Lachen Sie nicht, erwiederte ich, die Gestalt sah mich so liebreich an, daß sie mich unmöglich belügen konnte.

Die drei allzuträgen Tage waren verstrichen. Ich wiederholte meinem Wohlthäter nicht sowohl meinen Entschluß als meine Danksagung für den seinigen. Er führte mich zu seiner Gattin und zu seiner Tochter und . . . . Doch was brauche ich der glücklichen Liebe die Entzückungen der glücklichen Liebe zu schildern! Amalie war meine Verlobte; allein aus leicht zu errathenden Gründen wurde beschlossen, unsre Verlobung bis zum Frieden geheim zu halten. Unterdessen hatte selbst dieses Geheimniß einen Reiz, der uns den Aufschub unsers Glückes erträglicher machte. Alle Stunden, die der Dienst mir übrig ließ, brachte ich im Schoose meiner künftigen Familie zu: sie waren zwischen Amalien und ihrem Vater getheilt, der mich in den Geschäften seines Gewerbes 138 unterrichtete und meiner Braut und ihrer Mutter mehr als einmal die Gelehrigkeit seines Schülers rühmte. So verstrich mir der schönste Winter, den ich in der ersten Hälfte meiner Tage erlebte.

Kaum wurde die Witterung etwas milder, so bekam unser Regiment Befehl, sich zum Aufbruche bereit zu halten. Wir hatten diesen Augenblick vorausgesehen und uns dazu vorbereitet: dennoch hätte der Schlag auch unerwartet uns nicht härter treffen können. Der Zwang, den wir uns anthaten, einander unsern Kummer zu verbergen, vermehrte seine Gewalt und Amalie entschädigte sich für diesen Zwang in den traurigen Nächten, die sie durchweinte. Das schnitt ihrem guten Vater in die Seele, und seine erfindsame Liebe bereitete ihr einen Trost, den weder ich noch sie geahnet hätten. Liebes Mädchen, sagte er eines Abends zu ihr, indem er die Thräne, die sie vergebens wegzublinzen suchte, von ihrem Auge küßte, ich wollte dich glücklich machen und sehe nun, daß ichs nicht ganz recht angegriffen habe; doch vielleicht kann ich den Fehler verbessern. Wie wäre es, wenn ich dich diesen Abend in aller Stille mit deinem Geliebten trauen ließe. Ich stürzte dem guten Vater in die Arme. Amalie erröthete und sank an den Busen ihrer Mutter. Meine Anstalten sind bereits getroffen, fuhr er fort, der 139 Feldprediger des hier liegenden Schweizer-Regiments, auf dessen Verschwiegenheit ich bauen kann, wird mit uns zu Nacht speisen: mein Buchhalter und mein Cassierer werden der Trauung als Zeugen beiwohnen. Ich hatte eben so viel Mühe, mich aus meinem Freudentaumel zu erholen, als Amalie Zeit brauchte, sich aus dem Strudel neuer Gefühle herauszufinden, die ihre Seele bestürmten. Die feierliche Stunde überraschte uns alle beide über den süßesten Ergießungen der Liebe und der Dankbarkeit; unsre Gäste erschienen, eine heitere Stille herrschte während dem festlichen Mahle. Nach Tische führte Gilbert seine Tochter auf das Zimmer ihrer Mutter, die ihm an meinem Arme folgte, und der Geistliche betete mit leiser feierlicher Stimme den Segen über unsre zusammengefügten Hände.

Gilbert hielt inne: er wollte es versuchen fort zu fahren: allein die Worte versagten ihm. Louise bemerkte den Kampf seines Herzens: Sie sind müde, lieber Vater, sagte sie zu ihm, kommen Sie, Adelaide hat heute ihr neues Instrument mit einer herrlichen Sonate zu vier Händen erhalten, die wir Ihnen spielen müssen. 140


Dritter Abend.

Heute versammelte man sich auf Adelaidens Zimmer. Es war ein schwüler, düsterer Abend; ein dumpfes Gewitter rollte an den schwarz umschleierten Scheiteln der Alpen daher und stimmte die Gemüther zu einer bangen Melancholie. Wir haben Ihnen, sagte Louise zu ihrem Pflegevater, eine harte Arbeit auferlegt: allein Sie haben so oft mit uns geweint, lassen Sie uns heute mit Ihnen weinen. Das werdet Ihr, antwortete Gilbert, was ich noch zu erzählen habe, ist eine Szene des Grauens und des Jammers.

Drei Tage war ich glücklich, gedoppelt glücklich, weil die Urheberin meines Glückes es so sehr war als ich. Der Gedanke unsrer baldigen Trennung wurde durch den Genuß des gegenwärtigen Augenblickes verdrängt, und Amalie sah ihr würklich mit mehr Fassung entgegen; sie glaubte mich weniger zu verlieren.

