Gottlieb Conrad Pfeffel
Prosaische Versuche / 3. Theil
Gottlieb Conrad Pfeffel

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Louise.

Ein historisches Familiengemählde.

Der Baron von C** lebte seit dem Ende des amerikanischen Krieges auf seinem Rittersitze St. Julien in einem der romantischen Thäler des Delphinats. Indeß er unter den Fahnen der Freiheit kämpfte, hatte der Tod ihm seine angebetete Gemahlin entrissen, und dieser Verlust bewog ihn die Kriegsbahn, worauf er, weil er blos Held und nicht zugleich Höfling war, die Kabale überall im Wege fand, mit dem Charakter eines Obristen zu verlassen, und die Ehrbegierde den Vaterpflichten aufzuopfern.

Seine beiden Kinder verdienten dieses Opfer: Theodor, hatte in Grenoble unter Anführung eines weisen Mentors alle Kenntnisse und Talente erworben, die einen Jüngling von 15 Jahren auszeichnen können, der bestimmt war den Ruhm seines Vaters fortzupflanzen. Er glich ihm an Mut und Seelenadel, und erwartete mit Ungedult den Augenblick, der ihm die Bahn der Ehre öfnen sollte.

Doch dieser Augenblick war nicht so nahe, als er es hofte. Der Baron kannte die Klippen seines Standes, und wollte die ersten Jahre seiner Muße dazu anwenden, seinen Sohn gegen dieselben zu 2 waffnen. Er beredete daher seinen Führer, daß er seinen Zögling auf das Land begleitete, und mit seinem Vater die lezte aber auch die schwerste Arbeit des Erziehers theilte, die Sorge, die reifende Frucht eines langen Tagwerks vor der Fäulniß oder dem Abfallen zu bewahren.

Der Obriste hatte hiebei noch einen andern Zweck, der ihm nicht weniger am Herzen lag. Er wollte seine zwölfjährige Tochter aus dem Kloster zurüknehmen, in welches man sie nach dem Tode ihrer Mutter gebracht hatte, und das liebenswürdige Mädchen sollte von dem Lehrer ihres Bruders den Unterricht erhalten, den ihre herrlichen Anlagen foderten, und den die Klostererziehung ihr nicht gewähren konnte.

Der Baron, der seine Louise in drei Jahren nicht gesehen hatte, wollte sie selber nach Hause holen. Schweigend staunte er sie eine Weile an, als sie sich am Sprachgitter zeigte. Er erkannte in ihr das verjüngte Ebenbild ihrer reizenden Mutter, und diese Aehnlichkeit mischte einige Wermuthstropfen in den Becher seiner Freude. Mit hüpfendem Herzen folgte sie ihrem Vater nach St. Julien, wo sie mit Theodorn die ersten Jahre ihrer Kindheit verlebt hatte, und dieser vergaß alle militärischen Plane beim Anblicke einer Schwester, an der 3 sein ganzes Herz hieng, und deren Gesellschaft er mehr als zwei Jahre entbehren mußte.

Louise theilte mit ihrem Bruder alle die Stunden, die keine unmittelbare Beziehung auf seine künftige Bestimmung hatten, und da Theodor in der Erdkunde, in der Geschichte der Natur und der Menschen und in den schönen Künsten kein Neuling mehr war, so ließ der weise Gilbert ihn das Erlernte dadurch wiederholen, daß er es seine Schwester lehren mußte. Wenn sodann der Vater den Jüngling in der Wissenschaft des Krieges unterrichtete, beschäftigte das Mädchen sich mit weiblichen Arbeiten, oder sie mahlte Blumen und Schäferstücke, indeß ihr Bruder Vestungen und Schlachtplane zeichnete. Des Abends versammelte man sich vor Louisens Piano: begleitete ihre zauberischen Accorden mit seiner Violine, und oft wurde das Concert durch die Flöte des jungen Olivier verstärkt, der ein Sohn des Schloßverwalters war, und wegen seinen sanften und edlen Sitte als ein angenommener Sohn des Hauses betrachtet wurde.

Olivier war drei Jahre älter als Theodor, der ihn brüderlich liebte, er war das einzige Kind seines Vaters, der nichts an seiner Erziehung gespart hatte. Kurz nachdem Theodor Grenoble verließ, kam sein junger Freund von Genf, der Vaterstadt seiner verstorbenen Mutter, zurük, wo er 4 sich Kenntnisse sammelte, die unter den Jünglingen seiner Provinz selten waren, und jenen Freiheitsgeist einathmete, der ein reines Herz in eben dem Grade veredelt, als er den Schwindelkopf und den Thiermenschen verschlimmert. Sein vermögender Vater besaß ausserhalb dem Dorfe St. Julien einen ansehnlichen Meyerhof, den er zur Belohnung für den Eifer erhielt, womit er einen Prozeß betrieb, dessen Gewinn die Einkünfte seines Herrn um einen Drittheil vermehrte. Dieser Meyerhof sollte einst das Heurathsgut seines Sohnes werden, dessen Ehrgeiz nach keinem andern Glücke strebte, als nach dem unabhängigen Leben des Landmannes, wovon er bei seinen Wallfahrten in die Gebürge Helvetiens so manches reizende Bild gesehen hatte.

Der Baron, der diese Sinnesart des jungen Philosophen zu schätzen wußte, bestimmte ihn in seinem Herzen zum Gefährten seines Sohnes auf einer Reise nach den vornehmsten Gegenden Frankreichs und der Schweiz, welche er unter der Führung seines Lehrers vor seinem Eintritt in die große Welt unternehmen sollte. Wenn ihr Sohn, sagte Gilbert, die prächtigsten Städte seines Vaterlandes besucht, wenn er die Herrlichkeiten von Paris und Versailles gesehen hat, und hernach noch Geschmack findet an den Naturscenen Helvetiens und an den einfachen Sitten seiner Hirten, so ist seine Erziehung 5 vollendet. Die fremden Reiche, Teutschland, England und die Kunstschätze Italiens wollen wir für ein reiferes Alter aufbehalten, wenn er sein eigener Führer seyn kann, ohne Gefahr zu laufen, falsch zu sehen oder irre zu gehen. Er wird ohnehin nöthig haben das einförmige Leben der Soldaten von Zeit zu Zeit zu unterbrechen, und die Rechenschaft, die er Ihnen von seinen Wanderungen abstatten muß, wird jedesmal ein neuer Genuß für Ihr Vaterherz seyn.

Drei Jahre brachte Theodor in seinem väterlichen Hause zu, ehe sein Mentor den lezten Theil seines Erziehungsplanes ausführte. Das dritte Jahr war eigentlich blos der Lesung der Biographien Plutarchs und einer Reihe philosophischer Vorträge gewidmet, darinn die ewige Wahrheit in ihrer reinen Einfalt frey von dem Faltengewande der Schulen und von den Träumereien der Grübler auftrat, und bei der Schwester ein ebenso gelehriges Ohr fand als bei dem Bruder. Olivier nahm zwar selten Antheil an diesem Unterrichte, desto öfters aber an den Gesprächen, die er bald am Kamin, bald beim Spaziergange veranlaßte, und Gilbert hatte häufige Gelegenheit den hellen Verstand und die festen moralischen Grundsätze des Jünglings zu bewundern. Noch mehr aber lernte er ihn auf der sechsmonatlichen Reise durch Frankreich und 6 Helvetien schätzen und lieben. Täglich wünschte er dem Baron zu dem Einfalle Glück, den er gehabt hatte, ihn seinem Sohne zum Gefährten zu geben, und Oliviers Tagbuch wurde von dem Obristen und Louisen mit ebenso grossem Vergnügen gelesen als die Briefe Theodors, welche zwar ein lebhafteres Colorit, aber eine minder richtige Zeichnung darstellten.

Die Rükkunft der Reisenden ward als ein Familienfest gefeiert, wobei der alte Olivier und sein Sohn als die nächsten Verwandten betrachtet wurden. Louise verrichtete das reizende Amt der Hebe, und hätte einem Corregio zum Modell dieser Göttin dienen können. Bei dem Nachtische wurde das Hauptgericht, der Gesang, nicht vergessen, und das holde Mädchen überraschte die Gesellschaft mit einem Bewillkommungsliedchen, das sie nach einer von Gretrys lieblichsten Melodien verfertigt hatte.

Ein beständiger Wechsel häußlicher Freuden schien dieses Fest mit jedem Tage unter einer andern Gestalt zu erneuern. Es wurde bloß durch die Abreise Theodors zu seinem Regiment unterbrochen. Sein Vater wollte ihn selbst seinen ehemaligen Kriegskameraden vorstellen, und empfahl ihn der moralischen Vormundschaft eines alten Hauptmanns, der, wie Bayard, ein Ritter ohne Furcht und Tadel war. Bald nach seiner Rükkunft hatte der Baron 7 Gelegenheit, die Freundschaft des ehrwürdigen Gilbert auf die einzige Art zu belohnen, die seinem Herzen gemäs und das einzige Mittel war, sich seiner Gesellschaft auf immer zu versichern. Gilbert war ein Geistlicher. Aus Liebe zu den Wissenschaften und zu einem unabhängigen Leben hatte er bisher alle öffentlichen Aemter ausgeschlagen, und sich mit einer kleinen Pfründe begnügt, die der Bischof von Grenoble ihm ohne sein Gesuch verliehen hatte. Nun wurde die Pfarrei von St. Julien erledigt, und der Oberste hatte sie zu vergeben. Er trug sie seinem Freunde auf, und dieser nahm sie mit Freuden an, nicht weil sie einträglich war, sondern weil sie ihm die angenehme Aussicht öfnete, an der Seite seines Wohlthäters den Würkungskreis seiner Menschenliebe zu erweitern.

Louise war über diese Begebenheit entzükt. Hochachtung und Dankbarkeit hatten ihr Herz fest an diesen treflichen Mann geknüpft, den sie als einen zweiten Vater betrachtete, und von dessen Umgang ihr wißbegieriger Geist sich noch manchen nüzlichen Unterricht versprach. Gilbert machte sichs zur süssen Pflicht ihrer Erwartung zu entsprechen, und die stillen Abende des folgenden Winters wurden mit Lesung der klassischen Schriftsteller der Nation zugebracht. Der Baron wohnte dieser Unterhaltung regelmäßig bei, und mischte seine geschmakvollen 8 Bemerkungen unter die seines Freundes. Er that noch mehr: er lehrte seine Tochter die englische Sprache, die er in jüngern Jahren erlernt, und in Amerika sich völlig eigen gemacht hatte. Nur selten besuchte er die Stadt, und noch seltener begleitete ihn Louise auf diesen Reisen. Es kostete sie jedesmal einen Kampf, wenn sie auch nur für einen Tag ihre selige Einsamkeit verlassen sollte. Ihr Vater überhob sie aller genauern Verbindungen mit dem benachbarten Landadel, gegen den er selbst sich auf die Verhältnisse des Wohlstandes einschränkte. Diese Abgeschiedenheit erwarb ihm zwar den Zunahmen des Eremiten; allein er war der Welt zu satt, und fand in Louisen und Gilbert einen so reichen Ersaz für alles, was sie ihm anbieten konnte, daß er diesen Uebernamen als einen Ehrentitel schäzte.

Theodor war nun bald zwei Jahre abwesend, und die Nachrichten, die sein Vater von seiner Aufführung erhielt, liessen ihm bloß den Wunsch übrig, ihn wieder einmal an seine Brust zu drücken. Dieser Wunsch wurde erfüllt. Theodor bekam einen Winterurlaub, und eilte mit der frohen Ungedult eines unverdorbenen Herzens in die väterlichen Arme. Louise war auf seine Ankunft vorbereitet, und dennoch vermochte selbst die Gegenwart des Fremden, den er mitbrachte, ihre Freude nicht in den Schranken zu halten. Sie fiel ihm mit dem 9 liebenswürdigen Ungestümm einer Tochter der Natur um den Hals; sie weinte, sie lachte, sie sah nur ihn, und nahm in diesem Augenblicke selbst ihren Vater nicht wahr, dem sie den Weg zu dem Busen seines Sohnes versperrte. Nun, nun, mein Kind, sagte endlich dieser zu ihr, indem er beide zugleich umfaßte, ich sehe wohl, ich muß auch die Schwester umarmen, wenn ich den Bruder umarmen will. Dieser Verweiß, den der Ton, in welchem er ausgesprochen wurde, zur zärtlichsten Liebkosung machte, brachte sie zu sich selbst. Sie ließ ihren Bruder los, und nun erst bemerkte sie den Fremden, den diese Scene so mächtig hinriß, daß er den Vater und die Tochter bloß durch eine stumme Verbeugung bewillkommen konnte.

Louise schlug die Augen nieder, und ein Blick des Vaters schien Theodorn zu fragen, wer sein Begleiter sey? Der Marquis von Verdmont, mein lieber Vater, rief er, mein Kamerad und mein Freund; er wird einige Tage bei uns ausruhen, und sodann im Schoose seiner Familie das finden, was ich im Schoose der Meinigen gefunden habe. Louisens Verwirrung vermehrte ihre Reize; die Freudenthränen, die auf ihren Wangen glänzten, erhöheten das glühende Incarnat, das sie plözlich überströmte, und verdoppelten das Feuer ihrer grossen schwarzen Augen.

10 Louise war mehr eine rührende als eine blendende Schönheit; ihr Gesicht hatte einen Ausdruck, den regelmäßigere Züge ihm nicht geben konnten. Unter zehn prächtigern Physiognomien würde das geheilte Auge des Blindgebohrnen doch am liebsten auf der ihrigen verweilt haben, weil sie das Bild einer Seele und kein bloßes Akademiestück darstellte. Ihr edler, schlanker Wuchs war durch keinen Taglöhner der Terpsychore verdrechselt, und ihre ganze Haltung trug das Gepräge jener unnennbaren Grazie, wodurch die griechischen Formen den Kennerblick fesseln, und davon dem modernen Bildner selbst die Copien nur selten gerathen. Eine solche Gestalt würde auch in dem Hintergrunde eines Gemähldes zur Hauptfigur werden, wie vielmehr mußte sie dem jungen Verdmont in dem festlichen Moment auffallen, darinn er sie erblickte. Sie füllte den ganzen Gesichtskreis seiner Seele aus, und wäre die Zaubergestalt ein bloßes Traumbild gewesen, er hätte es seinem Freunde nicht vergeben, daß er ihn aus seiner Entzückung aufwekte.

Der Marquis war der Sohn eines in Ruhe gesezten Generals aus Burgund; er hatte in Dijon eine sorgfältige Erziehung erhalten, und nur in den Ferien seinen Vater auf seinen Gütern besucht. Eben deßwegen war eine Tochter der Natur, die weder einen Schäferstab noch eine Sichel führte, 11 bei der aber gleichwohl die Cultur bloß das Amt des Gärtners übernommen hatte, für ihn ein ganz neues Wesen. Sie flößte ihm ein eigenes Gefühl von Verehrung ein, das ihn aber mehr zu ihr hinzog, als zurückschrekte, und in den sechs Tagen, die er auf dem Schlosse zubrachte, hielt er jeden Augenblick für verlohren, der ihn von Louisen entfernte. Doch verschwieg er selbst seinem Freunde den tiefen Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte. Nicht Schüchternheit, sondern die reinste Empfindung der Ehre schloß ihm den Mund. Er kannte den Plan seines Vaters, ihn mit einer reichen Erbin zu verheyrathen. Er hatte sie erst einmal gesehen, und sein Herz hatte weder für noch wider sie gesprochen. Desto lauter sprach es nun für Louisen; allein er wußte zu wohl, wie viel dem ehrgeizigen General daran gelegen war, den erloschenen Glanz seines Hauses durch eine reiche Verbindung wieder herzustellen, als daß er sich erlauben konnte, seinen Freund zum Vertrauten einer Neigung zu machen, der ein so mächtiges Hinderniß im Wege stand. Desto fester aber war sein Entschluß, alles anzuwenden, um diesen Entwurf zu vereiteln, und seinen Vater für den Gegenstand einzunehmen, den er mit Aufopferung aller Reichthümer der Welt nicht theuer genug zu erkaufen glaubte.

12 Louise hatte ihr achtzehntes Jahr erreicht, ohne die Liebe zu kennen. Ihr Vater, ihr Bruder und der ehrwürdige Gilbert nahmen ihr ganzes Herz ein. Der junge Olivier erschien jezt selten auf dem Schlosse: er lebte als ein philosophischer Bauer auf dem väterlichen Meyerhofe; so oft sie ihn aber sah, begegnete sie ihm mit dem traulichen Wohlwollen, das der Jugendfreund ihres Bruders verdiente, und mit der Achtung, die sein treflicher Charakter selbst ihrem Vater einflößte. Es fehlten ihm zwar auch die äußerlichen Annehmlichkeiten nicht. Seine römische Seele mahlte sich in jedem Zuge seines herrlichen Gesichtes, dessen Blüthe kein Giftodem des Lasters verhaucht hatte. Allein seine Geburt hüllte für das Auge Louisens alle seine Vorzüge in einen Schleier, auf dem es nie lange genug verweilte, um ihn zu durchschauen, so wie er selbst die Tochter seines Herrn nicht zwar als ein höheres, aber doch als ein fremdes Wesen betrachtete, mir dem er bloß eine entfernte Gemeinschaft haben konnte. Das neue Gefühl, das Verdmont bei Louisen erregte, war nicht Liebe, aber jenes Interesse, das in dem Augenblicke, da es eines gegenseitigen Eindrucks gewahr wird, in Liebe übergeht. Des edlen Jünglings Wachsamkeit über sich selbst war kaum fähig, ihr diesen Eindruck zu verbergen, und am Abend seiner Abreise hätte er beinahe auf einmal die 13 ganze Frucht seines Sieges verlohren. Louise hatte einige Sonaten gespielt, die ihr Bruder und Olivier mit ihren Instrumenten begleiteten Der Marquis wurde aufgefordert, sich ebenfalls auf dem Piano hören zu lassen. Er spielte einige Glukische Arien, die bei der gefühlvollen Louise ihre Würkung nicht verfehlten. Indessen stürte Theodor unter den Musikalien seiner Schwester, und zog das rührende Abschiedsduett aus der Oper Felix hervor. Das mußt du mit meiner Schwester singen, sagte er zu seinem Freunde, dessen angenehme Stimme schon des Tages zuvor den Beifall der Gesellschaft erhalten hatte. Louise wußte nichts von jener Ziererei, die so oft das Talent entwürdigt; sie nahm die Einladung an, und Verdmont ließ sich noch weniger nöthigen. Mit jeder Phrase wurde sein Ausdruck affektvoller, und bei dem wiederholten Lebewohl erlosch ihm endlich die Stimme. Louise ward irre, sie half sich noch eine Takte durch: Verdmont suchte umsonst einzulenken, seine Rührung ward immer sichtbarer, und zulezt mußte Louise auch inne halten.

Das hast du nicht gut gemacht, sagte der Baron zu seinem Sohne: im Augenblick einer Trennung muß man sich durch Frohgesänge aufheitern, und er stimmte selber das bekannte Où peut on être mieux? an, wobei ihn zuerst Olivier und Theodor und 14 endlich auch Louise und der Marquis unterstüzten. Dieser nahm sich zusammen, und zeigte den ganzen Abend eine ungezwungene Munterkeit, die auf das Fräulein zurückwürkte. Da er des folgenden Morgens mit Tagesanbruch abreisen wollte, so beurlaubte er sich beim Schlafengehen von Louisen, die ihm erröthend eine glückliche Reise wünschte, und mit Mühe den Seufzer erstickte, der diesen Wunsch begleiten wollte.

Verdmont schrieb mehrmals an Theodorn; und in keinem seiner Briefe wurde seine Schwester vergessen. Er erwähnte ihrer jederzeit in den wärmsten Ausdrücken der Verehrung. Theodor las ihr die Stellen vor, und wünschte oft bei sich selber, daß sein Freund sich eine zärtlichere Sprache erlauben möchte. Er wußte nicht, daß eine gewaltige Hand ihm die Feder zurückhielt, und ahnete den Kampf nicht, den er mit seinem Herzen hatte, wenn er die Worte wählte, die ihn Louisen ins Gedächtniß rufen sollten. Sein Trost war, daß die Braut, die sein Vater ihm bestimmte, kaum ihr vierzehntes Jahr zurückgelegt hatte. Wer weiß, dachte er, ob sie mich liebet? ob meine Kälte sie nicht zurückstossen wird? und dann erst wird es Zeit seyn, meinem Vater die Einzige zu nennen, der ich mit meiner Hand auch mein ganzes Herz geben kann.

15 Die lezten Monate des Winters, den Theodor in dem väterlichen Hause zubrachte, waren sehr unruhig. Die Provinz war in Gährung, und begehrte mit lauter entschlossener Stimme die Herstellung ihrer Landstände. Ihr Verlangen ward ihr gewährt, die Stände wurden gewählt, und der Baron, der mit männlichem Nachdruck für die Freiheit des Landes gesprochen hatte, mußte seine friedliche Einsamkeit verlassen, um als ein Stellvertreter des Ritterstandes dem Landtage beizuwohnen. Bald aber gewannen die öffentlichen Angelegenheiten ein weit wichtigeres Ansehen. Um den tausendfachen Beschwerden der unter der Last der Mißbräuche seufzenden Nation abzuhelfen, berief der König die Reichsstände zusammen, und indeß die wahren Patrioten von ihnen die Rückkehr der Ordnung und der öffentlichen Wohlfahrt erwarteten, bließ die Zwietracht ihre Fackel an, und eine Horde Kannibalen, die sich auch Patrioten nannten, schliffen ihre Dolche.

Kaum war der Vorhang des verhängnißvollen Schauspiels aufgezogen, so mußte Theodor zu seinem Regiment nach Toulon zurückkehren. Seine Entfernung schmerzte Louisen um so mehr, da sie nun auch ganze Wochen lang der Gesellschaft ihres Vaters entbehren mußte. Doch Gilbert verschaffte ihr eine Unterhaltung, die ihr nie in den Sinn 16 gekommen wäre, und die ihr manche Stunde anfänglich bloß ausfüllte, und endlich zu einer wahren Ergötzung machte. Sie sind eine Bürgerin des Staats, sagte er eines Tages zu ihr, die Angelegenheiten des Vaterlandes dürfen Ihnen nicht fremd bleiben. Um sich in den Stand zu setzen, sie richtig zu beurtheilen, wollen wir die vornehmsten Kapitel aus des unsterblichen Montesquieu Geist der Gesetze und den gesellschaftlichen Vertrag des Rousseau mit einander lesen, den so viele unsrer Reformatoren im Munde führen, und so wenige verstehen.

