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9.
Jena

Es war bei der Aufführung von Wallensteins Lager im Königlichen Theater zu Berlin.

Auf der Bühne stimmte der Kürassier sein Lied an:

»Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!
Ins Feld, in die Freiheit gezogen!
Im Felde, da ist der Mann noch was wert,
da wird das Herz noch gewogen!
Da tritt kein anderer für ihn ein!
Auf sich selber steht er da ganz allein!«

So sang er, und die umstehenden Kameraden stimmten mit vorschriftsmäßiger Begeisterung ein! Gegen Sitte und Brauch ließen sich aber auch aus dem hintersten Parkett etliche rüstige Männerstimmen hören, die mit Nachdruck und Überzeugung den Kehrreim über die Köpfe der ahnungslosen Zuschauer herausbrüllten.

Es waren Leute vom Unterbefehl des Kürassierregiments Gensd'armes, dessen Offiziere heute außergewöhnlich zahlreich anwesend waren und Logen und Ränge füllten.

Sie wurden Feuer und Flamme bei den frischen Soldatenszenen des beliebten Schillerschen Stückes, beneideten die Musketiere, Jäger und Kürassiere auf der Bühne und lebten in Gedanken das lustige Lagerleben mit, das so grell vom heutigen Kasernengetriebe abstach. Sie sangen mit und machten ihrem Herzen Luft. Das Publikum horchte auf. Kein Ton des Mißfallens wurde laut, und das gab den noch Zaghaften unter den Marssöhnen Mut. Beim nächsten Vers stimmte schon das ganze hintere Parkett in den Kehrreim ein:

»Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,
der Soldat allein ist der freie Mann!«

So sangen sie mit, daß es im Hause dröhnte. Und die eleganten Damen in den Logen und Rängen blickten zu den jungen Offizieren hinüber, ihre Augen glühten, ihr Atem ging schneller; hin und her wogte es warm von Sinn zu Sinn! Und als der dritte Vers stieg, da schlossen sie die Augen und sogen begierig durch halboffene Lippen den Odem ein, der heiß über sie hinbrauste, als überall im Theater die jungen Krieger einstimmten und das Lied laut in den Saal hinausschmetterten:

»Der Reiter und sein geschwindes Roß,
sie sind gefürchtete Gäste.
Es flimmern die Lampen im Hochzeitsschloß,
ungeladen kommt er zum Feste.
Er wirbt nicht lange, er zeigt nicht Gold,
im Sturm erringt er den Minnesold!«

Als aber auf der Bühne die Soldaten sich die Hände gaben, einen großen Kreis bildeten und gemeinsam die Schlußstrophe anstimmten, in die das Lied wie in einem großen erhebenden Aufschrei ausklingt, da hielt nichts mehr das angefeuerte Publikum zurück.

Die Aufregung, in der man gelebt hatte, seit der letzte Übergriff der Franzosen bekannt geworden war – die Entrüstung über sein freches Unterfangen, preußische Gebiete zu besetzen und seine eigenen, vertraglich festgelegten Zugeständnisse an Preußen zu ignorieren –, der ganze beleidigte Nationalstolz, der auf einmal erwacht war, mußte Luft haben, mußte sich ausschreien und austoben, irgendwo und irgendwie! Und da war das Schillersche Soldatenstück mit seinem frisch pulsierenden Blut und seinem heißen, vorwärtsstürmenden Atem wie geschaffen dazu, die Kinder des kühlen Nordens in rauschende Begeisterung zu versetzen. Im Taumel der Gefühle erhob sich das ganze Haus von den Plätzen, die jungen Offiziere eilten an die Brüstung, zückten die Schwerter, ließen die Klingen im Takt mit dem Gesang aufeinanderschlagen und sangen mit, von dem übrigen Publikum durch Zurufe und Winke mit den Tüchern angefeuert.

»Drum frisch, Kameraden, den Rappen gezäumt,
die Brust im Gefechte gelüftet!
Die Jugend brauset, das Leben schäumt!
Frisch auf! Eh der Geist noch verdüftet.
Und setzt ihr nicht das Leben ein,
nie wird euch das Leben gewonnen sein!«

»Und setzt ihr nicht das Leben ein,
nie wird euch das Leben gewonnen sein!«

So sang das ganze Haus mit, und der Vorhang fiel und erhob sich immer wieder vor nie enden wollenden Beifallsstürmen. Das Tücherschwenken und Winken galt aber den Soldaten draußen im Theater noch mehr, als denen auf der Bühne. Und als ein junger Offizier an die Brüstung trat und den König hochleben ließ, da stimmte alles begeistert ein, und es dauerte geraume Zeit, ehe sich das Haus leerte.

Vor dem Theater aber staute sich die Masse der draußen Wartenden mit dem durch die vielen Ausgänge herausströmenden Publikum zu einem undurchdringlichen Knäuel, in dessen Mitte sich allmählich die Offiziere als fester Kern zusammenfanden.