Am vierten Abend gab unser Obrister einen Abschiedsball: er trug allen seinen Offiziers auf, die jungen Frauenzimmer von ihrer Bekanntschaft, besonders die Töchter ihrer Hauswirthe, dazu einzuladen. Amalie und ich hätten uns gerne von dieser brausenden Ergötzlichkeit losgemacht: allein es wäre eine auffallende Ziererei gewesen, die sie und mich dem Gespötte und der Schmähsucht 141 ausgesetzt hätte. Wir mußten uns zu diesem Opfer bequemen. Amalie ward von ihrer Mutter begleitet; sie tanzte wenig und beinahe blos mit mir. Indessen konnte eine Gestalt wie die ihrige nicht unbemerkt bleiben; ich war hinausgegangen, um ihr eine Erfrischung zu holen; ein junger Laffe, ein Verwandter unsers Obristen, nahm diesen Augenblick in Acht und setzte sich neben sie an meine Stelle, die ich mir doch durch die Zurücklassung meines Hutes versichert hatte. Ich wurde länger als ich dachte am Schenktische aufgehalten. Als ich in den Saal zurück kam, fand ich Amalien mit glühendem Gesichte und niedergeschlagenen Augen an ihre Mutter geschmiegt, indeß der schaamlose Schwelger, vom Weine erhitzt, ihr die schlüpfrigsten Ungezogenheiten vorschwazte. Ich warf ihm einen ernsthaften Blick zu, indem ich ihr den Teller mit dem Glase vorhielt. Er hatte meinen Hut auf die Seite geschoben. Sie wissen vielleicht nicht, Marquis, sagte ich nach einer Weile zu ihm, daß ich dieses Frauenzimmer hieher geführt und einen Anspruch auf die Stelle habe, die Sie einnehmen. Er gab mir eine schnöde Antwort. Ohne mir Zeit zu lassen, sie zu erwiedern, stand Amalie hastig auf und ergriff meinen Arm. Kommen Sie, sagte sie, ich befinde mich nicht wohl, wir wollen nach Hause gehen. Auf Wiedersehen! 142 raunte der Marquis, ohne daß sie es hörte, mir ins Ohr.

Ich begleitete Amalien mit ihrer Mutter nach Hause. Ach, Gilbert, sagte sie, wievieles wollte ich darum geben, wenn ich blos meinem Herzen gefolgt und von diesem verhaßten Balle weggeblieben wäre! Ich hatte viele Mühe, sie zu besänftigen. Ich selbst war weit von der Ruhe entfernt, die ich ihr einsprach. Ihr kennet, meine Kinder, die barbarischen Gesetze der sogenannten Ehre. Ein Duell war unvermeidlich. Ich fürchtete seine Folgen blos für Amalien. In der Geschwindigkeit, womit wir das Ballhaus verließen, hatte ich vergessen, meinen Degen bei der Schildwache abzulangen; dieses gab mir einen ganz natürlichen Vorwand, dahin zurück zu kehren. Ich versprach Amalien in wenig Minuten wieder bei ihr zu seyn; sie ahnete nichts und ließ mich gehen. Kaum war ich in den Tanzsaal getreten, so fiel der Marquis mir ins Auge. Ich gieng auf ihn zu: hier bin ich wieder, mein Herr, sagte ich zu ihm, Sie sollen mich nie vergebens erwarten. Also morgen frühe um sieben Uhr hinter dem Schloßgarten, antwortete er, jeder bringt einen Sekundanten mit. Gut, erwiederte ich und eilte nach Hause. Amalie flog mir entgegen und lobte mich wegen meines Gehorsams. Ihr Schrecken legte sich und sie 143 ruhete sanft im Schoose der arglosesten Unschuld, indeß die schrecklichsten Bilder meine Seele marterten.

Sie ruhete noch, als ich mich von ihrer Seite stahl und mich in banger Stille ankleidete. Ich hatte schon mit leisem Schritte die Thür erreicht, als ein unwiderstehlicher Drang mich zu ihr zurückzog. Ich trat an das Bette und weidete mich noch einen Augenblick an dem Bilde des schlafenden Engels; ich that wohl daran, denn ich sollte den Engel nicht wieder sehen.

Louise. Ach Gott!

Gilb. Ich eilte nach dem verabredeten Sammelplatze, Ihr Vater, Louise, war mein Sekundant. Schon damals waren wir Freunde, obgleich seine Jugend, (er war fünf Jahre jünger als ich) mich hinderte, ihn zum Vertrauten meiner Liebe zu machen. Wir zogen vom Leder; mein Gegner stürmte auf mich los, ich begnügte mich, seine Stöße abzulenken. Ich wollte mich keines Mordes schuldig machen und schon damals würde ich den Tod meines Feindes für einen Mord gehalten haben. Zehn Minuten schlugen wir uns mit gleichem Vortheil, ungeachtet der Marquis ein weit besserer Fechter war als ich. Er sah, daß ich ihn schonte; dieses brachte ihn noch mehr auf und in eben dem Augenblicke, da ich es 144 versuchen wollte, ihn zu entwaffnen, versetzte er mir einen Stoß in die rechte Seite, der mich zu Boden stürzte.

Sein Sekundant entfernte sich, um eine Sänfte herbei zu holen, indeß der meinige bei mir blieb und mein Blut zu stillen suchte. Da der Baron nichts von meiner Verbindung wußte, so ließ er mich ohne andere Vorsicht, als daß er einige Schritte vor der Sänfte hergieng, in mein Quartier tragen. Als er in das Haus trat, fragte er nach dem Wirthe. Herr Gilbert ward gerufen. Hier bringe ich meinen Cameraden, der verwundet ist, lassen Sie mir doch einen Armstuhl geben, damit wir ihn auf sein Zimmer tragen können. Herr Gilbert war wie vom Schlage gerührt; er holte selbst seinen Sessel aus seinem Comptoir, und lief auf das Zimmer seiner Gattin, um sie von meinem Unfalle zu benachrichtigen. Er glaubte, Amalie sey noch nicht aufgestanden. Der Baron hatte mich einigemal besucht und wußte das Zimmer, das ich vor meiner Heirath inne hatte. Es lag eine Treppe höher als Amalien ihres und der Weg gieng daran vorbei. Ich lag noch immer in einer tiefen Ohnmacht: sie hörte ein Geräusch vor ihrer Thüre, sie öffnete sie und erblickte, wie sie glaubte, meine Leiche. Sie stürzte mit einem lauten Schrei zu Boden, ihre 145 Mutter, die auf ihren Gatten gestützt meinen Trägern auf dem Fusse folgte, konnte die Thüre nicht erreichen, sie sank ohnmächtig in seine Arme. Diese Umstände erfuhr ich lange nachher von meinem Freunde.

