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1.
Im Adlernest

In schnellem Flug huschte dann und wann der schneeweiße Körper einer Möwe vorüber und leuchtete grell gegen das von keinen Wolken bedeckte Blau des Himmels auf. Aber keiner von den drei jungen Leuten, die nebeneinander auf den zusammengerafften Segeln im Boote lagen, drehte auch nur den Kopf, um die Kunststücke des gewandten Luftseglers zu beachten. Sie starrten unentwegt nach dem kleinen dunklen Punkt, der, kaum noch wahrnehmbar, sich hoch in den Lüften bewegte.

»Aufgepaßt!« rief der eine halblaut, »seine Kreise werden enger! Er sieht Beute!«

»Er zielt!« rief der zweite.

»Er fällt!«

Der schwarze Punkt wurde schnell größer, breitete sich zur Fläche aus, gliederte sich, wurde zum Körper, dessen Kopf, Rumpf, Flügel und Schwanz sich scharf von der klaren Luft abzeichneten. Dann schoß er rasch tiefer, hielt jäh an und stürzte pfeilschnell kopfüber in den See.

Mit einem Ruck schnellten die drei jungen Leute empor, standen da kerzengerade im Boot und blickten dem goldbraunen Körper des Raubvogels nach, der ins Wasser hineinschoß, daß der Schaum hoch aufspritzte. Bald kam er wieder zum Vorschein, hob sich zum Flug und steuerte mit ruhigen, kraftvollen Schlägen seiner mächtigen Schwingen in flacher Bahn der Küste zu, einen großen, silberweißen Fisch in den Krallen mit sich führend.

»Der Adler von gestern!« rief der längste von den dreien. »Ich kenne ihn genau! Die gleiche Größe und Zeichnung! Nicht zu verkennen!«

»Er wird wohl hier in der Gegend nisten!«

»Sicherlich! Denn als er gestern drüben bei Hiddensee fischte, stieg er mit seinem Raub jäh in die Höhe und flog nach Nordost, hierher. Jetzt steuert er flach gegen das Land. Dort auf den Kreidefelsen wird es sein!«

»Schauen wir nach!«

Im Nu saßen zwei an den Riemen, der dritte am Steuer, und von kräftigen Schlägen getrieben, glitt das Boot dem Ufer zu, wo hoch oben auf dem weiß leuchtenden Kreidefelsen ein paar uralte Kiefern wie vorweltliche Riesen ihre knorrigen Kronen aus der saftig grünen Masse des Laubwaldes emporhoben.

Auf diese Bäume setzten sie Kurs. Und lange dauerte es nicht, bis das braungeteerte Boot sich am Geröll des Ufers scheuerte.

Bald war es an Land gezogen, Segel und Ruder versteckt, und die drei Freunde sprangen von Stein zu Stein auf das Gemengsel von Sand, Schlemmkreide und Feuersteinen hinauf, aus dem der schmale Uferstreifen gebildet war, der den Felsenrand vom Wasser trennte.

»In einer der alten Kiefern da oben wird er sein Nest haben!«

»Klettern wir hinauf!«

»Wozu klettern? Weiter nach links weiß ich einen Pfad, der bequem zu steigen ist!«

»Der gerade Weg ist der beste!« antwortete der, der zuerst geredet hatte – ein lang aufgeschossener Jüngling mit Adlernase und dunklen, blauen Augen. Und ohne sich um die anderen zu kümmern, nahm er entschlossen Anlauf, packte mit kräftigem Griff den nächsten Busch, stemmte die Füße gegen die Spalten und Vorsprünge des Felsens, nahm im ersten Ansturm die halbe Höhe und blieb da auf einem breiteren Vorsprung stehen und blickte hinauf.