Ein junger Brausekopf sprang auf die Freitreppe hinauf und hielt eine feurige Rede, in der er in derber Soldatenweise dartat, wie sehr es an der Zeit wäre, daß die Jugend jetzt das Heft in die Hand nähme und gutmachte, was das Alter aus Bequemlichkeit und Zaghaftigkeit gesündigt hätte! Endlich wollte man den Franzosen zeigen, daß Preußen noch da sei und in der Welt mitzureden habe! Mit dem feigen Zurückweichen vor welscher Anmaßung habe es jetzt sein Bewenden! Das Schwert müsse jetzt gutmachen, was die Feder unfähiger Staatsmänner gesündigt! Die Tage der Schmach hätten jetzt ein Ende, und ein Hundsfott wäre, wer sich da noch feige um die Pflicht herumdrücke, Leben und Blut für die beleidigte Nationalehre einzusetzen, oder wer gar noch daran dächte, den Franzosen die Hand zur Versöhnung zu bieten! –

»Nieder mit den Franzosen!« schrien sie alle. »Nach der Botschaft! Nach der französischen Botschaft!«

Wie von einem Gedanken getrieben, stürzten sie vorwärts, bahnten sich mit unwiderstehlicher Gewalt eine Gasse durch die angesammelte Menschenmenge und eilten, die gezückten Waffen über den Köpfen schwingend, auf das Haus der französischen Botschaft zu. Und hinter ihnen her wälzte sich eine tausendköpfige Masse, schreiend, tobend, jauchzend, johlend und alles was lebte und ihr in den Weg kam, vor sich herfegend.

Das Haus der Botschaft lag in tiefem Dunkel. Als die schreiende Menge, die jungen Offiziere mit den blitzenden Waffen voran, auf das Haus zustürmte und den ganzen Platz davor füllte – da huschten rasch ein paar Schatten auf den Balkon hinaus und bogen sich über das Geländer, blickten herab und zogen sich dann schnell zurück.

Kein Schlag gegen das Haustor dröhnte, kein Zeichen von Gewalt war zu bemerken. Einzig ein schneidendes, kreischendes Geräusch, wie wenn Hunderte von Schleifsteinen gleichzeitig gegen harten Stahl gestrichen werden, war alles, was die oben atemlos Lauschenden von unten vernahmen, und dann die Stille, in die das wüste Lärmen allmählich überging.

Wieder huschten sie vor und blickten hinunter.

Da an der Treppe knieten die jungen Offiziere Mann an Mann und wetzten ihre Säbel an den steinernen Stufen vom Hause Frankreichs.

Als sie fertig waren, sprangen sie auf, schwangen wieder einmal drohend ihre Waffen gegen die französische Fahne da oben am Mast und riefen wie aus einem Munde:

»Hie Preußen allewege! Tod den Franzosen!«

Und jubelnd stimmte die tausendköpfige Menge in den Ruf ein:

»Tod den Franzosen!«

Niemand antwortete von den oben Harrenden! Aber die dreifarbige Fahne flatterte stolz und breitete und blähte sich im Winde.

*

König Friedrich Wilhelm III., lang, robust und soldatisch steif, ging mit ungelenken Bewegungen in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Er schien ärgerlich über irgendeine Begebenheit, von der er überrascht worden war, und die ihn jäh vor die Notwendigkeit stellte, einen Entschluß zu fassen. Am liebsten überließ er das seinen Ministern, weniger aus Bequemlichkeit, als aus übergroßer Bescheidenheit und einer jugendlichen Befangenheit, die ihn, trotz seiner siebenunddreißig Jahre, noch beherrschte.

Jetzt aber galt es, durch einen persönlichen Akt die Würde seiner Stellung zu wahren und mit einer Kundgebung seines Willens dem Geist der Beunruhigung entgegenzutreten, den die jungen Offiziere durch ihre disziplinwidrige Kundgebung entfesselt hatten!

Die Revolte gegen die königliche Autorität – denn nur so faßte sie der König auf – mußte schnell im Keime erstickt werden, ehe sie von Berlin auf das übrige Land übergreifen konnte!

Den Kopf steifnackig in den hohen, goldgestickten Kragen zurückgedrückt – das reiche blonde Haar aus der Stirn nach der Seite gestrichen – die vollen Lippen vom kurzen Schnurrbart mäßig beschattet – die Wangen vom Backenbart eng umrahmt – die Augen trüb melancholisch blickend, so schritt er bedächtig einmal durchs Zimmer und dann noch einmal – blieb vor dem Arbeitstisch stehen und blickte zum Kabinettsrat Beyme hinüber, der mit devoter Haltung, in gemessener Entfernung vom allerhöchsten Schreibtisch, das Resultat der königlichen Erwägungen abwartete.

Ein Zucken durchfuhr die kleine dicke Gestalt, als er die Augen des Königs auf sich gerichtet fand. Beflissen streckte er den Kopf vor, nahm die Hacken zusammen, daß seine krummen Beine ein erstauntes O bildeten; seine kohlschwarzen Augen quollen achtunggebend aus ihren Höhlen hervor, bereit, dem gnädigen Herrn und Gebieter jeden Wunsch vom Gesichte abzulesen und ihn so der Mühe zu überheben, ihm Worte zu verleihen.

