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13.
Das Fell des Löwen

In eine Fensternische in der Hofburg zu Wien hatte sich der Freiherr vom Stein zurückgezogen und blickte über das Festgewimmel hinaus.

In den festlich erleuchteten Sälen bewegte sich eine in die Tausende gehende glänzende Schar der höchsten Gesellschaft Europas. Was irgendwo Namen oder Geltung hatte, war da. Die Fürsten fast ohne Ausnahme, ihre leitenden Minister ebenso. Die Kaiserstadt Wien hatte ihre schönsten Damen, ihre elegantesten Kavaliere entsandt.

Es wurde getanzt, geflirtet, gelacht, gescherzt; die Ereignisse des Kongresses: die Korsos, Schlittenfahrten, Maskenbälle wurden besprochen und Pläne zu neuen Festlichkeiten entworfen. Über Politik sprach man nicht. Sie war Anlaß zu den Festlichkeiten gewesen, und das genügte.

Man war nämlich hier an der schönen blauen Donau zusammengekommen, um der befreiten Welt einen endgültigen, gerechten, dauerhaften und ewigen Frieden zu bescheren.

Also eine äußerst spaßige Angelegenheit, wie die Ballkavaliere meinten.

Ein halbes Jahr päppelte man schon diesen berühmten Wechselbalg, und da sah man ihn plötzlich zu allseitigem Staunen im Begriff, sich zu einem regelrechten neuen europäischen Krieg auszuwachsen.

»Wie drollig!« lispelten die holden Schönen, und traten lächelnd zum Walzer an.

Österreich, England, Frankreich und dessen alte Rheinbundgenossen hatten sich zu einer wahren Wegelagerergenossenschaft zusammengefunden, um den Hauptkämpfern im Kriege, Preußen und Rußland, ihren Anteil am Raub aus der napoleonischen Hinterlassenschaft abzujagen. Schon zückte man die Dolche und lauerte auf Gelegenheit.

Inzwischen tanzten die Diplomaten, flirteten mit den schönen Wienerinnen, schlossen zärtliche Allianzen und waren emsig bestrebt, ihre galanten Eroberungen abzurunden. Man wetteiferte miteinander im Aufwand, man arrangierte Bälle, Schlittenpartien und Korsofahrten, man revidierte Menüs und Ballprogramme und zwischendurch auch, als neuestes Gesellschaftsspiel, die Karte Europas, aber hauptsächlich nur, um dabei die neuesten Bonmots der Diplomaten zu belachen.

Die Schicksale der Völker, die man ja auch in die Hand genommen hatte, machten weniger Sorge – weil sie weniger amüsant waren.

Stein machte jenes Gesellschaftsspiel nicht mit.

Sein Einfluß auf dem Kongreß war überdies gering. Er nahm nur teil als Minister der besetzten Gebiete. Insofern hatte er mitzusprechen. Auf die Entschließungen der Großmächte hatte er wenig Einfluß. Sonst wäre er seiner ganzen Veranlagung nach die führende Persönlichkeit des Kongresses geworden, statt daß die Leitung jetzt in die Hände des intriganten, oberflächlichen und selbstsüchtigen Metternich und seines sauberen Kumpans, des Fürsten Talleyrand, überging.

Steins Platz im Schatten auf dem kaiserlichen Hofball entsprach also durchaus seiner Stellung auf dem Kongreß, als nichttanzender Staatsmann.

In den Nebensälen wurde eifrig getanzt. Die Klänge der Musik drangen bis zum entlegenen Platz im Thronsaal, wohin der Freiherr sich zurückgezogen hatte, und übertönten das Stimmengewirr, so daß nur die Gespräche derer, die gerade an seiner Fensternische vorbeikamen oder dort stehenblieben, deutlich zu hören waren. Drüben hielten die Majestäten Cercle – Kaiser Franz, Kaiser Alexander und König Friedrich Wilhelm, jeder für sich. Sie zogen bald diesen, bald jenen von den sehnsüchtig der großen Gnade harrenden Sterblichen »huldvollst« ins Gespräch, plapperten ihnen ein paar leere Phrasen vor, entließen sie und winkten andere herbei, um sie mit den gleichen Nichtigkeiten zu beglücken.

Aus dem Kreise um die Allerhöchsten Herrschaften löste sich eine schlanke Gestalt in tadelloser Haltung, den feinen, wohlfrisierten Kopf unmerklich nach den Klängen der Musik wiegend. Leise trällernd kam er gerade auf die Nische zu, in der Stein stand, und schien jemand zu suchen.

Es war Metternich, der allgewaltige Gebieter Österreichs.

Stein zog sich etwas zurück.

Metternich blieb, ihm den Rücken zugekehrt, stehen und musterte die hin und her wogenden Massen. Endlich schien er gefunden zu haben, was er suchte, und gab ein Zeichen.

Ein kleiner, hagerer Mann in unansehnlicher Tracht kam rasch auf ihn zugeeilt. Unter vielen Bücklingen und »ach« und »oh« und »Exzellenz« und »Eure Hoheit« stellte er sich ihm »gehorsamst zu Diensten«.

Stein kannte ihn wohl.

Eine Persönlichkeit von unheimlichem Zuschnitt, als beratender Expert zum Kongreß hinzugezogen, der Staatsrat Hoffmann aus Berlin – auch »Seelenhoffmann« genannt.

Es gab im ganzen Deutschen Reiche kein Dorf, keinen Flecken, keine Stadt, kein Land, deren Seelenzahl er nicht wußte.

Galt es auf dem Kongreß ein Ländchen abzutreten oder gar zu annektieren, gleich wurde »Seelenhoffmann« zu Hilfe gerufen. Er sagte, kaum befragt, sofort die genaue Zahl der Seelen her, die innerhalb der Grenzpfähle jener Gegend nisteten, stellte eine Rechnung auf, bündelte die Seelen zusammen, packte sie kunstgerecht ein und machte sie verkaufsbereit für den Markt. Dann erst konnte der Handel losgehen.

Die Potentaten protzten dann jeder mit seinem Bündel Seelen, spielten damit Versteck und suchten unauffällig zu erraten, wie viele der Gegenspieler unter sich hatte. Man schätzte den gegenseitigen Bestand ein – man tauschte, handelte und war mit größerem oder geringerem Geschick bestrebt, möglichst viele Seelen aus dem Geschäft herauszuschlagen. So war's, so ist's, und so wird es immer bleiben, solange Menschen über Menschen herrschen – ob sie's im Namen einer Monarchie, einer Demokratie oder einer jakobinischen Schreckensherrschaft tun.

»Nun, lieber Staatsrat, haben Sie mir etwas in unserer Angelegenheit mitzuteilen?« fragte Metternich.

Der Angeredete war gleich parat.

»Gewiß, Exzellenz. Mir scheint der Kasus nicht unlöslich. Wir müßten, mit gutem Willen, schon ohne Krieg um die Frage Sachsen herumkommen können! Wir geben Preußen Sachsen – und geben es ihm auch nicht – die Sache ist sehr einfach!«

Metternich schüttelte den Kopf und grüßte zugleich mit viel Liebenswürdigkeit eine am Arm eines Diplomaten vorbeischwebende Komtesse.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, Exzellenz, auf die Zahl der Seelen, die Preußen bekommt, kommt es ihm doch hauptsächlich an. Die Seelen bringen doch Steuern. Sie sind die einzige Grundlage für die Staatseinnahmen. Nur wer sich das vergegenwärtigt, die Seelenzahl zusammenhält und klug vermehrt, bringt die Finanzverwaltung seines Staates auf gesunde Basis. Geben wir Preußen also ein wenig mehr Seelen, als es in Sachsen finden würde. Sie sind da, man braucht sie nur aufzugreifen.

Lassen wir also Sachsen bestehen – machen wir's kleiner – aber vernichten wir es nicht gänzlich! Wozu auch? Warum den guten König Friedrich August schwerer als die anderen Rheinbundfürsten bestrafen? Er war ja nicht frei – er handelte aus Zwang. Nun ja – was konnte wohl der kleine Sachsenkönig gegen den großen Napoleon? Seien wir gerecht. Lassen wir ihn am Leben.

Wenn wir Preußen links vom Rhein mit einer Million Seelen abfinden – wenn wir ihm in Polen achtmalhunderttausend, item in Westfalen die gleiche Zahl geben, dann ist es fein heraus, und weit besser bedacht, als wenn es bloß das bißchen Sachsen bekäme!«

»Das scheint mir plausibel«, sagte Metternich. »Ich will mir die Sache überlegen. Stellen Sie mir die Rechnung genau zusammen, geben Sie alles zu Papier, bringen Sie mir den Vorschlag morgen früh genau präzisiert in meine Wohnung – ich schlage es dann den Herren morgen vor. Leben Sie wohl, Herr Staatsrat. Wenn das beim Kanzler Hardenberg durchgeht, werden Sie uns erkenntlich finden!«

Der Staatsrat verbeugte sich, ganz überglücklich.

»Ich rede noch mit ihm, ich setze ihm alles haarklein auseinander!« sagte er. »Da kommt er gerade! Gehorsamster Diener, Exzellenz, allergehorsamster Diener!«

Er eilte auf Hardenberg zu, der eben durch den Saal kam, scharwenzelte um ihn, verkaufte auch da seine Seelen, und ließ nicht locker, bis er den Kanzler beim Wickel hatte.

Inzwischen wurde Metternich von einem ganzen Schwarm Komtessen in die Mitte genommen, die eben aus dem Ballsaal hereinflatterten, um die Majestäten anzustaunen. Er flirtete gleich drauflos, bot dieser jungen Dame Puder an, half jener schnell mehr Rot auf die Wangen legen, hielt ihnen seinen Taschenspiegel hin und half mit vieler Sachkenntnis die vom Tanze erhitzten Gesichter wieder hoffähig machen. Dann bot er der schönsten Dame seinen Arm und führte sie in die Nähe der Allerhöchsten Herrschaften. Er war ein Herz und eine Seele und einer Meinung mit ihr, fand wie sie die Polonäsen abscheulich langweilig und eigentlich nur einen Tanz für Großmütter und alte steifbeinige Exzellenzen!

»Dagegen der Walzer, himmlisch!« lispelte die Schöne. »Da schwebt man in tollem Wirbel hin, bis sich alles um einen dreht und flimmert. Und schließlich denkt man, man ist ein Stern am Firmament, und ringsherum nichts als Sterne, die sich auch so im Tanze drehen und schweben!«

»Das sind Sie auch, Komtesse – ein Stern, aber Sie allein!«

Sie verschwanden in der Menge, die jetzt aus den Ballsälen hereinflutete.

Steins Gedanken waren schon anderweitig beschäftigt.

Ein leises ungleichmäßiges Stoßen auf dem Parkett, das immer näher kam, nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Er brauchte nur noch die sanfte, harmlose Stimme dazu zu hören, um zu wissen, daß Talleyrand heranhinkte. Stein haßte und verabscheute ihn. Aber er erkannte ohne weiteres an, daß dieser Mensch ohne Gewissen dazu prädestiniert war, die Seele jenes Kongresses von Seelenhändlern zu sein.

Mit seinem Klumpfuß hinkte er, zynisch lächelnd, jeder großen Begebenheit nach und nahm seinen Vorteil wahr. Im Zeitalter des ancien régimeals Geistlicher, dem alle Boudoirs und tonangebenden Salons stets offenstanden – während der Revolution als allgegenwärtiges, allwissendes, eifriges, aber nicht allzu exponiertes Mitglied jedes Klubs, der gerade am Ruder war – beim ersten Konsul als allmächtiger Minister, dem deutsche Fürsten und Republiken ihre Schätze zu Füßen legten, damit er ihnen gnädigst verstattete, ihre Ländchen mit den Trümmern des Heiligen Römischen Reiches zu vergrößern.

Minister des Äußeren unter Napoleon, blieb er in der gleichen Eigenschaft bei dessen Nachfolger, und wurde – aber nur als persönlicher Vertreter König Ludwigs – zum Kongreß zugelassen. Das genügte aber, um ihn bald zu dessen einflußreichster Persönlichkeit zu machen.

Die alten Beziehungen fanden sich schnell wieder. Ansichten und Überzeugungen sind ja keine Gewissenssachen. Hatte man gestern eine, so hat man dafür heute eine andere, noch vorteilhaftere. Und schließlich ist ja ein Friedenskongreß dazu da, damit man sich verständigt!

Man fand sich also leicht. Man gewöhnte sich schnell wieder daran, den gewandten Ränkeschmied um seinen Rat zu bitten. Und er konnte wieder nach Herzenslust intrigieren, geheime Fäden knüpfen oder lösen, die Mächtigen der Erde miteinander aussöhnen oder entzweien, je nachdem es der eigene Vorteil heischte. Nebenbei gewann, ohne daß es ihn weiter kümmerte, sein geschlagen am Boden liegendes Frankreich den Rang einer viel und heiß umworbenen Großmacht.

Das Stoßen auf dem Parkett hörte auf. Der Klumpfuß hielt still, die sanfte Stimme Talleyrands drang durch. Er sprach zu dem neben ihm gehenden Abgesandten des entthronten Königs von Sachsen, dem Grafen Schulenburg.