Die ersten Ausbrüche des tosenden Vulkans störten diesen lehrreichen Zeitvertreib. Auch im Delphinat wurden die Schlösser geplündert und verbrannt, die Edelleute verjagt und gepeinigt. Der Obriste blieb unangetastet; seine Bauern, deren Vater er war, schüzten seine Person und Wohnung gegen die Wuth der zügellosen Räuber. Dennoch hielt er es für rathsam, den folgenden Winter mit seiner Tochter in Grenoble zuzubringen, wo die ausgebrochenen Unruhen gedämpft schienen. Er überließ seinem Freunde Gilbert die Beschützung seines Eigenthums, und in der That hätte er keine furchtbarere Wache vor seine Thüre stellen können. Das Landvolk verehrte seinen Seelsorger, seine Ermahnungen hielten es im Zaume; noch hatten die 17 Ränke der Anarchisten den heiligen Damm der Religion nicht eingerissen.

Der Aufenthalt in der Stadt hatte wenig Reiz für Louisen, sie war zu sehr an die stillen Szenen des Landlebens, und an die reinen Familienfreuden gewöhnt, um an den Zerstreuungen der größern Welt Geschmack zu finden. Das Theater, das sie in jüngern Jahren mehrmahls mit Vergnügen besuchte, hatte seine anziehende Kraft für sie verlohren. Weit lieber, sagte sie zu ihrem Vater, will ich das angekündigte Schauspiel auf meinem Zimmer lesen. Merope bleibt mir dann Merope, und Elektra bleibt mir Elektra. Wenn ich denke, daß eben die Person, welche heute als Zaire oder als Rosenmädchen auftritt, morgen die verächtliche Rolle der Rosine, oder gar ihres schelmischen Pagen in Beaumarchais Possenspielen übernehmen wird, so ist es um meine Illusion geschehen. Erinnere ich mich vollends, daß ich, wie es nur allzuoft der Fall ist, mit dieser Zaire oder diesem Rosenmädchen keine Suppe essen könnte, ohne meinen guten Namen zu verletzen, so mischt sich ein wehmüthiges Gefühl unter die Bewunderung, die ich ihren Talenten zollen möchte. Du bist eine Träumerin, sagte dann ihr Vater, das Vergnügen läßt sich nicht zergliedern, man muß es wie eine gute Mahlzeit geniessen, bei der man 18 weder an die Köchin noch an die Küche denkt. Nun muß man mir erlauben, versezte sie, meine Milch und mein Obst diesem Schmause vorzuziehen. Mit eben so wenig Theilnahme wohnte sie einigen Bällen und Redouten bey, zu denen sie geladen wurde. Sie nannte sie einen Jahrmarkt, wo die Langeweile unter dem Namen des Vergnügens um einen Thaler auf den Kopf feil geboten wird. Da lobe ich mir unsere Erndtetänze und Kirmessen; die kunstlose, herzliche Freude belebt unsre Reigen, und legt den Zauber des Orpheus in die Fidel und die Sakpfeife unsrer Dorfmusikanten. So dachte Louise; ob sie recht hatte, ist hier die Frage nicht. Genug, sie dachte so, und man muß ihr wohl diese Grille mit andern Eigenheiten ihres Charakters verzeihen.

Die wankende Gesundheit des alten Olivier nöthigte den Baron mit dem Frühling auf das Land zurück zu kehren, um die Verwaltung seiner, um mehr als die Hälfte geschmälerten, Einkünfte selbst zu übernehmen. Der Sohn dieses redlichen Dieners kam ihm dabei treulich zu Hülfe, und vereitelte durch seine Wachsamkeit die Entwürfe der Aufwiegler, deren Ausschweifungen mit jedem Tage zunahmen. Die Zernichtung des Adels fachte ihre Frechheit noch mehr an; allein die Klugheit des Barons, der weder den fruchtlosen 19 Protestationen verschiedener seiner Nachbarn beitrat; vielweniger ihren Einladungen zur Auswanderung Gehör gab, rettete auch diesesmal sein Eigenthum, und verschafte ihm alle die Ruhe, welche die allgemeine Zerrüttung dem friedsamen Bürger übrig ließ.

Der Obriste gehörte unter jene seltenen Philosophen, welche nicht wissen, daß sie es sind. Ohne den Gang der Revolution in seinem Herzen zu billigen, sagte ihm dieses Herz, daß die Gesetze, die ihm die Vorrechte seiner Geburt entzogen, ihm seinen innern Adel nicht rauben konnten, und sein Aufenthalt in Amerika hatte seine Begriffe über diesen Punkt zu sehr gereinigt, als daß er durch die Einreissung einer Scheidewand, die dem wahren Verdienste so oft seinen Wirkungskreis versperrte, sich hätte für entwürdigt halten sollen. Er hatte ohnehin nie unter die Günstlinge des Hofes gehört, die mit ihren Titeln zugleich alle Ansprüche auf die Wohlthaten des Staats verlohren, und nach der Niederlegung seiner Kriegsstelle keinen andern Ehrgeiz übrig behalten, als das heisse Bestreben, die häuslichen und bürgerlichen Pflichten des Privatmannes zu erfüllen. Unter dem Schutze der neuen Constitution hoffte er seine noch übrigen Einkünfte durch eine kluge Oekonomie 20 zu vermehren, und mit der beruhigenden Aussicht in beßre Zeiten seine Tage zu beschliessen.

Louise, die sich mit einer geringen Ausstattung hätte begnügen müssen, wurde nun eine Miterbin ihres Bruders, und dieser Punkt der neuen Gesezgebung wäre hinreichend gewesen, den zärtlichen Vater mit dem Umsturze des Lehnsystems zu versöhnen, das die adelichen Töchter in dem grösten Theile von Frankreich der heiligen Rechte der Natur beraubte. Theodor dachte zu edel, und liebte seine Schwester zu sehr, als daß er ihr diese Wohlthat des Gesetzes hätte mißgönnen sollen. Er bezeugte ihr vielmehr seine Freude darüber, und würde das Glück seiner besten Freundin (er wußte, daß sie es war) in jedem Falle durch noch größere Opfer befördert haben.

Der Urlaub, den der männliche Jüngling im Winter 1791 erhielt, verschafte seinem Vater mehr als eine Gelegenheit, seinen treflichen Charakter und seine militärischen Talente mit süsser Zufriedenheit zu beobachten. Sein Freund Verdmont begleitete ihn diesesmal nicht. Er stand jetzt unter einem andern Regiment, und Theodor erhielt nur selten Briefe von ihm, darin er aber stets in den gefühlvollsten Ausdrücken seines Vaters und seiner Schwester erwähnte. Sein Andenken war Louisen nicht gleichgültig; allein die 21 Eindrücke seiner ersten Erscheinung waren allmählich erloschen. Der Tumult der Zeitläufte, die häuslichen Geschäfte und selbst ihre rastlose Lernbegierde hatten ihr Herz gegen ein Bedürfniß verwahrt, das, wenn es einmal den Weg in die Einsamkeit gefunden hat, seine Herrschaft dort weit sicherer behauptet, als unter den Zerstreuungen der Welt.

Der Ausbruch des Krieges rief Theodorn zur Armee. Sein Vater, der ihn das erstemal mit ungetrübtem Auge an seinen Posten zurückkehren sah, ließ bei dieser zwoten Trennung eine Thräne auf seine Wange fallen. Das Vaterland ruft dich, mein Sohn, sagte er zu ihm, auch wenn es uns stiefmütterlich behandelt, müssen wir seiner Stimme gehorchen; es ist schön, es zur Reue zu nöthigen. Wir haben ihm große Opfer gebracht, ich brauche dir den nicht zu nennen, der ihm noch ein weit größeres gebracht hat. Lange waren wir seine verzärtelten Kinder, viele unter uns haben seine Gunst mißbraucht, und es hat sie allen entzogen. Durch Tapferkeit uns Tugend können wir es zwingen, einen Unterschied zwischen seinen unächten und seinen wahren Söhnen zu machen. Eine einzige Stimme muß lauter in dir rufen, als die seinige: die Stimme der Ehre. Schreklich wäre es, wenn beide Stimmen sich jemals 22 widersprächen, ich hoffe, wir werden nie einen solchen Zeitpunkt erleben. Louise warf sich in die Arme ihres Bruders: es war ihr, als ob sie sich auf immer von ihm trennen müßte. Er riß sich mit Gewalt von ihr los, und schwang sich auf sein Pferd. Hier reichte er ihr noch einmal die Hand, und ein tiefer Seufzer begleitete den heissen Kuß, den er auf die ihrige preßte.

Sein Regiment stand in den Niederlanden, wo er sich bei verschiedenen Gelegenheiten auszeichnete. Der alte Hauptmann, dem er vom Baron empfohlen war, wünschte ihm Glück zu seinem Sohne. Ich glaubte, schrieb er ihm nach der Schlacht bei Gemappe, ich glaubte seinen Vater zu sehen, wie er vor Yorkstown den Kanonen trozte, und sich unter den Sicheln des Todes einen Weg in die feindlichen Verschanzungen bahnte. Nur, als er mein Blut fliessen sah, verließ er seine Stelle, hob mich von der Erde auf, und half mich hinter das Treffen tragen. Die Fußwunde dieses wackern Kriegsmannes, die anfänglich unbedeutend schien, fieng nach einigen Tagen an sich zu entzünden, und indem der Obriste sich noch der Freude überließ, womit er sein Vaterherz erfüllt hatte, erhielt er von Theodorn die Nachricht von seinem Tode. Der gute Jüngling 23 betrauerte ihn, wie ein Sohn seinen Vater betrauert.

Die schrecklichen Auftritte des folgenden Jahres, die Frankreich zu einer unermeßlichen Schädelstädte machten, und so manchen seiner Vertheidiger, in der grausamen Ungewißheit, ob sie für oder wider das Vaterland stritten, aus seinen Heeren vertrieben, würkten auch auf Theodors fühlendes Herz, und ihr Eindruck war um desto gewaltiger, da er den Freund nicht mehr hatte, dem er seine quälenden Zweifel offenbaren konnte. Am liebsten hätte er den Kriegsdienst verlassen; allein ohne Erlaubniß durfte es nicht geschehen, und ihm wäre diese Erlaubniß zuverläßig versagt worden. Die Auswanderung verschloß ihm auf immer die Thore seines Vaterlandes, und den Schoos seiner Familie, die er durch diesen Schritt allen Plagen der Revolutionsregierung aussetzte. Nach einem langen Kampfe entschloß er sich, die erste sichere Gelegenheit zu benutzen, um seinen Vater zu seinem Vertrauten zu machen, als ein unvermutheter Vorfall ihn nöthigte, nur bei sich selbst Rath zu holen.

Er befand sich mit einem Commando auf einem Vorposten. Einige seiner Soldaten hatten in einem Dorfe allerhand Ausschweifungen verübt; seine Ehre und die Gesetze der Kriegszucht 24 verpflichteten ihn, sie zur Strafe zu ziehen. Er befahl, die Schuldigen anzuhalten; ihre Cameraden weigerten sich, es zu thun. Ein verschmizter Feldwebel rief ihnen zu: wie lange wollt ihr einem verrätherischen Aristokraten gehorchen? Der entrüstete Theodor gieng mit entblößtem Degen auf den Meuter los; es entstand ein kleines Gefechte, in welchem der Unglückliche gezwungen wurde, sich durch die Flucht zu retten.

Die Feinde stunden nur eine Viertelmeile von seinem Posten. Er wurde durch eine Patrouille aufgefangen, und vor den kommandirenden Offizier geführt. Sind Sie ein Emigrant? fragte ihn dieser. Mit erstickter Stimme antwortete er ja, weil er nur allzuwohl wußte, daß dieser Unfall ihm die Rückkehr zu seinem Regiment versperrte, und wenn er sich als einen Kriegsgefangenen angäbe, seine Auswechslung entweder gar nicht erfolgen, oder seine Uebergabe an ein Kriegsgericht nach sich ziehen würde. Auf diese Antwort erhielt er die Freiheit, sich in das Hauptquartier zu begeben. Hier verlangte er einen Paß nach der Schweiz, wo er sich seinem Vater zu nähern, und die Entwicklung des großen Trauerspiels abzuwarten hoffte. Er hielt sich einige Monate in Luzern auf; seine Börse war erschöpft, und er bekam keine Briefe von seinem Vater, den er durch den Kanal eines 25 Kaufmanns von seinem Schicksal benachrichtigt hatte. Dieses Stillschweigen versezte ihn in eine tödtliche Unruhe: er wanderte zu Fusse nach Morsee, und hoffte über Genf ein Schreiben nach Hause zu bringen. Er hatte sich auf seiner ehemaligen Reise durch Frankreich einige Tage in dieser Stadt aufgehalten, und mit den Verwandten seines Freundes Olivier Bekanntschaft gemacht. Er schrieb an einen derselben, der ihm in einer rührenden Antwort versprach, einen Brief an seinen Vater zu bestellen. St. Julien lag kaum zehn teutsche Meilen von Genf, und der Handel zwischen dieser Stadt und Frankreich war zwar erschwert, aber nicht gesperrt.

Es vergiengen keine vierzehn Tage, so empfieng Theodor ein Schreiben von seinem guten Vater; es enthielt nichts als Worte der Liebe und des Trostes. Ich mache dir keine Vorwürfe, hieß es darin, vermuthlich würde ich in deinem Alter und in deiner Lage wie du gehandelt haben. Gieb mir bisweilen Nachricht von dir, nur muß es mit der grösten Behutsamkeit geschehen. Ein Wechsel von fünfzig Louisd'ors begleitete diese Zuschrift, welche Theodor mit den heissesten Gefühlen der Zärtlichkeit und des Dankes beantwortete. Er befahl, seine Antwort seinem Genfer Correspondenten, dem er zur Fortsetzung ihres gegenseitigen 26 Briefwechsels ein Handelshaus in Morsee bezeichnete, indem er aus ökonomischen und politischen Ursachen entschlossen war, sich auf ein Grenzdorf des Kantons Freyburg zu entfernen.

Theodor hatte sich bei diesem Freunde gleich in seinem ersten Briefe nach seinem lieben Olivier erkundigt, und von ihm erfahren, daß derselbe ihn vor einigen Monaten als Quartiermeister eines in Savoyen stehenden Nationalbataillons besucht habe. Bei der ersten großen Rekruttenaushebung hatte das Loos ihn zum Soldaten bestimmt. Er hätte sich zwar damals durch die Stellung eines Mannes los machen können, allein seine Ehrliebe und sein Patriotismus erlaubten ihm nicht, diese Freiheit zu benutzen. Seine Cameraden, deren Wahl die Offizierstellen austheilte, hatten ihm das Quartiermeister-Amt aufgetragen. Wie ich aber vernehme, sezte der Correspondent hinzu, so hat er jezt auf die Nachricht von dem Tode seines Vaters den Kriegsdienst verlassen, um die Verwaltung seines Hofes anzutreten. Dieses war würklich geschehen. Olivier hatte von den Repräsentanten bei der Alpenarmee seinen Abschied und eine Stelle bei der Forstverwaltung des Departements erhalten, die ihn zu häufigen Reisen nach Grenoble verpflichtete, ohne ihn auf lange von seinem Gute zu entfernen, dem die Lage der 27 Dinge, und selbst seine Abwesenheit für ihn einen neuen unschäzbaren Werth gegeben hatten.

Sechs Monate hatte Theodor in seiner helvetischen Einsiedelei zugebracht, und von einer Woche zur andern vergebens nach Briefen von seinem Vater geseufzt, als eines Abends in der Dämmerung, da er eben, in tiefe Schwermuth versenkt, in seinem Zimmer auf und ab gieng, ein Fremder seine Thür öffnete, und ihn, ohne ein Wort zu sprechen, fest an seinen Busen drückte. Er fühlte auf seinen Wangen die heissen Thränen, die den Augen des Unbekannten entquollen, und auf seinem Herzen fühlte er die lauten Schläge, womit das Herz des Unbekannten ihn bewillkommte. Mein Theodor, mein Freund, mein Sohn! dieses waren die ersten Worte, die nach einer langen feyerlichen Pause über seine Lippen zitterten, Gilbert! ach Gilbert! ja Sie sind es, rief Theodor, und mein für die Freude stummes Herz hat Sie mir nicht im ersten Augenblicke genannt. Was führt Sie hieher? was macht mein Vater, meine Schwester? Oh, ich habe Ihnen vieles zu erzählen, erwiederte der ehrwürdige Greis. Waffnen Sie sich mit Standhaftigkeit; gewiß hat mein Theodor der Religion nicht entsagt, die man jezt mit ihren Dienern aus unserm bedrängten Vaterlande verbannet. Sie allein kann Ihnen 28 die Kraft gehen, die Last des Unglückes zu ertragen, das ich Ihnen anzukündigen habe.

Theodor taumelte neben ihn auf einen Stuhl; starr und betäubt saß er an der Seite des guten Alten; er konnte kein Wort sprechen, aber ein tiefer Seufzer erleichterte seine beklemmte Brust. Sie fragten mich, was mich hieher führet, sagte Gilbert, wissen Sie denn nicht, was in unserm Vaterlande vorgeht? Unsre Tempel sind verheert und durch die Lästerungen des Atheismus entweiht. Schmach und Fesseln und Verbannung sind das Loos der Hirten; die Schaafe sind zerstreut oder selbst Wölfe geworden. Und mein Vater? unterbrach ihn Theodor mit leiser, schüchterner Stimme. Ihr Vater? lieber Sohn, ach! er theilt das Schiksal so vieler Rechtschaffnen, die in den Gefängnissen schmachten. Unter dem Schilde seines Bürgerscheins, den seine vormaligen Unterthanen ihm mit Freuden bewilligten, wohnte er unter ihnen so ruhig, als man in einem Hause wohnen kann, das auf einen Vulkan gebauet ist. Ein Brief, den er an Ihren Genfer Freund schrieb, und worin er ihn bat, der bewußten Person noch 200 Thaler bezahlen zu lassen, ward auf der Gränze aufgefangen, und den Inquisitoren übergeben, die auch in unsrer Gegend jeden Schritt, jede Miene des Bürgers belauschen. Ihr 29 Vater wurde aufgehalten, nach einer zweimonatlichen Gefangenschaft eines verbotenen Briefwechsels beschuldigt, und an das Revolutionsgericht nach Paris abgeführt.

Wie von einem elektrischen Schlage emporgeschleudert, fuhr Theodor von seinem Stuhl auf. Weiter! rief er, verhehlen Sie mir nichts. Mehr wußten wir nicht, erwiederte Gilbert, als ich flüchtig werden mußte: doch habe ich seinen Namen nicht unter den Schlachtopfern gefunden, deren zahlloses Verzeichniß ich jeden Posttag mit Zittern überblicke. – Und meine Schwester? warum ist die nicht mit Ihnen entflohen?

Gilbert. Also sollte Ihr Vater, wenn er zurückkäme des einzigen Trostes entbehren, der ihm das Leben erträglich machen konnte? Oh, mein Sohn, verleugnen Sie den Heldenmuth Ihrer Schwester nicht! Sie ertrug ihr Unglück wie eine Heilige; nie sah ich sie, ohne ihre Standhaftigkeit zu segnen, ohne durch ihr Beispiel in meinen eignen Leiden gestärkt zu werden. Als ich mich von ihrer Seite reissen mußte, vertraute ich meine Flucht dem jungen Olivier; ich wollte ihm Louisen empfehlen, allein kaum sprach ich schluchzend ihren Namen aus, so unterbrach mich der edle junge Mann, und gelobte mir, der Tochter seines Wohlthäters seinen lezten Bissen Brot 30 und seinen lezten Blutstropfen zu widmen. Wir, so schloß der Mann Gottes, wir, die wir noch eine Vorsicht glauben, sind berechtigt, bessere Zeiten zu hoffen. Eine Herrschaft, die bloß auf Gewalt gegründet ist, muß endlich unter den Trümmern ihres eigenen Thrones begraben werden.

Theodor bat ihn, sein Zimmer mit ihm zu theilen, bis er eine bleibende Freistätte finden würde, und Gilbert nahm dieses Anerbieten um so williger an, da er sich im Auslande den Schuz nicht versprechen konnte, den der Credit der ausgewanderten Prälaten vielen seiner Amtsbrüder verschafft hatte. Er war ein zu aufgeklärter Theologe und ein zu warmer Menschenfreund, um sich dem Eide zu entziehen, den die neue Kirchenverfassung von den geistlichen Beamten forderte, und den Intoleranz und Fanatismus zu einer der Hauptplagen machten, welche Frankreichs Eingeweide zerrissen haben. So lange er Gutes stiften konnte, wollte er seinen Posten nicht verlassen, und da ihm nicht einmal die Hoffnung übrig blieb, das Böse zu hindern, so bewogen ihn Louisens Thränen weit mehr, als die Sorge für seine Sicherheit, zu einem Schritte, den sie ihm als das einzige Mittel vorstellte, ihren unglücklichen Bruder vor der Verzweiflung zu retten. Er erreichte seinen Zweck, und fand unter einem fremden 31 Himmel mehr, als er gehoft hatte. Um seinem jungen Freunde, der ihm seinen Mangel nicht lange verbergen konnte, nicht beschwerlich zu seyn, schrieb er an einen berühmten Landsmann, der sich zu B. aufhielt und den schon im ersten Jahre der Revolution die Orleanische Rotte aus seinem Vaterlande vertrieben hatte. Gilbert stand ehedem in Verbindung mit ihm: er wagte es, ihn daran zu erinnern, und dieser Mann, dessen Rechtschaffenheit ihn in jedem Lande, wo Rechtschaffenheit geschäzt wird, neutralisirte, machte seinen neuen Freunden von Gilberts Verdiensten ein so einnehmendes Gemählde, daß ihm in wenig Wochen die Bibliothek eines protestantischen Fürsten anvertraut wurde, welcher würdig war, ihn zu besitzen.

Es kostete den guten Theodor viel, sich von ihm zu trennen. Er wäre ihm in sein neues Asyl gefolgt, wenn es ihn nicht so weit von der vaterländischen Grenze und von dem einzigen Orte entfernt hätte, aus welchem ihm Nachrichten von den Seinigen zufliessen konnten. Doch er harrte noch manche Woche vergebens auf diese Nachrichten. Jeden Posttag fürchtete er den Namen seines Vaters unter den Märtyrern der Schreckens-Regierung zu lesen, und wenn er ihn nicht auf der schauerlichen Liste fand, so war es ihm, als fiele ein glühender Harnisch von seinem Herzen. An 32 jedem Morgen erneuerte sich diese Marter, und in dem Dorfe, das er bewohnte, war niemand, den er zum Vertrauten seiner Leiden hätte machen können.