Der König sah es, ließ die Finger seiner Rechten einen zaghaften Appell auf der Tischdecke trommeln, blickte dann steif vor sich hin, ohne Beyme anzusehen, und sagte mit sichtbarer Mühe:

»Junge Offiziers maßregeln! Beispiel statuieren! Widersetzlichkeit ausrotten! Haben Befehle gegeben! Er, Beyme, hat für strikte Durchführung und für Beruhigung der Stadt zu sorgen!«

Der Kabinettsrat verbeugte sich schweigend.

Der König wartete, um irgendein Wort der Entgegnung von seinem Getreuen zu hören, nahm dann ein bereitliegendes Dokument vom Tisch und reichte es ihm, sichtlich dadurch belästigt, allein reden zu müssen.

»Lesen!« befahl er.

Schnell wie ein Wiesel eilte der Kabinettsrat auf seinen krummen Beinen vor, nahm mit tiefer Verbeugung das Papier entgegen, hielt es dicht ans Gesicht und rollte mit seinen Blicken geschwind die Tintenspuren bis zu den Unterschriften ab.

Dort blieben sie hängen, unter emporgezogenen Brauen, während die Lippen sich mühten, den erstaunten Kreis der Beine nachzubilden.

»Nun?« fragte der König ungeduldig, endlich eine andere Stimme zu hören.

Beyme ließ das Dokument bis zur Höhe seines Bauches sinken, zuckte fast unmerklich mit den Schultern, wiegte den Kopf einmal nach rechts, dann einmal nach links, tat die Lippen auf – schloß sie aber wieder, senkte die Blicke und blieb stumm stehen, mit der Miene der verkannten Unschuld.

»Man verlangt von Uns seine Entlassung, Beyme!« sagte der König ungeduldig, da er immer noch keine Antwort bekam.

Beyme blickte auf mit einem rührenden Augenaufschlag, seufzte aus der Tiefe eines gekränkten Herzens und senkte die Blicke wieder, so alleruntertänigst andeutend, daß er sich in das Unabwendbare finden würde, wenn's sein müßte. Aber er erwiderte keine Silbe.

»Den Kabinettsrat Lombard sollen Wir auch fortschicken – Unseren Minister Haugwitz auch! Sage Er doch seine Meinung!«

»Majestät!« sagte der Angeredete mit einem gequälten Seufzer. »Dero alleruntertänigstem Knecht würde es wenig ziemen, irgendeine Meinung über ein Dokument zu verlautbaren, unter dem die erlauchten Namen fünfer Prinzen des königlichen Hauses stehen – der beiden Prinzen Brüder, des Prinzen Oranien Hoheit sowie der Prinzen Louis Ferdinand und August!«

»Da stehen auch andere Namen!«

»Namen von Männern, die sich des allerhöchsten Vertrauens erfreuen dürfen, als welche die Generäle Rüchel und Pfuhl wohl zu bezeichnen sind, und auch seine Exzellenz der Finanzminister Freiherr vom Stein –«

»Seine Unterschrift ist Uns allein hier maßgebend«, sagte der König langsam. »Die Prinzen und die Generäle sind nichts als Mitläufer. So meint Er doch auch?«

Beyme hob das Dokument wieder zur Höhe seiner Augen und rollte es noch einmal rasch mit den Blicken ab.

»Wenn ich meine Ansicht alleruntertänigst vorbringen darf, so zeigt das Schriftstück allerdings den Minister von Stein als Urheber an. Ganz seine Art, gerade und ohne Umschweife auf die Sache loszusteuern, ganz seine Verachtung einer jeglichen höfischen Form! – Auch Seine Königliche Hoheit, der Prinz Louis Ferdinand, würde wohl nicht ermangeln, seine Geringschätzung für das Althergebrachte darzutun – jedoch mit mehr Eleganz und nicht ganz so unverhohlen und schroff.«

»Daß der Freiherr vom Stein das Schriftstück abgefaßt hat, daran zweifeln Wir nicht und halten es auch für sehr wahrscheinlich, daß er es geradezu veranlaßt hat«, sagte der König langsam. »Das ist aber nichts denn Meuterei!« rief er dann plötzlich mit erhobener Stimme und schlug so heftig auf den Tisch, daß der kleine Kabinettsrat zitternd zurückwich.

In gemessener Ferne blieb er stehen und starrte erschreckt, aber mit unverhohlener Neugier, seinen Herrn und Gebieter an, der unbeweglich vor dem Schreibtisch stand und wieder trübe ins Leere blickte.

»Haben den Baron hierherbefohlen, um Uns Rede zu stehen!« sagte der König schließlich und zeigte auf die Tür.

Der Kabinettsrat eilte zur Tür und winkte hinaus.

Ein Adjutant erschien und machte die Meldung. Seine Exzellenz, der Minister Freiherr vom Stein wäre zur befohlenen Audienz erschienen.