»Es ist nicht leicht, mein lieber Graf«, sagte er im nonchalanten Ton. »Ich habe meine liebe Not mit Ihren Angelegenheiten gehabt! Viel Arbeit, viele Schreibereien, unzählige Konferenzen! – Ich knausere auch mit Geschenken nicht! – Nun, dafür setze ich meinen Willen durch! Wir können nicht dulden, daß ein treuer Freund Frankreichs, wie es Sachsen immer war, so mir nichts, dir nichts von der Karte weggewischt wird! Ihr Souverän war des KaisersFreund – und wir haben jetzt einen König! Gleichviel! Die Person des jeweiligen Monarchen hat wenig zu sagen. Die Politik bleibt, wie sie war! Nun – Sie sehen, Ich bin geblieben – ich mache sie doch eben! Also ich werde mein Bestes für Sie tun! Sagen Sie das Ihrem Monarchen! – Selbst kann ich nicht an ihn herantreten – es würde meine Bemühungen für ihn nur kompromittieren, ließe ich etwas merken. So etwas muß behutsam, hintenherum gemacht werden! – Flüstern Sie's ihm also zu: er kann sich auf mich verlassen! Ich werde es an nichts fehlen lassen, an gar nichts! Die Räte aber, die die Akten machen und deren Inhalt auch, sie sind schlecht bezahlt. Sie brauchen Aufbesserung, nehmen sie auch gern an! – Mein Gott – man hat Familie, man hat Schulden, man muß sich vorsehen, und nimmt den Segen, wo man ihn findet! Was ist dabei?! Ich werde es auch da an nichts fehlen lassen!«

»Daran dachte mein erhabener Souverän auch«, beeilte sich der Graf dazwischen zu kommen. »Durchlaucht werden Aufwendungen für uns gemacht haben.«

»Ich bitte Sie, lieber Graf!«

»Das darf nicht sein. Der König wünscht wohl und ist auch damit einverstanden, daß an nichts gespart wird. Er bittet Durchlaucht, über seine Kasse zu verfügen. Am liebsten würden wir einen Fonds zur völlig freien Disposition bereitstellen!«

»Ungern trage ich Verantwortung für fremde Gelder!«

»Kein fremdes Geld, und von Verantwortung auch keine Rede! Durchlaucht wollen ganz nach eigenem Ermessen und ohne Rechnung zu legen über den Fonds verfügen, als handle es sich um eigenes Geld. Nur eine einzige Bedingung – –«

»Bedingung?!«

Talleyrand runzelte die Brauen.

»Eine leicht zu erfüllende: – strengste Diskretion

»Ach so!«

»Die Welt ist boshaft! Wir sind ja über Verleumdungen erhaben – wer dürfte wohl auf den Gedanken kommen, daß wir – – Besser ist es aber, man setzt sich nicht einmal der Möglichkeit aus, ein Spielball böser Zungen zu werden!«

Sie gingen weiter.

Stein verließ seinen Beobachtungsposten und ging langsam um den Saal herum, nach der anderen Seite hin, wo die Monarchen immer noch umschwärmt wurden.

»Gewissenlose Vogelsteller sind das alles«, knurrte er halblaut im Gehen. »Sie legen ihre Schlingen, umstellen ganze Völkerschaften, knebeln sie nach Herzenslust und reden von Befreiung. Es ist ein eigen Ding um jene ›Freiheit‹. In ihrem Namen wird gelogen, in ihrem Namen wird betrogen – die Weltgeschichte ist voll von Raubzügen und Vergewaltigungen der persönlichen Freiheit, die jener ›Freiheit‹ zu Ehren begangen wurden. Und immer noch gehen die Völker auf den Leim.

Wo auf der Gasse oder im Tempel von der Freiheit gepredigt wird, überall ist Zulauf von naiven Seelen, die das Gequassel für bar nehmen und glauben: nun wird sie kommen! Mit Leib und Seele nehmen diese Braven sich dann der heiligen Sache an – das heißt, mit dem Leib nur, insofern es nicht gefährlich ist, und mit der Seele nur, insofern man eine hat!

Hat man aber geholfen, jener gepriesenen Göttin Freiheit in den Sattel zu helfen, dann kann es einem just passieren, wenn man die Augen zu ihr erhebt, daß man in ihr nichts als eine neue und noch schwerere Tyrannei erkennt als die, die man um ihrer schönen Augen willen beseitigen half. Soweit wären wir jetzt. Wenn aber die Völker merken, daß sie die Fessel der fremden Tyrannei nur brachen, um von den einheimischen Gewalthabern noch schlimmer geknebelt zu werden – dann –«

Er sprach nicht zu Ende.

Die wohlbekannte verdrießliche Stimme des Königs von Preußen wurde in einer Gruppe vor ihm laut.

Der König mit seinem Hardenberg und seinem Knesebeck und seinem Humboldt hielt sich, wie immer, etwas abseits von den beiden Kaisern. Er blickte gelangweilt um sich und hörte kaum zu, was ihm sein Kanzler im Flüsterton eiligst vortrug.

»Wird abgelehnt«, sagte er dann barsch. »Geben dem Fürsten den Abschied nicht! Ihm schreiben: können den Namen Blücher nicht entbehren!«

»Wird sofort erledigt!«

»Wollen Beruhigungsmittel für ihn finden. Wollen ihm wieder Gelegenheit geben, uns mit seinen Apothekerrechnungen zu kommen! Wird es nötig haben! Soll ja wieder spielen! Ist jetzt nur in Wut, weil beim Kongreß nicht alles nach seiner Pfeife tanzt! Möchte gleich den ganzen Erdball schlucken! Ist kein Politiker! Würde ganzen Kongreß auf den Kopf stellen, wäre er dabei! Gönnten ihm sonst gern das Tanzvergnügen hier! – Wer ist der stattliche General, der eben mit Kaiser Franz spricht?«

»Lord Wellington. Eben hier angelangt, um die Vertretung Englands zu vervollständigen.«

»Nachher vorstellen!«

Stein ließ sie stehen und näherte sich der Gruppe um Kaiser Franz.

»Den König von Sachsen lasse ich nicht fallen«, sagte der Kaiser eben, etwas hitzig werdend und auf seine Worte weniger achtend. »Ich lasse eher schießen! Die deutschen Fürsten sind eines Sinnes mit mir!«

Er senkte die Stimme wieder.

»Hannover, Holland werden Königreiche, wie England wünscht. Hat meine Zustimmung! Preußen muß sich bescheiden!«

Sein Blick fiel auf den Reichsfreiherrn vom Stein, dessen Plan, ein starkes geeintes Deutschland mit dem Herrscher Österreichs als Kaiser zu errichten, er wohl kannte. Er wandte sich an ihn.

»Die deutsche Kaiserkrone lehnen wir ab! Freuen uns, der Qual überhoben zu sein! Haben genug in Italien zu tun!«

Stein verbeugte sich schweigend und ging weiter.

Ihn widerte der ganze Handel an. So ging es nun Monat für Monat hin und her ohne Entscheidung, ohne greifbares Resultat, und nichts geschah, als dieses kleinliche Abwägen kleinlicher Interessen gegeneinander. Die großen Fürsten wollten sich auf Kosten der kleinen vergrößern – die kleinen wollten Wiederherstellung ihrer verlorenen Macht – der eine wollte dies, der andere das, die Reichsritter, die Johanniter, die Reichskammergerichtsbeamten, die Prälaten, die Frankfurter Juden – alle kamen sie mit ihren Wunschzetteln, wollten Restitution, Entschädigungen, Monopole, Rechte für sich und Unrecht für die anderen. Die Flut schwoll an und überschwemmte mit Akten und Gesuchen die armen Schreibersleute, die sie zu registrieren hatten. Und die großen Herren, bei denen die Entscheidung lag, zuckten die Achseln zu dieser Sintflut, lachten, scherzten, tanzten und flirteten.

»Das Schicksal der Völker ist wie immer in den besten Händen!« murmelte Stein im Gehen. Er dachte mit Bitterkeit an seine kurze Amtszeit als leitender Minister Preußens – dachte, wie kinderleicht es wäre, in diesem Lande Wandel zu schaffen, wäre nicht immer Unverstand und Eigensinn und Eitelkeit an der Spitze – hätte nicht Unvermögen, Gleichgültigkeit und Kraftlosigkeit Entscheidungen zu treffen und ins Werk zu setzen.

Er blickte verächtlich den Zaren an, der sich jetzt als derjenige anhimmeln ließ, dessen Energie und Entschlossenheit allein das große Werk zum glücklichen Ende gebracht hatte, als jeder andere zweifelte und auf dem halben Wege stehenblieb. Kein Mensch wußte, wer die ganze Zeit hinter diesem Schwächling gestanden hatte – keiner dachte daran, daß er, Stein, es war, der ihm den Nacken steifte, als ihm beim Einfall Napoleons in Rußland das Herz tief in die Friedenshosen fiel, und ihn auch nachher dazu brachte, seinen Soldaten und Generälen zum Trotz den Feldzug in Deutschland und in Frankreich zu führen! Willenlose Schwächlinge, der eine wie der andere, aufgeputzte Theaterpuppen alle miteinander! Könnte er nur diese Sintflut von Fürsten, in der alles Lebenstüchtige zu ertrinken drohte, von der Erde vertilgen, er täte es ohne Zaudern!

»Wie schade, daß Napoleon, dieser Bändiger der Fürsten, nicht hier unter uns entstand!« murmelte er noch. »Er war den Leuten gesund! Wäre er nur nicht, von falschem Glanz geblendet, auch einer von ihnen geworden –, hätte er sich einen kühlen Kopf bewahrt und der Versuchung widerstanden, wer weiß, was noch geworden wäre?!«

So weit kam er in seinen Gedanken, da entstand eine plötzliche Bewegung im ganzen Saal. Alles kam in Unruhe und stob auseinander. Die Säle leerten sich fluchtartig. Die Monarchen drängten alle auf eine Stelle zusammen und sprachen eifrig mit ihren Ministern und Räten. Kaiser Alexander redete aufgeregt auf Kaiser Franz ein, der ihm wiederum Vorwürfe zu machen schien, der König von Preußen kam hinzu, Hardenberg, Metternich, Talleyrand, alles, was dazu gehörte, drängte auf die Gruppe ein und horchte begierig – alle Intrigen, alle kleinen Feindschaften waren vergessen –, die drohende Kriegsgefahr schien wie durch Zauber aus den Gemütern gebannt zu sein.

»Napoleon hat Elba verlassen! Er zieht auf Paris! – Der König Ludwig ist geflohen!« so rief im ganzen Saal alles durcheinander, ohne an die Etikette zu denken.

»Mein Gott, was machen wir nun?« klagten ein paar niedliche Komtessen, und blickten verzweifelt zu Metternich hinüber, der, sonst ihr Helfer in der Not, jetzt kein Auge für sie zu haben schien.

»Der Maskenball beim Fürsten de Ligne wird sicher abgesagt werden! Heute habe ich gerade mein Kostüm anprobiert – du weißt, für das tableau vivant, in dem ich den Friedensengel darstellen sollte! Die Rolle lag mir ausgezeichnet! Jetzt ist alles umsonst – alles nichts!«

»Dem Fürsten Blücher befehlen, daß er sich sofort auf seinen Posten begeben soll! Ernennen ihn zum Oberbefehlshaber unserer ganzen Armee!« sagte der König von Preußen im Gehen zu seinem Kanzler und ließ sich noch rasch Lord Wellington vorstellen, der allein im ganzen Saale kühl lächelnd dastand und das Auseinandertanzen des Friedenskongresses beobachtete.

*

Kaum war Blücher in seinem Hauptquartier zu Lüttich angelangt, da wurden ihm die Fensterscheiben eingeworfen.

Draußen schrie man: »Vivat Napoleon! Hoch Friedrich August! Nieder mit Preußen!« und machte einen Höllenlärm, schwang die Waffen und lief Sturm aufs Haus.

Es waren die guten Sachsen.

Sie waren mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses über sich nicht ganz zufrieden. Sie erhoben ihre Stimmen und wollten gar mitreden. Die achtmalhunderttausend verratenen und verkauften sächsischen Seelen muckten dagegen auf, ihre wunderschönen grünweißen Landesfarben in preußisch Schwarzweiß umtauschen zu müssen. Der ganze Handel gefiel ihnen nicht. Sie bedankten sich, und man konnte es ihnen nicht verdenken.

Als man aber Ernst machte, als das preußische Oberkommando anfing, die sächsischen Truppenverbände, die jetzt zur Abwechslung gegen, statt für Napoleon ausgezogen waren, zu zerreißen und die Böcke von den Schafen zu trennen, siehe, da wollten sie alle keine Schafe sein, da bockten sie heidenmäßig auf und machten ein groß Geschrei. Die, »welche noch«, und die, »welche nicht mehr« sächsisch sein sollten, wurden plötzlich ein Herz und eine Seele, als seien sie nicht mehr Kinder eines Volkes und gar eines deutschen Stammes. So einig waren sie gegen ihre neuen Gewalthaber.

Sie meuterten also förmlich und fühlten sich dazu nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, da ihr König sie noch nicht ihres Treueides entbunden hatte.

Der hatte damit keine Eile.

Er hoffte im geheimen auf den Sieg Napoleons. Im Geiste sah er sich wieder im ungeschmälerten Besitz seiner achtmalhunderttausend grünweißer Seelen und etlicher schwarzweißer dazu.

Er hielt sie also nach Kräften an ihrem Treueid fest wie ein Bündel Heringe an ihrer Strippe. Und Blücher, der mit den Beschlüssen jenes von ihm sooft verfluchten Kongresses nicht das geringste zu tun gehabt hatte, mußte wieder einmal ausfressen, was die Diplomatiker eingebrockt hatten. Ihm wurden die Fensterscheiben eingeworfen. Er wurde angespuckt und in reinstem Sächsisch gebeten, mit Extrapost zur Hölle zu fahren. Man wollte ihm sogar behilflich sein und zeigte ihm mit den Spitzen der blanken Waffe den nächsten Weg.

Alles andere hatte er erwartet, nur den Empfang nicht.

Er hatte die Sachsen geehrt und bevorzugt. Er hatte sein Hauptquartier in ihre Mitte verlegt. Er hatte dem sächsischen Korps die Bewachung seiner Person anvertraut. Und nun mußte er das erleben!