Louise befand sich in der nemlichen Lage. Als die Trabanten des Todes ihren Vater abholten, hieng sie sich an seinen Hals; sie flehte sie um die Erlaubniß an, sein Schiksal zu theilen; allein umsonst. Zween unter ihnen hielten sie auf dem Hofe zurück, indem die übrigen ihn davon führten. Endlich gelang es dem ehrwürdigen Gilbert, ihren Schmerz zu mäßigen. Ihre Vernunft, ihre Religion kam seinem Zuspruche zu Hülfe; sie weinte noch täglich, allein ihre Seele stärkte sich gleich der gedrückten Palme unter der Last ihres Kummers. So lange ihr Vater zu Grenoble in Verhaft war, erhielt sie bisweilen Erlaubniß, ihn zu besuchen, oder einige Zeilen an ihn zu schreiben; allein seit seiner Abführung nach Paris erfuhr sie nichts mehr von ihm. Endlich schrieb Olivier an einen vertrauten Freund seines Vaters, und bat ihn, sich nach dem ehrwürdigen Gefangenen zu erkundigen; allein schon über zwei Monate wartete er vergebens auf eine Antwort.

Die Greuel der Mordregierung mehrten sich mit jedem Tage. Ihre Würgengel zogen überall umher, und soffen Blut wie Wasser. Die 33 Anverwandten der Emigranten, und die Priester, welche die Religion nicht verläugnen wollten, wurden eingekerkert; Gilbert hatte sich entfernt. Olivier war nun Louisens einzige Stütze. Sein Credit, seine Klugheit, sein rastloser Eifer schüzten sie eine Zeitlang vor den Donnerkeilen der Revolutionsgesetze; sie wohnte, der angelegten Siegel ungeachtet, noch auf dem väterlichen Schlosse, und lebte von den Früchten des Gutes, welche die Requisitionen ihr übrig ließen; allein jeder Tag, den sie der Tyrannei abgewann, war eine Beute, die man ihr vor dem Einbruche des Abends rauben konnte. Sie wußte es wohl; dennoch zitterte sie blos für ihren Vater. Zehnmal war sie entschlossen, selbst nach Paris zu reisen, und die Thüre seines Gefängnisses so lange zu belagern, bis man sie einlassen würde. Olivier stellte ihr die zahllosen Gefahren einer solchen Reise vor, der das Dekret, welches alle Adelichen aus der Hauptstadt und den Gränzorten verbannte, ein neues unübersteigliches Hinderniß in den Weg legte. Er überzeugte ihre Vernunft, allein ihr Herz verwarf seine Gründe.

Endlich erhielt er durch einen Reisenden die längst erwartete Antwort aus Paris. Der Freund seines Vaters meldete ihm, daß er den bewußten Gefangenen mit Mühe ausgekundschaftet und von ihm durch den Arzt des Gefängnisses das 34 beigeschlossene Briefchen empfangen habe. Der unglückliche Greis lebe zwar noch, er schmachte aber an einem schleichenden Fieber, das täglich ernsthafter werde. Das Briefchen führte die Aufschrift: An meine Louise. Es war mit einer zitternden Hand geschrieben; dennoch erkannte Olivier die Züge seines Wohlthäters. Mit blutendem Herzen begab er sich zu Louisen: er sah wohl ein, daß er ihr den Zustand ihres Vaters, auch wenn dieser ihn verschwiege, nicht verhehlen dürfe, und diese traurige Nothwendigkeit ließ ihn die Szene ahnen, die ihm bevorstund. Sie saß bei einem Buche am Kamin. Olivier kannte sie zu gut, um seine Zuflucht zu jenen Umwegen zu nehmen, die selbst bei schwachen Seelen nur selten ihren Zweck erreichen. Er nahte sich ihr mit einer offenen, unverstellten Miene. Endlich, mein Fräulein, bringe ich Ihnen Nachricht von Ihrem Herrn Vater. Louise sprang auf: oh, geben Sie, geben Sie! sie war zu ungedultig, um lange die Aufschrift des Briefchens zu besehen; sie riß es auf, und las die wenigen Worte: »Dein Vater, meine Louise, küsset und segnet dich.« C**. Eine seiner ehrwürdigen Silberlocken war in das Papier geheftet. Sie preßte es schweigend an ihre Lippen, und nezte es mit ihren Thränen. Sie las die Worte noch einmal: er zitterte, als er es 35 schrieb, sagte sie in einem leisen, aber herzdurchbohrenden Tone; sonst zitterte er nie. Olivier, wissen Sie sonst nichts von ihm? hat Ihnen Ihr Freund nicht geschrieben?

Olivier. Er hat mir geschrieben, mein Fräulein, hier ist sein Brief.

Louise las und schwieg. Ihre Thränen flossen nicht mehr, ihr Auge klebte starr an dem Briefe, ihre Seele hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Ein hoher, gelassener Ernst sprach aus ihren Zügen. So steht das Marmorbild der Gedult auf dem Grabe der vollendeten Tugend. Plözlich erheiterte sich ihre Stirne; sie faltete das Briefchen zusammen, und drückte es an ihren Busen. Olivier, sagte sie, mein Schluß ist gefaßt, nichts auf der Welt soll mich aufhalten. Ich eile zu meinem Vater, ich will ihm den Todesschweiß von der Stirne, ich will seinen lezten Seufzer ihm vom Munde küssen!

Oliv. Mein Fräulein.

Louise. Ich weiß, was Sie mir sagen wollen; schon oft haben sie mirs gesagt. Ach! warum gab ich Ihren Einwendungen Gehör? vielleicht . . . . Vergeben Sie mir, mein Freund, o vergeben Sie mir! Ihre Sorge für mich war edel, sie verdiente meinen Dank. Doch izt, izt . . . . Was habe ich zu fürchten? Sie werden mich in das Gefängniß 36 meines Vaters werfen, das ist ja mein Wunsch; oder werden sie mich tödten, nun so werde ich meinem Vater um einige Augenblicke vorangehen, oder, und das wäre freilich schöner, vielleicht werde ich ihn um einige Augenblicke überleben.

Oliv. Wie aber, wenn Ihre fromme Hoffnung unterweges vereitelt, wenn Ihnen der Empfang in die Hauptstadt versperrt wird? Ich darf es Ihnen nicht verhehlen, mein Fräulein, die Verwaltung kann Ihnen keinen Paß geben, und ohne Paß können Sie nicht reisen.

Louise rang die Arme, bald gieng sie mit convulsivischer Hastigkeit das Zimmer auf und ab, bald stund sie plözlich still, und legte die Hand auf die Stirne. Olivier betrachtete sie mit stummer Wehmuth; eine Thräne füllte sein Auge. Louise sah die Thräne, sie trat zu ihm hin: Edler Mann, sagte sie, ich sehe es, Sie fühlen, was ich leide; allein, giebt es denn auf der ganzen Welt kein Mittel, meinen Wunsch, den unschuldigsten, den gerechtesten aller Wünsche zu erfüllen. Olivier blieb einige Augenblicke in tiefes Nachdenken versenkt, nun sprach er tief gerührt: mein Fräulein, können Sie noch an Tugend glauben?

Louise. Durch diese Frage verleumden Sie uns beide. 37

Oliv. Das Mittel, das ich Ihnen vorschlagen will, zwingt sie mir ab.

Louise. Reden Sie.

Oliv. Nur beschwöre ich Sie, mich nicht zu unterbrechen. Ein seelenvoller Blick hieß ihn fortfahren. Das Mittel, das einzige, das ich kenne, ist . . . . . meine Hand. Unter meinem Namen werden sie ungehindert abreisen, und ich werde Sie begleiten, ich werde Sie vor den Gefahren schützen können, die in diesen Zeiten der Zügellosigkeit ein reisendes Frauenzimmer jeden Augenblick bedrohen. Bei der Tugend, an die wir beide glauben, gelobe ich Ihnen, daß ich Sie stets als frei, daß ich Sie als ein heiliges Pfand betrachten werde, das die Vorsehung und Ihr verehrungswürdiger Vater mir in Verwahrung gab. Dieser wird Ihre fromme List segnen, und da Sie Ihr ein und zwanzigstes Jahr zurückgelegt haben, so brauchen Sie seiner Einwilligung nicht. Ist Ihr Endzweck erreicht, und Sie bedürfen meines Schutzes nicht mehr, so werde ich selbst um unsere Scheidung anhalten, und das Gesez, das so oft das Laster begünstigt, wird wenigstens einmal der Tugend zustatten kommen.

Louise erröthete, schlug die Augen nieder, und schwieg.

Oliv. Gott! habe ich Sie beleidigt? 38

Louise. (sanft.) Nicht beleidigt, aber überrascht. Sie warf sich in einen Armstuhl, und stützte den Kopf auf die Hand. Olivier las in jeder Muskel ihres Gesichts die großen Szenen, die in ihrer Seele wechselten. Nach einer langen Pause sagte er: ich verlasse Sie, mein Fräulein, ein Schritt von dieser Art erfordert Bedenkzeit.

Louise. (Wie aus einem schweren Traume erwachend.) Bedenkzeit? Sie erinnern mich, daß ich keine brauche; ich sehe ihn die Arme nach mir ausstrecken, und ich sollte mich bedenken? Olivier, ich gebe Ihnen meine Hand. Dieses sagte sie mit einem Blicke, und einem Tone, darin Schmerz, Entschlossenheit und das argloseste Zutrauen sich vermengten. Jeder Aufschub, fuhr sie fort, ist Verbrechen; ich bin bereit, Sie heute noch auf die Munizipalität zu begleiten, um meine Erklärung zu machen; aber nicht wahr, mein Freund, wir verreisen gleich nach der Trauung?

Oliv. Zwischen dem Aufgebot und der Trauung erfordert das neue Gesez eine Frist von drei Tagen, und mehr brauche ich nicht, um meine Anstalten zu treffen. Ich denke, mein Fräulein, Sie werden sich durch Ihre Babet begleiten lassen; Sie brauchen jemand zu Ihrer Bedienung, und überdieses kann eine Zeit kommen, da es eine süsse Beruhigung, ja vielleicht ein Umstand von großer 39 Wichtigkeit für uns seyn wird, einen Zeugen unsers Umgangs gehabt zu haben.

Louise. (bewegt.) Ich fühle den ganzen Umfang Ihrer Delikatesse, mein Schiksal liegt in Ihrer Hand; wie würde ich jezt erröthen, wenn ich mich besonnen hätte, es Ihnen anzuvertrauen.

Der Gedanke, daß der Schritt nach dem Gemeinde-Hause sie dem Gefängnisse ihres Vaters nähere, erleichterte Louisen diesen Gang, zerstreute jede Bedenklichkeit, und hemmte den leisen Schauer, der sie beim Eintritt in die Gerichtsstube anwandelte. Ruhig war ihr Ton, und entschlossen ihre Miene. Ihre Erklärung machte wenig Aufsehen: man fand die Heirath der Tagesordnung gemäß. Der Charakter der Zeitläufte, Louisens traurige Lage und Oliviers enge Verhältnisse mit ihrem Hause, benahmen dieser Verbindung das auffallende, romantische Ansehen, das die guten Menschen irre macht, und die Zunge der Schmähsucht schärfet.

Die Zubereitungen der Reise waren in den folgenden Tagen Louisens einzige Beschäftigung. Olivier besuchte sie zwar mehrmals, aber bloß um ihre Befehle abzuholen. An häusliche Einrichtungen wurde nicht gedacht, weil die Abreise unmittelbar nach der Trauung erfolgen sollte. Louise war bei weitem nicht mit dem Gelde versehen, 40 das diese kostspielige Reise erforderte; allein sie besaß für mehr als 2000 Thaler Juwelen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Sie stellte das Schmuckkästchen Oliviern zu, und bat ihn, sie zu Gelde zu machen, weil sie nicht zugeben wollte, daß er die Kosten vorschösse. Seine Weigerung, seine Bitten waren vergebens, er mußte es annehmen.

Am Tage vor dem Ablaufe der Trauungsfrist ritt er nach der Stadt, um bei der Distriktsverwaltung einen Urlaub zu begehren. Hier wies man ihm einen eben eingelaufenen Befehl, die Güter des Barons einzuziehen, weil derselbe als ein verurtheilter Staatsverbrecher in seinem Verhaft gestorben sey. Aus Furcht, ihre Beute zu verlieren, hatten die Blutrichter ihn, seiner Krankheit ungeachtet, vor ihre Schlachtbank geschleppt, und unangehört zum Tode verdammt: allein diese Szene, die seinen Muth nicht erschüttern konnte, erschöpfte den lezten Tropfen seiner Lebenskraft. Kaum war er in das Gefängniß zurückgebracht worden, so fiel er in eine Agonie, die ihm den schauerlichen Gang nach dem Schaffot ersparte. Diese Nachricht war ein Donnerschlag für Olivier; er eilte, was er konnte, nach St. Julien: er war so betäubt, daß er es kaum gewahr wurde, als sein Pferd vor dem Schloßthore still hielt. Um 41 Gotteswillen, was fehlt Ihnen? rief Louise ihm entgegen, da er todesblaß in ihr Zimmer trat. Olivier suchte Worte, und fand nur Thränen. Gott! mein Vater ist todt! rief Louise, und sank in einen Sessel. Ihr Herz, erwiederte Olivier, ist meinem Munde zuvorgekommen. Ja, mein Fräulein, die Vorsicht hat sein ehrwürdiges Haupt den Klauen seiner Henker entzogen, die ihm schon das Todesurtheil gesprochen hatten. Ihr Heldenmuth erlaubt mir, und die Umstände zwingen mich, Ihnen diese traurige Nachricht keinen Augenblick zu verhehlen. Louise war verstummt; starr, wie eine Leiche, sas sie da; eine Ohnmacht wäre Wohlthat für sie gewesen. Lang und schrecklich war diese Pause: endlich half sich die Natur; eine Thränenfluth entquoll ihren geschlossenen Augen. Sie schlug sie auf: Gott, du hast es gewollt! sprach sie, indem sie gen Himmel blickte, er war deiner bessern Welt würdig. Ach, und ich muß hier zurück bleiben! was wird nun aus mir werden? Ich weiß, daß das Erbe meines Vaters für seine Kinder verlohren ist; doch lieber will ich mich unter einem fremden Himmel von der Arbeit meiner Hände nähren, als von der Gnade seiner Henker leben.

Oliv. Dazu darf, dazu wird es nie kommen; ein schwereres Anliegen quälet mein Herz. 42

Louise. Verbergen Sie mir nichts, ich bin auf alles gefaßt.

Oliv. Das Gesez gegen die sogenannten Verdächtigen wird mit großer Strenge vollzogen, und Theodor, den man lange unter die Kriegsgefangenen rechnete, stehet nun auf der Liste der Emigranten.

Louise. Ich verstehe Sie; die Unmenschen! warum liessen sie mich nicht die Gefangenschaft meines Vaters theilen, so würde ich jezt sein Grab mit ihm theilen. Ich kenne Ihre Grundsätze, Olivier, ich kenne aber auch Ihr Herz; wird es meine Flucht mißbilligen?

Oliv. Meine Grundsätze huldigen der Freiheit, nicht der Tyrannei, und meine Politik muß meiner Moral gehorchen. Mit Gefahr meines Lebens würde ich Ihre Flucht befördern, wenn Ihnen nicht Ihr Vaterland wenigstens ein eben so ruhiges Asyl anböte, als dasjenige, das Sie unter einem fremden Himmel suchen können, wo so viele tausend Unglückliche nichts als die Verzweiflung gefunden haben. Durch Ihre Entfernung berauben Sie sich aller Hofnung, die den Redlichen noch in unsern Grenzen zurückhält. Der Sturm ist zu heftig, um noch lange dauern zu können. Warum wollen Sie nicht in meiner stillen Hütte sein Ende abwarten? 43

Louise. Ich habe nichts mehr zu verlieren, und nichts mehr zu hoffen. Doch, ich bin heute nicht im Stande, einen Entschluß zu fassen; besuchen Sie mich morgen. Ich muß mein Gewissen, ich muß den Geist meines Vaters um Rath fragen. Olivier entfernte sich, und Louise verschloß sich in ihr Cabinet. Ihre ersten Gefühle waren ihrem Vater gewidmet; sie warf sich vor seinem Bilde nieder, und benezte es mit ihren Thränen; das reinste Todtenopfer, das die Tugend der Tugend bringen kann.

Die Nacht ereilte sie über diesem heiligen Geschäfte; sie brachte sie schlaflos zu; ihre Seele wogte in einem Meere von Gedanken. Sie mißkannte Oliviers Edelmuth nicht; allein ihr Herz empörte sich nun gegen einen Schritt, durch den sie ihm zur Last zu fallen, und die noch warme Asche ihres Vaters zu stören glaubte. Nach und nach besänftigte sich ihr Gemüth und ihre helle Vernunft öffnete sich ruhigern Betrachtungen. Auf der einen Seite sah sie einen tiefen Abgrund, und alle Grauen, die ein hülfloses Exil für eine Person ihres Geschlechts und ihres Standes mit sich führte; auf der andern eine Hütte, in der sie zwar nicht glücklich, aber doch vor neuen Verfolgungen gesichert, ihre traurigen Tage dahin leben konnte.

44 Gleichwohl schauderte sie, so oft sie einen lezten Entschluß fassen wollte.

In dieser Ungewißheit überraschte sie der Zweifel: ob nicht die Zerreissung ihrer bereits kundgemachten Heirath Oliviern schaden könnte? Niemand, so dachte sie, wird diese Sinnesänderung mir zuschreiben, weil es gegen alle Wahrscheinlichkeit ist, daß ich im Augenblick der grösten Bedrängniß die angebotene Hand eines Retters verschmähen könnte. Der Tadel der Rechtschaffnen muß also auf ihn fallen; man wird ihn eines schändlichen Eigennutzes, eines schnöden Undanks, einer barbarischen Grausamkeit gegen seine unglückliche Braut beschuldigen, die er nur darum von sich stieß, weil sie kein Heirathsgut mehr hatte. Darf ich die Ehre des Edlen einem so brandmalenden Argwohn, oder durch die Offenbahrung unsers Geheimnisses seine Person den Verfolgungen der Kannibalen aussetzen. Würde nicht ich eine Undankbare, eine Egoistin, eine Barbarin seyn, wenn ich seine Freundschaft so belohnte? Diese ängstlichen Betrachtungen erschöpften den Rest ihrer Kräfte; sie sank gegen Morgen in einen ohnmachtähnlichen Schlummer, aus dem sie nur zu bald durch einen furchtbaren Besuch erwekt wurde.

Es war ein Commissar der Verwaltung mit seinem Gefolge, welche kamen, die Verlassenschaft 45 ihres Vaters zu verzeichnen und in Beschlag zu nehmen. Bebend und schluchzend kündigte ihr Mädchen ihr diese Schreckenspost an. Ich bedarf deiner Hülfe nicht, gute Babet, sagte Louise zu ihr, als sie ihr die Kleider reichen wollte, von nun an werde ich mich selbst bedienen. Gehe du zu Olivier, und sage ihm, daß ich ihn in einer halben Stunde erwarte. Das arme Mädchen rang die Hände, und entfernte sich, indeß Louise sich in den Stand sezte, Oliviern zu empfangen. Ihre ganze Seele thronte auf ihrem Gesichte. Mein Freund, sagte sie zu ihm, als er in das Zimmer trat, die Räuber meiner Freiheit sind vielleicht unterweges. Ich würde ihnen ihr Schlachtopfer nicht entziehen, wenn nicht ein wichtigerer Bewegungsgrund mich antriebe, die Hand anzunehmen, die Sie, mein Freund, zu meiner Rettung mir bieten. Müßte es vor dem Altare der Religion geschehen, so würde ich weder die Religion noch Ihre Freundschaft mißbrauchen.

Olivier ergriff ihre Hand, und indem er sich nach dem Bilde des Barons kehrte, das in dem Zimmer hieng: Wohlthäter meines Vaters, sprach er, und mein Wohlthäter: ich schwöre bei deiner mir heiligen Asche, daß ich deine Tochter stets als einen bei mir herbergenden Engel betrachten werde. Louise war tief gerührt, lange hieng ihr 46 weinendes Aug am Aug ihres Vaters. Endlich, als ob es einen Wink des Beifalls darin gesehen hätte, wandte es sich nach Olivier, und warf ihm einen von jenen himmlischen Blicken zu, womit die Tugend einen alten Bekannten bewillkommt. Hoffentlich, sagte sie nach einer Weile, wird meine Lage mich entschuldigen, wenn ich unsere Verbindung um acht Tage verschiebe; mein zermalmtes Herz verlangt diese Frist. Allerdings, antwortete Olivier; das Aufsichtscomite (jede Gemeinde hatte das ihrige, dem die Verhaftnehmung der Verdächtigen oblag) ist von Ihrer Erklärung unterrichtet, und die mehresten Mitglieder bezeugten mir ihre Freude, der traurigen Nothwendigkeit überhoben zu seyn, Ihre Leiden zu vermehren. Doch will ich es zum Ueberflusse vom Bewegungsgrunde dieses Aufschubs benachrichtigen; es wird Ihren Schmerz ehren, und mehr als Ein Redlicher wird ihn wenigstens in seinem Herzen mit Ihnen theilen.

Olivier, welcher wußte, daß die Einsamkeit das Paradies einer traurenden Seele ist, überließ Louisen dem einzigen Troste, dessen sie jezt noch fähig war, ihren Thränen. Kaum war er zu Hause, so kam ihm Babet nachgelaufen. Ach, lieber Herr Olivier, ist es denn würklich wahr, daß ich mein gutes, theures Fräulein verlassen muß? 47 Sie sagte mir diesen Morgen . . . . oh es schnitt mir durchs Herz . . . . daß sie mich nicht mehr brauche. Schon vier Jahre diene ich ihr, und hoffte ihr all' mein Lebenlang zu dienen; ich kann, ich kann nicht von ihr weg. Bester Herr Olivier, verstossen Sie mich nicht. Ich verlange keinen Lohn: Ich will in Ihrem Garten, auf dem Hofe, im Felde arbeiten; Sie sollen sehen, daß ich mein Brod verdiene; wenn ich nur des Tages eine Stunde um mein Fräulein seyn darf. Lieber Gott! sie kann ja doch nicht alles selber thun. Nicht wahr, Sie verstossen mich nicht? thäten Sie das, so würde ich vor Ihre Thüre knieen und so lange anklopfen, so lange weinen, bis sie mir aufschlössen. Nein, gute Babet, antwortete der gerührte Olivier, du sollst deine Gebieterin nicht verlassen, im Gegentheil du wirst dich mehr als jemals ihr nähern. Gieb dich zufrieden, liebes Mädchen, laß dich aber nichts gegen sie merken, ich werde sie diesen Abend noch sprechen.

Olivier hielt Wort; als die Commission ihre Tagarbeit geschlossen hatte, kam er zu Louisen in ihr Kabinet. Seine Ankunft zog sie aus einem Labyrinthe trüber Gedanken, in dem ihr Geist umher irrte. Sie empfieng ihn mit jener offnen Güte, die selbst der Gram nicht vom Antliz der Tugend wegwischen kann. 48

Oliv. Mein Fräulein!