»Da ist er wieder!« schrie er und zeigte auf den Adler, der in raschem Flug wieder seewärts steuerte. »Was sagte ich? Sein Nest ist hier!«

»Vorwärts nur!«

Ein paar kräftige Klimmzüge, ein Keuchen und Fluchen, wenn der Fuß einmal ausglitt und Steine und Sand prasselnd in die Tiefe schickte, dann waren sie oben und fanden da den Dritten im Bunde lachend vor. Denn der bequemere, wenn auch längere Pfad hatte ihn doch zuerst ans Ziel geführt.

»Lache nur!« rief der Lange. »Hier wärest du nimmermehr heraufgelangt!«

»Wozu denn Wände hochsteigen, wenn es auch so geht?« antwortete der andere, ohne sich aus der guten Laune bringen zu lassen.

»Um auf dem geraden Weg zu bleiben! Umwege sind Abwege!«

Damit drang er den anderen voran durch den Laubwald nach der Anhöhe, wo in einsamer Majestät eine alte Kiefer thronte. Das Adlernest hatte er bald herausgefunden. Aber wie hinaufkommen? Der riesige, mannsdicke Baum, der es trug, hob sich wie eine Säule zu mächtiger Höhe. Sein von Wind und Wetter glattpolierter Stamm bot dem Kletternden fast gar keine Stützpunkte.

»Wo du da einen bequemeren Umweg finden willst, möchte ich nur wissen!« rief der Lange.

»Freund Diercks klettert auf die Bäume wie ein Affe, Bruder!« antwortete der zweite der beiden Bergsteiger. Und Diercks, der seine Kräfte vorhin geschont hatte, spuckte in die Hände, packte den Baumstamm, umschlang ihn mit Armen und Beinen und schob sich so langsam daran hoch, jede Muskel des stämmigen Körpers auf das Äußerste anspannend. Endlos schien es den Untenstehenden, bis sie ihn den Arm über den ersten Ast der Krone schieben sahen, um mit Aufbietung der letzten Kraft den Körper hinaufzuziehen.

Einen Augenblick blieb er sitzen, um Atem zu schöpfen, dann ging es weiter von Ast zu Ast, bis an das Adlernest heran. Ein Blick hinein, ein Aufschrei!

»Gebhard! Siegfried! Ein ausgewachsener Adler!«

»Schon flügge?«

»Sicher! Aber er scheint noch keine Ahnung davon zu haben! Er liegt ganz still!«

»Wirf ihn herunter!«

Einen Augenblick wurde es still da oben. Dann kam ein Aufschrei: »Verflucht! Den Schnabel weiß er schon zu brauchen!«

Dann hörte man nichts mehr als das Geräusch eines zähen Kampfes. Trockenes Reisig und Grasbüschel flogen aus dem Neste zu den Wartenden hinunter, und zuletzt sauste, mit kräftigem Schwung geschleudert, ein fast ausgewachsener junger Adler herab. Zunächst fiel er in schwindelnder Fahrt, dann auf einmal breitete er mit gellendem Aufschrei die Flügel aus, und zum ersten Male trugen sie den Körper in sanftem Flug hinunter und landeten ihn unweit der unten Harrenden. Einen Augenblick blieb er betäubt liegen, dann wurde er von vier kräftigen Fäusten gepackt und ihm eine Kappe über den Kopf gezogen.

Sein Bezwinger war unterdessen heruntergerutscht und kam jetzt heran.

»Den Vogel nehme ich mit nach Hause!« sagte er. »Da ich ihn fing, ist es nur billig, daß ich ihn behalte!«

»Wo willst du ihn bei euch hintun?«

»In den Hühnerstall, bis ich ihm einen Käfig gebaut habe!«

»Einen Adler in den Hühnerstall tun?« rief Gebhard, der längere von den beiden Brüdern, entrüstet. »Das geschieht nie und nimmer!«

Und ehe die anderen es sich versehen konnten, riß er die Kappe vom Kopf des Adlers fort und warf den Vogel in die Luft.

»Gebrauche deine Flügel, jetzt wo du weißt, wozu sie taugen!« rief er.