Unterdessen brachte man mich zu Bette: der Feldscheerer untersuchte meine Wunde und fand sie gefährlich. Als ich zu mir selbst kam, erblickte ich meinen Schwiegervater an meiner Seite: ich drückte ihm die Hand, oder vielmehr ich versuchte es, sie ihm zu drücken. Was macht Amalie? fragte ich ihn. Der Wundarzt hat sie beruhigt, antwortete er, ihr aber dabei das harte Gesetz auferlegt, Sie vor Verfliessung des siebenten Tages nicht zu besuchen, ich werde aber ihr Botschafter bei Ihnen seyn. Und auch der meine bei ihr, erwiederte ich: sagen Sie ihr, daß von ihrer Erhaltung die meinige abhängt.

In der folgenden Nacht bekam ich ein heftiges Wundfieber: über zehn Tage schwebte ich zwischen Tod und Leben. Endlich siegte mein starkes Temperament: mein erstes Wort, als ich mich wieder besinnen konnte, war nach Amalie zu fragen. Ihre Gefahr machte sie sehr schwermüthig, antwortete der gute Vater: um einer Krankheit vorzubeugen, hat der Arzt sie genöthigt, mit ihrer Mutter nach unserm Landhause zu gehen. Ach! 146 als er mir dieses sagte, lag das edle, liebenswürdige Geschöpf bereits im Grabe. Schon am Tage meiner Verwundung fiel sie in ein hitziges Fieber; alle Hülfe war vergebens, ihre zerrüttete Einbildungskraft beschäftigte sich blos mit mir, und sie starb am siebenten Tage mit meinem Namen im Munde. Gilbert weinte und die ganze Gesellschaft weinte mit ihm. Alle baten ihn, seine Erzählung hier abzubrechen.

Nein, meine Kinder, antwortete er, es würde mich weit mehr Mühe kosten, morgen den Faden wieder anzuknüpfen; noch einige schwarze Striche, so ist das traurige Gemählde vollendet.

Mein Schwiegervater ließ mich so sorgfältig bewachen, daß mein Verlust mir drei Wochen lang verborgen blieb. Endlich konnte man mir ihn nicht mehr verhehlen, weil ich immer nach Amalien fragte und mich über ihr langes Ausbleiben beschwerte. Die Thränen ihrer jüngern Schwester Fanny, die ich einst in mein Zimmer lockte, verriethen mir das schreckliche Geheimniß. Kein Ausdruck schilderte meinen Schmerz, der an Wahnsinn und Verzweiflung grenzte. Ich weiß nicht wie ich den Schlag überleben konnte: allein, könnet Ihrs glauben? als ich sah, daß meine Last mich nicht erdrückte, so wandte ich selbst alles an, um meine völlige Herstellung zu beschleunigen. Ich 147 betrachtete mich als den Urheber des Todes meiner Geliebten und das Haus, das ich mit Trauer erfüllt hatte, wurde mir nun zur Hölle.

Als der Wundarzt mir erlaubte, frische Luft zu schöpfen, besuchte ich meine Schwiegereltern auf ihrer Stube und sagte ihnen, (es war ein schöner Nachmittag,) daß ich einen kleinen Spaziergang wagen wolle. Gilbert erbot sich, mich zu begleiten. Der Arm meines Bedienten ist mir hinreichend, antwortete ich, überlassen Sie mich dießmal meinen einsamen Betrachtungen. Mein Bedienter mußte mich zum Grabe meiner Amalie führen; ich warf mich darauf nieder, ich überschwemmte es mit meinen Thränen, ich glaubte, sie müßten bis zu ihr, bis auf ihr Herz hinunter dringen.

Nach einer halben Stunde verließ ich die heilige Stätte und begab mich in einen entlegenen Gasthof. Hier schrieb ich an meinen zweiten Vater den Abschiedsbrief, dessen Charlotte bei unsrer ersten Zusammenkunft erwähnte, ließ ein Postkarriol kommen und nahm den Weg zu meinem Regiment. Dem Postillon trug ich auf, meinen Brief zu bestellen, den Gilbert in den zärtlichsten Ausdrücken beantwortete. Seine Antwort war mit einem Wechsel begleitet, den er mir bei Verlust seiner Freundschaft aufdrang.

148 Der Krieg dauerte fort: dreimal kam mein Regiment ins Feuer, ich suchte den Tod; allein der Tod floh mich. Eine Stückkugel riß den Urheber meines Unglücks, den Marquis, zu Boden; er fiel drei Schritte von mir und ich mußte leben. Es ward Friede, ich legte meine Stelle nieder und widmete mich dem geistlichen Stande. Meine neuen Gelübde hinderten mich nicht, Amaliens Todestag jährlich in der Stille zu feiern, und wenn meine Religion mir die Hoffnung des Wiedersehens versagte, oh wahrlich! meine Kinder, ich würde das Exil ihrem Bekenntnisse nicht vorgezogen haben.

Mit Thränen in den Augen dankte die Gesellschaft dem rechtschaffenen Greise für seine Erzählung. Kommen Sie, sprach itzt Theodor, das Gewitter hat sich verzogen, lassen Sie uns im Garten frische Luft schöpfen. Morgen, lieber Vater, müssen Sie uns noch mehr von Charlotten und ihrem Gatten erzählen: wir wissen nur noch wenig, aber doch genug von ihnen, um ihre nähere Bekanntschaft zu wünschen.