Louise. Gewöhnen Sie sich von heute an, mich Louise zu nennen: es ist der einzige Name, der unser künftiges Verhältniß weder verrathen noch verläugnen wird.

Oliv. Wohlan denn, Louise, ich habe dieses Verhältniß überdacht. Mich dünkt, wenn wir unser Geheimniß in eine heilige, undurchdringliche Decke hüllen wollen, so müssen wir einer versicherten Person wenigstens soviel davon vertrauen als jede andere, die eine Zeitlang um uns wäre, von selbst entdecken und alsdann nicht wie jene verschweigen würde.

Louise. (bewegt.) Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich Ihnen mein Schiksal übergebe.

Oliv. Wäre Babet unsre Reisegefährtin geworden, so würde ich Ihnen vorgeschlagen haben, sie zu dieser Vertrauten zu machen. Der Gedanke, ihr gutes Fräulein zu verlassen, stürzt das arme Mädchen in Verzweiflung. Es ist eine Waise, die Sie aufgenommen und gebildet haben: war sie jemals undankbar?

Louise. Nie, nie, sie verbindet mit der seltensten Treue ein zartes Gefühl, das unser Vertrauen schätzen und rechtfertigen wird.

Olivier. Wie wäre es, wenn ich ihr sagte, daß ihre Gebieterin bis zur Endigung ihres 49 Trauerjahres die Vollziehung ihrer Ehe zu verschieben wünscht? So könnte sie, ohne mehr zu errathen, Ihr Zimmer mit Ihnen theilen.

Louise. (gen Himmel blickend für sich.) Gott, laß ihn dieses Stillschweigen verstehen!

Oliv. Ich überlasse es Ihnen, dem Mädchen Ihre Entschliessung anzukündigen, und finden Sie es für gut, so sagen Sie ihr zugleich, daß sie sich in Absicht auf die Bedingungen an mich zu wenden habe.

Ein Schimmer des Friedens weilte auf Louisens Stirne, solange Oliviers Besuch dauerte. Als er sich entfernt hatte, fand sie in den Szenen des Tages einen so reichen Stoff zum denken und empfinden, daß Babet einige Minuten ungesehen vor ihr stand, als sie sie zur Abendmahlzeit rufen wollte. Du bleibst bei mir, sagte Louise zu ihr; – Olivier will nicht zugeben, daß wir uns trennen. Die Freude des Mädchens gieng bis zum Schwärmen; sie küßte ihrer Gebieterin bald die Hände, bald die Schürze. Oh, Sie sollen sehen, Sie sollen sehen, rief sie weinend, daß ich Ihnen nicht unnütze seyn werde. Der gute Herr Olivier! Gott belohne ihn! Ich darf doch morgen zu ihm gehen, um ihm zu danken? Allerdings, antwortete Louise, vermuthlich wird er dir alsdann sagen, was künftig deine Pflicht seyn wird.

50 Babet konnte den Morgen kaum erwarten; ihre Gebieterin ruhete noch, so klopfte sie schon an Oliviers Thüre. Sie wollte ihm eine Danksagung stammeln; er ließ ihr keine Zeit dazu. Babet, sagte er, bisher warst du Louisens Dienerin, es steht zu dir, ihre und meine Freundin zu werden, wenn du das Gelübde halten willst, das ich dir auflege. Alles, alles, rief sie, indem sie sich auf ihre Kniee warf. Nicht doch, mein Kind, du vergissest, daß wir dich zu unsrer Freundin machen wollen. Jezt wiederholte er ihr, was er Louisen gesagt hatte, und Babet gelobte ihm das heiligste Geheimniß. Wenn du allein bei ihr bist, fuhr er fort, so begegne ihr wie dem Fräulein von C**, in Gegenwart anderer sey sie dir die Frau des Bürgers Olivier. Geh nun und frage sie um die Erlaubniß, mir ihre neue Wohnung einrichten zu helfen.

Oliviers Meyerhof konnte ein artiges Landhaus heissen. Sein Vater hatte es mit Geschmack ausgebessert, und mit allen nöthigen Bequemlichkeiten versehen, ohne ihm seine ursprüngliche Gestalt zu benehmen. Das Erdgeschoß war ganz zu einer Meierei eingerichtet. Das Hausgeräthe unterschied sich von dem eines gewöhnlichen Bauergutes blos durch seine Reinlichkeit. Im obern Stockwerk hingegen sah man eine Reihe von fünf 51 bis sechs wohlabgetheilten Gemächern, welche theils mit anmuthigen Papiertapeten, theils mit ländlichen Kupferstichen und einigen Gemählden ausgeziert waren; alles war niedlich, aber ohne die mindeste Pracht. Das für Louisen bestimmte Zimmer hatte eine angenehme Aussicht auf den Obst- und Küchengarten; es war das schönste und gröste, und mit einem zwiefachen Alkove versehen, wovon der eine ihrem, der andere ihres Mädchens Bette bestimmt wurde. Oliviers Schlafkammer war daneben, und hatte dieselbe Aussicht. Beide Zimmer waren durch eine Zwischenthüre verbunden, hatten aber auch nach dem Flur ihre besondern Ausgänge.

Olivier und Babet waren einige Tage mit der Ausrüstung und Verzierung dieser Zimmer beschäftigt, und da das Gesez Louisens persönliches Eigenthum nicht in Anspruch nahm, so wurden nach und nach ihre Kleider, ihre Bücher, ihr Piano in ihre neue Wohnung gebracht. Sie ließ alles fahren, was den mindesten Widerspruch veranlassen konnte; nur bat sie sich die Bildnisse ihrer Eltern und ihres Bruders und einige eigenhändige Gemählde aus, womit sie das Cabinet ihres Vaters ausgezierr hatte. Der Commissar, der sie als die Braut eines Patrioten betrachtete, und eben keiner von den Schlimmsten war, 52 bewilligte ihr alles, und würde ihr noch mehr bewilligt haben, wenn ihr edler Stolz ihr erlaubt hätte, mehr zu begehren. Olivier besuchte sie alle Tage, aber immer nur auf eine halbe Stunde, und gleichsam bloß nach ihrer Gesundheit zu fragen. Diese Achtung für ihren Schmerz und für die Verlegenheit, der das neue und sonderbare ihrer Verhältnisse sie aussezte, entgieng dem gefühlvollen Mädchen nicht; auch mochte sie ihrer Babet gerne zuhören, wenn sie ihr erzählte, mit welchem Eifer er sich bemühete, ihr ihren neuen Aufenthalt bequem und angenehm zu machen.

Unterdessen gieng die Frist, die Louise der Todtenfeier ihres Vaters gewidmet hatte, zu Ende. Die Vorkehrungen, die der Commissar auf dem Schlosse machte, verwandelten ihr die Heimath ihrer Väter in eine fremde, traurige Herberge. Bereit, einen Aufenthalt zu verlassen, der ihr jeden Augenblick ihren Verlust unter einem neuen Bilde darstellte, bestimmte sie nun selbst den Tag ihrer Trauung, und äußerte bei dieser Gelegenheit den Wunsch, ihre künftige Wohnung zu besehen. Olivier würde es nie gewagt haben, ihr diesen Besuch vorzuschlagen, Louise gönnte ihm das Vergnügen, das ihm ihr Anerbieten verursachte. Sie kannte das Haus sehr gut, und wurde um so mehr durch die Einrichtung 53 überrascht, die seine erfindsame Sorgfalt zu ihrem Empfange gemacht hatte. Ihr Instrument, ihre kleine Bibliothek, ihr Farbzeug, alles fand sie auf ihrem Zimmer, das blos mit den Familien-Bildnissen, einer einfarbigen himmelblauen Tapete, und einem netten Schreibtisch ausgeschmückt war. Louise sprach wenig; allein in ihren Blicken las Olivier die Belohnung für alles, was er gethan hatte. Beim Weggehen heftete sie ihr Auge auf das Bildniß ihres Bruders: Guter Theodor, sagte sie mit sanfter Wehmuth, möchte die Vorsehung auch dir einen Olivier senden!

Erst gegen den Abend des folgenden Tages begab das Brautpaar sich auf das Gemeindehaus, um die Trauung zu empfangen. Sie waren blos von den nöthigen Zeugen begleitet, die aus vier Invaliden bestanden, die ehedem unter des Barons Compagnie gedient, und bis zu seiner Verhaftnehmung ein kleines Gehalt von ihm bezogen hatten. Sie reichten seiner Tochter ihre zitternden Hände, und der Aelteste unter ihnen sagte zu Olivier: bald werde ich zu unsrem guten Obristen hinfahren; machen Sie, lieber junger Mann, daß ich ihm sagen kann, er habe keine Waise hinterlassen. Hier und da blickte ein frommes Mütterchen aus dem Fenster, und nickte der Braut seinen Segen zu. An der Treppe des Hauses 54 stunden einige gemischte Gruppen, die sie mit einem stillen Herzensgrusse bewillkommten. Olivier war im ganzen Dorfe geschäzt, und nun vermehrte er noch die Achtung seiner Mitbürger durch sein Betragen gegen ihr gutes Fräulein, welches die meisten noch eben so sehr verehrten und liebten, als zu den Zeiten, da es Trost und Erquickung in die Hütten der Armen trug, und sich unter die Tänze der jungen Bäuerinnen mischte.

Mit stillem Ernste wohnte Louise der gerichtlichen Zeremonie bei, die bekanntlich in einem blossen Verspruche besteht, daß man sich zur Ehe nehmen wolle. Die schmachtende Blässe des Schmerzes gab ihrem himmlischen Gesichte etwas feierliches, das dem Herzen zu gleicher Zeit Ehrfurcht und Wehmuth gebot, und den rohesten Sanskülotte bezähmt hätte. Ihre dunkelbraunen Locken wallten über ihr bescheidenes Gewand; es war weiß mit ähnlichen Bandschleifen; die Farbe der Trauer wäre in jenen Tagen ein aristokratisches Verbrechen gewesen. Ihr Halsgeschmeide war das Medaillon ihres Vaters. Ihre Brust schmückte ein Straus von Violen, den Babet ihr gewunden hatte. Nach vollbrachter Feyerlichkeit gab Louise jedem der vier Greise ein Geldstück, um sie, wie sie sagte, für das Hochzeitmahl zu entschädigen. Beim Eintritt in ihre neue Wohnung 55 wurde sie vom Gesinde bewillkommt, unter das sie ebenfalls einige Geschenke austheilte.

Olivier bemerkte, daß die Szenen dieses verhängnißvollen Abends ihre Seele beklemmten. Er schlug ihr vor, sie auf ihr Zimmer zu führen: sie folgte ihm mit einem Blicke, der ihm sagte, daß er sie errathen habe. Beim Eintritt in die Stube sprach sie unter einem langen, feierlichen Händedruck: Der Bund der Freundschaft ist ein Sakrament der unsichtbaren Kirche: heilig, ewig heilig soll der unsrige mir seyn. Olivier konnte ihr nicht antworten, eine süsse Betäubung bemächtigte sich seiner Stimme. Endlich reichte er ihr einen Stuhl, und sezte sich neben sie. Sein Auge fiel auf das Medaillon, das sie am Halse trug. Dieser Anblick schien ihn plözlich an etwas zu erinnern. Er langte aus seiner Tasche das Schmuckkästchen, das sie ihm zugestellt hatte.

Oliv. Bald hätte ich vergessen, Ihnen den kostbarsten Theil Ihres Eigenthums zurückzugeben.

Louise. Kostbar wäre er mir gewesen, wenn er seine heilige Bestimmung erfüllt hätte. Jezt ist mir dieser Schmuck unnütz. Behalten Sie ihn, mein Freund, und betrachten Sie ihn als die Mitgift einer armen Waise. Ich brauche keine Diamanten mehr, machen Sie sie zu Gelde, und vermehren Sie dadurch die Quellen unsrer Nahrung. 56

Oliv. Wollen Sie mich kränken?

Louise. Das würden Sie thun, wenn Sie mir meine erste Bitte versagen wollten. Er nahm mit einer stummen Verbeugung das Kästchen zurück, das soviel traurige Bilder in ihr aufweckte, und suchte das Gespräch unvermerkt auf Gegenstände zu lenken, welche fähig waren, sie zu zerstreuen.

Indessen hatte Babet die kleine Tafel zubereitet. Olivier führte Louisen zu Tische, und ihre junge Vertraute war dabei zu gleicher Zeit Gast und Aufwärterin. Ein matter Strahl von Heiterkeit beleuchtete während dem stillen Mahle Louisens Stirne, und Olivier wandte alles an, sie in dieser Stimmung zu erhalten. Als sie vom Tische aufstand, führte er sie auf ihr Zimmer zurück, zog einen Schlüssel aus der Tasche, verschloß damit die Zwischenthüre, legte ihn auf Louisens Schreibtisch, küßte ihr ehrerbietig die Hand, und entfernte sich durch die Hauptthüre.

Des andern Morgens ließ ihn Louise zum Frühstück einladen: sie empfieng ihn mit zwangloser Freundlichkeit, und indem sie ihm eine Schaale Coffee einschenkte, sagte sie zu ihm: Sie werden mir erlauben, mein Freund, Sie jeden Morgen bei mir zu bewirthen. Dieses wird, erwiederte Olivier, die schönste Stunde meines Tages seyn. Doch hoffentlich nicht die einzige, versezte 57 sie, da mir ein Geschäfte Ihres Hauses anvertraut seyn wird. Die Gewohnheit und meine jezige Gemüthslage machen mir die Arbeit zum Bedürfniß: ich habe mir bereits die Fächer ausersehen, die ich mit Babet übernehmen will. Die Wartung des Gartens und des Hühnerhofes nebst der Aufsicht über die Küche und die Wäsche waren die Gegenstände, die sie sich wählte. Diese Geschäfte waren ihr nicht neu, sie hatte die Haushaltung ihres Vaters mit jenem Geiste der Ordnung und Klugheit geführt, welcher sich selbst und dem Gesinde die Arbeit zum Spiel macht, und den man das ökonomische Genie heissen möchte. Gleich nach dem Frühstück trat sie mit ihrem Mädchen ihr neues Tagwerk an. Olivier begleitete sie in die Wohnstube, wo sie den traulichen Morgengruß des Gesindes mit der ihr eignen Leutseligkeit beantwortete, die schon so oft die guten Herzen gefesselt, und die bösen entwaffnet hatte.

Die häuslichen Verrichtungen zerstreueten sie, und verwandelten ihren Schmerz nach und nach in eine sanfte Schwermuth, die der Physiognomie einer schönen Seele einen neuen Reiz mittheilt. In wenig Wochen ward ihr die Besorgung der Landwirthschaft so geläufig, als ob sie dabei aufgewachsen wäre. Blos die Stunde nach der Mahlzeit widmete sie den süssen Phantasien der Musik. 58 Wenn ihre laufenden Arbeiten vollbracht waren, so beschäftigte sie sich mit Hülfe ihres Mädchens, ihre Garderobe umzuschaffen, und ihrem jetzigen Stande anzupassen. Die Ruhetage waren der Lesung guter Bücher gewidmet: Olivier und Babet hörten zu, bisweilen mußte auch das übrige Gesinde ihren Vorlesungen beiwohnen. Da es schon mehrere Monate des Gottesdienstes beraubt war, so empfieng es mit gieriger Aufmerksamkeit die Lehre der Tugend aus ihrem schönen Munde. Ihr Pinsel und ihre schöpferische Nadel füllten die übrigen Feyerstunden aus. Bald war es eine reizende Landschaft, die sie auf das Papier warf, bald eine Blume des wiederkehrenden Frühlings, die sie auf die Leinwand verpflanzte.

Da Olivier seiner Geschäfte wegen oft auf mehrere Tage nach der Stadt reisen mußte, so kam er selten zurück, ohne sein Hauswesen durch eine neue Anstalt verbessert, oder seine Gemächer durch eine neue Auszierung verschönert zu finden. Ein zärtlicher Blick, ein schüchterner Händedruck waren alsdann die Dollmetscher seines Dankes. Denn so sehr die holde, unbefangene Louise sich in ihrem Benehmen gegen ihn immer gleich blieb, so sehr bestrebte er sich, ihr die Vertraulichkeit, womit er ihr in Gegenwart fremder Zeugen begegnete, durch eine gefühlvolle Ehrerbietung gleichsam 59 abzubitten, ungeachtet er das Vergnügen, womit er sich dieser Vertraulichkeit überließ, nicht immer verbergen konnte.

Doch nach und nach ward er tiefsinnig, eine trübe Wolke lagerte sich auf seine Stirne. Oft wenn er an Louisens Seite in seinem blühenden Baumgarten oder am Ufer der Isere spazieren gieng, sank er in ein düsteres Stillschweigen: die Pracht der Natur, die sonst seine Seele entzückte, verlohr für ihn ihre Reize, und die Melodien der Nachtigall lockten ihm Thränen ins Auge. Wenn ihn Louise aus seinen Träumereien weckte, rief er zwar seine Heiterkeit zurück: allein es konnte ihr nicht entgehen, daß er sich Zwang anthat. Seine Gefälligkeit gegen sie war sich zwar immer gleich. Er spähete jede Gelegenheit aus, ihr Vergnügen zu machen, und als die Mobilien ihres Vaters zum Vortheil der Nation versteigert wurden, ließ er nichts in fremde Hände kommen, was für sie einen Affektionswerth haben konnte. Sie verwies ihm diese Verschwendung: allein er antwortete: Erinnern Sie sich nicht mehr, daß Sie mir aufgetragen haben, Ihre Juwelen in unsre Wirthschaft zu stecken? Sie wissen wohl, mein Freund, versezte sie, daß dieses nicht der Sinn meiner Worte seyn konnte; und als sie kurz darauf ihres Vaters zierliche Standuhr auf ihrem Kamin 60 fand, beschwor sie ihn mit rührender Wärme seiner Freigebigkeit Grenzen zu setzen. Sie thaten schon so viel für mich, sagte sie, und ich kann nichts für Sie thun. Ein erstickter Seufzer war seine Antwort.

Von diesem Tage an wuchs seine Schwermuth, und zugleich die Gewalt, die er sich anthat, sie zu verbergen. Seine ehedem so blühende Gesundheit nahm zusehends ab; Todesblässe ruhete auf seinen eingefallenen Wangen. Louise bemerkte es: anfänglich verhehlte sie ihm ihre Besorgniß: endlich aber fragte sie ihn im Tone der zärtlichsten Unruhe, was ihm fehle? Mir fehlet nichts, meine Freundin, erwiederte er, und so oft sie ihre Frage wiederholte, erhielt sie die nemliche Antwort. Bald war eine schlaflose Nacht, bald die Hinrichtung eines rechtschaffnen Mannes, eines edlen Weibes, die er in den Zeitungen las, Schuld an seiner gramvollen Miene. Wenn dann Louise mit einem zweifelnden Blick ihm liebreich ins Auge sah, so erheiterte es sich gleich einer erlöschenden Lampe, der ein frischer Tropfen Oel zugegossen wird. Ein neues Leben trat in sein Gesicht, seine Seele ermannte sich, es schien ihr einzufallen, daß sie ein Geheimniß zu verbergen habe. Dann vergiengen mehrere Tage, ohne daß sein erborgter Frohsinn sich verläugnete, und selbst sein innerer 61 Triumph über den gelungenen Versuch trug dazu bei, seine Stirne zu entwölken.

Doch Louisens Unruhe ließ sich durch diese Verstellung nicht einschläfern; je schärfer sie ihn beobachtete, je mehr überzeugte sie sich, daß ein geheimer Kummer an seinem Herzen nagen müsse. Vielleicht ist es eine unglückliche Leidenschaft, vielleicht fühlt der Edle, daß er sich mir aufgeopfert hat. Vermuthlich hat er in der Stadt ein Mädchen gefunden, das ihm mehr als Freundin ist, und seine Seele kämpfet nun zwischen Freundschaft und Liebe. O wüßte ich das, was auch mein Schiksal wäre, ich würde, ich müßte ihm den Sieg erleichtern. So dachte sie, und übte ihr Herz allmählich in dem Versuche, sobald die Freundschaft winken würde, mit standhaftem Muthe das Opfer zu vollbringen. Täglich wurde sie nun aufmerksamer auf sein Betragen. Olivier schien es wahrzunehmen, und es dünkte sie, als gäbe er sich um so mehr Mühe, sein Herz zu verschliessen, und seinem Grame zu gebieten.

Eines Abends kam sie zu ihm auf sein Zimmer; sie fand ihn schreibend. Sonst trat er ihr immer mit freundlichem Lächeln entgegen. Jezt gerieth er in Verwirrung: er raffte sich auf, und verschloß das Papier in seinem Pult. Louise wollte sich entfernen: Sie haben zu thun, sagte sie. Nichts, 62 meine Freundin, das sich nicht aufschieben liesse, antwortete er, und nach und nach wurde sein Gespräch freier, munterer und selbst wärmer, als es lange nicht gewesen war. Sein Herz schien von einer Bürde entledigt, und aus seiner Miene leuchtete bisweilen eine geheime, siegreiche Zufriedenheit hervor. Er gieng mir Louisen Hand in Hand das Zimmer auf und ab, aber seine Hand drückte die ihrige nicht. Wenn ihr forschendes Auge dem seinigen begegnete, so schlug er's nieder, und eine blasse Röthe zückte über seine Wangen.

Jezt ward er ins Dorf gerufen; ein Offizier verlangte ihn zu sprechen. Louise machte sich etwas auf dem Zimmer zu schaffen, und blieb zurück. Sie hatte bemerkt, daß Olivier vergas, den Schlüssel aus dem Pulte zu ziehen, und nach einem kurzen Kampfe, den ihr Herz ganz nach seinem Wunsche entschied, beschloß sie, das Papier zu lesen, das er so rasch vor ihr versteckt hatte. Wie kann, dachte sie, mein Vorwiz strafbar seyn, da er mir vielleicht Gelegenheit giebt, in einem Augenblicke das zu entdecken, was ich so lange umsonst ausspähe; mein Schritt wird seine und meine Plage abkürzen.