Der Adler machte ein paar ungelenke Bewegungen mit den Schwingen und setzte sich in einiger Entfernung wieder auf den Rasen, nahm aber dann, von seiner Angst getrieben, noch einmal Anlauf. Zwei, drei Schläge nur mit den Flügeln, und die Unsicherheit war verschwunden, er wagte den Flug und schraubte sich in sanftem Bogen um den Baum herum, bis er ins Nest hineinblicken konnte. Dann war er mit einer schnellen Bewegung darüber und ließ sich rasch hineinsinken.

»So!« sagte Gebhard und zog seine frei gewordene Kappe wieder über die Locken. »Vor dem Hühnerstall wären wir bewahrt!«

»Du bist nur neidisch,« murrte sein Freund, »weil du ihn nicht selbst fangen konntest!«

»Dafür konnte ich ihm die Freiheit geben!« sagte Gebhard, und es wetterleuchtete vor trotzigem Stolz in seinen dunklen Augen. »Frei wie die Luft, die er atmet, muß der König der Lüfte sein! Ich mußte ihm da helfen. Und ich täte es nochmals, ob's dir paßt oder nicht! Da« – er zeigte landwärts auf die Wiese unterhalb des Berges –, »da fliegen andere Vögel, die nicht dem Himmel so nahe kommen. Fang' dir die ein!«

»Die schwedischen Husaren!« rief Diercks und vergaß über dem Anblick den Adler und seinen Ärger über Gebhards eigenmächtigen Eingriff in seine wohlerworbenen Rechte. Er jauchzte laut den blaugelben Reitersleuten zu, die aus dem Wald heraufsprengten, um in wildem Galopp über die Ebene hinwegzusausen.

»Den Flug machen wir mit!« rief er. »Die holen wir noch ein! Rasch, fangen wir ein paar von Vaters Pferden unten auf der Wiese ein und setzen wir ihnen nach!«

Gesagt, getan! Die drei unternehmungslustigen jungen Leute hatten sich bald je ein Pferd eingefangen und ritten, statt den Reitern auf dem großen Fahrwege über Altenkirchen zu folgen, auf ihren ungesattelten Pferden querfeldein nach der Wittower Fähre hin, wo sie gleichzeitig mit den Husaren anlangten.

Diercks fand unter ihnen seinen Bruder vor, der bei den Schweden diente, und viele Bekannte und Freunde außerdem. Über den Zweck des Streifzuges: nach dem Gang der Aushebung auf Rügen zu sehen, wurde er gleich aufgeklärt, und bald plauderten sie über die Aussichten Schwedens, seine pommerschen Grenzen im Kriege gegen Preußen zu verbessern. Denn als Schirmherr des Westfälischen Friedens hatte Schweden sich den Feinden Friedrichs des Großen angeschlossen, die ihn an seinem kühnen Unternehmen hindern wollten, die Landkarte für sich bequemer zu gestalten. Er hob also auch in seinen deutschen Provinzen Kriegsvolk aus. Und da waren die drei waghalsigen Reiter kein unwillkommener Zuzug zu der Schar, durften sich also ohne weiteres anschließen, und trabten vergnügt mit auf dem Wege nach Bergen, bis Venz in Sicht kam. Dort verabschiedeten sich die beiden Brüder von den anderen und ritten nach dem Gutshof hinauf, wo sie bei ihrem Schwager zu Gast waren. Ihr Freund dagegen folgte den Husaren, nicht ohne den lebhaften Neid seiner beiden Gespielen zu erregen, die gern noch weiter mitgeritten wären.