»Vorlassen!« beschied ihn der König und wandte sich zum Kabinettsrat, der inzwischen das Dokument auf den Schreibtisch zurückgelegt hatte.

»In der Nähe bleiben!« befahl er diesem kurz und reichte ihm einen Brief. »Brief des Generalleutnants von Blücher! Lesen! Antwort entwerfen!«

Beyme nahm den Brief, verbeugte sich ehrerbietigst und zog sich mit seinem Portefeuille in ein Nebenzimmer zurück. Der König ging langsam durchs Zimmer, stellte sich mit dem Rücken gegen den Kamin, blieb dort in soldatischer Haltung stehen, die Hände gerade an den Seiten hängend, den Blick auf die Tür des Audienzzimmers gerichtet.

Die Tür öffnete sich und die breite, gedrungene Gestalt Steins erschien auf der Schwelle.

Mit einer kaum merkbaren Bewegung des Kopfes beantwortete der König den ehrerbietigen Gruß des Freiherrn. Eine kurze Handbewegung deutete auf das auf dem Schreibtisch liegende Dokument.

»Haben gelesen!« sagte er mürrisch. »Er hat sich Freiheiten genommen. Er ist Unser Minister für Zoll-, Manufaktur- und Kommerzwesen, Unser Präzeptor aber nicht. Wer Uns zu dienen hat, entscheiden Wir. Unsere Brüder und Vettern haben da nicht mitzureden. Unsere Minister und Generäle noch weniger! Es sei denn, daß Wir sie um ihre Ansicht gebeten haben!«

»Majestät wollen gnädigst gestatten –«, fing der Freiherr an.

»Aufrührerische Gesinnung und meuterisches Gebaren dulden Wir nicht. Er ist an der ganzen Sache schuld. Er hat das geschrieben! – Er hat die Prinzen und Generäle veranlaßt, ihre Namen darunterzusetzen. Gestehe Er!«

»Das Memorandum habe ich nicht geschrieben. Ich komme aber für jedes Wort darin auf, als hätte ich es getan!« sagte Stein bestimmt. »Es enthält nichts, was nicht durch vorherige Besprechung mit den Unterzeichnern vereinbart wurde. Die darin zum Ausdruck gelangten Ansichten geben nur die Befürchtungen wieder, die jeden vaterländisch gesinnten Mann heute bewegen: daß die Politik der Kabinettsräte und vor allem des Grafen Haugwitz uns an den Rand des Abgrunds bringt, wenn nicht schleunigst Abstand davon genommen wird.«

»Die Kabinettsräte führen nur Unseren Willen aus! Haugwitz hat große Verdienste um die Krone und hat überdies viele Geschicklichkeit bewiesen. Daß er Neider hat, wissen Wir. Es wird denen nicht gelingen, Unser Vertrauen zu ihm wankend zu machen. Was hat Er gegen den Grafen? Sage Er offen seine Meinung!«

»In der Tat«, sagte Stein und richtete sich auf, so weit es seine kurze Gestalt erlaubte. »Ich würde schlecht mein Amt als Berater der Krone versehen, wenn ich die Frage nicht offen beantwortete! Der Graf Haugwitz verdient in keinem Falle das große in ihn gesetzte allerhöchste Vertrauen. Er treibt hinter dem Rücken Eurer Majestät seine eigene Politik, für die die Krone nachher die Verantwortung tragen muß. Eurer Majestät bestimmten Befehl an ihn, sofort dem Kaiser der Franzosen Allerhöchstdero Kriegserklärung zu überbringen, führte er nicht aus, zögerte erst drei Wochen, ehe er ins französische Hauptquartier fuhr, und brachte uns dann statt des Krieges den Bündnisvertrag mit Napoleon zurück!«

»Zwischen seine Ausreise und seine Heimreise fiel die Niederlage unserer Verbündeten bei Austerlitz!«

»Österreich und Rußland hatten sich wohl eben nichts Ersprießliches vom Bündnis mit uns erwarten können. Sonst hätten sie lieber auf uns gewartet, als zu früh loszuschlagen und sich die Niederlage zu holen! Haugwitzens feige, unentschlossene Neutralitätspolitik hat die Krone Preußens so allmählich um alles Ansehen bei den anderen Mächten gebracht und hat das Land nach allen Seiten isoliert. Man traut uns nicht, weder Freund noch Feind. Und so müssen wir jetzt, wo wir um unserer Ehre willen das Schwert ziehen, allein und ohne Freunde und Bundesgenossen dastehen. Wir werden einer sicheren Niederlage entgegengehen, wenn nicht Eure Majestät schleunigst Leute wie Haugwitz, deren Saumseligkeit und Ungeschicklichkeit alles Unheil verschuldet hat, von der Leitung entfernen.«