Mit zitternder Hand öfnete sie den Pult. Das erste, was ihr ins Auge fiel, war ihr Schmuckkästchen; es enthielt alle ihre Juwelen, die sie 63 verkauft glaubte. Neben ihm lag eine gerichtliche Verschreibung, darin Olivier auf den Fall seines Todes Louisen den lebenslänglichen Genuß seines Gutes versicherte; mehr erlaubten ihm die neuen Gesetze nicht. Das gieng ihr durch die Seele; sie hatte die Kraft nicht, die Schrift ganz zu lesen. Würklich wollte sie den Pult wieder zuschliessen, als sie einen unvollendeten Brief und gleich in der ersten Zeile ihren Namen erblickte. Mit pochendem Herzen ergriff sie das Blatt, und las folgendes:

»Sie haben nur allzuscharf gesehen, theuerste Louise, und die traurige Gewißheit, daß ich Ihnen den Zustand meines Herzens nicht verbergen konnte, ist der einzige Vorwurf, der mich martert. Denn so vermessen war ich nie, zu wähnen, daß es mir möglich seyn würde, mit Louisen unter einem Dache zu leben, ohne sie zu lieben. Ja, meine Freundin, ich liebe Sie, und muß es Ihnen gestehen, um einen Schritt zu rechtfertigen, den Ihre Ruhe eben so laut als mein Gelübde von mir fordert. Ich verreise auf ein paar Wochen, nicht blos um Ihre und meine eigene Hochachtung wieder zu erkämpfen; nein, theuerste Louise, das erste Bedürfniß meines Herzens ist Ihre Glückseligkeit, und diese hoffe ich . . . .«

Wo fände doch die dürftige Buchstabensprache 64 Worte, die Empfindungen auszudrücken, die Louisens Busen schwellten. Sie selbst würde sie nicht haben ausdrücken können. Ihre Thränen rieselten auf das Blatt, und ehe sie es wieder in den Pult verschloß, drückte sie es fest an ihren Mund. Sie eilte auf ihr Zimmer, und warf sich in einen Armstuhl. Der ganze Weltkreis verschwand vor ihr, sie sah nichts als Oliviers Brief und sein Bild. Edelster unter den Menschen, sagte sie endlich, vergieb, o vergieb mir meinen Argwohn; ich bin genug dafür bestraft, daß ich dir meine Reue nicht zeigen, meine Beleidigung nicht abbitten darf.

Noch lange dauerten die Zuckungen ihres Herzens. Olivier, der über eine Stunde ausblieb, ließ dem Sturme Zeit, sich zu legen. Endlich erschien er von einem Fremden begleitet. Ich bringe Ihnen einen Gast, Louise, einen angenehmen Gast, der Ihnen Nachrichten von Ihrem Bruder zu geben hat. So sprach er, indem er ihr den Fremden zuführte. Louise sah ihn an, und erkannte in ihm den Marquis von Verdmont. Sie erröthete, schlug die Augen nieder, und wußte sein Bewillkommungs-Kompliment blos durch einige leise unverständliche Worte zu erwiedern. In ihrer jetzigen Stimmung mußte dieser Auftritt sie um so mehr überraschen, da es der erste Besuch eines ehemaligen Bekannten war, den sie seit 65 ihrer Heirath erhielt. Das Vergangene und das Gegenwärtige drangen wie kreuzende Blitze im gleichen Moment in ihr Herz. Die verschiedenen Bilder vermengten sich, und erzeugten in ihr eine Betäubung, die dem aufmerksamen Olivier nicht entgieng.

Ungeachtet Verdmont Louisens Heirath schon in Grenoble erfahren hatte, so war ihm doch diese Nachricht noch zu neu und zu auffallend, als daß er sich ihr ohne sichtbare Verlegenheit hätte nähern können. Auch dieses bemerkte Olivier, und da er sich zugleich erinnerte, daß er sich selbst zu beobachten habe, so war er eben nicht fähig, diese stumme Scene zu unterbrechen. Louisens Blick begegnete dem seinigen, der ihr Muth einzusprechen schien. Sie konnte ihn nicht ertragen; eine innere Stimme strafte sie wegen ihrer Verwirrung. Muß er nicht glauben, sagte die Stimme, daß du dich seiner schämest? Dieser Gedanke erschütterte den Grund ihrer Seele, und weckte ihre ganze Energie. Olivier stand in seiner vollen Herrlichkeit vor ihr, sie fühlte ganz den Stolz, seine Gattin zu heissen. Ihr guter Engel sah ihren Sieg; lächelnd wischte er die Schaamröthe von ihrem Gesichte, und lösete das Band ihrer Zunge. Mit ungezwungener freundlicher Miene bat sie den Marquis, sich zu setzen, ergriff Oliviers Hand, 66 und zog ihn neben sich auf einen Stuhl. Darf ich fragen, sagte sie hierauf zu Verdmont, ob Sie meinen Bruder selbst gesprochen haben?

Verd. Allerdings. Als General-Adjutant bei der Alpen-Armee ward ich in Geschäften nach Genf geschikt, wo ich das Glück hatte, ihn anzutreffen.

Louise. In Genf? ich glaubte, er wäre im Kanton Freyburg.

Verd. Nachdem er mehrere Monate vergebens auf Nachrichten von Hause gewartet, und selbst von seinem Genfer Correspondenten keine Antwort erhalten hatte, verließ er seinen einsamen Aufenthalt mit dem Vorsatze, es koste was es wolle, seiner quälenden Ungewißheit ein Ende zu machen. Seine Freunde in Morsee verschafften ihm eine sichere Gelegenheit, nach Genf überzuschiffen. Der Zufall führte ihn in meinen Gasthof. Urtheilen Sie selbst, Madam, von der Freude, mit der wir uns umarmten.

Louise. (seufzend.) Der gute Theodor! wie vieles hat sich seit unsrer Trennung geändert! weiß er um unsern Verlust?

Verd. Er erfuhr ihn aus meinem Munde, ein Freund hat mich kurz zuvor davon benachrichtigt. Ich sage Ihnen nichts von seinem Schmerz, außer daß er in meinen Armen einige Linderung 67 fand. Drei Tage blieben wir beisammen: ich kehrte nach der Armee zurück, und würde das ihm geleistete Versprechen, Ihnen diesen Brief zu übermachen, eher erfüllt haben, wenn ich ihn der Post oder einer fremden Hand hätte anvertrauen dürfen. Das Dekret, welches alle ehemaligen Edelleute von den Armeen verbannet, verschafft mir die Gelegenheit, meinen Auftrag selbst auszurichten. Er übergab Louisen den Brief, den sie in ihren Busen stekte. Sie haben vermuthlich einige Befehle zu geben, ich werde indessen unserm lieben Gaste Gesellschaft leisten, sagte Olivier, der in ihren Augen die Ungedult las, das Schreiben zu erbrechen. Louise verließ sie, und Olivier, der den Marquis mehrmals bei der Alpen-Armee gesprochen hatte, erkundigte sich bei ihm nach verschiedenen ihrer gemeinschaftlichen Bekannten. Einige unter ihnen lagen in den Fesseln, andere waren verschwunden. Die beiden jungen Männer trösteten sich mit der Hoffnung, daß die Nation endlich erwachen, und der Tyrannei die Larve der Freiheit abreissen würde.

Verdmont hatte diese Reise auf den Flügeln der Hoffnung unternommen. Das Bild der reizenden Louise thronte noch immer in seinem Herzen. Die Braut, die man ihm bestimmt hatte, war seit einigen Monaten mit ihrem Vater 68 ausgewandert. Dieser Umstand befreite ihn von dem Zwange, den die Ehre ihm bisher auferlegt hatte. Er glaubte sich dem Ziele seiner Wünsche nahe,. als er plözlich aus seinem süssen Traume erweckt wurde. Lange wogte seine Seele gleich dem betäubten Schiffer, den im Angesichte des Hafens ein Windstoß zurückschleudert, in einem Strudel von Gedanken. Bald wollte er Louisen den Brief durch seinen Bedienten zuschicken, bald wollte er ihn selbst übergeben. Seine Freundschaft für Theodor und ein geheimer Zug, der vielleicht Vorwiz, vielleicht ein noch glimmender Funke von Liebe war, bestimmten ihn endlich für das leztere. Er kehrte in dem Wirthshause des Dorfes ein, um sich Gelegenheit zu verschaffen, zuerst von der Lage des neuen Ehepaars und von der Ursache dieser unvermutheten Verbindung Bericht einzuziehen. Er hätte keinen bessern Weg einschlagen können: der Wirth war ein schwazhafter aber gutgesinnter Mann, der ihm Louisen als einen Engel, und Oliviern als einen allgemein geschäzten Biedermann schilderte. Man weiß wohl, sezte er hinzu, daß er die Tochter unsers guten Herrn geheirathet hat, um sie vor dem Mangel und der Gefangenschaft zu sichern, und das ist, bei Gott, eine schöne That, die ihm Segen bringen wird!

69 Diese Erzählung verwehete die aufglimmende Eifersucht gegen Olivier, und den an Verachtung grenzenden Unwillen gegen Louisen aus dem Busen des jungen Reisenden. Er erröthete über sich selbst, und ließ Oliviern zu sich bitten, um ihn von seinem Auftrage zu unterrichten und sich durch ihn selbst bei Louisen einführen zu lassen. Die edle, unbefangene Art, wie der junge Ehemann ihn empfieng, hätte ihn vollends entwaffnet, wenn auch nur noch ein einziges feindseliges Gefühl in seinem Herzen zurückgeblieben wäre. Louise, sagte er, würde glauben, ich wisse nicht, daß die Freunde ihres Bruders auch die ihrigen sind, wenn ich zugeben könnte, daß Sie anderswo als unter meinem Dache einkehrten. Kurz, es brauchte keine halbe Stunde, um Verdmonts Herz für ihn einzunehmen, und Louisen zu entschuldigen, sich in die Arme eines solches Mannes geworfen zu haben. Diese zeigte sich nicht eher wieder, als um ihren Gast zu Tische zu rufen. Hier verrichtete sie das Amt der Hauswirthin mit jener traulichen Grazie, welche mehr noch ein gutes Herz als eine gute Erziehung verräth. Ihre Laune war ungewöhnlich heiter, und dennoch sprach sie nur, wenn die Unterredung ihre Theilnahme forderte. Man konnte ihr ansehen, daß etwas in ihr vorgieng, das nicht den Stoff ihres Gespräches ausmachte, 70 in das sie sich öfters blos darum mengte, um nicht zerstreut zu scheinen. Verdmont und Olivier schrieben diese sich selbst genügende Munterkeit dem Briefe ihres Bruders zu, den sie nach ihrer Entfernung gelesen haben müßte. Beide beobachteten sie mit einer gleich zärtlichen Aufmerksamkeit, und jeder sagte oft zu sich selbst: Selig, o selig, wen das himmlische Geschöpf liebt, wer es sein Weib heissen kann!

Gegen das Ende der Mahlzeit sprach Verdmont von seiner morgenden Abreise. Mehrmals und dringend bat Olivier ihn, sie noch um einen Tag zu verschieben. Louise schwieg, aber ihr Gesicht glühete; Verdmont erröthete auch, und wußte nicht mehr, was er antworten sollte. Seyn Sie meine Fürsprecherin, sagte Olivier zu Louisen, Ihnen darf er meine Bitte nicht abschlagen. Ich denke nicht, antwortete sie, daß Herr von Verdmont Ihre Bitte um einen Augenblick nicht auch für die meinige halten konnte. Verdmont bückte sich: diese Erklärung, sagte er, macht, daß ich aufhöre, mich für einen fremden Gast bei Ihnen zu halten, und ich habe der frohen Tage zu wenig, um nicht den angebotenen mit dankbarer Freude zu ergreifen. Man stund auf. Indeß Olivier ihn auf sein Zimmer begleitete, warf sich Louise, wie von einem 71 schweren Tagwerk ermüdet, aber dessen gelungene Arbeit der Seele wohlthut, in einen Armstuhl. Ihre Stirne glänzte, ein tiefer Athemzug entstieg ihrem Busen: es war kein Seufzer, sondern das Amen eines großen Entschlusses. Als Olivier zu ihr zurückkam, hielt sie den Brief des Bruders in der Hand. Sie trat zu ihm hin, und übergab ihm das offene Blatt mit den Worten: Die Freundschaft hat keine Geheimnisse. Er las. Ein unbekanntes Gefühl, das in der tiefsten Falte seines Herzens lauerte, ergoß sich durch alle seine Adern, und verbreitete eine blutrothe Flamme über sein Gesicht. Der Brief enthielt unterm anderm folgende Stellen: »Verdmont war mir ein Bote unseres Unglücks, und dennoch willkommen, weil ich durch ihn nach einem so langen Stillschweigen wieder mit meiner Louise sprechen kann. Schon lange liebt er dich, allein nur erst jezt darf er dies gestehen. Ich wünsche mich nicht betrogen zu haben, als ich zu bemerken glaubte, daß er dir nicht gleichgültig sey. Betrog ich mich nicht, so must du ihn jezt gedoppelt schätzen, da er dir seine Hand in einem Augenblicke anbietet, da ein anderer sie zurückziehen würde. Er weiß nicht, daß ich dir seine Absichten eröffne. Ist dein Herz frei, so bedarf mein Verdmont keines Fürsprechers, ist es nicht mehr frei, so darf ich dieser 72 Fürsprecher nicht seyn.« Mitten unter dem Orkan, der in seinem Busen braußte, hatte Olivier einen Blick auf Louisen geworfen, mehr brauchte seine Seele nicht, um sich zu ermannen. Die heilige Unschuld, die himmlische Güte, die ihrem Antliz entstrahlte, zerstreueten die Wetterwolke: er war wieder Olivier. Louise ist frei, sagte er, indem er ihr den Brief zurückgab. Ich weiß es, antwortete sie, und mit der Schnelligkeit einer Sylphide flog sie an ihm vorbei, und gab ihm den bedeutungsvollsten und zugleich räthselhaftesten Kuß, den jemals das siegende Gefühl der jungfräulichen Schaam abstahl. Er hatte nicht Zeit, sich zu besinnen, ob er wache oder träume, so war Louise schon verschwunden.

Gleich dem Wanderer, vor dessen Auge ein empyreisches Meteor vorbeizischt: sein Blick schiesset ihm nach, allein vergebens sucht er es am nakten Horizonte; so klebte Oliviers Auge an der Thüre, durch welche Louise entschlüpfte. Lange verfolgte er die entzückende Erscheinung; allein er sah nur noch das Bild, das sie in seiner Seele hinterließ, und endlich kehrte er langsam zu sich selber zurück. Das unbekannte Gefühl, das bei Lesung des Briefes ihn überraschte, regte sich noch wie der Wiederhall eines Gewitters in ihm, und nun hatte er Zeit, es zu entziffern. Er entsezte 73 sich, als er die häßlichen Züge der Eifersucht erkannte. Ich Elender! sagte er zu sich, was für ein Recht habe ich auf Louisen? habe ich nicht meine Leidenschaft selbst verdammt? wo ist der uneigennützige Muth, womit ich ihr entsagen und den Mann aufsuchen wollte, den ich fähig halte, sie glücklich zu machen? Nun da eben dieser Mann, durch die Hand der Vorsicht geleitet, meiner Reise zuvorkömmt; nun da ihr Bruder sein Siegel auf meinen edlen Plan drückt; nun da ich Louisen beweisen soll, daß ich kein Heuchler war, als ich ihr gelobte, sie blos als ein mir anvertrautes Pfand zu betrachten, will ich Niederträchtiger dieses Pfand mir zueignen, und der Erfüllung meines heiligen Eides ausweichen. Ich weiß es, daß ich frei bin, sagte sie, und ihr Kuß war der Dank für dieses Bewußtseyn. Er fordert mich auf, mein Werk zu krönen. Nein, göttliches Mädchen, du sollst dich nicht an deinem Freunde betrügen, groß ist sein Opfer, aber auch groß sein Lohn. Mit Hochachtung wirst du seinen Namen deinem Geliebten nennen, und vielleicht wirst du bei unsrer Trennung es bedauern, daß du mir nicht mehr als Freundin seyn konntest.

Unter diesem Selbstgespräche warf er sich aus sein Bette; er schloß kein Auge, er hatte eine scharfe Wache über sein Herz zu halten. 74 Theodors Brief lag aufgerollt vor seinem Blicke: er las ihn noch einmal, und dann noch einmal, er wog jeden Gedanken, jedes Wort, und freuete sich nun wieder seines Entschlusses. Seine Seele lächelte der Ausführung entgegen, und weidete sich an dem Bilde von Louisens Glücke und an dem Vergnügen, das dem freudenlosen Theodor die Verbindung seiner Schwester mit seinem Freunde verursachen würde.

Auch Louise war mit sich selbst zufrieden: sie überdachte die verschiedenen Scenen dieses reichhaltigen Abends. Mit lauten Pulsen begleitete ihr Herz die Schläge jeder ablaufenden Stunde: in jeder machte sie einen andern Entwurf, und verwarf ihn in der folgenden. Endlich erschlafften die Schwingen ihrer Einbildungskraft; ein süsser Schwindel senkte ihren Kopf in das Kissen, und sie entschlief.

Sobald Olivier merkte, daß Verdmont aufgestanden war, begab er sich zu ihm auf sein Zimmer; sein Morgengruß war herzlich, und herzlich wurde er erwiedert.

Oliv. Verdmont, bisher waren wir Bekannte, lassen Sie uns Freunde werden.

Verdmont umarmte ihn. Das wollen wir, und Louise sey der Schuzengel unsers Bundes.

Oliv. Für sie fordere ich den ersten Beweiß 75 Ihrer Freundschaft. Wüßten Sie kein sicheres Mittel, ihrem Bruder diese fünf und zwanzig Louisd'or zu übermachen?

Verd. O ja! gleich im Anfange der Revolution hat mein Vater einen Theil seiner Gelder nach Genf geflüchtet. Sie sind in guten Händen, und ich darf nur seinen Correspondenten bitten, die Summe ihrem Schwager zu bezahlen.

Oliv. Allein laufen Sie keine Gefahr dabei?

Verd. Keine; unser Briefwechsel ist gegen alle Ränke der Spionen gesichert.

Oliv. Nun so nehme ich Ihr Anerbieten an; er übergab ihm die Summe. Guter Theodor, wann werden wir uns wiedersehen?

Verd. Wie gerne wollte ich ihm die Hälfte der seligen Stunden abtreten, die ich unter diesem Dache zubringe! doch auch in der Ferne soll er sie mitgeniessen. Ich werde ihm die Verbindung seiner Schwester mit seinem Jugendfreunde melden.

Oliv. Lernen Sie erst diese Verbindung kennen. Außer ihm sind Sie der einzige Mann in der Welt, der ein Recht hat auf unser Geheimniß. Louise ist noch immer das Fräulein von C**; ich habe ihr meinen Namen geliehen, weil er in unsern schrecklichen Zeiten sie besser schützen konnte, als der ihrige. Ich bin nichts als der Hüter eines geheiligten Schatzes, den ich dem 76 abtreten werde, dem die Liebe ein Recht darauf einräumet. Kurz, mein Freund, Louise ist frei, und von jezt an haben Sie das Recht, sie als frei zu betrachten.

Verdmont sah Oliviern mit Staunen ins Auge: es bestätigte ihm in einer Sprache, die nicht lügen kann, die Rede seines Mundes. Nach einer kurzen Pause, die aber keine für sein Herz war, ergriff er seine glühende Hand: Unbegreiflicher Mann!

Oliv. Unbegreiflich? Doch nicht für Sie, auch für Louisen nicht, sie kennet mein Herz.

Verd. So muß sie es belohnen. Lieben Sie denn die Göttliche nicht?

Oliv. (verwirrt.) Es ist jezt blos von Louisens Glücke die Rede, und an mir ist es, meinen Verdmont zu fragen, ob er die Göttliche nicht liebt. Vor einigen Jahren schien es mir so, und so oft wir uns im Felde begegneten, sprachen Sie mit einer Wärme von ihr, die meine Vermuthung bestärkte.

Verd. Freund, Ihre Frage – (er hielt inne.)

Oliv. Ist keine Frage des Vorwitzes; um sie an Sie zu thun, war ich im Begriffe, Sie bei der Armee oder in Ihrem väterlichen Hause aufzusuchen. Jezt klopfte Louise an Verdmonts Thüre. Das Frühstück erwartet Sie, rief die 77 Traute, und für beide war der süsse Ruf ein elektrischer Schlag. Sie sprangen ihr entgegen, und folgten ihr auf ihr Zimmer. Louise war heiter, und in Oliviers und Verdmonts Augen reizender als jemals. Sie war völlig so angekleidet, wie am Tage ihrer Hochzeit, nur daß eine Rose die Stelle des Violenstraußes vertrat. Dieser Umstand entgieng Oliviern nicht, und erweckte feierliche Erinnerungen, und eben so große Ahnungen in seinem Herzen. Sie will, dachte er, dich an dein Gelübde mahnen, weil der Augenblick herannaht, es zu erfüllen. Sie soll sehen, daß sie nicht umsonst an Tugend glaubte. Die Entschlossenheit seiner Seele verbreitete über sein ganzes Benehmen einen Frieden, der Louisens Munterkeit eine neue Nahrung gab. Nach dem Frühstück schlug sie einen Spaziergang vor; es war ein lieblicher Maitag, die Natur hatte den Boden des lachenden Thales mit ihren festlichen Tapeten belegt, und Louise wandelte wie Flora darüber hin. Die Melodien der Vögel schienen aus den Gebüschen sie zu begrüssen, und jede Quelle, die von den Hügeln herabglitt, war ein Spiegel ihrer reinen Seele. Auf dem Heimwege begegnete ihr ein Knabe mit einer Grasmücke, die er gefangen hatte. Verkaufe mir deinen Vogel, sagte sie zum Knaben. Sehr gern, erwiederte er. Louise 78 bezahlte den Vogel, und ließ ihn fliegen. Sie that es ohne ein Wort zu sprechen: allein Olivier warf ihr einen zärtlichen Blick zu, der ihr zu sagen schien, ich habe dich verstanden.

Nach dem Mittagsmahle entfernte er sich unter dem Vorwand eines dringenden Geschäftes, in der That aber um Louisen mit Verdmont allein zu lassen. Sie las es in seiner Seele, und dieser neue Sieg seiner Grosmuth über seine Liebe trieb ihr eine Thräne ins Auge. Olivier bemerkte sie, er legte sie als eine neue Danksagung aus, und eilte davon. Es ist so schön im Garten, sagte Louise zu Verdmont, wollen wir nicht hinunter gehen? Verdmont bot ihr seinen Arm. Louise führte ihn durch alle Pfade des kleinen Gebietes. Die Gegenstände ihres Gespräches waren gleichgültig; das Gespräch selbst konnte es nie werden. Der holde Accent ihrer Stimme, und noch mehr das helle Licht ihres Verstandes legte auch dem gemeinsten Gedanken ein Feyerkleid an, ohne ihn von seiner natürlichen Stelle zu rücken. Endlich blieb sie vor einer schattigen Weinlaube stehen. Sie werden müde seyn, Verdmont, lassen Sie uns in die Laube sitzen und den sanften Duft der Rebenblüthe einathmen. Sie zog ihr Strickzeug hervor, und lenkte die Unterredung auf 79 ihren Bruder. Er mußte ihr das Erzählte wiederholen, und auf zwanzig neue Fragen antworten.