»Weiß Gott,« sagte der jüngste, »mir ist's, als gehörte ich zu dem Kriegsvolk und müßte mit, gleichviel wohin! Wäre ich schon siebzehn, wie du, ich ließe mich anwerben!«

»Ich besorg's dir, Gebhard und mir auch!«

»Die Schulbank zu drücken habe ich satt! Wozu auch, wo's Pferde gibt? Aber nichts dem Schwager verraten!«

»Ich werde mich hüten! Der schickt mich dann gleich zurück nach der Schweriner Pagenschule, auf daß ich bei den Mecklenburgern graue Haare kriege, ehe ich ein Offizierspatent bekomme! Da möchte ich nicht dienen!«

»Ich auch nicht!«

»Bei den Preußen aber noch weniger! Ich danke für die Fuchtel Fritzens!«

»Ich auch!«

»Bei den Schweden reitet sich's viel freier und lustiger!«

»Gehen wir zu den Schweden!«

Nachdem sie so im Fluge mit echt jugendlicher Sorglosigkeit diese nicht ganz unwichtige Lebensfrage erledigt hatten, sprangen sie von den Pferden, trieben sie wieder auf die Weide und gingen zum Gutshof hinauf, um den Rest des Tages irgendwie totzuschlagen.

*

In der darauffolgenden Nacht hatte Gebhard einen sonderbaren Traum.

Von scharfen Krallen an der Brust gepackt, wurde er plötzlich von der Erde gehoben und hoch durch die Lüfte getragen. Schwindelnd schloß er die Augen, sein Atem stockte, sein Herz schlug immer stärker und stärker. Schließlich ging die Aufwärtsbewegung in ein langsames Sinken über, die Krallen ließen ihn los; er fiel, stieß sanft auf den Boden auf, öffnete die Augen und sah über sich den großen Adler kreisen, hörte dessen gellende Schreie, die zu Worten wurden. Und die Worte wiederholten kurz, schneidend, immer wieder seine beiden Vornamen: Gebhard Lebrecht, aber in verkehrter Weise.

»Leb–hart! Geb–recht!

Leb–hart! Geb–recht!« so kreischte es aus der Höhe. Und der Adler zog immer weitere Kreise, stieg immer höher und verschwand schließlich im tiefen klaren Blau des Himmels, das sich über ihm wölbte, von rotbraunen, knorrigen Ästen und blaßgrünen Kiefernadelbüscheln umkränzt.

Er atmete befreit auf, streckte sich auf dem Lager aus und fand es ganz wie es sein sollte, daß er da oben im Adlernest auf trocknem Gras und Reisig ruhte, statt in seinem Bett.

Dann setzte er sich auf und blickte neugierig über den Rand des Nestes hinaus, sah unter sich wogende Laubkronen, Felder und Wiesen, schneeweiße Kreidefelsen und weit in der Ferne, mit dem Himmel zusammenfließend, das endlose blaue Meer.

Und der Baum wuchs und schob seine Krone mit dem Adlernest immer höher in die schimmernde, klare Luft hinauf. Immer weiter wurde der Rundblick, die Insel ringsumher immer kleiner und kleiner. Frei und unbehindert sah Gebhard über das jenseitige Land hinaus, sah Städte, Burgen, Häfen, Wälder, Felder und Wiesen, Flüsse und Kanäle und weit in der Ferne schneeige Gipfel in Sonnenlicht gebadet.

Sein Herz schwoll im starken Glücksgefühl, mit dieser ganzen Herrlichkeit eins zu sein und fest in diesem Boden zu wurzeln. Wonnetrunken ließ er die Blicke immer weiter schweifen, gen Morgen, über das Meer hinaus, wo mächtige Knäuel leuchtenden Dunstes, zu einer gewaltigen Wolkenwand zusammengeballt, in den Strahlen der sinkenden Sonne goldrot aufleuchteten, während von Westen her ein stickiger, schwarzer Nebel langsam herankroch und die ganze strahlende Herrlichkeit zu verdecken begann. Immer mehr verschlang der Nebel von den gesegneten Gestaden, an deren Anblick er sich soeben ergötzt hatte. Bald würde er den Baum erreichen und sein Adlernest und ihn selbst mit einer undurchdringlichen Nebelkappe überziehn.

Eine quälende Angst beschlich ihn. Er blickte hinauf, mit der letzten Kraft seiner Augen das schwindende Licht trinkend. Da sah er den Adler heransausen, hörte wieder sein gellendes Gekreisch:

»Geb–recht! Leb–hart!