Daß ein Volk sich nicht wie ein Haufen Vieh verhandeln lassen konnte, am allerwenigsten durch Beschluß fremder Mächte wie England, Frankreich und Rußland – daß es sich dagegen empörte und sich zur Wehr setzte, das war zu verstehen.

Aber Meuterei war Meuterei und angesichts des Feindes durch nichts zu entschuldigen. Kein Heer der Welt, das nicht sich selbst aufgibt, durfte das dulden. Kein Befehlshaber durfte es sich gefallen lassen, und wenn es sein Leben gälte!

Blücher war auch nicht derjenige, der auswich, wenn man ihm mit blanker Waffe unter der Nase herumfuchtelte. Er zog sofort vom Leder, wollte sich dem meuternden Haufen entgegenstellen, und war nur mit Mühe von solch nutzlosem Beginnen abzuhalten.

Seiner Umgebung gelang es, ihn zu überreden, sich für den Augenblick in Sicherheit zu bringen. Aber er hielt ein strenges Gericht. Bei Strafe der Dezimierung mußten die Aufrührer ihre Rädelsführer ausliefern.

Diese wurden erschossen, die meuternden Bataillone aufgelöst, ihre Fahnen wurden verbrannt und das ganze sächsische Armeekorps nach Hause geschickt.

Blüchers Armee bestand fortan aus lauter Preußen, unter den vier Korpsführern Zieten, Bülow, Pirch und Thielmann.

Yorck, dessen widerborstiges Wesen im letzten Feldzug so viel Verdruß verursacht hatte, wurde nicht mitgenommen. Gneisenau aber war wieder Generalquartiermeister.

Die Armee bezog Stellungen von Lüttich über Namur bis Charleroi, wo Zieten kampierte. Wellington mit seinem aus Engländern, Hannoveranern, Hessen und Braunschweigern bestehenden Heer hatte von Nieuport über Brüssel bis zur Schelde weit auseinanderliegende Quartiere bezogen.

Da wollten beide den Aufmarsch der Russen und Österreicher über den Ober- und Mittelrhein abwarten, um dann konzentrisch in Frankreich einzurücken und mit einer Übermacht von sechshunderttausend Mann Napoleon zu erdrücken.

Napoleon tat ihnen aber nicht den Gefallen, darauf zu warten.

Für ihn gab es nur die eine Möglichkeit, die feindlichen Heere einzeln und nacheinander anzugreifen und zu schlagen.

Schnell wie der Blitz tauchte er eines Tages plötzlich bei Maubeuge auf, mit einer Armee von hundertachtundzwanzigtausend Mann und dreihundertvierundvierzig Kanonen, schritt gleich zum Angriff, drängte Zieten von Charleroi bis zum Lignybach zurück, warf sich zwischen die englische und preußische Armee, die zusammen zweihundertzehntausend Mann und fünfhundertvierundzwanzig Kanonen hatten, und bedrohte ihre wichtigste Verbindungslinie, die Chaussee von Brüssel nach Namur.

*

Vor einer Mühle in der Ebene von Fleurus stand ihr Besitzer, ein alter flämischer Windmüller, und blickte betrübt in die Gegend hinein.

Die ganze Nacht, den ganzen gestrigen Tag hatte er auf der Chaussee von Charleroi den Lärm anrückender Truppenmassen gehört. Die Preußen, die zuerst gekommen waren, lagerten noch in und um den Dörfern am Lignybach. Jetzt rückten die Verfolger, die Franzosen, heran. Und die Preußen machten noch keine Miene, weiter auszuweichen!

Der Müller seufzte.

Blieben sie, dann säße er wieder hübsch in der Klemme! Dann würden von hüben und drüben Kanonenkugeln heranfliegen, die neuen Flügel seiner Mühle zerschmettern und, wer weiß, sie am Ende gar in Brand stecken! Und er käme um seinen Besitz! Seine schöne Mühle, die er, im Vertrauen auf einen dauernden Frieden, wieder mit Mühe und Not instand gesetzt hatte, wäre hin, und er konnte betteln gehen!

Er seufzte, ging mit schweren Schritten in die Mühle hinein, stieg die schwankende Leiter bis zum Dach hinauf, öffnete die Luke und trat auf die Plattform hinaus.

Von hier hatte er freien Blick nach allen Seiten und konnte sogar über die hohen Pappeln und Weiden, die die Ufer des Lignybaches umsäumten und unten den Ausblick nach Osten behinderten, hinwegsehen.

Drüben im Osten, wo die scharfen Silhouetten einiger Windmühlen sich gegen den Himmel abzeichneten, kribbelte und krabbelte es wie ein endloser Zug von Ameisen auf der Chaussee von Namur nach Brüssel, die sich am Kamm des Höhenzuges entlang wand. Gen Sombreffe ging es und noch etwas darüber hinaus. Dort schien es sich zu stauen, quoll an, breitete sich aus und begann langsam die hohe Böschung von der Chaussee nach dem Bach zu überfluten. Die Ameisen krochen näher, bekamen blitzende Spitzen, bunte Farben, sie wuchsen, gliederten sich, nahmen Form an, wurden zu Menschen, Pferden, Geschützen, Wagen, und bedeckten bald den ganzen Abhang, mehrere Meilen breit bis zum Bach herunter. Und schließlich stand, wie auf einem fächerartig sich ausbreitenden Amphitheater, die ganze preußische Armee gefechtsbereit da.

Der Müller nahm seine Mütze ab und wischte sich die Schweißtropfen aus der Stirn. Der Tag war heiß, die Sonne brannte. Es würde noch ein Gewitter geben.

Unten prangten die Wiesen wieder in saftigem Grün, nachdem die erste Heuernte geborgen worden war. Die Kornfelder standen reich in goldener Fülle und harrten des Schnitters.

Ein einziger Tag würde genügen, diesen ganzen Reichtum zu vernichten.

In den nächsten Stunden schon würde der Schnitter Tod seine Sense schwingen und Ernte halten. Die Erde würde wieder daliegen, aufgewühlt und mit tausend klaffenden Wunden, von blutigen Trümmern, Leichen und Pferdekadavern bedeckt. Die Feldfrüchte würden zerstampft, alles vernichtet werden!

Wie oft schon hatten seine Augen das gleiche Schauspiel gesehen! Seit seiner ersten Jugend kannte er's nicht anders, als daß fremdes Kriegsvolk die Fluren seiner Heimat verwüstete. Immer wieder suchten sich die Völker Flanderns blutgetränkte Erde zum Tummelplatz ihres Haders und ihres Streites aus. Jahraus, jahrein brauste der Schlachtenlärm über seine fruchtbaren Gefilde hinweg. Das einst so reiche und mächtige Land verödete, sein Handel, seine Industrie suchte sich anderswo eine gesicherte Heimat, und nur die alten Städte mit ihren Burgen, Hallen, Türmen und weit ins Land hineinragenden Belfrieden zeugten noch von der einstigen Macht und Herrlichkeit ihrer Bewohner.

Der Müller stand noch eine Weile und blickte verträumt auf die dichten Wolken, die sich im Osten allmählich über den Horizont erhoben und anfingen, langsam das Blau zu verdecken. In einigen Stunden würde das Gewitter da sein.

Unten wurden Hufschläge von Pferden laut und verstummten am Eingang.

Gleich darauf knarrte die Leiter im Innern der Mühle unter wuchtigen Tritten. In der Wandluke zur Plattform kam ein scharfgeschnittenes Gesicht zum Vorschein, darüber ein dreieckiger schwarzer Hut, und dann eine grüne Uniform mit weißem Brustlatz über einem starken kurzen Körper. Im nächsten Augenblick stand der Kaiser Napoleon vor dem Müller, der eiligst seine Mütze vom Kopfe riß.

Der Müller kannte ihn wohl – und wem in der ganzen Welt wären wohl die Züge jenes Märchenhelden noch unbekannt gewesen?

Er trat auf den Kaiser zu und verbeugte sich tief. Er wollte die Gelegenheit benützen, ihm ins Gewissen zu reden – wollte hinausschreien, was er auf dem Herzen hatte, wollte ihm von hier aus die reiche Ernte ringsherum zeigen, die jetzt auf ein Wort von ihm der Vernichtung anheimfallen würde, und wollte sagen: »Sehen Sie, Sire, wie schön das alles ist, und wie reich uns der Himmel in diesem Jahre segnet! Das alles hier unten sind Gaben des Himmels! Und Gaben des Himmels tritt man nicht mit Füßen! Denkt doch daran. Schont unser armes, gemartertes Land! Laßt es nicht wieder verwüsten – laßt meine einzige Habe nicht vernichten. Es kostet nur ein Wort! Ein Wort, Sire, von Ihrem Munde gesprochen! Sie haben die Macht! Nützen Sie sie aus! Haben Sie Erbarmen!«

So wollte er sprechen. Als er aber die Blicke zu dem ehernen Gesicht des Schlachtenkaisers erhob, da vergaß er alles, da verlor er den Mut.

Was hätte es auch genützt?!

Die Worte hätten keinen Einlaß in das Bewußtsein jenes Gewaltigen gefunden, der vor ihm stand. Dort drinnen war alles in voller Gärung. Die Vorfreude einer großen Tat durchfieberte seinen Geist und spannte sein ganzes Denken an. Gewaltige Ideen jagten sich, ungeheure Gedankenverbindungen lösten sich dort unter jener Stirn ab, sein ganzes Hören war auf die Zuflüsterungen seiner inneren Stimme gerichtet. Wie wäre es ihm nur möglich gewesen, das Wimmern jenes armseligen Wurmes zu beachten, der sich vor ihm krümmte!

Napoleon streckte die Hand aus, zeigte auf die Höhen im Nordosten, und fragte, ohne auf den Müller zu sehen:

»Das Dorf drüben, von dem der Kirchturm aus der Talsenke hinter der Windmühle aufragt?«

»Brye!« antwortete der Müller.

»Und drüben im Osten, rechts von Sombreffe, an der Chaussee von Namur?«

»Point de jour!«

»Das Dorf hier unten, wo der Bach im geraden Winkel von uns nach Osten abbiegt, ist Ligny?«

»Ganz richtig!«

»Die drei Dörfer links davon, vor der Biegung des Baches sind also –?«

»Saint-Amand – Saint-Amand la Haye – Le hameau Saint-Amand!«

»Das Dorf am meisten links ist also Wagnelée. Und dahinter, die Straße, die die Chaussee quer schneidet, wäre denn die alte Römerstraße?«

»Das stimmt!«

»Da wären wir also orientiert!« sagte der Kaiser und fing an, das ganze Amphitheater und den Horizont mit seinem Fernrohr gründlich abzusuchen.

»Mindestens neunzigtausend!« murmelte er vor sich hin. »Sein viertes Korps wird also noch unterwegs sein. Um so besser!«

Er schob sein Fernrohr zusammen, bückte sich und rief durch die Luke in die Mühle hinein.

»Marschall Soult soll sofort noch einen Kurier nach Quatrebras an Marschall Ney abfertigen, den Befehl von heute früh nachdrücklich wiederholen und sagen, ich griffe um zwei Uhr die Preußen an, er möge sofort alles, was vor ihm steht, wegfegen, Quatrebras und die Straße von Namur nach Brüssel besetzen, dann zwölf- bis fünfzehntausend Mann hierherdetachieren und die Preußen in den Rücken nehmen. Spätestens um zwei Uhr will ich seine Kanonen hören!«

»Zu Befehl!« antwortete drinnen eine Stimme, und die Leiter im Innern der Mühle fing wieder an zu quietschen und zu knarren unter den Schritten des Fortgehenden. Gleich darauf klapperten unten Hufschläge, die sich rasch entfernten.

»Ist der Bach die ganze Strecke von uns aus so dicht mit Bäumen eingefaßt?« fragte Napoleon den Müller, der immer noch mit der Mütze in der Hand dastand.

»Hinter Ligny – geradeaus von uns – ist eine baumlose Strecke«, antwortete dieser.

»Es ist gut!« sagte Napoleon, zufrieden, einen Platz herausgefunden zu haben, von dem aus er die preußische Stellung flankierend beschießen lassen konnte.

Er ging um die Plattform herum und blickte nach Westen über das Feld hinaus, wo seine eigenen Truppen im Anmarsch waren.

Links von der Chaussee Charleroi – Namur stand schon das Korps Vandamme in Stellung vor den drei Dörfern Saint-Amand. Auf der Straße selbst und rechts am Bach, von dessen Biegung ab – also fast in rechtem Winkel zu Vandamme – war das Korps Gerard im Begriff, sich auszubreiten – rechts von ihm die leichte Kavallerie Pajols, Exelmanns Dragoner und Milhauds Kürassiere – hinter der ganzen Aufstellung, als Reserve, die Garde. Im ganzen 64 000 Mann. Aber drei Lieues rückwärts, wo der Weg von Charleroi sich in die Chausseen nach Brüssel und Namur teilt, hatte Napoleon noch den Grafen Lobau mit zehntausend Mann stehen, um im Bedarfsfalle entweder auf der einen oder der anderen Straße zur Unterstützung vorgehen zu können.

Voll stolzer Zuversicht blickte der Kaiser über seine Truppen hinaus – die prächtigsten, die er seit langem geführt hatte. Hätte er die im Vorjahre gehabt, nimmermehr wäre der Feind in Paris eingezogen – die lächerliche Elbaepisode hätte er niemals erlebt, und der Kampf wäre ihm jetzt erspart worden.

Seine Veteranen waren aber in alle Welt zerstreut gewesen, in Spanien, in den deutschen Festungen, in den Spitälern, oder kriegsgefangen. Und er hatte den Endkampf mit unerprobten Rekruten und mit schlechtem oder minderwertigem Material ausfechten müssen, da seine Hauptdepots in Deutschland verlorengegangen waren.