Louise. Schwer drückt mich der Gedanke, vielleicht auf immer von ihm getrennt zu seyn: aber noch schwerer drückt mich die Sorge, daß er vielleicht Mangel leidet.

Verd. Den hat er bisher nicht gelitten, er weiß sich einzuschränken, und ich habe ihnen schon gesagt, daß sein ehrwürdiger Freund Gilbert die Einkünfte seines neuen Amtes mit ihm theilt.

Louise. Gilbert, mein zweiter Vater, will auch sein zweiter Vater seyn. Doch Theodor hat auch eine Schwester, die ihn nie vergessen wird. Wissen Sie, lieber Verdmont, kein Mittel, ihm eine kleine Summe zu übermachen, die ich für ihn zurückgelegt habe?

Verd. Die Sache ist bereits in Richtigkeit.

Louise. Wie meynen Sie das?

Verd. Olivier hat mir die Summe zugestellt, und sobald ich . . . .

Louise. Olivier? Gott, was sagen Sie!

Verd. Ach! sollte ich ein Geheimniß verrathen haben?

Louise. Oh reden Sie, reden Sie. Ich weiß schon zu viel, um nicht alles wissen zu dürfen.

Verd. Er hat mir in Ihrem Namen fünf und zwanzig Louisd'or für Ihren Bruder eingehändigt. 80

Louise. (weinend.) Daran erkenne ich ihn, jedem meiner Wünsche kömmt er zuvor. Soviel hätte ich für meinen Theodor nicht thun können. Ach! Verdmont, nicht wahr, Olivier ist ein edler Mann?

Verd. Das ist er; groß und uneigennützig ist sein Herz, er hat mir diesen Morgen einen Beweiß davon gegeben, der mich in Bewunderung hinriß.

Louise. Ich errathe diesen Beweiß; er hat Ihnen das Geheimniß unsrer Verbindung geoffenbart: ich weiß, warum ers that.

Verd. Er wünscht, Sie glücklich zu sehen, und zweifelt, ob Sie es durch ihn seyn können.

Louise. Dieser Zweifel macht mir ihn unendlich theurer, und wenn ich Ihnen vollends eröffne, daß er mich liebt, daß er, ohne es mir jemals zu sagen, mich mehr als sich selbst liebt, und meinem Glücke seine Liebe und die Ruhe seiner Tage aufopfern wollte, so wird er Ihnen gewiß eben so theuer werden, als er es mir ist.

Verd. Was er mir verbarg, macht mir ihn noch schäzbarer, als was er mir offenbarte.

Louise. Ein Geheimniß konnte er Ihnen nicht entdecken, weil er es selbst noch nicht weiß: meine Gegenliebe. Mit süssem Stolze gestehe ich sie Ihnen. 81

Verd. Er verdient sie. Gestern würde ich ihm noch sein Glück mißgönnt haben, heute würde ich mich verachten, wenn ich ihn beneiden könnte. Wir haben einen Bund der Freundschaft geschlossen, der ewig dauern wird.

Louise. (feierlich bewegt.) Verdmont, wollen Sie auch mein Freund seyn?

Verd. Ob ich es will! Ach, wenn Sie wüßten! doch die Ehre, die Freundschaft verbieten mir . . . .

Louise. Ich verstehe Sie, Verdmont! einem Alltagsmann würde ich das nicht sagen; aber eben weil ich Sie verstehe, wiederhole ich Ihnen die Frage: wollen Sie, mein Freund, nichts als mein Freund seyn? auch als Freundin kann ich Ihnen vieles geben.

Verd. (wirft sich ihr zu Füssen.) Göttliche Louise! zu welchem Opfer stärkt uns die Gegenwart eines Engels nicht! empfangen Sie es, dieses Opfer, es liegt in meiner Hand.

Louise. Hier ist die meinige: den Kuß, der unsern Bund versiegeln soll, gebe ich Ihnen, wenn Olivier Zeuge davon seyn kann.

Er kann es, sprach Olivier, der in diesem Augenblicke in die Laube trat, er kam, um Euere Hände zu vereinigen; sie sind es schon, nur das Siegel des Kusses fehlt noch. Mit himmlische; 82 Lächeln blickte Louise ihn an: Verdmont, der noch immer ihre Hand hielt, die er bei Oliviers Erscheinung eben an seine Lippen drückte, richtete erröthend sich auf. Olivier schlang seinen Arm um Louisen, und rückte sie näher gegen Verdmont. So geben Sie ihm denn, sprach er, den Kuß, der ihren Bund versiegeln soll. Louise küßte Verdmonts glühende Wange, und drehete sich dann schnell gegen Olivier. Ich habe Ihnen auch noch etwas zu geben, sagte sie, mit der Stimme der innigsten Liebe. Meine Hand haben Sie schon, daß Sie auch mein Herz hatten, wußten Sie nicht, und erst seit gestern weiß ich, daß ich das Ihrige besitze. Was ich Ihnen noch zu geben habe, ist dieses. Mit reizender Eilfertigkeit zog sie den Schlüssel, der bisher ihre beiden Zimmer trennte, hervor, und legte ihn in seine Hand.

Stumm entzückt wie Pigmalion, als er das Bild seiner Elise beseelet, als er ihren Marmorbusen emporwallen und aus ihrem sich färbenden Auge den ersten Blick der Liebe strahlen sah, stand Olivier vor der in hoher Freude hinschmelzenden Louise. Sie warf sich ihm in die Arme: sie drückte ihn an ihre Brust. Vergieb mir, sprach sie, mein Geliebter, vergieb mir den glücklichen Vorwitz, der mir den Grund deines 83 allzuschüchternen Herzens aufschloß. Ich überraschte dich gestern über einem Briefe: du vergassest deinen Pult zu verschliessen, es war, als ob eine höhere Macht mich zwänge, ihn zu lesen. Von nun an wird keines deiner Geheimnisse meine Neugier mehr reizen.

Oliv. (indem er ihre Hand auf seine Lippen preßte.) Weil ich keines mehr für meine Louise haben werde. O Gott! ist es möglich? Louise meine Gattin.

Louise. Und Verdmont unser Freund; er ist deiner und meiner würdig: dieses erklärte ich ihm, als du in die Laube tratest.

Olivier umschlang beide, und Verdmont schlürfte mit langen Zügen die köstliche Wahrheit, daß auch in den Entbehrungen Wonnegenuß für die Tugend liegt.

Louise. Diese Laube sey hinfort der Freundschaft geheiligt. An die Stelle dieses Tisches soll mein Olivier ihr einen Altar mit unsern in einander geschlungenen Namens-Zügen setzen, und so oft wir ihn besuchen, wollen wir das Andenken dieser schönen Stunde feyern.

Noch lange weilten sie in der heiligen Laube: die Schuzgeister der Freundschaft und der Liebe fächelten mit ihren Rosenflügeln ihre Seligkeiten in ihre Herzen. Als Louise auf ihr Zimmer zurückkehrte, heftete sie ihren Blick auf das Bild 84 ihres Vaters, als wollte sie ihn um seinen Segen bitten. Auf einmal fühlte sie jenen unnennbaren, sanftschaudernden Anhauch, womit die Vollendeten uns liebkosen, und der für ihre Vertrauten eben so wenig Täuschung ist, als die elektrische Berührung, die dem begeisterten Barden die Gegenwart seines Genius ankündigt. Heil dir, du hast recht gethan, so übersezte Louise das geheime Orakel, und eine himmlische Thräne glänzte in ihrem Auge.

Ihr zweites Hochzeitmahl war eben so still, aber unaussprechlich froher als das erste. Das glückliche Paar war mehr mit Verdmont als mit sich selber beschäftigt, und Verdmont war so glücklich als sie. O Tugend, Tugend! nur Gott ist allmächtiger als du; durch dich wird dem Sterblichen kein Sieg zu schwer: du verwandelst das Glück unsers Freundes in unser eigenes, so wie du selbst die sinnlichen Freuden umschaffst, und deinen Geweihten da ein Paradies aufschliessest, wo der Profane blos einen Tummelplaz seiner Lüste findet. Dieses fühlte Olivier, als er an Louisens Hand in die Brautkammer trat: dieses fühlte Louise, als er wonnezitternd sie umfaßte, und ihr Youngs schöne Worte zuflüsterte: Gieb mir die Welt, und frage mich, wo meine 85 Seligkeit sey? ich drücke dich an mein Herz, und antworte, in meinen Armen.

Des andern Tages verreiste Verdmont besser und froher, als er gekommen war. Er mußte zwar einen reichen Schaz zurücklassen: allein er trug einen reichern mit sich fort. Es ward ihm schwer, sich aus den Armen seiner Freunde loszuwinden. Ihre Segnungen begleiteten ihn, ihre Bilder schwebten um ihn her, und hielten ihm wechselsweis den Preis vor, den er sich errungen hatte. Olivier und Louise begannen izt ein neues Daseyn: die Sonne gieng ihnen prächtiger auf, und die Sterne flimmerten ihnen heller am Gewölbe des Himmels. Der schüchterne Zwang verschwand aus ihrem Umgange; Louisens vorige Munterkeit kehrte nach und nach zurück, und verbreitete über alle ihre Geschäfte ein neues Leben. In einem flachsgrauen Kleide, und mit einem Strohhute bedeckt, sah man die reizende Bäuerin die Wiesen besuchen, und mit einer leichten Heugabel das gedörrte Alpengras auf Schober werfen. Als die Erndte eintrat brachte sie den schmachtenden Arbeitern den Labetrunk auf den Acker, oder sie versuchte es wohl selbst, die Sichel anzulegen, und wenn die jungen Schnitterinnen in der Feierstunde ihre Erndtelieder anstimmten, sang sie 86 ihnen dagegen eine rührende Romanze, die beides ihr Ohr bezauberte, und ihre Herzen schmelzte.

Unterdessen bereitete sich in der Hauptstadt die sogenannte Revolution vom 9ten Thermidor. Die Tyrannen hatten allmählich ihre furchtbarsten Gehülfen auf das Schaffot geliefert, nun kannte ihre Mordsucht keine Grenzen mehr, weil ihre Macht keine Grenzen mehr kannte. Sie richteten ihre Donnerkeile gegen den Konvent, und die Rache, welche die Gerechtigkeit nicht aufwecken konnte, ward endlich durch den Schrecken aufgeweckt. Die Neronen fielen, die Blutgerichte wurden geschlossen, die Kerker geöffnet. Eine halbe Million unschuldiger Schlachtopfer des Neides, der Habsucht, der religiosen und politischen Intoleranz kehrte in ihre verödeten Wohnungen zurück, und der friedliche Bürger fieng wieder an, frei zu athmen. Olivier und Louise feierten in der Stille diesen Sieg der gekränkten Menschheit; sie fiengen an, ihr Obst einzusammeln, und sich auf die Weinlese zu rüsten, als sie von ihrem Freunde Verdmont, der ihnen seit seiner Abreise erst einmal geschrieben hatte, folgenden Brief erhielten:

»Eine Reise nach Paris, meine einzigen Freunde, hat mein langes Stillschweigen veranlaßt, und der Erfolg dieser Reise wird es bei Euch rechtfertigen. Nur Euch theile ich die Freude mit, die 87 mein Herz erfüllt, weil nur Eure Herzen sie mir nachempfinden können. Vor einem Monat schickte mich mein Vater auf eines unsrer Güter im Jura, um die Pacht zu erneuern. Eines Tages meldete man mir einen fremden Bauer an, der mich zu sprechen verlangte. Es war ein ansehnlicher Greis, dessen Silberhaare und ernsthafte Miene Ehrfurcht erweckten. Ich fragte ihn um sein Begehren, er sah sich unruhig in meinem Cabinet um, und als ich ihn versicherte, daß wir allein wären, sprach er: »Können Sie mir auf meine Meierei folgen, die dort über dem Berge in einem Walde liegt, so soll Ihre Mühe Sie nicht gereuen. Dringen Sie mit keinen Fragen in mich, ich darf Ihnen mehr nicht sagen.« Ich bin von Natur nicht argwöhnisch: die offene Stirne und der unbefangene Ton des Alten flösten mir Vertrauen ein, ich folgte ihm. Nach einer beschwerlichen Wanderung über Hügel und Felsen erreichten wir den Wald, an dessen Ausgang eine grün umzäunte geraume Strohhütte lag, um welche eine kleine Heerde von Kühen und Lämmern weidete. Der Greis führte mich in die Hütte, öffnete mir eine Kammer, und hieß mich hineingehen. Sie war dunkel, denn das enge papierne Fenster ließ nur ein schwaches Licht hineinfallen. In einer Ecke stand ein Bett, an dem ein junges Bauermädchen saß, das dem darin 88 liegenden Kranken die Fliegen wehrte. Kommen Sie, mein Herr, setzen Sie sich, sagte das Mädchen, mit sanfter, traurender Stimme, indem es mir seinen Stuhl anbot. Ich sezte mich, und die junge Wärterin blieb unten am Bette stehen. Der Kranke reichte mir die Hand. Unmöglich, mein lieber Verdmont, sagte er mit gebrochnen Worten, werden Sie unter den Zügen des Todes, und in dieser armseligen Gestalt den Freund Ihres Vaters, den Grafen von L** erkennen. Meine ganze Seele ward erschüttert, ich warf mich über den Kranken hin, küßte seine eingefallnen Wangen, und benezte sie mit meinen Thränen. Großer Gott! rief ich, finde ich Sie hier! es hieß überall, Sie wären ausgewandert. Dieses Gerücht, antwortete er, ließ ich selbst verbreiten, um mich desto sicherer vor den Trabanten des wüthenden Proconsuls zu verbergen, der unter dem abgenüzten Vorwand einer geheimen Conspiration einen Verhaftsbefehl gegen mich erlassen hatte. Der redliche Greis, der mich nach einem dreitägigen Herumirren in diesen waldigen Gebürgen unter sein Dach aufnahm, war vor vielen Jahren mein Stallknecht. Meiner Verkleidung ungeachtet erkannte er mich, als ein glücklicher Zufall, oder besser zu sagen, die unsichtbare Hand der Vorsicht mich bei dunkler Nacht vor seine Thüre leitete, wo ich ihn 89 um ein Strohlager ansprach. Mit Gefahr seines Lebens hat er mich fünf Monate beherbergt, und sein Gerstenbrod und seine Milch mit mir getheilt. Der Kummer, der schon lange an meinem Herzen nagte, warf mich auf das Siechbette, eben da die Nachricht von dem Sturze des Triumvirats mir einen schwachen Strahl von Hoffnung aufgehen ließ. Meine Güter sind noch nicht verkauft, und mein blutgieriger Verfolger liegt nun selbst in den Banden. Gestern, mein lieber Verdmont, erfuhr ich durch meinen Wirth Ihre Ankunft in dieser Gegend. Ich dachte, der Wunsch eines Sterbenden werde Ihnen heilig seyn, und beschloß, diesen Wunsch in Ihr Herz niederzulegen. Meine Tochter hat mit wahrem Heldenmuthe meine Gefahren und meine Leiden getheilt: sie steht hier vor Ihnen . . . Ich raffte mich von meinem Stuhle auf, um Eugenien zu bewillkommen. Ihre gemeine Kleidung und die Dunkelheit des Zimmers hatten sie mir eben so unkenntlich gemacht, als ihren Vater. Ueber dieses hatte ich sie ehedem selten, und seit dem Kriege gar nicht gesehen. Eine sanfte Röthe überzog ihr blasses Gesicht; ein tiefer Seufzer erstickte ihre Sprache. Sie neigte sich mit bescheidenem Anstande, und als ich sie beim Arme ergriff, um ihr meinen Stuhl, den einzigen, der in der Kammer stand, abzutreten, ließ sie eine große, 90 heisse Thräne auf meine Hand fallen. Auf meine Hand? Nein, meine Freunde, die Thräne fiel auf mein Herz. Eugenie im Glanze ihrer Geburt und ihres Wohlstandes konnte mich nicht rühren? Ihre stolze Miene, ihr eitles Wesen, die Gnade, die sie mir durch einen Blick des Wohlwollens zu erweisen glaubte, und mehr als alles dieses, das Bild unsrer Louise, warum sollte ich es jezt verhehlen? ja das Bild unsrer Louise versperrte ihr jeden Zugang meines Herzens. Wie ganz anders erschien mir jezt Eugenie als Bäurin! In den Trauerschleier des Unglücks gehüllt, mit einer Thräne in ihrem matten Auge, und am Sterbebette eines Vaters, der sie seinen Trost und seine Stütze nannte. Selbst ihr jetziger Anzug machte sie derjenigen Person ähnlicher, unter deren Bilde ich mir das höchste Ideal weiblicher Liebenswürdigkeit zu mahlen gewohnt war. Es vergieng mehr als eine Minute, ehe ich mich aus meiner Verwirrung erholen konnte. Ich schwieg; allein meine Hand, welche die Hand des Grafen während dieser ganzen Pause fest an meine Brust drückte, erlaubte ihm nicht, mein Stillschweigen zu mißdeuten. Endlich bekam ich die Sprache wieder: reden Sie, befehlen Sie, mein Herr, was kann ich für Sie thun? kann ich Ihre Ruhe mit meinem Blute erkaufen? Mit Blut? antwortete 91 er; nein, guter, junger Mann, damit erkauft sich keine Ruhe. Ich wünschte, daß Sie nach Paris reisten, daß Sie mein Fürsprecher bei dem Heils-Ausschusse würden. Dieses Memorial und der verabscheute Name meines Verfolgers wären hinreichend, meine Unschuld zu beweisen. Allein ich bin überzeugt, daß die Munizipalität meines Stammorts, die nun der Schrecken nicht mehr zurückhält, meinen Richtern mein unsträfliches Betragen durch die feierlichsten Zeugnisse beglaubigen werde. Wohlan, erwiederte ich, geben Sie mir Ihre Papiere, ich bin reisefertig. Zuvor aber erlauben Sie mir, nach Hause zu eilen, und Sie mit einigen Erfrischungen zu versehen. Ah, mein Herr, sagte nun Eugenie im Tone der frohesten Rührung, ich werde Ihnen das Leben meines Vaters verdanken. Es fehlte dem Grafen nicht an Gelde, allein die nächste Stadt liegt 5 Meilen von der Meierei, und ohne sich verdächtig zu machen, hätte der gute Bauer die Bedürfnisse nicht einkaufen können, die des Grafen Krankheit erforderte, welche mehr eine Entkräftung als ein eigentliches Zehrfieber war. Ich kehrte also in Begleitung des alten Anton nach meinem Landhause zurück, und füllte ihm seinen Kober mit einigen Flaschen spanischen Wein, einigen Tafeln Chokolade, einem Säkchen mit feinem Mehl und andern ähnlichen 92 Nahrungsmitteln. Zu gleicher Zeit gab ich unserm Verwalter, auf dessen Treue ich mich verlassen konnte, Befehl, dem Greise alles abzuliefern, was er in meiner Abwesenheit von ihm begehren würde. Hierauf stiegen wir wieder nach der Meierei, wo wir erst bei einbrechender Nacht anlangten. Eugenie flog mir an die Kammerthür entgegen, und der Alte sezte den Proviantkorb vor sie hin. Ihr Gesicht glänzte vor Freude, als sie ihn auspackte; allein in jedem Zuge konnte ich lesen, daß diese Freude blos ihrem Vater galt. Sie hätten dieses herrliche Nachtstück sehen sollen, theure Louise, es war Ihres Pinsels würdig. Auf dem Tische stand eine matte Lampe, die aber doch mehr Licht als der Tag selbst durch die Kammer verbreitete. Eugenie, deren reizende Physiognomie ich nun erst entdekte, und deren Nymphenwuchs das Bauerwämschen nicht verbergen konnte, sezte mit stillem Lächeln ein Stück nach dem andern auf den Tisch, und so oft sie eines aus dem Kober langte, begegnete mir ihr Auge mit einem heitern seelenvollen Blicke. Ich hatte die Vorsicht gebraucht, einiges Tischgeräthe beizupacken, und verschaffte mir nun die Freude, dem Grafen ein Gläschen Malaga mit einem Zwieback zu reichen. Eugenie verlangte, daß ich ihm Bescheid thun sollte. Ich trinke sonst keinen Wein, sagte sie; allein auf 93 meines Vaters und seines Wohlthäters Gesundheit trinke ich mit. Es that mir wohl, daß sie ihren Vater zuerst nannte, und als er nach einer Viertelstunde sich würklich gestärkt fühlte, als sein Auge heller, und seine Sprache lebhafter wurde, sah ich das liebe Mädchen zu gleicher Zeit weinen und lächeln, und sich im Taumel ihrer Freude vor dem Bette niederwerfen, und die Hand des ehrwürdigen Greises bald mit ihrem Munde, bald mit ihren Wangen bedecken. Dieser Augenblick, meine Freunde, hob den Vorhang meines Geschickes auf; ich fühlte nun, daß die Liebe mich eben so glücklich machen könne, als ich es durch die Freundschaft bin, und dieses Gefühl, Ihr kennet es, meine Feder soll es nicht verstümmeln.

Ich schickte mich zu meinem Rückzug an; allein weder der Vater noch die Tochter wollten zugeben, daß ich den beschwerlichen Weg zum viertenmale machte. Anton ward gerufen. Könntet Ihr dem Herrn kein Nachtlager geben? fragte Eugenie ihn so dringend, so freundlich, daß der gute Alte, der kein Bette hatte, sich nicht zu helfen wußte. Ich zog ihn aus seiner Verlegenheit: weiset mir ein Pläzchen auf Euerm Heuboden an; die Nächte sind noch warm, ich werde immer besser liegen, als im Felde. Eugenie sah mich mitleidig an; ihr Vater aber reichte mir die Hand, und sagte: 94 ich werde weniger leiden, Sie auf dem Heuboden als auf der Strasse zu wissen. Eugenie entfernte sich; sie bereitete eine kleine Mahlzeit von Milch und Eyern, und in einer halben Stunde sezten wir uns neben dem Bette des Kranken zu Tische. Seitdem ich von Euch getrennt bin, meine Theuersten, habe ich kein so herrliches Mahl gehalten. Es war mir unaussprechlich wohl. In diesem Zustande mußte ich nothwendig nach St. Julien zurückdenken. Ich erinnerte mich an unser Abschiedsmahl, das Herz ward mir voll, zum Glücke gab Eugenie mir Gelegenheit, es auszuleeren. Sie fragte mich, wie lange ich von der Armee zurück sey? Und ich! o mit welcher Wonne erwähnte ich des Besuches, den ich auf meiner Rückreise bei Euch machte. Eugenie hörte mir aufmerksam zu: laß sehen, dachte ich, ob ihr Herz eben so groß als zärtlich ist. Ich sagte ihr von Louisen und Olivier alles, was ich sagen durfte; es war mehr als genug, eine schöne Seele zu elektrisiren. Ich sah ihr Angesicht glühen, sah ihr Halstuch sich heben. Schön, edel! sagte sie, Sie sind glücklich, mein Herr, solche Freunde zu haben. Ich hoffe, liebes Mädchen, sie sollen auch die deinigen werden, erwiederte ich bei mir selbst, und wenn Ihr dieses leset, so wird meine Hoffnung erfüllt seyn. Selbst der Kranke hörte mir mit Vergnügen zu. 95 Olivier ist Louisens würdig, sprach er beim Schlusse meiner Erzählung, er hat sich selber geadelt.