Vierter Abend.

Am ganzen folgenden Tage wurde beinahe nichts als von der unglücklichen Amalie gesprochen. 149 Gilbert gieng gleich nach dem Frühstück aus, um eine arme kranke Wittwe zu trösten, und ihr die Unterstützung zu bringen, welche die drei Schwestern ihm für sie zugestellt hatten. Auch nach Tische schlich er sich wieder davon und kam erst gegen Abend zurück. Seine Miene war feierlich heiter; meine Dulderin hat überwunden, sprach er, ihre lezten Worte waren ein Segen für ihre Wohlthäterinnen und eine Bitte an mich, Ihnen ihre dreizehnjährige Tochter, ein liebes gutes Mädchen, zu empfehlen. Die nehme ich zu mir, rief Adelaide, mit Louisens Hülfe will ich es versuchen, auch mir eine Babet zu erziehen. Theodor und Louise schlossen sie zugleich in ihre Arme; Gilbert drückte ihr liebreich die Hand. Auch Sie, edle Seele, belohnen mich für den Entschluß, den ich faßte, in mein Vaterland zurück zu kehren, so schwer es mir auch fiel, meine Freunde in N** zu verlassen.

Ad. Ich fühle es, lieber Vater, wie viel diese Trennung Sie kosten mußte, gleich Ihre erste Zusammenkunft knüpfte ein so festes Band unter ihnen.

Theod. Sage lieber, meine Freundin, daß sie bloß ein dreißigjähriges Band erneuerte.

Gilb. So betrachteten wir es und schon am ersten Abend schieden wir als alte Freunde von 150 einander. Von nun an brachte ich alle meine Feierstunden bei dem treflichen Paare zu und selten verließ ich es ohne ein neues Verdienst, eine neue Tugend an ihm entdeckt zu haben. Dürand machte mit einigen Gelehrten und besonders mit einem seiner Collegen bekannt, den er mir mit Recht als einen teutschen Fenelon vorstellte. Wir unterhielten uns oft über das schauderhafte Trauerspiel, das mein Vaterland uns darbot, und noch lieber über die wichtigsten Gegenstände der Literatur und der Religion.

Oliv. Der Religion? Sie waren doch sonst kein Freund der Controversen.

Gilb. Auch war von keinen Controversen die Rede. Anstatt die Punkte zu berühren, worin wir von einander abgiengen, suchten wir diejenigen auf, darin wir mit einander übereinstimmten, und wir fanden ihrer so viele, daß uns weder Zeit noch Lust übrig blieb, an die andern zu denken. Es waren kleine Dissonanzen, die sich in einer überwiegenden Harmonie verlohren.

Oliv. Wenn alle Christen und Christenlehrer so dächten, so würde es weder Spaltungen noch Anatheme geben. Das heilige Feuer der Bruderliebe wäre nicht auf unsern Altären erloschen, und die Scheiterhaufen der Inquisition würden höchstens die Schriften der Gotteslästerer verzehren. 151

Gilb. Auch diese sind in einem Lande nicht zu fürchten, in welchem die Religion als ein Mittel behandelt wird, die reine Moralität, das ist, die öffentliche Glückseligkeit zu befördern. Dieses war das große Ziel des weisen Fürsten, der mich aufnahm und bei dem ich auch meinem Pflegesohn eine Freistätte ausgewürkt hatte, als ich die freudige Nachricht von seiner Zurückberufung erhielt.

Ich verbarg meinem Bruder und meiner Schwester keinen von Theodors Briefen, auch den gab ich ihnen zu lesen, welchen der edle Verdmont nach seinem Besuche in St. Julien an ihn schrieb und wovon er mir eine Abschrift zusandte. Sie kennen ihn und Louisen und ihren Freund so gut als ob sie Jahre lang mit ihnen gelebt hätten, und seit meiner Rückkunst haben sie auch Adelaiden und Eugenien kennen gelernt. Der weise Dürand, dem die Pflichten eines Hirten nicht weniger heilig sind als die Pflichten der Freundschaft, war der erste, der mir diese Rückkehr anrieth. Er und Charlotte begleiteten mich bis auf die erste Station: lange weinten sie an meinem Halse. Endlich sammelte Charlotte alle ihre Kräfte: thue ich doch, sagte sie, als ob wir uns auf ewig trennten. Hier, mein Bruder, empfangen Sie dieses Andenken, es soll Sie nicht an unsern Abschied, sondern an unsre Wiedervereinigung 152 erinnern. Hier ist dieses Andenken, fuhr Gilbert fort, indem er eine schwarze Dose hervorlangte. In dem Deckel war ein Gemälde gefaßt, das eine von Thränenweiden beschattete Urne vorstellte. Dieses Gemählde ließ sich vermittelst einer unmerklichen Feder wegschieben und alsdann erschien das Brustbild Amaliens in einem weissen Gewande mit weißen Rosen gekrönt.