Diese Leute hier waren aber fast alle in zwanzigjährigen Kämpfen gestählt, wetterfeste, gebräunte Kerle mit Nerven aus Stahl und mit unbeugsamem Mut, jeder einzelne zehn andere aufwiegend.

Napoleon zwängte seinen dicken Körper wieder durch die Luke hinein, ohne den Mühlenbesitzer weiter zu beachten. Dieser hatte auch schon den Kaiser vergessen und blickte interessiert nach der Mühle bei Bussy hinüber, wo unter den dunklen Uniformen der Preußen einige rote Röcke aufleuchteten, und viel Gold und Flitter verrieten, daß dort wohl der feindliche Stab, mit Engländern vermischt, seinen Standort hatte.

Die Gewitterwolken waren bis zur halben Höhe des Himmels geklettert. Die Sonne stand im Zenit und sandte eine mörderische Glut herab. Der Wind schlief.

Vier Kuriere hatte Napoleon schon an Ney geschickt mit dem gleichen Befehl, und noch immer hörte er nicht dessen Kanonen.

Die Spannung wuchs ins ungeheure.

Führte Ney pünktlich seinen Befehl aus, so gab's für die Preußen kein Entrinnen mehr. Sie würden der sicheren Umzingelung und Erdrückung nicht entgehen können und waren für diesen Feldzug aus dem Spiel.

Die Niederlage der Engländer war dann nur eine Frage der Zeit – und die politischen Folgen unabsehbar. Das Schicksal der Welt hing von der strikten Ausführung dieses einen Befehls an Ney ab.

Mit der Uhr in der Hand wartete Napoleon die Zeit ab. Der Zeiger rückte unendlich langsam vorwärts – es wurde eins – es wurde halb zwei – zwei – und immer noch keine Kanonade von drüben!

Was war denn los? Ney, sonst kaum zu zügeln, und jetzt?

Napoleon verfluchte innerlich seine Unklugheit, seinen ganzen linken Flügel in die Hand dieses unzuverlässigen Brausekopfs gegeben zu haben. Er hatte aber keine Wahl gehabt. Die meisten seiner alten Marschälle waren kriegsmüde und unter allerlei Vorwänden auf ihren Gütern geblieben. Sie trauten seinem Glück nicht mehr und zogen es vor, sich noch alle Auswege offenzuhalten. Ein Sieg nur – und er hätte das Vertrauen jener Zaghaften wieder! Dieser Sieg winkte ihm heute so sicher wie einst bei Austerlitz – bei Jena – bei Marengo, und gleich umfassend, gleich vernichtend für den Feind! Könnte er nur selbst überall anwesend sein – selbst jede Einzelheit seines Planes ins Werk setzen!

Er schickte rasch noch einen Kurier nach Quatrebras, mit dem eigenhändigen Befehl an Ney, sofort zum Angriff auf die Engländer zu gehen und gleich einige Regimenter hierherzusenden. »Das Schicksal Frankreichs liegt in Ihrer Hand!« schrieb Napoleon, zog dann die Uhr, wartete bis halb drei, fluchte laut, weil er noch immer keinen Kanonendonner von Ney hörte, und erteilte endlich den Befehl zum Angriff.

Sogleich warf sich Vandamme mit seiner Division auf die drei Dörfer Saint-Amand, in denen Zieten sich festgesetzt hatte. Es waren drei Festungen, wie sie da unten im Talgrund am Bach lagen, von Obstgärten, Hecken, Zäunen umgeben und untereinander verbunden durch die hohe grüne Kulisse der am Lignybach wachsenden Pappeln und Weiden, die Freund und Feind gleich unsichtbar füreinander machten.

Die Dörfer wurden nach heftig hin und her wogendem Kampf von den Franzosen genommen. Darüber hinaus war aber kein Fortkommen, der Bach blieb für sie ein unüberwindliches Hindernis – die Stellung der Preußen auf den Anhöhen dahinter war durch frontalen Angriff uneinnehmbar.

Blücher hatte zwischen Brye und Saint-Amand 60 000 Mann stehen, die er so allmählich in den Kampf eingreifen ließ, um die Dörfer vom Feind zurückzuerobern. Nach stundenlangen wütenden Kämpfen, die besonders in Ligny äußerst blutig wurden, beschloß Napoleon, einen Keil zwischen die um die Dörfer kämpfenden beiden Korps Blüchers und seine Reserven zu treiben. Er bildete aus sechs Bataillonen seiner Garde eine Sprengkolonne, führte sie selbst von der Biegung des Baches am Dorfe Ligny vorbei und ließ dort durch Sappeure eine Gasse in Kompaniebreite durch die den Bach umsäumenden Bäume legen, um dort zum Durchbruch der preußischen Front vorzustoßen.

Die Gefahr für die Preußen war groß.

Blüchers rechter Flügel hing in der Luft und konnte jeden Augenblick umgangen werden, wenn der französische linke Flügel mit Ney eingreifen würde. Er hatte die Unvorsichtigkeit begangen, die Schlacht anzunehmen, ohne erst die Ankunft seines vierten Korps abzuwarten. Er vertraute auf Wellingtons bestimmtes Versprechen, um vier Uhr zu ihm zu stoßen, und hatte Napoleon das gleiche Schicksal zugedacht, wie dieser ihm.

Aber weder Wellington noch Ney kamen.

Im vergeblichen Abwarten dieser Unterstützung auf beiden Seiten rieb man sich im Kampf um die Dörfer auf, ohne vom Fleck zu kommen. Tausende von Leichen bedeckten die Dorfstraßen, die Gärten und die umgebenden Felder.

Der Nachmittag ging schon zur Neige. Die Hitze, immer noch drückend, wich plötzlich, als auf einmal mit gewaltigem Krachen das Gewitter über das Schlachtfeld niederging. Plötzliche Dunkelheit ersetzte die frühere strahlende Helle, Blitze züngelten. Der Donner erstickte das Krachen der Geschütze, der Kampf schien zu erlöschen in den den Wolken entströmenden Fluten.

Blücher, der immer noch hoffte, Wellington mit seinen Rotröcken im Rücken Napoleons ankommen zu sehen, trieb seine Divisionen unaufhaltsam vorwärts gegen die von den Franzosen besetzten Dörfer. Er biß sich in sie fest und ließ nicht locker, er würde sie festhalten, solange er noch Kraft hatte, bis der Engländer anlangte, um ihnen den Fangstoß zu geben. Aber der Engländer kam nicht, und seine Leute ermüdeten. Er sprengte dann an die Division Pirch heran, um sie selbst zur Unterstützung heranzuführen. Als die Leute Blücher auf seinem Schimmel herangaloppieren sahen, blieben sie stehen und grüßten den Marschall mit begeisterten Zurufen.

Blücher, dem es an allem anderen mehr gelegen war, als mit Huldigungstratsch auch nur eine Sekunde kostbarer Zeit zu verlieren, hielt jäh seinen Schimmel an, erhob sich in den Steigbügeln, drehte sich zornrot um und schrie ihnen mit Donnerstimme zu: »Leckt mich – – –! Dort steht der Feind! Vorwärts!« – gab dann seinem Gaul die Sporen und flog allen voran in den Kugelregen hinein, der ihm aus den Dörfern den Willkomm gab.

Das Gewitter wurde immer heftiger, es dunkelte immer. mehr. Es wurde schon acht Uhr, und immer noch war keine Entscheidung, immer noch kein Ney in Sicht!

Schließlich wurde Napoleon des Harrens müde und erteilte seiner Garde, die er solange wie möglich geschont hatte, den Befehl zum Angriff.

Durch die offene Gasse zwischen den Bäumen rückten die Bataillone vor, überschritten den Bach und stürmten die Anhöhe auf der anderen Seite hinan, um hinter die 60 000 Mann Blüchers zu kommen, die unten bei den Dörfern kämpften, und sie von dem Korps Thielmanns, das noch oben an der Chaussee stand, und von Bülow, falls der käme, zu trennen.

Das Gewitter wurde immer gewaltiger, Blitz auf Blitz züngelte nieder und beleuchtete die Einbruchsstelle, aus der die Kolonne der Bärenmützen langsam und unwiderstehlich wie eine Naturmacht aus der Tiefe heraufdrängte und alles vor sich hinwegfegte.

Die Gefahr war groß. Blücher warf alles, was er an Kavallerie hatte, den Franzosen entgegen, eilte selbst von dem Kampf um Saint-Amand zurück nach Brye und ordnete den Gegenangriff. Feurig wie ein Jüngling, mit vor Aufregung gerötetem Gesicht, sprengte der Dreiundsiebzigjährige, den Säbel schwingend, in großen Bogensätzen allen voran und feuerte sie durch Zurufe an.

Als käme er aus den Wolken, so wirkte im Aufflackern der Blitze seine rasend vorwärts stürmende Erscheinung auf Freund und Feind.

Ein ohrenbetäubender Krach, ein minutenlanger Blitz, das Pferd Blüchers machte einen Riesensprung, als wollte es mit ihm in den Himmel hineingaloppieren, und dann war es verschwunden. Kein Blitz vermochte es mehr aus dem Dunkel hervorzuzaubern. Aber wo es zuletzt gesehen war, rasselten die Hufschläge der jetzt zur Attacke vorstürmenden Kürassiere Milhauds vorüber – und dann zurück, von den preußischen Reitern verfolgt. Die Preußen fanden ihren Feldmarschall unter seinem Pferd liegend, beschützt von seinem treu an seiner Seite ausharrenden Adjutanten Nostiz. Sie befreiten ihn aus seiner qualvollen Lage, setzten ihn, dessen alte Knochen immer noch unversehrt waren, auf ein anderes Pferd und brachten ihn aus dem Schlachtgetümmel.

Gleichzeitig brachen die Franzosen aus allen Dörfern hervor, die nun nicht länger zu halten waren, nachdem durch den Stoß der Garde die preußische Schlachtlinie durchbrochen worden war. Die Preußen räumten das Kampffeld und zogen sich auf Tilly und Mellery zurück. Die Straße von Namur nach Brüssel, ihre einzige Verbindung mit den Engländern, war ihnen verlorengegangen. Es blieb ihnen nur übrig, entweder auf den Rhein zurückzugehen oder auf einem großen Umweg noch die Vereinigung mit Wellington zu versuchen.

Mitten in der Nacht traf Gneisenau auf Blücher, der, auf Stroh gebettet, in einer Hütte in Mellery lag und von seinem Leibarzt Bieske gesalbt und frottiert wurde.

»So'n Sturz mit dem Pferd war noch nicht da!« rief ihm der Alte entgegen. »Wenn das nicht Glück bedeutet, dann will ich gehängt werden. Das nächste Mal, Gneisenau, das nächste Mal! Heute haben wir Schmiere gekriegt, das wollen wir ausbessern. Wir müssen uns zurückziehen, daran ist nichts zu ändern, aber der Rückzug geht vorwärts, wie immer – vorwärts an den Feind heran!«

Das wäre auch seine Absicht gewesen, sagte Gneisenau, und das hätte er schon angeordnet. Er hätte Bülow bereits andere Marschorders gegeben und die Armee in die Richtung auf Wawre dirigiert, statt zurück nach Namur und Lüttich.

»Wir geben wohl dadurch unsere Verbindungslinie auf,« setzte Gneisenau lächelnd hinzu, »und das ist ja bei einer geschlagenen Armee nicht gerade üblich! Aber wir kommen mit den Engländern zusammen und führen hoffentlich noch mit ihnen gemeinsam einen vernichtenden Streich gegen den Feind!«

Damit war Blücher einverstanden. Das war ganz nach seinem Sinn. Gneisenau ging. Und als der Doktor auch fort war, rief Blücher seinen Kammerhusaren.

»Ist der Quacksalber nun weg?« fragte er. Und setzte, als die Frage bejaht wurde, im Flüsterton hinzu: »Der hat mich nun wieder bepflastert und gesalbt, wie's nicht anders von ihm zu erwarten war! – Das Innerliche wollen wir uns aber selbst verschreiben. Hol' mir eine Flasche Champagner her. Aber heimlich, daß es keiner sieht!«

Das besorgte der Husar, goß dem Feldmarschall ein Bierglas voll, bekam selbst sein Teil, und so waren sie bald wieder klar zum Gefecht.

*

Die Preußen marschierten.

Auf grundlosen Wegen, bei strömendem Regen arbeiteten sie sich vorwärts, abgehetzt, hungrig, durchnäßt, aber doch frohen Mutes, weil ihr Marsch sie wieder an den Feind heranführte, und weil sie alle danach lechzten, die Scharte auszuwetzen und für die gefallenen Kameraden Rache zu nehmen.

Der verfolgende Sieger machte es sich bequem.

Er nahm ohne weiteres an, die geschlagenen Feinde hätten nichts Eiligeres zu tun, als wieder nach Hause zu laufen, und verfolgte sie also, nachdem er erst weidlich gerastet hatte, in der Richtung auf den Rhein zu. Und so marschierten die Preußen an seiner Nase vorbei, ohne daß er etwas merkte, sammelten ihre Versprengten, ordneten ihre Verbände und langten am nächsten Tage ungefährdet in Wawre an.

Napoleon selbst hätte sie nicht so leichten Kaufes entkommen lassen. Er hatte aber den Führer seines rechten Flügels, den Marschall Grouchy, mit der Verfolgung betraut, und zog selbst mit den Garden und der schweren Reiterei in der Richtung auf Brüssel den Engländern entgegen, die sich langsam vor ihm zurückzogen, um sich ihm schließlich am Wald von Soignes, auf dem Höhenzuge von Mont St.-Jean, in den Weg zu legen.