Die Ermüdung des Tages und die lieblichen Bilder, die mich auf mein Lager begleiteten, verschafften mir einen langen herrlichen Schlaf. Auch der Patient ruhete besser, als seit langer Zeit. Dieses war das erste, was Eugenie mir zurief, als sie mich auf dem Rasenplatze vor der Hütte, wo ich in der Morgensonne spazieren gieng, aufsuchte, um mich zum Frühstück abzuholen. Erst, als sie mich erreichte, bot sie mir ihren Morgengruß, und nun hatte ich Gelegenheit, sie bei einem hellern Lichte, als bei einer Nachtlampe zu betrachten. Ich fand mit Entzücken, daß sie in den drei Jahren, seit ich sie aus dem Gesichte verlohr, eben so sehr an äusserm als an innerm Reize gewonnen hatte. Kurz, Louise, ich sah nun zum zweitenmale, daß die Widerwärtigkeit, indem sie ein edles Herz verschönert, einer edlen Gestalt eine unnennbare sanftrührende Majestät aufprägt, deren Ideal man nicht im Olymp, sondern hierunten im Heiligthum der leidenden Unschuld suchen muß. Mein Abschied vom Grafen gieng mir durchs Herz. Reisen Sie glücklich, sprach er, und wenn Sie mich bei Ihrer Rückkunft nicht mehr antreffen, so denken Sie, daß ich meinen lezten Segen zwischen meiner Tochter und Ihnen getheilt habe. 96 Eugenie weinte und wartete nicht, bis ich nach ihrer Hand langte, um sie zu küssen. Sie legte sie in die meinige, und bevollmächtigte mich dadurch, ihr das erste Siegel meiner Liebe aufzudrücken.

Es wird Euch, meine Freunde, wenig an der Beschreibung meiner Reise gelegen seyn; Ihr wollet den Erfolg davon wissen. Er war glücklich: meine mitgenommenen Papiere, und das Zeugniß, das ich selbst bei der Munizipalität zu L* abgelangt hatte, liessen mich bei der Gerechtigkeit des neuen Comite wenig Schwierigkeiten finden, zumal da keine bestimmte Anklage gegen den Grafen vorhanden war, und sein Verfolger von allen Seiten her der grausamsten Gewaltthätigkeiten überführt wurde. Auf den Flügeln der Liebe eilte ich mit der Urkunde meines Sieges von Paris weg. Jezt hielt ich für nöthig, einen Umweg von zwanzig Meilen zu machen, um meinem Vater von dem Gegenstande und dem Erfolge meiner Reise Nachricht zu geben. Er hielt seinen Freund und Eugenien für verlohren; urtheilet von der Freude, die meine Erzählung ihm verursachte. Du weist, mein Sohn, sagte er zu mir, daß Eugenie dir bestimmt war; sie hat nun zwar über die Hälfte ihres väterlichen Erbes verlohren. Oh, mein Vater! unterbrach ich ihn, wenn sie auch noch die andere Hälfte davon verlohren hätte, so würde mir 97 ihre Hand dennoch ein unschäzbares Gut seyn. Diese Gesinnungen freuen mich, mein Sohn; durch die Verminderung unserer Bedürfnisse können wir unsern verlohrnen Ueberfluß entbehren lernen. Es kostete mich manchen Kampf, bis ich diese Wahrheit erkannte; in meinem Alter geht man nicht mehr gern in die Schule, zumal in die Schule des Unglücks. Allein mit dem Titel unsrer Ahnen soll man uns nicht auch ihren Heldenmuth entrissen haben. Ich will dir einen Brief an meinen alten Freund mitgeben, und darin die Wünsche deines Herzens unterstützen.

Mit Entzücken empfieng ich den Brief von seiner Hand, und sezte meine Reise, ohne bei ihm zu übernachten, mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit fort. Ich hielt für nöthig, auf meinem Gute abzutreten, und vor allen Dingen von der Gesundheit des Grafen Bericht einzuziehen. Zweimal hatte der ehrliche Anton während meiner Abwesenheit einige Bedürfnisse abgeholt, und bei seinem lezten Besuche meinen Verwalter versichert, daß es sich mit dem alten Herrn alle Tage bessere. Es wäre mir viel zu langweilig gewesen, den Weg nach der Meierei zu Fusse zu machen. In vollem Galop jagte ich soweit, als es der steile Schleifweg erlaubte, und ließ sodann durch den Reitknecht, der mich begleitete, mein Pferd 98 zurückführen. In einer halben Stunde stand ich mit klopfendem Herzen vor dem Zaune, der die Hütte statt einer Hofmauer umschloß. Um dem Kranken keine schädliche Ueberraschung zu verursachen, hielt ich für nöthig, zuerst Eugenien zu sprechen. Ob die Vorsichtigkeit allein mir diese Maasregel eingab, möget Ihr selbst urtheilen. Anton befand sich gerade außer dem Zaune, und melkte seine Kühe. Als er mich erblickte, wollte er sogleich in die Hütte laufen; mein Wink hielt ihn zurück. Rufet mir Eugenien heraus, guter Alter, doch so, daß ihr Vater nichts merke, wie befindet er sich? – O sehr gut, mein lieber Herr, seit vier Tagen kann er außer dem Bette seyn, und auf seine Tochter gestüzt in der Kammer umhergehen. Seitdem Sie hier waren, ist alles anders: ich sehe keine Thränen und höre keine Seufzer mehr; Gott lohne es Ihnen, mein lieber Herr! – Anton gieng hinein; der Graf schlummerte auf seinem Bette, und in einer Minute stürzte Eugenie zur Hütte heraus. Sie öffnete den Mund, und konnte nicht sprechen, ihre Beine wankten, ich mußte sie in meine Arme fassen &c. Ermannen Sie sich, mein Fräulein, sagte ich, indem ich ihr die Hand küßte, ich bin kein Unglücksbote. Sie war einer Ohnmacht nahe: diese Worte riefen ihre Lebensgeister zurück; sie raffte sich zusammen, ein 99 röthender Bliz färbte ihre Wangen. Gott, was sagen Sie! oh mein Vater! Sie ergriff mich beim Arme: oh kommen Sie, kommen Sie! doch nein, ich will vorangehen, und ihm Ihre Ankunft melden. In einigen Augenblicken kam sie zurück: er ist erwacht, kommen Sie, Bote des Friedens, er erwartet Sie mit offenen Armen. Sie ergriff mich bei der Hand, und wir flogen in das Zimmer. Ists möglich, sprach er, indem er mich umarmte, hat meine Tochter recht gehört? was bringen Sie mir für ein Urtheil? Ein gerechtes, antwortete ich: Ihre Unschuld hat gesiegt, hier ist der Spruch, der Ihren Verhaft aufhebt. Gott sey gelobt! sagte er, meine Eugenie ist gerettet, nun bin ich bereit zu sterben. Leben Sie, leben Sie, bester Vater! rief Eugenie, indem sie ihm um den Hals fiel, und ihre Wange an die seinige schmiegte. Die Erschütterung war zu heftig für ihn: er mußte sich auf sein Bette niedersetzen. Zitternd sezte Eugenie sich neben ihn, und hielt ihn mit ihrem Rosenarme umschlungen. Er erholte sich bald wieder, und faßte mich bei der Hand: und Sie, mein Retter, wie viel haben Sie für mich gethan!

Ich. Was dieser Engel gethan haben würde, wenn er ihr Bette hätte verlassen können. Sie 100 warf mir einen freundlichen, seelenvollen Blick zu, der mir sagte, du redest die Wahrheit.

Er. Lieber Verdmont, ich bin nicht im Stande, Sie zu belohnen.

Ich. Wenn ich eine Belohnung verdiente, so kenne ich eine, die Sie zu meinem grösten Wohlthäter machen würde. Ich sah Eugenien an, sie erröthete, und schloß sich fester an die Seite des horchenden Greises. Erlauben Sie mir, fuhr ich fort, meinen Vater statt meiner reden zu lassen. Ihrem alten Freunde werden Sie seine Kühnheit eher vergeben. Ich überreichte ihm den Brief, und wollte mich entfernen. Bleiben Sie, bleiben Sie, sagte er, wie glücklich wäre ich, wenn ich seinen Inhalt errathen hätte! Er las den Brief für sich, und übergab ihn sodann seiner Tochter, mit einer Miene, aus welcher die zärtlichste Freude hervorschimmerte. Eugenie las; der Brief zitterte in ihrer Hand, die schönste Verwirrung der jungfräulichen Schaam sprach aus ihren Zügen; allein kein Wölkchen trübte ihre Stirne. Mein Herz klopfte, alle seine Fibern waren in der süssesten Spannung. Jezt gab sie das Blatt dem Vater zurük, und verbarg ihr Gesicht in seinem Busen. Er küßte sie auf seine Stirne, und zog mich neben sie auf das Bette. Ohne ein Wort zu sprechen, legte er meine Hand in Eugeniens 101 Hand, und drückte sie dann vereint an seine Brust: so feierlich hat noch kein Priester den ewigen Bund zweier Herzen eingesegnet. Ehrfurchtsvoll neigte ich meinen Mund auf seine und Eugeniens Rechte, und küßte sie wechselsweis mit einem heißen, zärtlichen Andachtsgefühl (anders weiß ichs nicht zu nennen) und benezte sie, ohne das heilige Stillschweigen zu unterbrechen, mit meinen Wonnethränen. Vater und Tochter verstanden mich, und Ihr, Vertraute meines Herzens, auch Ihr werdet mich verstehen. Eugenie preßte meine Hand zwischen die ihrige, und ihr Vater gab mir zum erstenmale den Namen seines Sohnes. Schon lange, sprach er, war dieser Name Ihnen zugedacht; die schrecklichen Catastrophen unsers Vaterlandes schienen meinen Plan zu vereiteln, ich verlohr Sie aus den Augen, nicht aber aus meinem Herzen, sonst würde ich Sie nicht zu meinem Retter auserwählt haben. Die Unterredungen, die ich während Ihrer Abwesenheit mit meiner Tochter hielt, sind Ihnen und mir Bürge, daß sie Ihnen nicht aus blossem Gehorsam ihre Hand reicht. Nein, lieber Verdmont, auch nicht aus blosser Erkenntlichkeit, sagte das holde Mädchen, und bot mir ihre Wange dar. Fragen Sie Ihren Olivier, theure Louise, was für ein Himmel im ersten Kusse der tugendhaften Liebe 102 liegt. Ehedem, fuhr sie fort, und noch, als ich Sie zum leztenmale sah, kannte ich weder die Liebe noch den Liebhaber, den mein Vater mir bestimmte. Mein Herz war müssig, und, warum sollte ich es nicht gestehen? es war noch unfähig, Sie zu schätzen. Das Unglück hat es gereift, und ich glaube, Ihnen ohne Stolz sagen zu können, daß es nun Ihrer würdig ist. Sie konnten mir, theure Eugenie, nicht besser zu fühlen geben, wie viel mir noch übrig bleibt, um Ihrer würdig zu seyn. Das war kein Compliment, meine Freunde, es war das innigste Bekenntniß meiner Seele. Ach, Louise, nicht wahr, meine Braut ist Ihnen verwandt? nicht wahr, sie verdienet in unsern Bund aufgenommen zu werden? Was soll ich Ihnen noch sagen? nur das, was Sie nicht errathen können. Seit vorgestern befindet sich der Graf mit seiner Tochter unter meinem Dache; in wenig Tagen werden wir zu meinem Vater abreisen, und bei ihm unsre Verbindung feiern. Dann folgen wir dem Grafen auf seine Güter, und wenn der Mai wiederkömmt, werde ich mit Eugenien das Jahrgedächtniß meiner Wallfahrt nach St. Julien im Schoose der Freundschaft begehen u. s. w.«

Dieser Brief verursachte bei Oliviern und Louisen eine unaussprechliche Freude. Die Glükseligkeit ihres Freundes war eine neue herrliche 103 Blume, womit der Himmel ihr eigenes Paradies ausschmückte. Sie antworteten ihm gemeinschaftlich, und Verdmont erhielt ihre Antwort am Tage nach seiner Vermählung. Er las sie seiner Geliebten vor: sie küßte die Unterschrift des edlen Weibes, und sagte zu ihrem Gatten: wie konntest du mit dem Bilde einer solchen Freundin im Herzen für eine Eugenie Plaz darin finden? Weil, antwortete er, mein Herz mir Eugenien für Louisens Zwillingsschwester erklärte. Die will ich werden, erwiederte sie, und, um mein Muster nie aus den Augen zu verlieren, werde ich heute noch an sie schreiben, und sie um ihr Bildniß bitten. Seit dem Empfange dieser frohen Nachricht gieng Olivier oft nachdenkend im Zimmer umher; Louise bemerkte es, da aber seine Stirne heiter war, und oft ein freudiges Lächeln auf seinen Lippen schwebte, so wollte sie nicht nach dem Inhalte dieses geheimen Selbstgespräches fragen. Endlich trat er raschen Schrittes vor sie hin, schüttelte freundlich ihre Hand, und sagte: Louise, morgen verreise ich.

Louise. Du? und wohin?

Oliv. Zur Nordarmee, und von dort nach Paris.

Louise. Träumest du?

Oliv. Jezt noch, ich hoffe aber mein Traum werde in Erfüllung gehen. 104

Louise. Darf ich ihn wissen?

Oliv. Auf diese Frage sollte ich mit Nein antworten; doch ich hoffe, sie war Scherz.

Louise. Nun dann, Scherz bei Seite.

Oliv. Was Verdmont für den Vater seiner Eugenie that, will ich für den Bruder meiner Louise versuchen. Louise flog ihm in die Arme. Lange hieng sie sprachlos an seinem Halse, doch schnell schien sie aus ihrer Entzückung zu erwachen. Ah, mein Bester, sagte sie, Eugeniens Vater war nicht ausgewandert, aber mein Bruder mußte über die Grenze fliehen. Ganz recht, versezte Olivier, er mußte fliehen; diese gezwungene Flucht soll, denke ich, ihn zu uns zurückführen. Ich erfuhr vor einigen Tagen von einem Offizier seines Regiments, den ich in der Stadt antraf, daß der Feldwebel, der, um seine Stelle zu erhaschen, sich gegen ihn auflehnte, seit kurzem als ein Aufwiegler arquebusirt worden sey. Das ganze Regiment beklagt deinen Bruder, und ich hoffe, seine braven Cameraden sollen mich mit Zeugnissen versehen, durch die ich in Paris meine Absicht erreichen werde. Louise antwortete ihm mit einem Lächeln, wodurch sie einen Seufzer zu verbergen suchte. Die tausendfachen Greuel der Schreckens-Regierung hatten ihr Herz für jeden Strahl der Hoffnung verschlossen. Doch Oliviers Vorsaz war zu schön, als daß sie ihn hätte 105 bestreiten sollen. Sie packte selbst ihm sein Reisegeräthe zusammen, und entließ ihn mit einer segnenden Thräne aus ihren Armen.

Seine Reise war glücklich, und der Erfolg derselben krönte seine Wünsche. Mit den vortheilhaftesten Zeugnissen vom Obristen und den ehemaligen Cameraden seines Schwagers versehen, eilte er nach Paris. Das Empfehlungsschreiben, das er in Grenoble an einen verdienstvollen Deputirten seines Departements erhalten hatte, verschaffte ihm eine Unterstützung, die seine Schritte erleichterte, und den Ausgang seiner Unterhandlungen beschleunigte. Theodor wurde von der Emigrantenliste ausgestrichen, und als ein Kriegsgefangener angesehen, dessen Auswechselung der eben damals mit Preussen geschlossene Friede begünstigte. Olivier gab seiner Louise Nachricht von dieser frohen Neuigkeit; er verbarg ihr aber den Entschluß, den er gefaßt hatte, sie ihrem Bruder selber anzukündigen, und meldete ihr vielmehr, daß seine Abreise von Paris sich wohl noch vierzehn Tage verzögern möchte. Er hinterließ bei seinem Wirthe einen Brief, den er nach Verfliessung dieser Frist auf die Post legen sollte, und wodurch er Louisen seine endliche Abfertigung anzeigte.

Indessen reiste er nach Genf; ein Paß des Heils-Ausschusses öffnete ihm den Weg dahin, 106 und seine dortigen Freunde, die schon lange auch Theodors Freunde waren, fertigten einen Boten mit einem Briefe an ihn ab, wodurch sie ihn zu sich beriefen, ohne ihm den eigentlichen Beweggrund dieses Rufes zu eröffnen. Theodor erschien, und weinte, in den Armen seines neuen Bruders, die ersten Freudenthränen, die er seit seinem Exil vergossen hatte. Verdmont hatte ihn von seiner Verbindung mit Louisen benachrichtigt. Keinen Umstand, selbst die edle Art hatte er nicht vergessen, womit er ihm durch seine Hand eine Unterstützung zufliessen ließ. Er wollte ihm ein Wort des Dankes stammeln. Olivier unterbrach ihn, indem er ihm das Dokument seiner Zurückberufung in die Hand legte. Bruder, Bruder! war alles, was er Herz an Herz dazu sagen konnte. Nach einigen Minuten trübte sich seine Stirne: ein tiefer Seufzer begleitete den wehmüthigen Blick, womit er Oliviern anstarrte. Nun was giebt es? sagte dieser. Unschäzbar ist deine Wohlthat, erwiederte er, allein ich kann, ich darf sie nicht annehmen. Und warum nicht? Meines väterlichen Erbes beraubt, vom Dienste meines Vaterlandes ausgeschlossen, würde ich dir zur Last fallen müssen, dir, du Edelster unter den Menschen, der du schon meiner Schwester . . . .

Oliv. Du nennest mich Bruder, und erlaubst 107 dir diese Einwendung? Ah, mein Theodor, nur die Fürbitte Louisens wird mich bewegen, dir diese Beleidigung zu vergeben. Hast du vergessen, daß das Gut, das uns ernähret, ein Geschenk deines Vaters, hast du vergessen, daß Louise deine Schwester ist? Wir sind Brüder, und Brüder haben nur Ein Vermögen. Du wirst mir helfen, meine Aecker bestellen, meine Saaten einernten, und den Segen geniessen, der mit Louisen in meiner Hütte einkehrte. Kannst du das nicht, mein Theodor, so sagst du eine Lüge, wenn du mich Bruder nennest.

Theod. Ich kann es, beim großen Gott! ich kann es; hier ist meine Bruderhand.

Oliv. Nun erst besitze ich dich so ganz, wie du mich besitzest. Ah Louise, was für eine neue Quelle von Seligkeit ist uns heute entsprungen!

Am Abend des dritten Tages langten die beiden Brüder zu St. Julien an. Louise war eben mit Lesung des Briefes beschäftigt, der ihr die nahe Rückkehr ihres Geliebten ankündigte. Olivier schlich sich mit Theodorn durch den Baumgarten ins Haus, und ließ ihn vor Louisens Zimmer zurück. Babet allein hatte die Reisenden erblickt, und wollte die frohe Botschaft Louisen anzeigen; Olivier kam noch zeitig genug herbeigesprungen, um sie in ihrem Flug 108 aufzuhalten &c. Sage ihr blos, flüsterte er ihr zu, daß du mich ankommen siehst. Er kömmt, er kömmt! rief sie, indem sie ins Zimmer stürmte. Louise sprang von ihrem Stuhl auf; allein ehe sie die Thür erreichte, lag Olivier an ihrem Busen. So fliessen an den Gestaden der Oberwelt zwei Seelen zusammen, die Liebe und Tugend wieder vereinigt. Die Wonnetrunkenen konnten nicht sprechen, nicht denken und auch sonst nichts fühlen als die Identität ihres Ichs. Ach der gute Theodor, rief Louise nach dieser entzückungsvollen Pause, mag ers wohl schon wissen?

Oliv. Er weiß es und muß wirklich unter Weges seyn.

Louise. O Gott! wann meynst Du, Lieber, daß er ankommen könne?

Oliv. Uebermorgen, morgen, vielleicht heute noch.

Louise. Heute noch? ach so ist er schon hier.

Getroffen, rief Theodor, indem er sachte die Thür öffnete, darf er herein? Der Zwang, den er durch diese allmählige Erscheinung dem Drange seines Herzens auflegte, war Wohlthat für Louisen. Er hemmte die Heftigkeit des Eindrucks, den eine so plözliche Ueberraschung auf ihre bereits aufgeregten Lebensgeister gemacht hatte. Sie sank in seine Arme, und überließ sich in süsser 109 Ohnmacht seinen feurigen Liebkosungen. Seit jenem festlichen Abend, da Verdmont und Olivier in der Gartenlaube sie umschlangen, und Gattin und Freundin sie nannten, hatte ihre Seele nicht gefühlt, was sie jezt fühlte. Auch Theodor wußte sich nicht zu fassen, er, der so lange ihrer schwesterlichen Umarmungen beraubt war, sah sie nun mit der Unschuld des liebevollen Mädchens die glänzende Reife des Weibes verbinden, und ihre Reize durch die nette Dorftracht erhöht, deren rührende Simplicität ihr mehr Anmuth und selbst mehr Würde gab, als alle Zauberkünste der Toilette. Der Wonnesturm war schon lange vorbei, Louise saß zwischen ihm und ihrem Gatten, Arm in Arm auf der Ruhebank, und noch klebte das Auge des Bruders auf ihrem himmlischen Antliz, und seine Lippen auf ihrer Rosenhand, die bald seine Wange streichelte, bald seine Rechte an ihre Brust drückte. Er wollte sich jeden Augenblick ganz für eine dreijährige, kummervolle Abwesenheit entschädigen, und jeder Augenblick gewährte ihm diese Entschädigung.