Diese unaussprechlich süsse Ueberraschung, fuhr Gilbert fort, war ganz das Werk der gefühlvollen Charlotte. Sie wußte, daß ihre in Cassel verheirathete Schwester Amaliens Bildniß besas, das ihr Vater kurz vor unsrer Heirath ins geheim hatte mahlen lassen; es sollte eine goldene Dose zieren, die mir zum Geschenke bestimmt war. Nach ihrem Tode fürchtete er durch ein solches Vermächtniß meinen Schmerz zu nähren und das Gemählde blieb in der Familie. Charlotte besann sich darauf und bat ihre Schwester, es durch einen geschickten Meister copieren zu lassen. Betrachtet es, meine Kinder, es ist zum sprechen ähnlich. Izt ließ er es unter der Gesellschaft herumgehen: kein Glied derselben gab es dem andern, ohne es ehrerbietig geküßt zu haben. Auch Gilbert küßte es, als es in seine Hand zurückkehrte: wie lieb, wie entzückend, sagte er, wird mir die Aussicht in ein Land, in welchem Louise, Adelaide 153 und Eugenie Amaliens Schwestern seyn werden! Das hoffen wir, sagten sie alle schluchzend und drückten dem heiterlächelnden Alten kindlich die Hand.

Nach einem langen heiligen Stillschweigen suchte Theodor die Unterredung von diesem traurigen Gegenstande abzulenken. Können Sie mir doch nicht sagen, lieber Vater, wo der Ritter von Belmar hingekommen ist, den wir in der Schweiz kennen lernten und den Sie, wie Sie mir in Ihrem ersten Briefe meldeten, in einer kleinen Reichsstadt antrafen, wo er unter einem veränderten Namen seinen Unterhalt als französischer Sprachmeister zu gewinnen suchte?

Gilb. Blos die Feste der Freundschaft, die seit meiner Rückkunft beinahe alle meine Tage ausgefüllt haben, konnten das Bild dieses schätzbaren Mannes in meiner Seele verdunkeln; es ist mir lieb, daß Sie es ans Licht hervorziehen. Ich habe Ihnen einen Gruß von ihm zu bringen.

Theod. Also haben Sie ihn seitdem wieder gesehen? Wie geht es ihm?

Gilb. Sehr gut. Ich begegnete ihm auf meiner Rückreise ganz unvermuthet in Constanz. Seine Freude, mich wieder zu sehen, war so groß, daß er mir keine Ruhe ließ, bis ich ihn auf sein 154 Landgut begleitete, wo ich den ersten vergnügten Tag seit meinem Abschied von N** zubrachte.

Theod. Auf seinem Landgute? Wie in aller Welt kam der Sprachmeister zum Landgute?

Louise. Oh erzählen Sie uns das, lieber Vater.

Gilb. Wir sollen morgen die Erndtegans bei Ihnen verzehren, da werde ich Sie mit Belmar's interessanter Geschichte zum Nachtische bewirthen.


Fünfter Abend.

So fröhlich Louisens Erndtemahl war, so mannigfaltig die Gespräche waren, die es würzten, so vergaß doch die Gesellschaft Gilberts gestriges Versprechen nicht. Der niedliche Nachtisch, aus lauter Früchten ihres Gartens in buntgeflochtnen Körbchen aufgetragen, zierte kaum die ländliche Tafel, kaum hatte der Freundschaftsbecher, mir dem goldfarbigen, lieblichen St. Peray gefüllt, seinen ersten Kreislauf vollbracht, so wurde der gute Greis an die Geschichte des Ritters Belmar erinnert. Es wird nöthig seyn, sagte Theodor zu den übrigen, zu bemerken, daß Belmar ein eben so braver Soldat als liebenswürdiger Mensch ist. Er diente unter seinem Freunde Lafayette und verließ mit ihm die Armee. Als ein Anhänger der ersten Constitution konnte er, so wenig als 155 sein General, sich entschließen, gegen sein Vaterland zu fechten und wollte, wie ich, in der Schweiz sein Schicksal erwarten; allein der Mangel an Gelde nöthigte ihn noch vor mir Luzern zu verlassen.

Gilb. Einige Monate lang verschaffte ihm der Unterricht in der französischen Sprache seinen nothdürftigen Unterhalt. Nach und nach aber fing auch diese Quelle an zu stocken. Er bekam einen Mitwerber, der besser teutsch sprechen, und sich tiefer bücken konnte als er, und ihm seine meisten Schüler abspannte.

Belmar ist in der Gegend von Lyon zu Hause, wo er viele Bekannte hatte. Er erfuhr, daß der schäzbarste Theil der Einwohner dieser unglücklichen Stadt, um der Mordwuth der Tyrannen zu entgehen, sich nach Constanz geflüchtet habe. Er hoffte unter diesen Fremdlingen Freunde anzutreffen oder sich wenigstens Freunde zu machen, weil ihre Grundsätze in vielen Stücken übereinstimmten. Er betrog sich nicht: ein angesehener Kaufmann, mit dem er vormals in enger Verbindung stand, bot ihm das Gastrecht auf eine so edle Art an, daß er kein Bedenken trug, es anzunehmen. Bei diesem Freunde blieb er bis nach der Revolution vom 9ten Thermidor, welche den meisten Lyoner Ausgewanderten die Thore ihres Vaterlandes wieder aufschloß. Auch der Kaufmann 156 kehrte zu seinem zerstörten Heerde zurück, und gab dem Ritter eine Empfehlung an einen seiner Correspondenten in Neufchatel, der ihn unter seiner Bürgschaft in sein Haus aufnehmen sollte.