Am 18. Juni früh sprach General Friant von der alten Garde im Hauptquartier beim Generalstabe vor, dem jetzt nicht Berthier, sondern Marschall Soult als Generalquartiermeister vorstand.

Friant war einer der alten Veteranen, der alle Feldzüge mitgemacht hatte, und genoß das größte Vertrauen Napoleons.

Der Kaiser war noch nicht von seinem Rekognoszierungsritt zurückgekehrt. Die beiden Generäle ritten langsam Seite an Seite die Chaussee entlang dem Kaiser entgegen.

Sie unterhielten sich über die vorgestrige Schlacht und die Aussichten für die heutige und für den Feldzug überhaupt, und waren nicht ohne Bedenken.

»Der Kaiser hat das Va-banque-Spielen verlernt!« sagte der alte Friant, der in den meisten Partien mitgespielt hatte und also Bescheid wissen mußte. »Früher war es anders. Idee, Entschluß, Tat waren zugleich da – waren ein Blitz, der niedersauste, traf und zerschmetterte. Jetzt überlegt der Kaiser, spekuliert, erwägt die Chancen für und wider mit einer gewissen Genießerfreude im Auffinden von Spitzfindigkeiten und versäumt darüber den rechten Moment. Seine Siege sind längst keine Katastrophen mehr für den Feind und für uns nur keine Niederlagen. Die Niederlage ist dafür bei ihm in den Bereich des Möglichen gerückt. Das verstimmt und macht einen unsicher!«

»Das macht das Fett«, sagte der lange, hagere Soult mit seiner hohen Fistelstimme, und strich seine wildflatternden Haarsträhnen aus dem gefurchten Altweibergesicht. »Das Fett macht bequem, phlegmatisch und kurzatmig – das verfettete Herz hüpft nicht mehr in seinem Knochengehäuse wie ein Frosch auf einer grünen Wiese. Es zappelt nur lahm, sinkt müde hin und schläft ein. Daher die plötzliche Schlafsucht beim Kaiser in den letzten Jahren. Sie überkommt ihn ganz plötzlich bei den ungeeignetsten Gelegenheiten und überwältigt ihn unwiderstehlich, als erlösche auf einmal in ihm alles Licht. Mitten im entscheidenden Moment einer Schlacht hört er auf einmal nicht und sieht nicht mehr; alles flimmert ihm vor den Augen und fließt auseinander; er muß sich sofort hinlegen und liegt dann da wie ein Toter, ohne Träume, ohne Bewußtsein. So hat er selbst es mir geschildert. Es ist das Fett – ich wiederhole es. Und meines Erachtens sind wohl auch die verschiedenen galanten Krankheiten nicht spurlos an seinem Geist vorübergegangen.«

»Dem möchte ich nicht beipflichten«, sagte der alte Friant kopfschüttelnd. »Sein Geist weilt in der klaren Höhenluft wie früher, gleich durchdringend, gleich schnell im Erfassen der Lage und im Entwerfen der Pläne. Aber der Körper ist von den jahrelangen, nie aufhörenden Kämpfen müde geworden. Und wie seine leiblichen Glieder allmählich erschlaffen, so auch seine geistigen: seine Unterführer. Die Herren Marschälle funktionieren nicht mehr wie früher. Sonst blitzschnelle Vollstrecker seines Willens, sind sie jetzt unsicher und zaghaft und nur, wenn er persönlich dabei ist und sie antreibt, von dem gleichen Elan wie ehemals. Und der Kaiser, sonst scharf und vernichtend in seiner Kritik auch dem besten Freund gegenüber, ist jetzt sanft und nachsichtig geworden und vermeidet die verletzenden Worte, die ihm sonst so schnell auf die Zunge kamen. Ich habe mich gewundert, wie milde er heute dem Marschall Ney kam, dessen Trödeln vorgestern das Mißlingen seines schönen Einkreisungsplans verschuldet hatte.«

»Ich nicht«, sagte Soult. »Der Kaiser macht eben keine unnützen Worte. Kein Wort kann am Geschehenen etwas ändern. Was vorbei ist, ist vorbei. Als Ney gestern vor ihm stand, da stand er nicht als Vertreter seines gemachten Fehlers da, sondern als Träger einer Hauptaufgabe in der nächsten Schlacht!«

»Die er uns denn auch verpatschen wird«, antwortete Friant brummig. »Das weiß Napoleon auch ebensogut wie wir. Er war keinesfalls von Nachsicht gegen Ney beseelt. Er war nur vorsichtig. Er hat im Vorjahre eben an seinen treuesten Dienern die bittere Erfahrung machen müssen, daß ein Abfall auch bei denen möglich ist. Das brennt sich in die Seele ein. Den Treueid Neys hat er auch einschätzen gelernt, als der gute Fürst von der Moskwa, wenn auch zu seinen Gunsten, den Bourbonen den feierlichen Treuschwur brach. Auch wird er niemals am eisernen Käfig vorbeikommen, in dem Ney versprochen hatte, ihn nach Paris zu bringen. Der steht immer zwischen ihm und dem Marschall. Mir scheint es jedenfalls seitdem immer, als sprächen sie durch das Gitter jenes eisernen Käfigs miteinander, und als wüßten sie alle beide dabei nicht recht, wer von ihnen drinnen und wer draußen ist. Ein gutes Zusammenarbeiten gibt das nicht. Napoleon ärgert sich heimlich, weil er Ney nicht entbehren zu können glaubt. Und Ney ist unzufrieden, weil er schwach war und sich wieder gebrauchen lassen muß. Denn er ist schwach – er ist gänzlich ohne Charakter – er ist dumm, geistlos, hat nichts als sein tapferes Herz und seinen Löwenmut, der alles mitreißt und in Flammen setzt. Wie fest glaubte nicht der Schwachkopf an seine eigenen Worte, als er vor einem Vierteljahr an der Spitze einer Armee auszog, um Napoleon zu fangen. Und kaum erblickte er den grauen Mantel und den schwarzen Dreispitz Napoleons wieder, da schrie er zuerst von allen sein › Vive l'empereur!‹ und führte den Kaiser im Triumph in die Tuilerien. Und dann war wieder die Reue da mit dem bösen Gewissen über den gebrochenen Treueid an Ludwig, den er niemals hätte schwören dürfen, den er aber, einmal gegeben, hätte unbedingt halten müssen. Er fuhr auf seine Güter, zeigte sich nicht bei Hofe und stellte sich nicht beim Kriegsausbruch, er ebensowenig wie Berthier, Massena, Angereau und all die anderen. Aber – kaum schreibt ihm Napoleon die paar Worte: ›Beeilen Sie sich, wenn Sie meine erste Schlacht noch mit ansehen wollen‹, da wirft er sich aufs Pferd, galoppiert los, ohne Gepäck und nur von einem Adjutanten gefolgt, reitet die Pferde kaputt, nimmt von Mortier dessen Pferde in Maubeuge und kommt noch früh genug, um das Kommando des ganzen linken Flügels zu bekommen und uns die vorgestrige Schlacht zu verderben. Ich habe nach dem allen nicht viel Vertrauen mehr zu seiner Führung.«

Soult antwortete nicht. Es war ihm peinlich, über einen alten Kriegskameraden zu Gericht zu sitzen. Aber der alte Friant hatte sein Thema noch nicht erschöpft.

»Es ist merkwürdig,« sagte er noch, »wie die geringfügigsten Umstände in der Kindheit oft für das ganze Leben eines Menschen Bedeutung haben können. Sehen Sie nur Ney an, diesen baumlangen, pausbäckigen, rotwangigen Recken, mit seinem dichten, hellblonden Haarschopf. Er ist reich und mächtig, er ist Herzog und Fürst geworden und hat einen Namen, von dessen Ruhm Europa widerhallt. Und doch sieht man ihm immer noch den früheren Böttchergesellen an – den biederen Deutschen, brav, aufbrausend und rauflustig, der seine Keile wuchtig wie wenige eintreibt – wenn der Meister danebensteht. Sonst nicht! Er ist der typische deutsche Landsknecht, wie er durchs ganze Mittelalter hindurchraste. Denn deutsch sind die Leute aus seiner lothringischen Heimat, und sie werden niemals rechte Franzosen.

Napoleon wiederum, er war das Kind des Schreckens – von seiner Mutter, in der Aufregung der Flucht, zu früh geboren. So eilig hatte er es, auf diese Welt zu kommen, daß die Mutter nicht einmal Zeit fand, das Bett aufzusuchen, sondern ihn auf einem Teppich gebar, der voll von Helden- und Heroenkämpfen des Altertums war. Auf dem Teppich ist er sein Leben lang geblieben! Aus dem Kampfgetümmel kommt er nicht mehr heraus! Die Schreckensherrschaft machte seinen Aufstieg möglich! Schrecken verbreitete er überall, wo er hinkam, Liebe nicht.«

Heftige Rufe: » Vive l'empereur!« wurden laut. Die beiden Reiter hielten an vor dem hochgelegenen Pachthof La Belle-Alliance, von dem sich die Chaussee jäh in das Tal senkt, und konnten von hier aus die in voller Schlachtordnung aufgestellte französische Armee überblicken.

»Hören Sie selbst,« sagte Soult, »wie die Leute Ihre Worte Lügen strafen!« und zeigte nach links in die Ferne, wo die schwere Kavallerie Kellermanns hielt. Dort nahmen die Kürassiere eben ihre Helme auf dem Pallasch hoch und schwangen sie über den Köpfen, daß sie in der Sonne blitzten. Die Bewegung pflanzte sich fort, je nachdem die kleine Gruppe Reiter, deren erster Napoleon war, die Reihen durchritt. Die Lanciers nahmen gleichfalls ihre Tschakos auf die Piken und huldigten ebenso begeistert ihrem Kaiser. » Vive l'empereur!« schallte es ununterbrochen und rollte wie ein Donner durch die Gegend.

»Sie entschuldigen, Herr General, ich muß aber schnell hin!« sagte Soult dann plötzlich, grüßte artig, gab seinem Pferd die Sporen und galoppierte davon.

Friant hielt sein Pferd, das mitgehen wollte, zurück, blickte über das Feld hinaus, ritt dann langsam zur Garde hinüber, die im letzten Treffen aufgestellt war, und nahm seinen Platz an der Spitze seiner »Bärenmützen« ein.

Kurz darauf langte Napoleon nach beendigter Truppenbesichtigung am Pachthof an.

An seiner Seite ritt sein Bruder Jérôme. Im Gefolge die Marschälle Soult und Ney und die Generäle Lobau, Reille und d'Erlon.

Der Kaiser schwenkte sein Pferd herum und hielt an.

Wie immer, wenn er irgendwo haltmachte, sprangen vier Mann seiner Leibgarde von den Pferden, stellten sich in weitem Viereck um ihn herum auf und sperrten den Platz ab. Wie eine lebendige Burg schob sich dieses Viereck hin und her, seinen jeweiligen Bewegungen folgend.

»Wie bei einem Fächer laufen die Flankenlinien unserer Aufstellung hier in diesem Punkt zusammen«, sagte Napoleon und blickte prüfend über seine etwas tiefer stehende Armee, die in drei Linien, die eine kürzer als die andere, vor ihm aufmarschiert war.

Er nickte befriedigt, als er dicht vor sich in der dritten kürzesten Linie die feste Mauer seiner alten Garde sah, deren Grenadierbataillone, wie wandernde Festungen seines Kaisertums, ihn durch alle Feldzüge begleitet hatten und ihn auch heute vor jeder Tücke des Zufalls beschützen sollten. Rechts von ihnen wogte ein Wald von Eisenspitzen über den ungeduldig sich bäumenden Pferden der Lanciers von Lefebvre-Desnouëttes, während links die Linien der reitenden Garde, wie nach der Schnur ausgerichtet, ihrer Verwendung harrten.

Napoleon winkte den Grafen Lobau näher und zeigte auf die von ihm befehligte junge Garde, die die Mitte der zweiten Linie zu beiden Seiten der Chaussee hielt.

»Es waren viele blutjunge Gesichter unter Ihren Leuten zu sehen, lieber Graf«, sagte er. »Viele schmächtige Gestalten, die ich Bedenken haben würde, auf entscheidenden Stellen einzusetzen, wenn ich nicht wüßte, daß es Franzosen sind – und vor allem, wenn sie nicht in Ihnen einen Führer hätten, der sie alle, nicht nur körperlich, um einen Kopf überragt!«

Er nickte gnädig dem über die Anerkennung stolz lächelnden Grafen zu und ließ die Blicke fast zärtlich über die eiserne Masse seiner schweren Reiterei schweifen, die, von Milhaud und Kellermann geführt, rechts und links von der jungen Garde ihre Kürasse und Helme in der Sonne blitzen ließ. Denn die Sonne brach jetzt endlich durch die Regenwolken, die sie seit zwei Tagen dem Anblick der Welt entzogen hatten. Dann nahm die erste Linie, die dicht am Rand des Plateaus ihre Massen ausbreitete, seine volle Aufmerksamkeit gefangen.

»General d'Erlon!« rief er, und der General lenkte grüßend sein Pferd näher. »Ihre Divisionen stehen alle hintereinander. Lassen Sie lieber vier Angriffskolonnen nebeneinander um je eine Division in Kompaniebreite formieren. Ihre Leute waren bei Ligny nicht im Feuer. Heute sollen sie die Hauptarbeit machen. Wenn das Signal zum Angriff gegeben wird und das Artilleriefeuer ausgewirkt hat, dann steigen Sie in das Tal hinunter, werfen den Feind aus den Pachthöfen La Haye und Papelotte, deren Dächer dort unten rechts aus dem Grün herauslugen, stürmen die jenseitige Anhöhe, zerschmettern den linken Flügel der Engländer, werfen ihn auf das Zentrum und entreißen ihm die Chaussee nach Brüssel. Im Walde hinter seiner Aufstellung werden wir ihm dann leicht den Garaus machen. Sie haben gegen sich Schotten und Hannoveraner, wie ich heute festgestellt habe. Auf dem Dorfweg, der sich drüben auf halber Höhe die Böschung entlang wie ein Laufgraben hinzieht, werden Sie auch von den Inselbewohnern etliche im Hinterhalt liegend vorfinden. Es wird nicht geschossen, nur mit dem Bajonett gearbeitet, bis Sie oben sind.