»Meine Armee wird ihm die gebührende Antwort darauf geben!«

»Ich befürchte nein. Denn wie sind wir für den Kampf gerüstet? Ohne Geld, mit veralteten Gewehren und mit Waffenfabriken, die nicht den zehnten Teil vom Bedarf leisten. Wir haben es versäumt, uns beizeiten aus England und Österreich neue Gewehre zu kaufen. Unser Heer mit allen seinen Vorzügen besteht zum größten Teil aus Veteranen, die durch lange Beurlaubung dem Kriegsdienst entfremdet wurden. Es wird von Greisen geführt, die bei aller Rüstigkeit doch nicht über die Erfordernisse des Paradeplatzes hinaus etwas verstehen. Wie wir damit den kriegsgewohnten Truppen Frankreichs standhalten wollen, ist unerfindlich. Was geschehen muß, muß also schnell geschehen. Deshalb haben wir uns entschlossen, Eure Majestät um eine Entscheidung zu bitten, die Allerhöchstdieselbe doch früher oder später treffen müssen. Wir bitten also um Entlassung des Grafen Haugwitz, wir verlangen die Entfernung der Kabinettsräte Lombard und Beyme, die sich zwischen die Krone und ihre Berater gedrängt haben und die nur verhindern, daß Eure Majestät von der wahren Sachlage der Geschäfte gebührend unterrichtet werden!«

»Wenn Er, mein Herr Minister, die Unentbehrlichkeit der Kabinettsräte dartun wollte, Er hätte es nicht besser tun können als durch das, was Er soeben vorbrachte. Fürwahr, es wird Uns schwer, ein ruhiges Urteil zu gewinnen, wenn Uns in solch ungebührlicher Weise, wie jetzt von Ihm, Wünsche, Bitten und Vorschläge vorgebracht werden. Allein zu dem Zweck tut es not, treue Diener zu haben, die es verstehen, Uns in geziemender Weise zu nahen. So müssen Wir es ablehnen, Ihm irgendwie auf seine Vorstellungen etwas zu erwidern. Wir verweisen Ihn auf seinen Platz, Wir verbitten Uns jede unaufgeforderte Einmischung seinerseits in die Rechte der Krone, die Wir allein wahrzunehmen haben und auch wahrnehmen werden, ob es unseren Untertanen in den Kram paßt oder nicht. Er hat sich zu fügen und Uns zu vertrauen. Weder Unsere Minister noch Unsere Offiziere haben sich um Unsere Entschließungen zu kümmern. Und wagen sie's, offen dagegen zu revoltieren und gar, wie es zu Unserer Betrübnis vorgekommen ist, auf offener Straße dagegen zu demonstrieren, so werden Wir es verstehen, Unsere Autorität zu wahren!«

»Wollen Eure Majestät in Gnaden verstatten? Das, was die jungen Offiziere sich erlaubt haben, das mag ungewöhnlich sein, eine Revolte ist es aber nie und nimmer gewesen, auch in keiner Weise ein Versuch, gegen des Königs Majestät irgendwie aufzubegehren. Dem Feind allein galt jene Kundgebung. Sie erfolgte spontan und aus dem unwiderstehlichen Bedürfnis, die Ehre des Landes zu wahren!«

»Die Ehre des Landes wahrt der König!«

»Der König und das Volk. So muß es sein. So wird es kommen. Und daß die Erkenntnis zuerst hier in Eurer Majestät Hauptstadt zum erhebenden Ausdruck kam, dazu ist Eure Majestät zu beglückwünschen. Ich flehe zum Himmel, daß sich dieses Erwachen des Volkes nicht nur auf Berlin beschränken möchte. An jene Kundgebung müssen Eure Majestät anknüpfen, von da aus alles umgestalten, dann sind wir unwiderstehlich, dann kann uns nichts mehr etwas anhaben. Wie war es aber bis jetzt. Ich habe mich geschämt, als die Franzosen Hannover überfielen und das hannoversche Volk den Aufruf, zur Rettung des Vaterlandes sich um die Fahnen zu scharen, damit beantwortete, daß es alle waffenfähige Jugend außer Landes schickte. Und überdies der eigenen Armee den Unterhalt verweigerte, wenn sie nicht schleunigst Kanonen und Ausrüstung dem Feind überlieferte, damit der Krieg nur aufhöre. Waren das Deutsche, die so handelten? Ich habe mir immer wieder die Frage vorgelegt – und immer wieder antworten müssen – ja, es waren Deutsche – aber deutsche Knechte, denen jedes Gefühl der Teilnahme für das Geschick des Vaterlandes abhanden gekommen ist, und die ihre Knechtschaft verdienen, wenn sie nicht lernen, sich selbst zu befreien! Deshalb habe ich gestern, im Theater, laut mitgejubelt und mitgesungen, als das große, heilige Gefühl, für die Ehre des Landes das Letzte herzugeben, so hell und klar aufloderte. Denn ich war dabei, und werde immer dabei sein, wo es gilt! Keinesfalls aber gebe ich mich dazu her, eine Politik der Knechtung des Volkes und der Kriecherei vor den Franzosen, wie sie Haugwitz und Lombard wollen, mitzumachen. Noch weniger lasse ich mir den Mund verbieten, wenn ich Mängel und Schäden im Staate sehe und die Pflicht und das Amt habe, nach bestem Gewissen zur Besserung beizutragen. Wird das ungnädig aufgenommen und gar als Ungebühr gerügt, so bleibt mir nichts, als entweder volles Vertrauen zu verlangen oder um meinen Abschied zu bitten!«