Wenig Tage nach der Abreise seines Gastfreundes verließ Belmar die Stadt Constanz. Er war schon lange gewohnt zu Fuße zu reisen und hielt sein erstes Nachtlager in einem Dorfe, wo er in der nächsten besten Herberge einkehrte. Kaum war er eingeschlafen, so wurde er durch einen gewaltigen Lerm aufgeschreckt. Es war in einem Wirtshause am andern Ende des Dorfes Feuer ausgekommen. Schnell warf er sich wieder in seine Kleider und in wenig Minuten befand er sich am Orte des Brandes. Die Nacht war finster, aber die prasselnde Flamme machte sie zum fürchterlichsten Tage. Das Feuer war unten in der Küche ausgebrochen und hatte bereits das obere Stockwerk ergriffen. Eine Menge Menschen umringten das Haus; allein niemand wagte sich hinein, ungeachtet eine weibliche Stimme aus einem Fenster im Tone der Verzweiflung um Hülfe rief. Es ist umsonst, sagten die Umstehenden, wer wird sich über eine brennende Treppe wagen? man muß eine Leiter erwarten. Mit zürnendem Ungestüm brach Belmar durch den feigen Haufen, und schoß wie ein Pfeil die glühenden Stufen hinauf, in 157 eine offenstehende Stube. Ein junges Frauenzimmer lief ihm entgegen: kommen Sie geschwind, rief Belmar, indem er sie am Arme faßte, es ist kein Augenblick zu verlieren. Das Mädchen wand sich los: ach retten Sie, retten Sie meinen kranken Vater oder lassen Sie mich mit ihm sterben, antwortete sie in einem Tone, der beides die unaussprechlichste Angst und die unaussprechlichste Zärtlichkeit ausdrückte. Zu gleicher Zeit riß sie ihn mit sich vor das Bette des Kranken, der sein Gesicht in das Küssen verbarg, um seine Tochter nicht sterben zu sehen. Eine Brieftasche lag neben ihm auf einem Tische: Belmar steckte sie zu sich: lud den Alten auf seine Schultern und eilte mit ihm der Treppe zu. Gehen Sie voran, sprach er zur Tochter. Nein, mein Herr, antwortete sie, ich folge Ihnen, wenn mein Vater gerettet ist. Belmar warf ihr einen Blick der Anbetung zu und rannte mit dem Alten die Treppe hinab. Er übergab ihn dem Pfarrer des Orts, der allein den Muth hatte auf sein Rufen sich einige Schritte in das Haus zu wagen. Izt wandte er sich nach der Tochter um; er glaubte, sie wäre ihm gefolgt; allein die Flamme hatte sie zurückgeschreckt und in diesem Augenblicke stürzte die Stiege zusammen. Gehen Sie an das Stubenfenster, rief Belmar ihr zu, Sie haben keinen andern Ausweg mehr. 158 Dann lief er auf die Gasse, ließ die eben angekommene Leiter ansetzen, faßte das bebende Mädchen in seine Arme, und brachte sie glücklich herunter. Er wollte sie niederstellen, allein sie war unmächtig.

Er trug sie in das benachbarte Pfarrhaus, wo der wackere Geistliche eben mit ihrem Vater angelangt war. Er legte sie neben ihn auf ein Bette, holte ein Glas Wasser und benetzte ihr die Stirne und die Schläfe. Nach einigen Minuten schlug sie die Augen auf: wo ist mein Vater? waren ihre ersten stammelnden Worte. Hier an Ihrer Seite, sprach Belmar, und legte die Hand des Alten in die ihrige. Henriette fiel dem Vater um den Hals und küßte den kalten Schweiß von seiner Stirne. Dann wandte sie sich nach ihrem Retter: ach mein Herr: mehr, unendlich mehr als mein Leben habe ich Ihnen zu danken. Belmar blieb bei ihm, indeß der Pfarrer die Löschanstalten anordnete. Was von dem Hause noch übrig war, wurde nach einer halben Stunde gerettet. Unterdessen versuchte es auch der Kranke zu sprechen; seine Lippen bewegten sich, allein er fand keine Worte. Wehmüthig liebreich blickte er den Ritter an und reichte ihm die Hand. Soll ich einen Arzt rufen? sagte Belmar zu Henrietten, wo kann ich einen finden? Ach, mein Herr, erwiederte sie, wir sind erst seit 159 gestern hier: das Podagra überfiel meinen Vater unterweges und nöthigte uns hier stille zu liegen. Ich schickte sogleich unsern Bedienten mit dem Wagen nach Constanz, um einen Arzt zu holen, der vermuthlich morgen Vormittag eintreffen wird.

Regnier war ein reicher Seidenfabrikant aus Lyon. Auf das Bitten seiner beiden Söhne hatte er sich mit seiner Tochter zween Tage vor der Belagerung durch die Flucht gerettet. Die Söhne wollten nicht fliehen: der jüngere ward in einem Ausfalle getödtet, der ältere fiel durch das Kartetschenfeuer, wodurch das Mordgericht nach der Eroberung die Gefangenen zu hunderten abschlachtete. Der trostlose Vater, der den grösten Theil seines Vermögens in Wechseln auf das Ausland gerettet hatte, konnte sich nicht entschließen, in eine Stadt zurück zu kehren, die noch vom Blute seiner Söhne und seiner Freunde rauchte. Er hatte sich das reizende Ufer des Bodensees zu seinem Aufenthalt gewählt, und war im Begriffe, den Preis eines schönen Landgutes abzutragen, das er in dieser Gegend gekauft hatte. Zu diesem Ende wollte er nach Zürich reisen, um daselbst seine Wechsel zu Gelde zu machen. Diese Wechsel befanden sich in der Brieftasche, welche Belmar zu sich gesteckt und über den wichtigern Geschäften seiner Menschenliebe völlig vergessen hatte.