Ich muß auf dem rechten Flügel mehr Artillerie haben! – General Reille!«

Der Gerufene ritt in das Viereck hinein, das d'Erlon nach empfangenem Befehl verließ.

»Sie werden«, sagte Napoleon kurz und bestimmt, »von Ihrer Artillerie die schweren Haubitzen nach dem rechten Flügel hinübersenden. Sie sollen dort, wo die Front sich den Talrand entlang nach vorne biegt, Aufstellung nehmen und von dort den Feind mit flankierender Wirkung beschießen. Sie sehen die Häuser, die links von der Chaussee unten im Tal aus der grünen Oase emporragen?«

»Ich sehe sie.«

»Es ist das Schloß Houguemont. Ich habe englische Garden drinnen festgestellt. Werfen Sie sie hinaus. Erstürmen Sie dann die Böschung des Plateaus und schlagen Sie den Rest der englischen Garden, die mit den Holländern und den Braunschweigern dort das Plateau garnieren. Suchen Sie ihnen den Vereinigungspunkt der Chausseen von Nivelles und von Charleroi zu entreißen, und drängen Sie auch den rechten feindlichen Flügel in den Wald. Sie werden den rechten englischen Flügel nicht umgehen können. Wellington hat ihn, in seiner Angst, vom Meer abgeschnitten zu werden, doppelt so stark bedacht wie den linken. – Bis nach Hal haben wir seine Truppen feststellen können. Dort stehen mindestens 15 000 Mann. Dafür hat er hier höchstens 75 000 Mann beisammen, deren wir leicht Herr werden – wenn jeder seine Schuldigkeit tut und heute meine Befehle genau und auf die Minute befolgt.«

Die letzten Worte sprach er mit etwas erhöhter Stimme und einem raschen Seitenblick auf den Marschall Ney, dessen lange Gestalt etwas abseits hin und her tanzte, da er sein Pferd in seiner Ungeduld immer wieder mit den Sporen kitzelte und es so zum steten Pirouettieren brachte.

»Ney ist verdrießlich«, flüsterte Napoleon seinem Bruder zu. »Es reut ihn, vorgestern dem Teufel der Unentschlossenheit Einlaß in seine Seele gewährt zu haben. Ich habe meinen Ohren nicht getraut, als ich seine Ausreden hörte. Er hat tatsächlich geglaubt, bei Quatrebras die ganze englische Armee vor sich zu haben, statt, wie ich bestimmt annehmen durfte und ihm auch sagte, nur ein paar tausend Mann, die in zehn Minuten zu erledigen gewesen wären. Dieser dumme Kerl erlaubt sich, noch auf eigene Gefahr hin denken zu wollen, obwohl er weiß, daß ich für ihn und für euch alle zu sehen und zu denken pflege! Er hat mich gar verbessern wollen – – und hat mir so meinen schönen Plan verpfuscht. Hätte er gehorcht, wir stünden jetzt in Brüssel, und Wellington hätte nimmermehr gewagt, sich mir hier in den Weg zu legen. Jetzt hofft Wellington auf den Beistand der Preußen. Den soll er aber nicht haben, wenn mir Grouchy heute ein wenig besser gehorcht als Ney vorgestern! – Auf Ihre Plätze, meine Herren!« rief er laut den Generälen zu.

D'Erlon, Reille, Lobau und Ney grüßten, warfen ihre Pferde herum und setzten sie in Trab in der Richtung, aus der sie mit dem Kaiser gekommen waren.

»Heute wollen wir vor allem kaltes Blut bewahren, lieber Ney«, rief dieser noch dem Marschall nach, dessen hochrotes Gesicht sich dabei ganz dunkel färbte.

»Der tolle Kerl wird mir heute durch die Lappen gehen, um sein vorgestriges Trödeln wieder gutzumachen«, sagte der Kaiser halb für sich, winkte seinen Leibpagen heran und befahl ihm, den Tisch mit den Karten auf dem kleinen Hügel, der sich etwas abseits von der Chaussee erhob, aufstellen zu lassen. Er blickte dann über die Gegend hinaus, nach rechts in die Verlängerung des Tales hinein, wo sich vier Lieues entfernt die Türme des Städtchens Wawre auf dem blauen Dunst matt abzeichneten und der Lasne-Bach auf dem Grund des Tales sein silbernes Band hinschlängelte.

Von dort mußte Grouchy mit seinen 30 000 Mann kommen. Er müßte auch schon unterwegs sein. – Zwei Kuriere waren ihm schon während der Nacht mit dahingehenden Befehlen gesandt! Man sollte ihm gleich noch einen Boten schicken, wenn sich nicht bald die Spitzen seiner Kolonnen drüben auf der Höhe zeigten, wo die Kapelle von St.-Lambert weiß leuchtete.

Noch einmal umfaßte Napoleon mit einem Blick das ganze farbenprächtige Bild, das jetzt vom frei flutenden Sonnenlicht auf das prächtigste vergoldet wurde. Seine Haltung straffte sich, seine Augen leuchteten.

»Die Erde ist stolz, so viele tapfere Männer zu tragen«, sagte er. »Die ganze Natur lächelt unseren Helden und grüßt sie mit Siegesglanz!«

Er wandte sein Pferd und ritt langsam an dem allein dastehenden weißen Gebäude von Belle-Alliance vorbei, nach dem weiter hinten an der gleichen Chaussee liegenden Pachthof Caillou, wo er sein Hauptquartier hatte.

Dort angekommen, fühlte er plötzlich, wie schon sooft in den letzten Jahren, eine beginnende Ohnmacht im Gehirn.

Es war kein Wunder.

Am gestrigen Tag war er von früh um fünf bis zum späten Abend marschiert, dann seit ein Uhr nachts wieder im Sattel, und hatte die Gegend und die feindlichen Stellungen bei strömendem Regen selbst rekognosziert. Jetzt hatte er alles angeordnet, den Angriffsplan entworfen, die Armee aufgestellt und gegen die Ungeduld seiner Generäle angekämpft, die schon gleich in aller Frühe angreifen wollten, ehe der Boden so weit von den Regengüssen aufgetrocknet war, daß die Artillerie vorwärts konnte. Das spannte seelisch ab. Jetzt war er zu Ende, jetzt mußte sein Gehirn Ruhe haben.

Er rief seinen Bruder Jérôme.

»Es ist zehn Uhr«, sagte er. »Ich will eine Stunde schlafen. Um elf sollst du mich wecken – die anderen wagen es ja nicht. Um elf Uhr, keine Minute später!«

Damit streckte er sich auf seinem Feldbett aus, legte seinen Kopf auf das dünne Kopfkissen und schlief, wie er es jederzeit konnte, sofort ein.

Inzwischen marschierten die Preußen.

Durch unwegsames Gelände strebten sie in großem Bogen wieder zur Chaussee Namur – Brüssel zurück, die sie bei Sombreffe hatten verlassen müssen.

In Wawre rasteten sie, trockneten ihr durchnäßtes Zeug, schafften sich etwas Warmes in den Leib, brachten ihre Waffen in Ordnung, ergänzten ihre Munition und waren guten Mutes trotz der Strapazen und der bei Ligny erlittenen Verluste.

Dort langte bei Blücher ein von Wellington abgesandter Bote an, mit der Bitte, ihm so rasch wie möglich eine Verstärkung von zwei Korps zu senden. Er würde dann die Schlacht von Napoleon annehmen.

»Ich breche mit allem auf, was ich bei mir habe«, antwortete der Feldmarschall, der nach seinem Sturz in der Lignyschlacht sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte.

»So krank ich auch bin,« schrieb er gleichzeitig dem General Müffling, der im englischen Hauptquartier Preußen vertrat, »so werde ich mich dennoch an die Spitze meiner Truppen stellen, um den rechten Flügel des Feindes sofort anzugreifen, wenn Napoleon etwas gegen den Herzog unternimmt.«

Und im Tagesbefehl an seine Truppen, in dem er den Verlust der letzten Schlacht dem Ausbleiben der Unterstützung durch die Engländer zuschrieb, kündigte er ihnen, aufrecht wie immer an: »Ich werde euch wieder vorwärts gegen den Feind führen. Wir werden ihn wieder schlagen, denn wir müssen's!«

Er schickte dann seinen guten Doktor Bieske mit seinen Salben und Mixturen zum Teufel, als dieser seine Quetschung wieder einreiben wollte.

»Heute«, sagte er, »mag's den alten Knochen gleich sein, ob sie balsamiert oder nicht balsamiert in die Ewigkeit gehen!« Er wankte dann zur Tür seines Hauses hinaus, wo seine pommerschen Regimenter gerade vorüberzogen und ihn jubelnd begrüßten, hielt sich am Türpfosten fest, um nicht dabei zu fallen, ließ sich aufs Pferd heben und war seelenvergnügt, als er die vier sicheren Beine seines Schimmels wieder unter sich fühlte. Er lachte über Grouchy, der ihn in verkehrter Richtung suchte und also nicht fand, ließ die Korps Thielmann und Zieten in Wawre zurück, um diesen Marschall aufzuhalten, und zog selbst an der Spitze der übrigen Truppen nach Mont St.-Jean ab.

Das war keine leichte Aufgabe.

Richtige, feste Chausseen waren nicht vorhanden. Die Feldwege waren alle aufgeweicht und bald so vertreten, daß kein Fortkommen mehr war. Die Soldaten wateten bis über die Knöchel im Schlamm. Die Kanonen und Munitionskarren blieben stecken und konnten trotz den vereinten Anstrengungen von Zugtieren und Soldaten kaum von der Stelle bewegt werden.

»Vorwärts, Kinder«, rief Blücher und ritt hinzu, um die Leute anzufeuern.

»Es geht nicht!« riefen diese keuchend.

»Es muß gehen! Ich hab's versprochen. Wollt ihr mich denn wortbrüchig machen?«

Nein, das wollten sie nicht! Das ginge nun auch nicht! Sie legten sich doppelt ins Zeug, kamen aus der Patsche heraus und marschierten fröhlich weiter dem Feind entgegen.

*

Pünktlich um elf erhob sich Napoleon von seinem Lager, ohne daß man ihn zu wecken brauchte, und sofort war sein durch den Schlaf gestärkter Geist wieder in voller Tätigkeit.

Er begab sich zu dem kleinen Hügel am Pachthof La Belle-Alliance, von wo aus die ganze Gegend zu überblicken war, setzte sich da in seinen »Regiestuhl«, wie er scherzend sagte, ließ die Karten vor sich ausbreiten, lachte vergnügt und sagte:

»Mein Freund Talma müßte einmal als Volontär bei mir antreten. Ich würde ihm beibringen, wie man Massen bewegt!«

Einige Minuten vertiefte er sich in das Studium der Karte, stand dann auf, winkte einen von den in respektvoller Entfernung stehenden Offizieren heran und zeigte nach rechts.

»Aus dieser Richtung erwarte ich den Marschall Grouchy. Reiten Sie ihm entgegen, sagen Sie ihm, er soll sich beeilen, mit seiner ganzen Macht hierherzukommen! Und verlassen Sie ihn nicht, ehe er nicht in vollem Anmarsch ist!«

Der Offizier salutierte, warf sich auf eins von den am Fuße des Hügels stehenden Pferden und galoppierte davon.

Um halb zwölf gab Napoleon das Zeichen.

Eine Salve aus hundertundzwanzig Feuerschlünden antwortete, spie einen Orkan von Eisen über die englischen Stellungen, erschütterte die Luft und machte den Boden beben.

Nach einer halben Stunde hörte der Höllenlärm auf, ebenso jäh, wie er angefangen hatte, und man konnte jetzt ein lebhaftes Geknatter vom linken Flügel hören, wo General Reille seine Infanterie gegen das Schloß Houguemont führte.

Napoleon achtete besonders eifrig darauf, ob der Gegner sich durch jene Kämpfe verleiten lassen würde, Truppen zur Unterstützung seines rechten Flügels heranzuziehen, und so seinen linken, gegen den der Hauptangriff beabsichtigt war, zu schwächen.

Er wollte eben Ney befehlen, mit dem Zentrum und dem rechten Flügel vorzugehen. Als er aber vorher die Gegend mit dem Fernrohr absuchte, stutzte er plötzlich, reichte Soult das Glas und sagte: »Sehen Sie dorthin, Herr Herzog, nach rechts, neben der Kapelle von St.-Lambert – dort, ja! Ich sah da einen beweglichen Schatten. Was halten Sie davon?«

»Es könnten die Wipfel eines Gehölzes sein«, sagte der Marschall und gab das Fernrohr zurück.

»Es sind Truppen in Marsch!« sagte Napoleon und reichte sein Fernrohr weiter an die anderen Offiziere, die seine Annahme bestätigten.

Klein wie die Figuren einer Spielzeugschachtel bewegten sich die Truppen auf der fernen Anhöhe, aber so vom blauen Dunst umnebelt, daß weder Bewaffnung noch Uniform zu erkennen waren.

»Es können die Preußen sein!« meinte ein Offizier, indem er dem Kaiser das Fernrohr zurückgab.

»Es muß Grouchy sein!« erwiderte Napoleon gereizt. »Man soll sofort Kavallerie zum Rekognoszieren aussenden! Bis die Frage geklärt ist, unterbleibt der Angriff Neys!«

Er brauchte nicht lange auf Bescheid zu warten.