Geb–recht! Leb–hart!«

Und der junge Adler, dem er die Freiheit wiedergegeben hatte, war auch dabei. Er tummelte sich in den Lüften, in stolzem Bewußtsein, ganz wie der Alte seine Schwingen gebrauchen zu können, und schrie vor Gier danach, seinen Hunger zu stillen. Mit Windeseile schossen sie auf den im Neste Liegenden herab und gruben ihre Schnäbel in seine Brust. An sein Herz wollten sie heran! Ein mutiges Herz war die rechte Speise für den König der Lüfte! Das Herz wehrte sich aber und flog wie ein gefangener Vogel zwischen den Stäben seines Rippengehäuses hin und her, um sich dem Griff des scharfen Adlerschnabels zu entziehen. Aber das Raubtier ließ nicht von seiner Beute! Immer tiefer wühlte sich sein Schnabel zwischen die Rippen hinein und versuchte das Herz aus seinem Käfig zu reißen. Das Herz aber war tapfer, krampfte sich zusammen und zog den Kopf des jungen Adlers immer tiefer hinein. So kämpfte sein Herz mit dem Raubtier, stählte sich am Kampfe und wurde kräftiger und stärker, bis es ihm schließlich gelang, mit einem gewaltigen Ruck den jungen Adler zwischen die Rippen hineinzuziehen. Und da saß er nun im Brustkorb gefangen wie hinter dem Gitter eines Käfigs, an Stelle des Herzens, das er mit letzter Anstrengung verschlungen hatte. Das Herz pulsierte wohl noch voller Sehnsucht wie vorhin. Aber seine Sehnsucht hatte jetzt die Schwingen des Adlers bekommen und Kraft, ihn hoch über alle Erdenschwere hinauszutragen.

Er brauchte nur zu wollen. Und im nächsten Augenblick stand er drüben auf der gewitterschwangeren Wolkenwand, die sich immer noch hoch über Land und Meer und über allen quälenden Nebeln erhob. Mit Riesenkräften packte er sie und preßte sie zusammen; Blitze zuckten, die Donner grollten, und vom Feuer des Himmels verzehrt, löste sich der schwarze Nebel auf, der schon die Herrlichkeit des ganze Landes bedeckt hatte, und alles lag wieder im stillen Glanz, befreit da, von der Abendröte umglutet. – –

Aber hoch über ihm, dem es im Traum gegeben wurde, die Blitze des Himmels zu schleudern, kreiste der Aar, dessen Junges ihm ans Herz gewachsen und zum zweiten Herzen geworden war. Und gellend wie die Kriegstrompete schmetterte er sein Gekreisch in die Lüfte hinaus:

»Leb–hart! Geb–recht!

Leb–hart! Geb–recht!«

*

Er erwachte jäh und lag noch lange, ehe es ihm klar wurde, daß es nur ein Traum gewesen war und daß er in seinem Bette lag in seiner Schwester Haus zu Venz auf Rügen und nicht im Adlernest draußen auf den Felsen von Stubbenkammer. Und er starrte seinen Bruder Siegfried fragend an, der lange draußen seinen Namen gerufen hatte und jetzt mit Freund Diercks hereinstürmte, um ihn aus dem Schlafe aufzurütteln.

»Auf!« riefen sie, »heraus aus dem Nest! Heute fangen wir den jungen Adler wieder ein!«

»Den Adler?« fragte Gebhard und rieb sich die Augen und griff sich an die Brust, wo er ihn hineingeträumt hatte. »Meine Mütze zieht ihr ihm aber nicht mehr über den Kopf! Das gibt dann wieder Träume, wenn ich sie aufsetze!«

Er sprang aus dem Bett, schlüpfte in die Kleider, gab sich kaum noch Zeit, den bereitstehenden Morgentrunk zu schlürfen, sagte seiner Schwester rasch guten Morgen und war eben im Begriff, den anderen auf neue Abenteuer zu folgen, als sein Schwager, der Kammerjunker von Krackwitz, ihn aus dem Fenster seines Arbeitszimmers rief.