160 Regnier lag noch eine Weile in kraftloser Betäubung auf dem Bette; auf einmal schauderte er zusammen. Ach Gott! rief er mit erloschener Stimme. Henriette sprang ihm zu: was fehlt Ihnen, mein Vater? Ach, liebes Kind! hast du meine Brieftasche? Henriette erblaßte: sie hatte es nicht bemerkt, als Belmar sie in Verwahrung nahm. O vergeben Sie mir! sprach dieser, indem er sie hervorlangte, sie kam mir völlig aus dem Sinne, hier ist sie. Edler Mann! schluchzte Regnier, auch mein Vermögen soll ich Ihnen schuldig seyn! Nicht nur für mich, noch mehr danke ich Ihnen für mein Kind. Sie wissen selbst, daß es das beste Kind ist. Henriette sagte nichts: allein in ihrem Auge las Belmar mehr als sie ihm hätte sagen können.

Nun kam der Pfarrer zurück: er bot dem Kranken bis zu seiner Besserung ein Zimmer an. Sein Anerbieten wurde angenommen und der Ritter half ihm seinen Gast zu Bette bringen. Henriette sollte ein Nebengemach beziehen, allein sie wollte ihren Vater nicht verlassen, Belmar erfüllte ihren Wunsch und trug ein Canapee in die Kammer des Kranken, wo sie sich neben seinem Bette ein Lager zurecht machte.

Unterdessen war es Mitternacht geworden. Sie sind beide der Ruhe bedürftig, sprach er zu Vater 161 und Tochter, erlauben Sie mir morgen vor meiner Abreise mich nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen. Ohne eine Antwort zu erwarten, verließ er sie und eilte in seine Herberge.

Hier unterbrach sich Gilbert. Ich hätte meine Geschichte vor der Mahlzeit anfangen sollen; wenn ich sie heute endigen wollte, würde es wohl auch Mitternacht werden. Nicht doch, sagte Louise, wenn Sie den Rest dis morgen versparen, so werden wir Ihnen einen schönen Abend mehr zu danken haben.


Sechster Abend.

Er folgte auf einen schönen Tag. Olivier und Louise fanden ihre Freunde am Teiche des Schloßgartens, den eine zwiefache Reihe von Silberpappeln umschattete. Sie hatten sich mit Fischen belustigt und erwarteten nur die Ankunft des fehlenden Paares, um den Vater Gilbert zur Fortsetzung seiner Geschichte aufzufodern.

Louise. Ich sollte denken, daß weder Belmar noch Henriette den Rest jener stürmischen Nacht sehr ruhig zubrachten. Mir wenigstens wäre es unerträglich gewesen, meinen Schutzengel so schnell verschwinden zu sehen, und gesetzt auch, Henriette besäße wenig äußere Reitze, so mußte 162 ihre heldenmüthige Kindestreue einen Mann wie Belmar im ersten Augenblicke fesseln.

Gilb. Henriette ist eine sehr liebenswürdige Blondine, die damals nicht über sechszehn Jahre zählte. Allerdings machte sie auf das Herz des Ritters einen um so tiefern Eindruck, da er zuerst ihre Seele kennen lernte. Es fiel ihm eben so schwer, sich von ihr zu trennen, als es ihr schwer fiel, einen Mann aus dem Gesichte zu lassen, der ihr nur noch dem Namen nach unbekannt war und dessen gemeine Kleidung seine edle Gestalt mehr erhob als verhüllte. Sie unterhielt sich von ihm mit ihrem Vater, den einige Stunden Schlafs über alle Erwartung gestärkt hatten, als er durch den Pfarrer bei ihnen angemeldet wurde. Vater und Tochter setzten ihn durch ihre wiederholten Danksagungen in eine Verwirrung, die seiner That in ihren Augen einen neuen Werth beilegte. Oh lassen Sie mich, rief Regnier, den Namen meines Wohlthäters erfahren! Dieser Name, sagte Belmar, hatte vormals einigen Glanz, aber eben deßwegen habe ich ihn gegen den Namen Gerard vertauscht. Sie sind einer meiner ausgewanderten Landsleute, versetzte Regnier, dieses errieth ich schon gestern. Wir sind durch das Unglück mit einander verwandt, mein Herr, und Verwandte verhehlen einander ihre Namen nicht. Ich bin der 163 Kaufmann Regnier aus Lyon, der unglücklichste und zugleich der glücklichste unter den Vätern. Zur Zeit meines Glückes, erwiederte jener, hieß ich der Ritter von Belmar. Regnier kannte diese Familie; er erinnerte sich nun selbst, den Ritter gesehen zu haben, dessen Regiment vor dem Kriege in und um Lyon kantonnierte.

Henriette erröthete bei dieser Entdeckung: es war ihr als ob der Fremdling, den bisher noch eine dünne Scheidewand von ihr trennte, sie auf einmal berührte. Ich wünschte, sagte Regnier, daß Ihr Weg der unsrige wäre, und daß Ihre Reise einen kleinen Aufschub litte, so könnte ich Ihnen einen Platz in meinem Wagen anbieten. Meine Reise geht nach Neufchatel, wohin ich eine Empfehlung habe. Eine Empfehlung? antwortete Regnier, die stärkste Empfehlung haben Sie an mich, niemand in der Welt wird mir den Vorzug streitig machen. Ich lasse Sie nicht fortreisen, mein Herr, möchte ich in eben dem Grade Ihr Vertrauen verdienen, als Sie meine dankbare Hochachtung besitzen. Kurz, Belmar blieb und begleitete nach einigen Tagen den Kaufmann und seine Tochter nach Zürich.