Gleich darauf brachte man einen gefangenen schwarzen Husaren ein, der einen Brief Blüchers an Wellington mithatte und aussagte, daß die Truppen, die man drüben sähe, Preußen wären, von Bülow geführt wurden und dreißigtausend Mann stark heranrückten.

Napoleon gab sofort seine Befehle, und gleich darauf sah man aus der zweiten Linie der französischen Schlachtordnung das Korps des Grafen Lobau rechts abschwenken, um sich vor der Flanke der Armee aufzustellen.

Das waren gleich zehntausend Mann weniger gegen die Engländer und doch lange nicht genug, um die Preußen zu werfen. Aber gleichviel. Es genügte, um sie aufzuhalten, bis Grouchy käme, was ja bald der Fall sein würde.

Ney, der seine Ungeduld kaum noch meistern konnte, bekam endlich den Befehl anzugreifen. Er stürzte sich auf die Pachthöfe La Haye und Papelotte und fing da ein blutiges Gemetzel an.

Gleichzeitig setzten sich die Divisionen d'Erlons in Bewegung. Sie gingen in vier Kolonnen, zu je acht, auf fünf Schritt Abstand hintereinander gestaffelten Bataillonen vor, stiegen in das Tal hinab und waren gleich drüben.

Erst als sie anfingen die Böschung des entgegengesetzten Plateaus zu ersteigen, gewann Napoleon einen rechten Überblick über ihre Aufstellung. Ein Ausruf des Zornes flog über seine Lippen.

»Dieses leichtsinnige Schwein, dieser Ney!« murmelte er verdrießlich. »Schickt mir die Sturmkolonnen ohne Flankenschutz – in Reih' und Glied hintereinander vor! Wie, wenn sie jetzt einen Kavallerieangriff bekommen?! Wozu habe ich meine Generäle, wenn ich mich jetzt um jedes Detail noch kümmern muß?«

Indes, kein Fluchen half mehr. Es blieb ihm auch keine Zeit, noch für Änderung zu sorgen. Der taktische Fehler war unabänderlich da.

Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte er den Verlauf des Angriffs. Er sah, wie die Sturmtruppen am Wege von Ohain, der den Abhang in halber Höhe durchschneidet, nach kurzem Kampf die dort eingegrabenen Engländer überwältigten und die Böschung unaufhaltsam weiter erstiegen.

Jetzt waren sie oben – jetzt fingen sie an, sich auf dem Plateau zu entwickeln, trotz dem Kartätschenhagel, mit dem sie vom Feind überschüttet wurden. Einige Minuten nur, und sie würden mit gesammelter Kraft auf die Reihen Wellingtons vorstürmen. Der Durchbruch war in greifbarer Nähe!

»Mögen die Preußen marschieren!« murmelte Napoleon, »ehe sie herankommen, bin ich mit den Bundesgenossen da oben fertig und gebe ihnen dann den Rest!«

Er schwieg plötzlich und blickte gespannt durchs Fernrohr hinüber – er sah, wie sich aus dem Kornfelde da oben Rotröcke erhoben und aus nächster Nähe auf die überraschten Truppen d'Erlons Feuer gaben, während von links Ponsonbys graue Dragoner in zwei Kolonnen zwischen die Reihen ihrer offenen Flanke hineinstürmten und sie in Verwirrung brachten. Die Vorwärtsbewegung stockte sofort; alles wankte und suchte sich einen Augenblick zu halten, und dann rutschte die ganze Masse von Infanterie und Kavallerie, in bunter Unordnung miteinander vermischt, auf die Sohle des Tales hinunter.

»Da haben wir die Schweinerei! Ich hab's ja gesagt!« rief Napoleon, warf sein Fernrohr auf den Tisch, sprang in den Sattel und galoppierte, so schnell er konnte, zu den auf dem rechten Flügel stehenden Kürassieren Milhauds hinüber, schickte ein paar Schwadronen von ihnen zur Unterstützung vor, ritt dann zu den Truppen d'Erlons, half sie wieder ordnen und sprach beruhigend auf sie ein.

Inzwischen marschierten die Preußen und kamen immer näher und näher. Von den Anhöhen bei der Kapelle Saint-Lambert hatten sie schon in der Ferne den Mont St.-Jean von Rauchwolken umkränzt gesehen, aus denen Blitze hervorzuckten. Das ferne Donnern der Geschütze versetzte sie in freudige Aufregung.

Sie stiegen die Böschung nach dem Tal hinunter, so leicht, als ginge es zum Tanz in der Dorfschenke. Und rutschten sie auf dem glitschigen Boden aus, oder sanken in den fließenden Sand des Lasnebachs ein, so war's nur ein Vergnügen mehr.

Singend plantschten sie weiter vorwärts und freuten sich der Sonne, die jetzt warm herniederstrahlte, die steifen Glieder durchwärmte und das nasse Zeug trocknete. Als aber der Wald von Frichemont leer vor ihnen lag und nicht einmal von einem Pferdeschwanz oder vom Fetzen eines Infanteriemantels besetzt war, da jauchzten sie laut auf. Denn da hätte eine Handvoll entschlossener Leute ihnen das Fortkommen verteufelt sauer machen können.

»Der Kaiser wird von hier aus nur seinen Grouchy erwartet haben«, sagte Blücher schmunzelnd. »Er wird sich wundern, wie der sich verändert hat, wenn er mich sieht!«

Napoleon wunderte sich aber über nichts mehr. Am allerwenigsten über das Versagen seiner Unterführer oder die Nichtausführung seiner Befehle.

Grouchy mit dem ganzen rechten Flügel seiner Armee blieb aus. Die Preußen kamen zu früh an. Er stand vor einem schweren Entschluß.

Die Schlacht abbrechen, hieße sich besiegt erklären. Es wäre ein Retirieren unter steten Kämpfen in der Flanke und im Rücken. Die Siegesfreudigkeit seiner Soldaten wäre hin, die politischen Folgen unübersehbar. Auch ein halber Erfolg käme da einer Niederlage gleich. Einzig ein großer entscheidender Sieg konnte ihm jetzt helfen, wo ganz Europa wieder auf ihn einstürmte.

Also va banque! Alles auf eine Karte gesetzt!

Er überblickte noch einmal die Situation.

Oben auf dem Plateau die englische Armee, die sich nicht vom Flecke rührte.

Unten im Hohlweg ihre drei Vorwerke, um die noch erbittert gekämpft wurde.

Links hatte sich dort Reille mit seinen sämtlichen Divisionen in dem Gehölz um Schloß Houguemont derartig festgebissen, daß ein leerer Raum zwischen ihm und den weiter rechts stehenden französischen Truppen entstanden war. Rechts suchten die Engländer die bereits eroberten Pachthöfe La Haye und Papelotte zurückzunehmen. In der Mitte balgte sich Ney noch mit den Verteidigern von Haye Sainte herum, das er haben mußte.

Denn von hier aus wollte Napoleon zum entscheidenden Sturm auf die englischen Stellungen ansetzen. Sobald er die preußische Sturmflut in seiner rechten Flanke eingedämmt haben würde, wollte er mit der Garde und der schweren Kavallerie über sie herfallen, sie vernichten und dann seine ganze Kraft gegen die Preußen wenden.

Er gab den in der zweiten Linie stehenden Kürassieren Milhauds Befehl, die zwischen Neys und Reilles Truppen klaffende Lücke auszufüllen.

Langsam wie auf dem Paradeplatz ritt Milhaud mit seinen acht von Eisen starrenden Regimentern von rechts nach links quer über das Feld und rückte in die erste Linie ein.

Die hinter ihm in der dritten Reihe stehende leichte Gardekavallerie folgte, wie von einem Magneten angezogen, den Bewegungen der »Schweren«. Ihr Führer, Lefebvre-Desnouëttes, wartete nicht erst den Befehl des Kaisers dazu ab. Und Ney, entzückt, die schöne Kavallerie zur Verfügung zu haben, ging gleich mit ihnen durch.

Er sah oben auf dem Plateau sechzig englische Kanonen ohne Bespannung stehen, dachte: »die nehmen wir!« Und vorwärts – hui – sausten die schweren Reitergeschwader ins Tal hinab, die Böschung hinauf, zwischen die Geschütze hinein, ritten die dahinter stehende Division Alten um und stürzten sich auf die zweite Linie der englischen Infanterie, ohne sich um den Hagelschauer von Geschossen zu kümmern, der gegen ihre Kürasse und Helme prasselte.

Erst als zwischen den englischen Karrees die Gardekavallerie Somersets und die Dragoner Dornbergs vorbrachen, mußten sie weichen. Es kam zu einem erbitterten Nahkampf zwischen den beiden Reitereien, in dem die Franzosen schließlich doch die Oberhand behielten, als die Lanciers Lefebvre-Desnouëttes zur Unterstützung herankamen.

Napoleon war außer sich, seine Kavallerie, die er sich für den Hauptangriff aufgespart hatte, vorzeitig durch Ney verbraucht zu sehen.

»Dieser Mensch«, rief er, »bleibt stets der gleiche! Er bringt mir alles in Gefahr, weil er sich niemals zügeln kann und immer eine Stunde zu früh loslegt!«

Aber einmal begonnen, mußte der Angriff durchgeführt werden, wenn die Kräfte nicht nutzlos vergeudet sein sollten.

Napoleon gab also Kellermann, der links im zweiten Treffen hielt, Befehl, seine Kürassiere zur Unterstützung vorzusenden.

Der gleiche Vorgang wiederholte sich dann wie vorhin, als Milhaud vorrückte. Sobald Kellermanns Kürassiere sich in Bewegung setzten, folgte automatisch die im dritten Treffen hinter ihnen stehende Gardereiterei – zweitausend Grenadiere zu Pferd – und ging gleichzeitig mit ihnen so energisch vor, daß Napoleons Rückberufungsbefehl sie erst erreichte, als es zu spät war und sie schon im Kampf verwickelt waren.

Ney bemächtigte sich ihrer sofort und führte mit unerhörter Wucht eine Attacke mit zwanzig Schwadronen gegen die Engländer, sprengte ihre ersten Linien, konnte aber den zähen Widerstand der englischen Garde und der Braunschweiger doch nicht brechen. Wellington schickte seine letzte Kavallerie, die Cumberlandhusaren, vor. Angesichts des Gemetzels machten diese aber sofort kehrt, nahmen Reißaus und rissen alles – Gepäck, Artilleriepark und Verwundete – in wilder Flucht gen Brüssel mit. Die Schlacht wäre für Wellington verloren gewesen, hätte Ney jetzt Infanterie gehabt, um den letzten Widerstand der englischen Infanterie zu brechen.

Hätte Napoleon mit eigenen Augen den Zustand der in den letzten Zügen liegenden englischen Verteidigung sehen können, er hätte keinen Augenblick gezögert, seine Garde hinzuschicken, um dem Gegner den Gnadenstoß zu geben. Aber er hatte schon alle Hände voll mit den Preußen zu tun und wagte nicht, sich seiner letzten Reserven zu entblößen – er war auch zornig über den Ungehorsam Neys und hatte nicht mehr die überlegene Ruhe, die Situation zu erfassen.

Ein anderer aber hatte sie. Blücher hatte von den gegenüberliegenden Höhen am Lasnetal gesehen, was auf dem Mont St.-Jean vorging. Er lachte vergnügt und hatte nicht übel Lust, Wellington sein Ausbleiben bei Ligny heimzuzahlen.

»Nun, Bruder Wellington,« sagte er grimmig, »wenn ich dir jetzt käme, wie du mir gestern kamst, das heißt: gar nicht, da säßest du jetzt böse in der Klemme! Und das wäre dir ob deines Wortbruches zu gönnen. Ich werde dir aber, obwohl ich ein Mecklenburger bin, zeigen, was ein Preuße ist, nämlich: ein Mann, ein Wort!«

Er schickte also schleunigst Befehl an Zieten, von Wawre heranzurücken, um den englischen linken Flügel zu verstärken. Das Korps Pirch schickte er zur Unterstützung gegen Lobau vor, der eine sehr starke Verteidigungsstellung auf dem waldigen Vorgebirge zwischen dem Hohlweg des Lasnebaches und dem Tal des Smohainbaches eingenommen hatte.

Um drei Uhr kam Bülow hier an und sah vor sich oben auf dem Rand der Anhöhe Lobaus Kanonen –, die Kanoniere mit brennenden Lunten daneben. Er teilte seine Truppen, schickte die Division Losthin rechts am Smohainbach vor, die Division Hiller am Lasnebach gegen das hinter der französischen Front liegende Dorf Planchenois, mit Befehl, es zu nehmen und so die Rückzugsstraße Napoleons zu bedrohen.

In dieser waldigen Schlucht, wo die hinter den Bäumen versteckten Verteidiger ein ununterbrochenes Feuer unterhielten, drangen die Preußen mit unerhörter Wucht vor.

Napoleon warf, was er an Truppen hatte, ihnen entgegen und trieb sie zurück, mußte aber wieder weichen. Er holte Sukkurs, schickte seine junge Garde ins Feuer und säuberte das Terrain von Feinden, aber mußte es, trotz allen Anstrengungen, zu guter Letzt wieder räumen. Immer neue Kolonnen von Feinden wälzten sich aus der Schlucht hervor und zehrten an seinen Truppen, die sichtbar in ihrem Feuer zusammenschmolzen. Es war, als hätte sich die Erde aufgetan, um eine nimmer endenwollende Flut von Preußen über ihn auszuspeien. Von Rauch und Feuer umwirbelt, quoll sie auf ihn zu, alles niederreißend, alles überschwemmend. Und in den Wolken über ihnen sah seine überhitzte Phantasie riesengroß und zornig verzerrt das Antlitz seines unversöhnlichsten Gegners, des alten Blücher, dem Angriff immer neuen Odem einhauchend und seine Preußen unaufhaltsam vorwärts treibend.