»Ihr müßt euch heute ohne Gebhard behelfen«, sagte er, ohne ihren langen Gesichtern Beachtung zu schenken. »Ich brauche ihn hier!«

Dagegen war nichts zu wollen. Gebhard mußte mit sehnsüchtigen Augen die anderen abziehen sehen und ging dann zu seinem Schwager hinein.

Der Kammerjunker war ein solider, ehrenfester Mann, ohne jeglichen Hang zu abenteuerlichen Träumereien, stand mit beiden Füßen fest auf dem Boden realer Tatsachen und packte das Leben von der nützlichen Seite an, wie sich's für einen Mann von Grundsätzen gehört.

Nach gebührender Hervorhebung des Umstandes, daß er gewissermaßen an Vaters Stelle stünde, nachdem er Gebhard in seinem Hause aufgenommen hatte, führte er dem jungen Schwager zu Gemüt, er dürfe das Leben nicht zu sehr auf die leichte Achsel nehmen. Er sei bereits sechzehn, also in einem Alter, wo der Ernst des Lebens zu beginnen und das Spiel aufzuhören hätte! Ob er sich schon Gedanken über die Zukunft gemacht habe? Und was er wohl zu werden gedenke?

»Soldat wie der Vater und die Brüder!«

Das wäre ja alles gut und schön! Aber – wo er der Jüngste unter sieben Brüdern sei, die alle dienten! Und bei dem beschränkten Einkommen seines Vaters? Ohne Zuschuß vom Vater könne er nicht daran denken, auf der Offizierslaufbahn vorwärts zu kommen!

»So hilf du mir!«

Dem wäre er wohl nicht abgeneigt! Aber gegen die militärische Laufbahn hätte er seine Bedenken! Erstens gehöre Rügen zu Schweden. Er wäre also Schwede und könnte ihn wohl durch seinen Einfluß in schwedischen Diensten vorwärtsbringen! Aber – das hätte seine zwei Seiten! Mit der schwedischen Macht ginge es abwärts. Lange würden die Schweden ihre deutschen Besitzungen nicht mehr behaupten können! Eines Tages käme man unter andere Herrschaft, und er hätte dann von vorne anzufangen. Denn lieber gar nicht! Lieber Landwirt werden! Da könne er besser helfen! Er würde ihn in allen Stücken unterrichten und ihm dann helfen, eine einträgliche Pachtung zu bekommen, damit er auf eigene Beine käme im Leben! Das wäre doch die Hauptsache! Und hätte er dann noch das Glück, eine Frau zu finden, die auch nicht mit leeren Händen käme, dann wäre er sein eigener Herr. Und dann – wenn's nicht anders ginge, und wenn die Lust in ihm übermächtig werden würde –, dann wäre es immer noch Zeit, zur Fahne zu gehen! –

Bei der Rede des Schwagers wurde es ihm zumute wie gestern, als er die Gespielen davon sprechen hörte, den jungen Adler in den Hühnerstall zu sperren. Alles in seinem Innern lehnte sich dagegen auf.

Die graue Alltäglichkeit eines unbemerkten Schicksals sagte ihm wenig zu. Im Spiele mit den Rostocker Bürgerssöhnen war er stets der Führer gewesen, der sie alle anfeuerte, allen voranstürmte und die Palmen des Sieges an sich riß! Nur so und nicht anders konnte er sich das Leben denken! Aber tagaus, tagein hinter dem Pfluge torkeln, das sagte ihm ganz und gar nicht zu. Er antwortete nicht. Und der Schwager, der sah, wie schwer ihm die Entscheidung wurde, drang nicht weiter in ihn, sondern machte ihm nur den Vorschlag, vorläufig auf seinem Gute alles zu erlernen. Er setzte ihm sogar ein Gehalt aus, sobald er sich eingearbeitet haben würde, und lud ihn zu einem Ritt durch die Felder ein, um erst alles in Augenschein zu nehmen.