Unterweges veranlaßte ihn Henriette seine Geschichte zu erzählen; Regnier hatte ihm schon mehrmals Gelegenheit dazu gegeben, er war ihr aber immer ausgewichen. Der Einladung seiner 164 liebenswürdigen Tochter konnte er nicht widerstehen. Er sah sie zum erstenmale lächeln, als er in einem muntern Tone des Unsterns erwähnte, der ihn in der kleinen Reichsstadt vom Catheder eines französischen Sprachmeisters herunterstürzte. Uebernehmen Sie dieses Amt bei meiner Tochter, sagte der Vater, sie jammert täglich, daß sie kein Teutsch versteht, da in dem Dorfe, das unser künftiger Aufenthalt seyn wird, kein Mensch, außer dem Pfarrer, unsere Sprache redet. Belmar fühlte die Delikatesse, womit Regnier ihm ein Asyl versichern wollte. Ein Händedruck war seine Antwort. Henriette erröthete; allein auf ihrer offnen Stirne las Belmar die Ratifikation des väterlichen Planes. Ob Sie auch mit Ihrer Schülerin zufrieden seyn werden, sagte sie, und der Blick, womit sie diese Worte begleitete, zertheilte wie ein blitzender Sonnenstrahl den grauen Nebel, der bisher seine Aussicht verhüllte. Gleich dem abgematteten Schiffer entdeckte er nun in der Ferne das Vorgebürge der Hoffnung, ohne jedoch gewiß zu seyn, ob sein morsches Boot es erreichen werde.

Belmar half seinem neuen Freunde seine Geschäfte in Zürich besorgen und folgte ihm auf seinen herrlichen Landsitz. Hier verband er mit seinem Lehramte die Geschäfte eines Oekonomen, die ihm freilich nicht sehr geläufig waren; allein die 165 Dankbarkeit machte ihn eben so bald zum Landwirthe, als die Liebe ihn, wo nicht zum geschicktesten, doch gewiß zum glücklichsten Sprachlehrer machte: denn in weniger als sechs Monaten konnte Henriette mit ihrem Gesinde völlig zu rechte kommen; aber noch kürzere Zeit brauchte sie, um sich mit ihrem Liebhaber zu verstehen, ungeachtet seine Ehrfurcht für das Gastrecht ihm jede Art von Liebeserklärung untersagte. Er wachte über seine Augen und über seine Zunge, allein das Herz bedarf dieser Werkzeuge nicht, um sich, wenn es nur erst Gehör findet, verständlich zu machen, und Henriette würde auch alsdann gegen seine Verdienste nicht unempfindlich geblieben seyn, wenn er sich nicht gleich im ersten Augenblicke ihrer Erkenntlichkeit bemächtigt hätte, die für ein edles und noch freies Herz der kürzeste Weg zur Liebe ist.

Regnier bekam im folgenden Winter wieder einen Anfall von Podagra und mußte das Bette hüten. Henriette hatte es im Teutschen so weit gebracht, daß sie Geßners Idyllen ziemlich fertig übersetzen konnte. Da sie ihren Vater nicht verlassen wollte, so schlug sie Belmarn vor, ihre Lektion an seinem Bette zu nehmen. Sie war Tages zuvor an der eilften Idylle des ersten Bandes stehen geblieben, wo die junge Chloe die 166 Nymphen des Hains zu den Vertrauten ihrer Liebe macht. Henriette übersetzte ihre schmelzende Klage treu und gefühlvoll. Ihr Vater hatte die französische Ausgabe in der Hand und verglich sie mit dem Ausdrucke des Mädchens. Bey der Stelle: ach ich liebe den schönsten Hirten, und er weiß es nicht, daß ich ihn liebe, stockte sie und ihre Stimme erlosch. Ei! rief ihr Vater lächelnd, wenn er es nicht weiß, so mußt du es ihm sagen. Henriette ließ das Buch aus der Hand fallen und verbarg ihr Gesicht in sein Kopfkissen. Belmar war wie versteinert; es war aber die Bildsäule des frohesten Erstaunens. Mein Freund, sprach Regnier zu ihm, Sie lieben meine Tochter, und wenn Sie's noch nicht errathen haben, so will ichs Ihnen sagen, daß Sie wieder geliebt werden. Es war groß, es war schön von Ihnen, daß Sie uns Ihre Liebe verschwiegen, und dennoch murrte die Freundschaft schon lange über dieses Stillschweigen; es wäre, wie ich meyne, noch schöner gewesen, wenn Sie kein Geheimniß für Ihren Freund gehabt hätten. Seyn Sie mein Sohn, ersetzen Sie mir einen von den beiden, welche die Wuth der Tyrannen mir geraubt hat. Umarmt Euch, meine Kinder, Ihr seyd einander würdig. Belmar warf sich über den guten Greis her und benetzte sein Gesicht mit seinen Thränen; 167 Henriettens Lippen klebten auf seiner Hand. Regnier wiederholte ihnen den süßen Befehl, und der reinste zärtlichste Kuß der Liebe versiegelte das Band ihrer Herzen. Der gute Vater erwartete nur seine Genesung, um es durch einen Diener der Religion weihen zu lassen, und als ich das edle Paar besuchte, genoß es schon sechs Monate einer Glückseligkeit, die ich Euch, meine Kinder, nicht schildere, weil Ihr aus eigenem Gefühle wisset, daß sie sich nicht schildern läßt.

Das wissen wir, riefen sie alle mit wonnestrahlendem Gesichte, und die gerührte Louise sprach zu Vater Gilbert, indem sie seine Hand dankbar zwischen die ihrigen schloß und an ihren Busen drückte: oh wie wohl thut dem Herzen das Gefühl, daß es nicht allein glücklich ist! wie feierlich schlägt es bei dem Gedanken, daß es auf dem Schauplatze der Zwietracht und des Mordens noch hin und wieder einen Winkel giebt wo die Menschheit sich mit der Menschheit aussöhnen und unter den Trümmern der Verwüstung ein Blümchen der Freude pflücken kann! 168

 


 


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