Ein Schauer erfaßte ihn zum erstenmal im Leben. Für eine Sekunde verlor sein sonst immer klarer Geist das Gleichgewicht. Dann besann er sich rasch. Er eilte zur alten Garde hin, nahm von deren fünfzehn Bataillonen zwei, setzte ihnen in kurzen Worten auseinander, daß die Entscheidung nahe, und daß sie sie herbeiführen und das Kaiserreich retten sollten. Sie müßten den Feind wieder in den Hohlweg hineinwerfen, aus dem er niemals hätte herauskommen dürfen.

» Vive l'empereur!« schallte es ihm aus den Reihen der Bärenmützen als Antwort entgegen. Dann traten sie mit unerschütterlicher Ruhe zum Angriff an, mit gefälltem Bajonett, ohne einen Schuß zu tun, und warfen die Preußen durch den ganzen Hohlweg bis ans andere Ende zurück.

Diese ihre Bravour gab Napoleon seine Zuversicht wieder. Wenn nur zwei Bataillone seiner alten Garde das gegen ein paar feindliche Divisionen erreichen konnten, dann hatte es keine Not, dann sollte auch Ney welche von ihnen haben!

Ney hielt noch mit seinen halberschöpften Kürassieren und Gardegrenadieren oben auf dem Plateau – ihm gegenüber der gänzlich ermüdete Engländer, beide ohne einen Schuß zu tun, beide darauf wartend, wer von ihnen zuerst Hiebe bekommen würde. Eine Stunde standen sie schon so unbeweglich da, als Napoleon endlich glaubte, die Preußen so weit zurückgeworfen zu haben, daß er Ney die erbetene Infanterie geben konnte.

Er stellte noch sechs Bataillone zur Sicherung seiner Front gegen die Preußen auf und schickte den alten Friant mit vier Bataillonen gegen die Engländer auf das Plateau hinauf!

Kaum hatte er den Befehl gegeben, da bemerkte er eine plötzliche Unruhe in der regungslosen Masse seiner Reiterei da oben. Auf der Brüsseler Chaussee kam Ney herangesprengt, ohne Hut, mit durchlöcherter Uniform, das Gesicht geschwärzt, der blonde Haarschopf wirr um das Haupt flatternd, und schrie, seine Kavallerie wiche, wenn die Infanterie nicht sofort käme –, nahm dann die Bataillone der Garde an sich und zog mit ihnen ab.

Da oben war immer noch der Sieg zum Greifen nahe. Hinter der englischen Front floh alles, was Beine hatte. In Brüssel wußte man bereits, daß Wellington die Schlacht verloren hatte, und Botschaften flogen von dort mit der Kunde von Napoleons Sieg nach allen Richtungen in die Welt hinaus.

Unten im Tal kamen dann aber plötzlich aus der Ecke, wo sich Napoleons Front rechtwinklig zurückbog, die Rufe » sauve-qui-peut!« Und aus den Höfen La Haye und Papelotte flohen die bisher siegreichen Leute der Division Durutte. Alles hing vom Augenblick ab.

Die Schlacht war auf dem Punkt angelangt, wo der Geist der Panik herangesaust kommt und über dem Gewimmel darauf lauert, auf wen von den Kämpfern er sich stürzen soll, und ob er hüben oder drüben den geringeren Widerstand finden wird, wenn er sein Entsetzen losläßt.

Hüben stand noch der kleine große Schlachtenkaiser aufrecht da und schaute ungeduldig nach seinem ungetreuen Grouchy aus, der immer noch nicht kam, um ihm das Schlachtenglück zuzuwenden.

Oben auf dem Plateau stand der zähe Engländer und sah die Reihen der Bärenmützen auf sich zukommen. Ein Wink seiner Hand – die Garden Maitlands warfen sich auf den Boden hin, um dem Ansturm Neys und Friants zu begegnen, erhoben sich, schossen aus nächster Nähe und durchlöcherten die Reihen der alten Garde an hundert Stellen.

Aus mehreren Wunden blutend, ging Friant zurück, holte sich von Napoleon, der sie selbst herangeführt hatte, noch fünf Bataillone von der alten Garde zum Ersatz und zog mit ihnen wieder in den Kampf. Da sah Napoleon die letzten Reste der englischen Reiterei unter Vivian und Vandeleur sich plötzlich wieder ermannen und zur Attacke vorstürzen – er sah auch am Wald von Soignes Preußen kommen, die Reiter Zietens voran.

Preußen überall und immer noch kein Grouchy! Er erbleichte –, es war die Niederlage, die jetzt auf ihn einstürmte.

Zieten ließ seine Reiter los, sie machten mit den Schwadronen Vivians und Vandeleurs gemeinsame Sache und überfluteten in einem Augenblick das ganze Schlachtfeld.

Wo Napoleon hinblickte, war ein Gewimmel von englischen und preußischen Uniformen. Und er hatte keine Kavallerie mehr hier unten, um die feindlichen Reiter zu verjagen, seitdem Ney ihm die letzte genommen hatte. Das Fußvolk allein war gegen sie ohnmächtig.

Seine Gardebataillone bildeten überall Karrees, die hier und dort wie Felsen aus dem brandenden Meere emporragten und sich wohl wehrten, aber die Sturmflut nicht aufhalten konnten.

Oben auf dem Plateau machten dann Milhauds Kürassiere kehrt, um nicht von der Hauptarmee abgeschnitten zu werden, und ritten wieder die Böschung hinunter. Auf dem abschüssigen Boden gerieten sie aber sofort in Unordnung und halfen so nur den Wirrwarr vermehren.

Wellington ging jetzt zur Offensive über.

Keine Möglichkeit für Napoleon, der Auflösung noch irgendwo eine Wehr entgegenzusetzen, und ein Bollwerk zu schaffen, hinter dem sich die aufgelösten Verbände ordnen könnten.

» Sauve-qui-peut!« wurde die Losung – der Kehrreim, in den sich der Siegestaumel der Franzosen jäh auflöste.

Napoleon sah das Nutzlose ein, jetzt, bei beginnender Nacht, wo er weder gesehen noch gehört werden konnte, seine Person dem Trubel entgegenzustellen. Er ließ sich in ein Karree einschließen und ritt, Jérôme an seiner Seite, auf der Chaussee nach Charleroi fort, von den vorbeiflutenden Trümmern seiner stolzen Armee mitgeschwemmt.

Über das Schlachtfeld zogen jetzt von verschiedenen Seiten die Preußen und die Engländer gegen das weithin sichtbare Gehöft Belle-Alliance hinan, fegten den Boden von Feinden rein und nahmen die Verfolgung der fliehenden Franzosen auf.

Die Preußen besorgten das Geschäft allein. Bis Jenappes hielten sie die Jagd durch, nahmen unterwegs Napoleon seine ganze Artillerie und Bagage ab und scheuchten seine Truppen durch Kartätschenschüsse auf, sobald sie sich zur Ruhe setzen wollten.

In Jenappes gönnten sie sich endlich selbst etwas Ruhe.

Blücher, der trotz den Strapazen des vorhergehenden Marsches selbst die Verfolgung leitete, war frisch wie ein Fisch im Wasser und von einem seltenen Übermut.

Als er vom Pferd stieg und in sein Quartier hineingehen wollte, trat ihm ein alter Husar in der schwarzen Uniform, die er so gut kannte, entgegen und legte die Hand an die Mütze.

Wie der Blitz fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf: »Aha, da habe ich ja meinen Solofänger! Der fehlte mir noch! Der war heute wieder fällig. So war's nach Kirrweiler, so war's bei Leipzig! Und heute war's ja wieder eine Sache gewesen! Also, er ist da!«

Er ließ den Husaren gar nicht erst zu Worte kommen, sondern rief ihm gleich zu: »Keinen Ton! Ich weiß, was du willst, ich weiß mit dir Bescheid! Komm, trinken wir miteinander eine Pulle Sekt für den guten Fang! Und da hast du auch deine zwanzig Mark! Soviel war's wohl wert, daß du mich damals den Preußen einfingst! – Oder sollte ich schon im Preis gestiegen sein?«

Der alte Husar stand da, ohne zu begreifen, blickte bald Blücher, bald das Geldstück an und schüttelte den Kopf.

»Wo hätte ich? Was hätte ich? Ich hätte Eure Exzellenz gefangen? – – Wie käme ich wohl zu der Ehre? Ich habe einen ganz anderen Fang gemacht!«

Und dabei nahm er aus der Tasche eine Handvoll Brillanten, ließ sie aus der einen Hand in die andere rieseln – hielt dem Marschall ein Etui hin, in dem eine Sammlung der höchsten und seltensten Orden der Welt, auch der preußische Schwarze Adler, glitzerten, und zog unterm Arm noch einen Degen und einen dreieckigen schwarzen Hut hervor, den man in der ganzen Welt wohl kannte.

»Zu dem Hut gehört auch ein grauer Mantel!« rief Blücher aufgeregt, und riß das Kleidungsstück an sich. »Und in dem Mantel steckte ein ganz besonderer Kerl! – Wo hast du den gelassen?«

»Der steckt wohl immer noch drin in dem nämlichen Mantel, denke ich! Und den habe ich nicht erwischt!«

»Du bringst mir ein Stück vom Fell des Löwen! Bringe mir den Löwen selbst, und du wirst ein Fürst, so wahr ich auch einer geworden bin. Ihm nach – rasch –!«

Damit stülpte er den Hut Napoleons auf den Kopf, nahm den Degen und die Orden an sich und ging hinein.

Draußen blieb der Husar stehen. Er ließ noch ein paarmal die glitzernden Steine aus einer Hand in die andere rieseln, steckte sie in die Tasche, schüttelte den Kopf und kratzte sich bedächtig die Nase.

*

Das war am achtzehnten Juni. Schon am siebenundzwanzigsten konnte Blücher seiner Frau aus Compiègne schreiben: »Hier sitz ich in dem Zimmer, wo maria luise ihre Hochzeitsnacht Celebrierte, man kann nichts Schöneres und angenehmeres sehn als Compiene – –«

Am siebenten Juli rückte Blücher wieder in Paris ein und führte so den Gebrauch ein, auf jeden französischen Einzug in Berlin mindestens zwei deutsche in Paris folgen zu lassen, damit man sich das merke und sich auch danach richte.

Der deutsche Michel stand also wieder in Paris.

Er benahm sich nicht wie der Ochse im Porzellanladen – auch plünderte er nicht und erpreßte nichts. Ja, er getraute sich nicht einmal, die ihm abgenommenen Milliarden zurückzuverlangen – er war wieder gut und edel, zeigte Gemüt, nahm Rücksicht, dachte, man würde es ihm danken, und merkte nicht, daß man ihn auslachte.

Die anderen, die machten es ganz anders, wenn sie an der Reihe waren und siegten. Sie verstanden es, ihren Haß und ihre Rachsucht ins Gemüt des Besiegten hineinzustampfen, daß der Schmerz drin blieb und wucherte und zur Vergeltung trieb.

Es fehlte nicht an wohlmeinenden Mahnern, die Michel beim Ohr nahmen und sagten: »Michel, werde hart, sonst geht's dir noch einmal ans Leben!«

Blücher brauchte jene Mahner nicht. Er sprach deutsch mit den französischen Unterhändlern und schrieb ihnen auch in dieser verpönten Sprache, zum Entsetzen aller Diplomaten, nicht zum wenigsten der deutschen.

Er verfügte Wegnahme aller geraubten Kunstschätze, verlangte zweimonatige Löhnung und neue Bekleidung für seine Truppen, legte der reichen Stadt Paris eine Kontribution von hundert Millionen auf und befahl sofortige Sprengung der Jenabrücke, ehe die Monarchen nach Paris kommen konnten, um das zu verhindern.

Sie kamen aber schleunigst mit Extrapost an und inhibierten sowohl das wie vieles andere, insbesondere die Auszahlung der hundert Millionen.

Sie kamen aber nicht schnell genug, um zu verhindern, daß Wellington in seinem Gepäck den vor drei Monaten ausgerissenen König Ludwig XVIII. mitbrachte – Louis dixhuit – oder » biscuit«, wie er fortan, als zweimal gebackener Monarch, genannt wurde.

Die beiden Kaiser und der König von Preußen hatten sich das französische Cousinat diesmal ganz anders gedacht. Sie waren nicht sehr davon erbaut, auf dem Thron Frankreichs diesen ungeheuren Klumpen lächelndes, gekröntes, süffisantes Fett wieder vorzufinden, der sich ohne weiteres als Hausherr gerierte und ihnen die Rollen wohlerzogener Gäste zuschob.

Sie fanden sich aber bald mit ihren Rollen ab und ließen den ungelenken Mastodonten auf seinem königlichen Rollstuhl sitzen, allwo er denn auch ein beschauliches Dasein führen konnte, sich tagtäglich zwischen dem Bett, der Tafel und dem geheimen Kabinett hin und her schieben ließ und, fern von den Schrecknissen des Krieges, von Werken des Friedens träumen konnte, als welche da sind: trüffiertes Wildbret, pikante Soßen, wohltemperierter Burgunder und mehr desgleichen.

Bedenkt man die Verwüstung und Verarmung der anderen europäischen Länder während der langen Kriegsjahre, so muß zugegeben werden, daß la France, die Urheberin des ganzen Elends, doch mit ihrem neuen »Legitimen« billig dabei weggekommen war. Denn, wenn er auch im guten Sinne nicht so viel leistete, so tat er sich im bösen noch weniger hervor. Ganz wie das weiße Pflaster, das von der bourbonischen Hausfarbe wohl den Namen hatte.


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