Gebhard folgte ihm schweigend.

Kaum saß er aber im Sattel, so war die Mißstimmung verflogen. In der Phantasie trabte er jetzt nicht aus, um die Erdarbeiter zu inspizieren, sondern stürmte an der Spitze einer Schar Reiter auf den Feind los. Und der Schwager hatte Mühe, ihm zu folgen.

Als sie nach einem erfrischenden Ritt zurückkehrten, strahlten Gebhards Augen wieder in voller Lebenslust, seine Stirn war klar. Er tat sich gütlich bei einem reichlichen Mittagsmahl und empfing so den von der Adlerjagd zurückkehrenden Bruder. Der hatte geholfen, den jungen Adler wieder einzufangen. Und Freund Diercks hatte den Wildvogel geradeswegs nach Gagern gebracht, damit Gebhard ihm nicht wieder die Freiheit gäbe!

Abends aber, als sie zu Bett gingen, flüsterte ihm der Bruder etwas zu, das sein Blut in Bewegung brachte.

»Morgen in aller Früh', ehe der Schwager munter wird, geht's nach Bergen!«

»Nach Bergen?«

»Ja, zu den Husaren! Ich lasse mich bei den Schweden einstellen! Du auch!«

»Ist es denn möglich?«

»Diercks hat es mit mir ausgemacht. Er will auch selbst Handgeld nehmen, wie sein Bruder!«

»Was wird der Vater sagen?«

»Gar nichts! Und wenn schon –, sobald wir Handgeld genommen haben, nützt es ihm nichts!«

»Aber der Schwager?«

»Der wird schon aufbegehren! Aber das geht uns nichts an! Mit dem werden wir schon fertig!«

»Denkst du, daß man uns nimmt? Bin ich nicht zu jung?«

»Keinesfalls! Auf das Körpermaß kommt es an, und das hast du! Ich weiß außerdem, daß man uns will!«

»Ganz gewiß?«

»Ganz bestimmt! Gestern, als wir uns von den Husaren trennten und nach dem Gasthof galoppierten, da sagte der Hauptmann zu Diercks: ›Die beiden Jungen hole ich mir noch! Sie reiten ja wie die Deibel!‹ Und er mußte ihm versprechen, uns morgen zu ihm nach Bergen zu bringen! Ich gehe auf alle Fälle hin!«

Gebhard sagte nichts. Er ging anscheinend ruhig zu Bett. Aber er vermochte kein Auge zuzutun. Er war jetzt am Scheideweg, wo es galt, entweder den breiten gesicherten Weg zu wählen, den ihm der Schwager wies, oder den Weg seiner Träume, deren Ziel er noch nicht sah, auf den es ihn aber mit aller Macht hintrieb. Lange lag er da und sann. Plötzlich setzte er sich im Bett auf. »Was ist aus dem Adler geworden?« fragte er.

»Der Adler?« antwortete der Bruder halb im Schlaf. »Den wollte Diercks mit einer Kette an einem Pfahl im Garten anschließen, bis sein Käfig fertig wird!« Und damit schlief er ein.

Als Gebhard aber den Bruder fest schlafen hörte, stand er auf, zog sich rasch an, schlich leise aus der Kammer hinaus, die Treppe hinunter, durch den Garten und auf den Weg nach Gagern. Dort schwang er sich über den Gartenzaun und fand schnell den Pfahl, an den der Adler gefesselt war. Mit einer mitgeführten Kneifzange hatte er bald das Fußeisen durchschnitten, ergriff den Vogel, warf ihn in die Luft und sah, wie er auf mächtigen Schwingen durch die Nacht davonschwebte. Unbemerkt, wie er gekommen, ging er dann wieder nach Hause, schlüpfte rasch ins Bett und schlief bald ebenso fest wie der Bruder – jetzt aber ohne zu träumen.


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