Der König hatte schweigend, ohne sich vom Kamin zu bewegen und ohne eine Miene zu verziehen, der Rede Steins zugehört. Er mochte nicht zeigen, wie sehr die eindringliche Art des Freiherrn auf ihn gewirkt hatte, mochte auch nicht das, was er als Ungebühr bezeichnen mußte, dadurch sanktionieren, daß er irgendwie auf dessen Ausführungen einging.

Er ging langsam und steif einmal durchs Zimmer, kehrte dann zum Kamin zurück und sagte, ohne Stein anzusehen und ohne die Stimme irgendwie zu erhöhen oder im geringsten von seiner gemessenen Art zu sprechen abzuweichen:

»Werden Ihm Unsere Entscheidung bezüglich seines Abschiedsgesuchs zukommen lassen!«

Eine kurze Handbewegung, und die Audienz war beendet.

Der Freiherr verbeugte sich steif und nicht mehr als nötig, machte kehrt und ging.

»Beyme!« rief der König, und der kleine Kabinettsrat kugelte aus dem Nebenzimmer herein, den Brief Blüchers und das Antwortschreiben in der Hand.

»Hergeben!« sagte der König und setzte sich an den Schreibtisch.

Er ließ sich den Antwortsentwurf von Beyme vortragen, nahm dann, ohne ein Wort des Beifalls oder Mißfallens zu äußern, Blüchers Brief vom Schreibtisch und las ihn, noch einmal prüfend, durch.

Der General schrieb unter anderem:

 

»aufgefordert durch die täglich immer bedenklichere Lage und gefährlicher werdenden Schritte, welche Frankreich sich in militärischer Rücksicht hier gegen Eurer Königl. Majestät Grenzen erlaubt, muß ich endlich mein Herz zu Füßen des Königs, meines Herrn, ausschütten; muß ich als treuer und grau gewordener Diener von Höchstdero erhabenem Hause meine Ansichten unserer Lage Frankreich gegenüber zum ersten und zum letzten Male Euer Majestät zu Füßen legen. – – – – – Frankreich meint es mit keiner Puissance redlich und gut, am allerwenigsten mit Euer Königl. Majestät, als der einzigen Macht, die seinem Eroberungs- und Unterjochungssystem in Deutschland noch allein im Wege steht. Es verbirgt sogar seine Ansicht nicht; denn wenngleich es mitunter süße Vorspiegelungen macht, so widersprechen alle seine Handlungen gegen Eure Majestät diesen geradezu. Die Invasion von Hannover, der letzte gewaltsame Durchmarsch durchs Ansbachsche, und die räuberische Besetzung von Essen und Werden, sowie der ganze arrogante Ton, den der französische Monarch sich erlaubt, beweisen Euer Königl. Majestät mehr als genug, was ich zuvor gesagt habe. Alle treuen Untertanen Eurer Königl. Majestät, alle echten Preußen, und die Armee besonders, haben das Herabwürdigende dieser französischen Demarchen tief empfunden, und fühlen es noch, und alles wünscht die gekränkte Nationalehre bald – recht bald – blutig zu rächen.

Wer das Betragen Euer Königlichen Majestät aus einem anderen Gesichtspunkt darstellt – –«

 

Der König sah bei diesem Passus vom Briefe auf und blickte Beyme lange an. Dann las er weiter:

 

»– – wer Eurer Königlichen Majestät zu fortwährendem Nachgeben, zum Frieden mit dieser Nation rät, der ist entweder sehr, sehr gutmütig, sehr kurzsichtig, oder er ist mit französischem Golde gekauft –«

 

Hier unterbrach der König das Lesen und warf den Brief auf den Tisch. Er nahm dann das Antwortschreiben Beymes aus dessen Händen entgegen, zerriß es, ohne es zu lesen, langsam und bedächtig, zum Entsetzen des Kabinettsrats und ließ die Fetzen in den Papierkorb fallen.

»Wollen dem verdienten General nicht seine soldatische Offenheit strafen! Wollen aber auch ihm keine unerbetene Einmischung verstatten – ziehen es vor, ihn ohne Antwort zu lassen.«

Beyme verbeugte sich schweigend.

»Hörte Er vorhin, was der Freiherr vom Stein Uns zu erzählen wußte?«

»Der Baron war sehr laut – –«

»Er hat Uns seinen Abschied nahegelegt!«

Der König blickte Beyme fragend an. Und dieser glaubte aus der veränderten Absicht des Königs dem General Blücher gegenüber schließen zu dürfen, daß er doch nicht mehr so unempfindlich gegen die Vorstellungen Steins war, wie vorhin. Er fand es also klüger, einzulenken und demnach zu raten.