Am folgenden Morgen lag er noch zu Bette, und ließ jede der gestrigen Freudenscenen vor seiner Phantasie vorübergehen, als Louise ihm schon eine neue bereitete. Er hörte sie im Hofe mit freundlicher Munterkeit dem Gesinde den 110 Morgengruß bieten, und jedem unter ihnen sein Tagwerk austheilen. Er hatte sich eben angekleidet, um die holde Wonneschöpferin aufzusuchen, als sie seine Thüre öffnete, und ihn auf ihr Zimmer abholte, wo Oliviers Umarmung und das Frühstück ihn erwartete. Sie spielte ihrer Gewohnheit nach eine Morgenhymne auf ihrem Piano, und begleitete seine Silbertöne mit ihrer zauberischen Stimme. Dann sezte man sich an die kleine Tafel, die mit Milch, frischer Butter und Backwerk von der Hand der jungen Wirthin besezt war, die durch die heitere Anmuth, womit sie das Geschäfte der Hausmutter ausübte, ihrem Gaste jeden Bissen zu Ambrosia machte. Mit Entzücken sah ihr Bruder sie den Geist ihres jetzigen Standes mit dem Geiste des vorigen verbinden, ohne sie zu vermengen, die Geschäfte der Meierin treiben, ohne die Talente der Ritterstochter zu vernachlässigen, ohne auch nur den leichtesten Zug ihrer urbanen Erziehung zu verwischen. Es war ihm so wohl in dieser friedlichen Hütte, seine Seele wogte in einer so heitern Atmosphäre, daß er darin der Burg seiner Ahnen, und aller seiner ehemaligen Herrlichkeit vergas, und seinen Schwager aufforderte, ihm sofort seine Rolle in der Wirthschaft anzuweisen. Bis du von Olivier die Sense und den Pflug regieren lernest, versezte Louise, will 111 ich dich zu meinem Proviantmeister machen: ich erinnere mich noch wohl, wie sehr du ehedem die Jagd und Fischerei liebtest. Olivier hat nicht Zeit, sich damit abzugeben; um desto mehr würdest du dich mir empfehlen, wenn du mir bisweilen einen Hasen oder einen Hecht in die Küche liefertest. Du weist, daß jedermann in seinem Eigenthum und in den Gemeinwaldungen fischen und jagen darf, und Olivier kann dir die Gegenden anweisen, wo du . . . . Recht so, unterbrach sie Theodor, nur die Werkzeuge herbeigeschafft, so sollt Ihr mich morgen mein Wild- und Seegrafen-Amt antreten sehen. Er hielt Wort, und sezte Louisen oft in den Fall, seiner Geschicklichkeit eine Lobrede zu halten.

So flossen ihre Tage dahin, wie eine lautere Quelle, die zwischen Blumen und duftenden Kräutern hindurchgleitet. Olivier und Louise waren sich alles, nichts konnte ihn reicher machen, und sie erinnerte sich nicht, reicher gewesen zu seyn. Selbst Theodor, der doch keine Louise hatte, konnte mit seiner Jagdflinte im Arme ruhig am väterlichen Park vorbeigehen, der ihm nun verschlossen war. Als er aber eines Tages am Thore des Schlosses die Nachricht angeschlagen fand, daß es mit allen dazu gehörigen Gütern binnen Monatsfrist verkauft werden sollte, da begann sein 112 Herz zu bluten. Traurig schlich er nach Hause, suchte seinen Schwager auf, und gieng mit ihm über die Mittel zu Rathe, wenigstens einen Theil des väterlichen Erbes fremden Händen zu entreissen. Die Zahlung, sagte er, geschieht in entfernten Terminen. Wir sind jung, und haben starke Arme, du findest überall Credit, und unser reicher Freund Verdmont wird uns seinen Beistand gewiß nicht versagen. Laß uns das Schloß und die besten Grundstücke an uns kaufen. Olivier, der den Zustand des Gutes vollkommen kannte, billigte den Vorschlag, und der Brief an Verdmont ward abgeschickt. Louise sollte nichts davon erfahren, bis der Erfolg das Unternehmen gekrönt haben würde.

Verdmonts Antwort lief ein; sie war ihrer Erwartung gemäß, und die beiden Brüder, die ein Regenschauer vom Spaziergange heimgetrieben hatte, sassen eben auf Oliviers Zimmer beisammen, um die lezte Hand an ihren Plan zu legen, als Louise athemlos und mit wonneblitzendem Auge hineintaumelte. Sie hielt ein Zeitungsblatt in der Hand. Da lest, rief sie mir erlöschender Stimme, und sank an Oliviers Busen. Theodor nahm das Blatt von der Erde, es enthielt das Dekret, welches die Confiskation der Güter der Verurtheilten aufhob, und sie ihren Erben 113 zurückgab. Die beiden Brüder umarmten sich, und vermengten ihre Freudenthränen. Louise faltete ihre Hände; die Sonne, die nur eben aus einer trüben Wolke hervorstrahlte, erhöhete den Rosenglanz ihres Angesichts. Das kömmt von dir, sagte sie, und schwieg; aber ihr Herz vollendete die Hymne. Feierlich still war den ganzen Abend ihre Freude; die gute Babet war die einzige, der sie ihr Glück ankündigte. Ich habe, sezte sie hinzu, schon bei meines Vaters Lebzeiten angefangen, einen kleinen Brautschatz für dich zurück zu legen, nun kann ich ihn verdoppeln. Babet hörte diese Erklärung nicht mehr, sie dachte nur an ihre Gebieterin, und ihr Jubel kannte keine Schranken. Werde nur nicht wahnsinnig, rief endlich Theodor ihr zu, sonst raubst du mir ja das Vergnügen, auch etwas zu deiner Versorgung beizutragen.

Des folgenden Tages ließ Louise unter alle Armen des Dorfes Getraide und Wein austheilen, und als das Dekret auf dem Gemeindehaus kund gemacht wurde, versammelte sich eine Schaar von Bauern und Bäurinnen, und führte die Kinder ihres ehemaligen angebeteten Gutsherrn in die väterliche Wohnung ein. Louise blieb sich auch jezt ähnlich: prunklos und sittsam, blos durch ihre Reize und durch ihre Unschuld geschmückt, die auf 114 der Stirne des Weibes, das dieses Kleinod im Herzen trägt, die Ingenuität der Jungfrau beibehält, gieng sie zwischen dem Gatten und dem Bruder her, und reichte auf dem Schloßhofe den wohlwollenden Geschöpfen, die sie begleiteten, freundlich dankend die Hand. Ah, sagte einer von den Greisen, indem er sie traulich schüttelte, das war ein schöner Tag! nun fehlet uns nur noch unser Vater Gilbert, wärs denn nicht möglich, daß auch er wieder käme? Ja wohl, meine Freunde, rief Theodor, nicht das Gesetz, sondern die Tyrannei hat ihn verjagt; wer weiß, was geschieht? Oh, wenn er doch wiederkäme! rief der ganze Haufe, und verließ in getheilten Zügen das glückliche Kleeblatt. Arm in Arm durchzogen sie nun die Zimmer des Schlosses. Louise verweilte mit stummer Andacht im Cabinet ihres Vaters, und wies ihrem Olivier mit dem Finger die Stelle wo sie sas, als er ihr seine rettende Hand anbot. Hier war es, sagte sie, und faßte die Hand, und drückte sie fest an ihr Herz, und Olivier küßte eine Engelthräne von ihrer Wange. Dann wandte sie sich zu ihrem Bruder: ich kehre, sagte sie, in die Hütte zurück, wo ich das höchste Glück des Lebens fand. Das Haus unsrer Väter ist dein, mein Bruder, wallfahrten werde ich dahin täglich, aber du must es bewohnen. Das Gesez, 115 unterbrach sie Theodor, indem er sie umarmte, das gerechteste von allen denen, die unsre Revolution bezeichnen, räumt dir die Hälfte der väterlichen Verlassenschaft ein, und meine Louise wird mich nicht nöthigen wollen, die Pflichten der Natur zu entweihen. Erlaube mir, dich durch andere Grundstücke zu entschädigen, so beziehe ich diese Wohnung; aber nicht eher, als bis ich dir eine Schwester geben kann, die deiner und unsers Olivier würdig ist. Sie ist schwer zu finden, das weiß ich, es muß eine Geweihte, eine Tochter der Widerwärtigkeit seyn, sonst taugt sie nicht in unsern Bund. Sie wird sich finden, sprach Louise, die Zahl dieser Geweihten ist groß; welch eine neue überschwengliche Seligkeit wäre es für mich, wenn ich meinem Theodor die Gefährtin seiner künftigen Tage zuführen könnte!

Diese Seligkeit ward ihr gewährt. Die Schwester des edlen Verdmont war es, welche diese schöne Bestimmung erfüllte. Eine neue Krankheit seines Schwiegervaters hatte ihn genöthigt, die Reise, die er mit seiner Eugenie nach St. Julien machen wollte, von einem Monat auf den andern zu verschieben. Nun konnte er endlich diesen Plan ausführen. Mitten unter den Beschäftigungen der Heuernte ward Olivier und Louise von diesem angenehmen Besuche überrascht. 116 Eugenie schien einen Augenblick fremd in dem liebenden Zirkel; Louise, Olivier, Theodor waren ihre alte Bekannte, die sie nach einer langen Trennung blos wieder fand. Mund und Herz hatten sich gleich nach der ersten Umarmung nichts mehr zu sagen. Mit ihnen stieg eine hohe, schlanke Feengestalt aus dem Wagen. Eine sanfte Melancholie überschattete ihr schönes, ausdrucksvolles Gesicht. Sie war nicht Pallas, nicht Venus Urania, aber Raphael oder Mengs würden zu den Bildnissen dieser beiden Töchter des Olymps mehr als einen von Adelaidens Zügen geborgt haben. Sie sah den Bewillkommungen der frohen Gruppe mit jenem Lächeln der Seele zu, das nicht auf den Lippen, sondern im Auge erscheinet. Ihr Bruder hatte sie einen Augenblick vergessen; plötzlich besann er sich, ergriff sie bei der Hand, und führte sie Louisen zu. Meine Schwester, sagte er, meine einzige Schwester, und Louisens bisher unbekannte Freundin. Also zwei für eine, erwiederte Louise, und ihr erster Kuß zertheilte eines von den Wölkchen, das über Adelaidens himmelblauem Auge schwebte. Theodor beherbergte die Gäste auf seinem Schlosse, das ihm Louise gleich nach der Besitznehmung wieder mit dem nöthigsten Geräthe versehen hatte. Allein keine Stunde des Tages vergieng, da nicht die 117 beiden Schwägerinnen die Hütte der reizenden Meierin besuchten, oder von ihr nach vollendetem Tagwerk, davon selbst ihre neuen Freundinnen sie nicht abhielten, besucht wurden.

Adelaide war seit eilf Monaten Wittwe, sie hatte mehr aus Gehorsam als aus Neigung ihre Hand einem Manne gereicht, der unter der glänzenden Aussenseite des Höflings alle Laster verbarg, die ein zartfühlendes, tugendhaftes Weib elend machen können. Vier Jahre lang trank sie an seiner Seite den Kelch der Trübsal bis auf die Hefen. Ihr Vater vermochte nichts auf den Unhold, und bereuete zu spät den Mißbrauch, den er von seiner Gewalt über das kindliche Herz seiner Tochter gemacht hatte, die bei ihrer Hinopferung kaum 17 Jahre zählte. Mehr als einmal lag er ihr an, das neue Gesetz zu benutzen, um sich von ihrem Peiniger zu scheiden. Ich habe, antwortete sie, vor dem Altare der Gottheit angelobet, ihn nicht zu verlassen, kein menschliches Gesetz kann mich von meinem Eide entbinden. Ihr Mann wäre nicht so gewissenhaft gewesen; allein die Hoffnung auf ihr väterliches Erbe, das er in den Armen seiner Phrynen zu verprassen dachte, hielt ihn von diesem Schritte zurück.

Endlich erlöste der Tod des Schwelgers die junge Dulderin, allein ihre Leiden hatten ihr Herz 118 mit einer Schwermuth erfüllt, die weder die Liebkosungen des Vaters, noch selbst die Zärtlichkeit des Bruders, der ihr einziger Vertrauter war, zerstreuen konnten. Destomehr hoffte dieser von der Reise nach St. Julien, wozu es ihn keine Mühe kostete, sie zu bereden. Theodor hatte nie Adelaiden gesehen: als er das erste und leztemal seinen Freund besuchte, war sie schon verheirathet, und auf den Rittersiz ihres Tyrannen am Fuße der Pyrenäen verbannt. Desto mächtiger mußte ihr Anblick seine Seele erschüttern. Louise bemerkte es gleich in den ersten Tagen, und, um die Wahrheit ihrer Bemerkung zu bestätigen, fragte sie ihn einst nur wie im Vorbeigehen: Nun, Bruder, wie gefällt dir Adelaide? Ah, Louise, antwortete er mit einem Flammenblicke: diese oder keine! Mehr wollte sie nicht wissen, und hüpfte, um ihre Freude zu verbergen, als ob sie etwas vergessen hätte, von seiner Seite hinweg. Izt beobachtete sie auch Adelaiden; ihr Herz erwärmte sich allmählig am heiligen Feuer der Freundschaft; es fieng an, ihr wohlzuthun, unter glücklichen Wesen zu leben. So bald sie anfängt, an Menschenfreuden zu glauben, sagte Louise zu Olivier, so ist sie gewonnen. Dieser Glaube wird ihr Herz der Liebe aufschliessen, sie wird dem Anblicke zweier glücklichen 119 Paare, die es durch die Liebe sind, nicht lange widerstehen können. Louise betrog sich nicht; mit jedem Tage horchte Adelaide Theodors gefühlvollen Unterredungen aufmerksamer zu. Ihr Auge war oft an seine Lippen geheftet, und wenn es dann seinem Auge begegnete, färbte sich die rührende Blässe ihrer Wangen mit einem rosichten Schimmer. Nun konnte sich Louise nicht mehr halten. Die schöne Wittwe besuchte sie einst, da sie im Garten Kirschen brach. – Wollen Sie mir helfen, Adelaide? Ich habe ohnehin die Erstlinge dieses Bäumchens Ihnen und Eugenien bestimmt. – Adelaide half ihr das Körbchen füllen. – Kommen Sie nun, wir wollen unsre Freundin in der Laube erwarten, sie hat ihren Gatten hierher beschieden, der mit Theodorn meinen Olivier auf seinen Wiesen besuchen wollte. Adelaide sezte sich dem antiken milchweisen Altare gegenüber, der die Laube schmückte. Schweigend betrachtete sie das deutungsvolle Monument, ihre Seele wiederholte sichtbar jede Scene der empfindsamen Epopee, wovon es die Entwicklung feyerte. Adelaide, sagte Louise zu ihr, an dieser heiligen Stätte hat die Freundschaft und die Liebe einen gleich schönen Sieg erhalten, möchte ich doch Ihr Herz überzeugen, daß es auch eine glückliche Liebe giebt! 120

Ad. Halten Sie mich für fähig daran zu zweifeln? schon acht Tage lebe ich an Ihrer Seite, und sollte noch eines Beweises bedürfen?

Louise. Wohlan denn, meine Freundin, so antworten Sie mir noch auf eine Frage; wären Sie nicht Adelaide, ich würde sie nicht an Sie thun.

Ad. Diese Frage sagt mir, daß Sie mich . . .

Louise. Daß ich Sie kenne, daß ich Sie für eine Ausnahme unsers Geschlechts halte, die ich beleidigen würde, wenn ich Sie durch einen Umweg auf den Punkt führen wollte, den ich mit Ihnen berühren möchte. Können Sie meinen Bruder lieben?

Ad. (an Louisens Halse.) Ja.

Louise. Göttliche Seele! diese Antwort erwartete ich von Ihnen; oh daß mein Theodor dieses Ja gehört hätte! Ich wäre unwürdig in Ihrem Herzen zu lesen, wenn meine Unterredung mit Ihnen eine aufgegebene Rolle wäre. Er weiß nichts davon, mein Olivier auch nicht; allein es kann Ihnen nicht verborgen seyn, daß mein Bruder Sie in der Stille anbetet. Erlauben Sie mir, diesen so oft mißbrauchten Ausdruck, er allein kann Ihren Werth und die Empfindungen Ihres Liebhabers bezeichnen.

Ad. Louise meine Schwester, oh darin liegt 121 für mein Herz eben so viel als im Gedanken: Theodor mein Gatte.

Louise. (sie mit der zärtlichsten Innbrunst umarmend). Ja deine Schwester, und Theodor dein Gatte. Du erlaubest mir doch, mein Werk zu vollenden? dürfte ich es nicht, dürfte ich es nicht noch heute vollenden, die Freude würde mir das Herz abdrücken.

Ad. Du erschreckest mich, Louise, was denkst du? nein, ich bin zu sehr erschüttert, ich muß mich erst wieder sammeln.

Louise. Man sieht wohl, daß du noch nie geliebt hast, sonst würdest du die Augenblicke besser zu schätzen wissen; du kannst Theodorn lieben, und sein und dein Glück um einen Tag verzögern? Hier kommen sie: laß mich nur machen, in einer Viertelstunde wirst du mir für meinen Ungehorsam danken.

Izt traten sie in die Laube. Louise schwebte wie eine Unsterbliche neben dem Altare: ihr Antlitz war verklärt, ihr Auge funkelte, der Puls der Freude klopfte in allen ihren Adern. Olivier sah es; lächelnd fragte er sie, was hast du? Louise, so strahlend sah ich dich noch nie.

Louise. (zärtlich.) Noch nie? Vergeßlicher!

Oliv. Du hast recht, meine Geliebte, so sahst du aus, als du an eben dieser Stelle mir . . . 122

Louise. Einen gewissen Schlüssel in die Hand legtest. Nun ja, ich sehe nur dann so aus, wenn ich solch einen Schlüssel zu übergeben habe.

Theod. (lachend.) Wie gefällt dir das, Bruder?

Louise. Ich hoffe, ganz wohl, und dir noch besser: mein heutiger Schlüssel ist blos ein anvertrautes Pfand, aber traun ein wahrer Schlüssel des Himmelreichs. Doch ich bin keine Sphynx, für einen Kuß sollt Ihr alle das Wort meines Räthsels erfahren. Alle drei hüpften auf sie zu, um sie zu küssen. Theodor kam zulezt: sein Auge war unterweges dem Auge Adelaidens begegnet, in dem er die ersten Buchstaben des Räthsels zu entziffern glaubte.

Louise. (ihn bei der Hand fassend.) Die Hand, in die ich den Schlüssel legen soll, ist diese, und die, so mir ihn anvertraute, ist diese. Hier ergriff sie Adelaidens Hand, und schloß sie in die Hand ihres Bruders, der wie verzückt da stand, indeß Eros seiner Geliebten den lezten melancholischen Zug von der Stirne wischte.

Auch diese Scene . . . . Ihr allein könnet sie ausmahlen, ihr in den Mysterien der Sympathie eingeweihten Seelen. Wenn das Wörterbuch der Zunge eine Lücke hat, so ist es Blasphemie, sie ausfüllen zu wollen. Noch lagen die Glücklichen 123 einander wonnetrunken in den Armen, als Eugenie erschien.

Eug. Ei, ei! was ist vorgegangen?

Louise. (die ihr entgegen sprang, und ihren Arm um ihre Nymphenhüfte wand.) Nichts neues: mein Bruder da liebt deine Schwester, und dem armen Jungen fehlte der Muth, es ihr zu sagen. Deine Schwester da . . . . doch still, sie winkt mir. Kurz, ich habe beider Geheimnisse errathen, und ihnen den Weg abgekürzt, der sie morgen oder übermorgen zusammen geführt hätte, habe ichs nicht gut gemacht? Vortreflich, rief Eugenie, und warf sich dem neuen Paar in die Arme.

Ungesäumt wurde der alte Verdmont von der frohen Begebenheit benachrichtigt, die ihm um so willkommener war, da sie ihn mit seinem Gewissen aussöhnte. Er verhehlte seiner Tochter die Vorwürfe nicht, die es ihm wegen ihrer ersten Heirath machte. Mein Herz sagt mir, so hieß es in seiner Antwort, daß der Mann, den du gewählt hast, dich für die Leiden entschädigen werde, die der Unwürdige, den ich für dich wählte, dir zufügte. Jeder deiner erstickten Seufzer war ein Dolchstich in meine Brust, und ich fühlte deine Marter um desto schrecklicher, je mehr du mir sie zu verbergen suchtest. Mehr als du selber werde ich deinem Geliebten zu danken haben, 124 wenn du in seinen Armen die Glückseligkeit findest, die meine Verbindung dir raubte, und indem er den Titel meines Sohnes annimmt, werde ich wieder den Titel deines Vaters annehmen dürfen. Indeß Theodor und seine Geliebte diese Antwort erwarteten, und im Zauberkreise der Liebe und der Freundschaft dem Festtage entgegen sahen, der ihre Hände vereinigen sollte, wurde dieser Kreis um die einzige Person vermehret, die noch hineingehörte. Es war der ehrwürdige Gilbert, der auf die dringende Bitte seiner jungen Freunde zu ihnen und zu seiner Heerde zurückkehrte. Die Furchen seines patriarchalischen Antlitzes waren tiefer, und die Haare seines Hauptes waren weißer, als am Tage, da er den Erulantenstab ergriff, aber sein Auge war noch eben so hell und geistvoll, sein Herz war noch eben so warm, als in jenen glücklichen Zeiten, da er seine beiden Lieblinge zu dem bildete, was sie jezt waren, und in der Stille Segen über seine Gemeinde verbreitete. Bey seiner Rückkehr flossen eben so viele Freudenzähren, als bei seinem Abschiede Zähren des Kummers geflossen waren.

Als Theodor ihm schrieb, legte er ihm schon die Bedingung auf, die Stelle seines Vaters unter dem Dache seines Vaters einzunehmen. Louise und Olivier wollten ihm diese Ehre streitig 125 machen: Gilbert endigte den rührenden Zwist dadurch, daß er wechselsweise bei dem Bruder und der Schwester zu wohnen versprach. Nun aber habe auch ich eine Bitte an Sie, sagte Adelaide, indem sie mit holder Traulichkeit seine Hand ergriff: Ihre erste geistliche Verrichtung sey die Einsegnung ihres Zöglings mit Ihrer netten Pflegetochter. Es giebt keine Privilegien mehr, rief Louise; Eugenie und ich wollen diese heilige Wohlthat, deren die Schreckenszeit uns beraubte, mit Euch gemein haben. Recht so, Louise, riefen Olivier und Verdmont, du hast in unsern Herzen gelesen. So wird wohl auch das darin stehen, daß der Altar der Freundschaft in meiner Laube unser Hochzeitaltar seyn wird, Vater Gilbert weiß schon warum? Gilbert stimmte Louisen bei: ich brauche ihn nicht zu weihen, sagte er, die Tugend und die Liebe haben ihn geweiht. Heilig und hehr war die Scene, und als das dreifache Paar seine Hände in einander fügte, warf die Gottestochter Religion, die so oft auf Ruinen herabweinte, einen Blick des Segens auf ihre neue Stiftshütte, und ein paar weisse Turteltauben, Sinnbilder der himmlischen Eintracht, wogten feyernd über ihrem Dache. 126

 


 


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