»Der Freiherr verdient zweifelsohne eine Maßregelung ob seines dreisten Tones«, sagte er zögernd. »Er hat aber im Amte viel Eifer und Tüchtigkeit bewiesen. Will er jetzt zurücktreten, so tut er es nur, um sich der Verantwortung zu entziehen – wenn das Unglück, das er prophezeit, wirklich eintreten sollte! Und da verdient er eben seinen Abschied nicht zu bekommen!«

Der König merkte wohl, worauf sein lieber Beyme hinauswollte, sagte aber nichts, sondern blieb sitzen wie vorhin und blickte geradeaus.

Ein Minister, der mit seinem Rücktritt drohte – das war ihm neu!

Sonst pflegten diese Herren an ihren Ämtern zu kleben. Neun Zehntel ihres Strebens ging darauf aus, sich die Gunst zu erhalten. Sie waren fleißig, enthielten sich eines jeden Widerspruchs, machten ihre Dummheiten mit größter Diskretion, glatt, delikat unter Wahrung der Form, blieben trotz etwaiger Fußtritte auf ihrem Platz, maßten sich keine Verantwortung zu, die ihnen nicht zukam, und belästigten niemals mit Ansichten und unerbetenen Ratschlägen!

Und nun dieser Stein!

Ein ausgezeichneter Verwaltungsbeamter, ein fleißiger Arbeiter, aber schroff, steifnackig, eigenwillig, geradeheraus und herrisch! Er stellte gar Bedingungen! Entweder du tust meinen Willen oder ich gehe!

Das ginge nicht! Das dürfte nicht sein! Er sollte bleiben! Er müsse sich aber ducken, müsse sich an die Trense gewöhnen. Nachher ließe sich schon gut mit ihm fahren!

Der König blickte Beyme an, der noch in gespannter Aufmerksamkeit wartete.

»Wollen Uns die Sache noch überlegen!« sagte er kurz. »Seinen Verweis hat der Freiherr! Die anderen werden ihrem Teil auch nicht entgehen! Er aber sorge dafür, daß uns der Straßenpöbel mit aufrührerischen Kundgebungen nicht noch einmal inkommodiere! Dulden Wir das, so steht das ganze Volk auf und will mitregieren!«

»Gestatten, Majestät – auf der Straße gibt es immer Leute, die mitschreien, wo es zu schreien gibt. Sie sind nicht das Volk. Das Volk ist froh und zufrieden, eine weise Regierung zu haben, die ihm den Frieden sichert, damit es in Ruhe seinem Erwerb nachgehen kann. Die Neutralitätspolitik von Euer Majestät Regierung hat das bewirkt und einen noch nicht dagewesenen Wohlstand erzeugt. Man ist überglücklich und zittert nur vor dem einen: in den allgemeinen Kriegsstrudel hineingezogen zu werden. Man will den Krieg nicht –«

»Aber man schreit auf den Straßen und sucht ihn zu provozieren. Ob Krieg oder Friede, haben Wir nach Unserem Ermessen zu entscheiden. Wir wollen den Krieg nicht. Das merke Er sich, Beyme. Er kann gehen!«

Der Kabinettsrat verbeugte sich, so tief es seine kugelrunde Statur erlaubte, und ging.

Der König rief seinen Generaladjutanten und Kabinettsrat für militärische Angelegenheiten, den Oberst von Kleist, und verfügte kurz:

»Den königlichen Prinzen ist zu befehlen, sich sofort zur Armee, zu ihren respektiven Truppenteilen zu verfügen. Haben zuviel Freiheit gehabt, müssen sich wieder an Disziplin gewöhnen!«

*

Der korsische wilde Jäger ließ seine Meute los. In der Urheimat der alten Germanen, im Thüringer Wald, fing die Hetze an. Anfangs lauerte die Meute weit auseinander zerstreut in Süddeutschland, von Passau und Memmingen, südlich der Donau, über Ansbach und Würzburg bis Frankfurt am Main. Dann nahmen sie die Fährte auf und stöberten vorwärts aus allen den verschiedenen Richtungen gegen den einen Punkt, wo Erzgebirge und Fichtelgebirge einerseits mit dem Thüringer Wald, andererseits in stumpfem Winkel zusammenstoßen, sich wie eine schützende Barriere vor Norddeutschland legen und nur durch einige Pässe im Quellengebiet der Saale bequemen Durchlaß gewähren.

Dort wollte der wilde Jäger seine Meute vorbrechen lassen, sie auf dem rechten Saaleufer vorwärts treiben und so die preußische Armee, die sich nördlich vom Thüringer Wald aufgestellt hatte, überflügeln und von ihren rückwärtigen Verbindungen abschneiden. – Inzwischen tastete die preußische Armee zaghaft bald rechts, bald links um den Thüringer Wald herum, unsicher, ob sie den Feind abschneiden, ihm frontal entgegentreten oder, in der Defensive verharrend, ihn mit verwandter Front, in der Flankenstellung hinter der schützenden Saale erwarten sollte.

Ihr Hauptquartier hatte sie in Erfurt.

Erfurt, bis vor zwei Jahren eine stille Stadt in den Landen des Kurfürsten von Mainz und Großkanzlers des jetzt zertrümmerten Heiligen Römisch-Deutschen Reiches, bekam somit nachdrücklich zu wissen, daß es zum Range einer Hauptfestung des großmächtigen Königreichs Preußen erhoben worden war.

Die Stadt schien in ein wahres Feldlager verwandelt zu sein.

Tag und Nacht herrschte in den Straßen ein reges Treiben. Kanonen, Munitionswagen und Fahrzeuge aller Art rollten dröhnend über das Pflaster, daß die Hauswände zitterten und die Scheiben klirrten. Taktfeste Tritte von marschierenden Truppen, Pferdegetrampel, Trompetengeschmetter, Trommelschlag, Pfeifenklang, Schreien, Lachen, Schelten, Kommandoworte, Geräusche aller Art schwirrten durch die Luft.

In den Straßen und auf den Plätzen drängten sich Neugierige jeden Standes und Alters, rannten sich die Rippen ein und zertraten sich fluchend die Hühneraugen. Stafetten und Kuriere aller Waffengattungen durcheilten mit Windesschnelle die Stadt in allen Richtungen. Uniformen der berühmtesten preußischen Regimenter zeigten sich überall, auf dem Anger, im Karthäusergarten und in den Läden auf der »Krämerbrücke«. Zopf und Schnauzbart dominierten und wurden allseitig angestaunt. In den engen Straßen der Altstadt war ein Gedränge und Getriebe wie seit Menschengedenken nicht. Und wackere Kriegerburschen pirschten die Gäßchen ums Augustinerkloster nach holder Weiblichkeit ab und blickten wohl auch nebenbei staunend zu den Klostermauern hinauf, hinter denen vor dreihundert Jahren der hochgelahrte Herr Dr. Martinus Lutherus selbst das Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, als er dorten als Mönch eintrat.

Sächsisch, Schlesisch, Rheinisch, Platt und unverfälschtes »Balinsch« kämpften in babylonischer Verbiesterung um den Vorrang im Konzert. Bis endlich die Kanonen der Zitadelle Petersburg mit dem königlichen Salut einsetzten und die Glocken all der vielen Kirchen, vor allem die altberühmte »Maria gloriosa« des Domes mit ehernen Stimmen die Majestät des Königs von Preußen begrüßten und so Preußen über alles zur Losung machten und als Sturmzentrum alles Geschehens proklamierten, von dem aus es deutsch nach allen deutschen Gauen, Widerhall heischend, schallen konnte.

Am fünften Oktober sollte beim König Kriegsrat abgehalten werden.

Kriegsrat, das heißt für gewöhnlich Bestätigung und Vermehrung der Ratlosigkeit bei der Führung. So war es auch hier in Erfurt. Da sollten ein Dutzend oder mehr Köpfe das Unmögliche vollbringen, sich um einen Entschluß zu einigen, den der Oberbefehlshaber trotz seiner Machtvollkommenheit nicht allein zu fassen wagte, sei's aus Alters- oder Charakterschwäche, aus höfischen Rücksichten oder um sich einer ihm lästigen Verantwortlichkeit zu entziehen.

Tüchtigkeit und besondere Befähigung allein sind leider nicht immer bei Besetzung eines Amtes an dieser Stelle maßgebend. Es gibt höfische Rücksichten, die da mitreden, Rücksichten auf Familie, Verwandtschaft, Dienstalter, Rang und Namen, die oft den weniger Geeigneten, zum Schaden der Sache, an führende Stelle verhelfen und verhindern, daß die rechte Person auf den rechten Platz kommt.

So kam es, daß der Herzog von Braunschweig, als ältester Feldmarschall und berühmtester Heerführer Preußens, mit dem Oberbefehl betraut wurde. Seine siebzig Jahre waren kein Hindernis.

Aber – auch der General Fürst Hohenlohe-Ingelfingen hatte Ansprüche auf ein selbständiges Kommando, und man hatte geglaubt, ihm mindestens die Führung einer Armee geben zu müssen. Man schuf also, statt einer einheitlichen, zwei Hauptarmeen, nominell mit dem Herzog von Braunschweig als gemeinsamen Oberbefehlshaber, aber doch voneinander ziemlich unabhängig. Denn der Herzog, voll weltmännischer Courtoisie, nahm jede Rücksicht und ließ dem Fürsten Hohenlohe seinen Kopf für sich.

Dieser Kopf Hohenlohes hieß von Massenbach, Oberst und Generalquartiermeister-Leutnant bei seinem Armeekommando.

Der Fürst selbst war mehr zum Gehorchen als zum Befehlen veranlagt. Er gehorchte also dem, der ihm in geeignetster Weise befehlen konnte. Und da das nicht der Herzog war – gehorchte er also, wenn auch unbewußt, seinem Generalstabschef Massenbach.

Dieser war ein Genie. Aber eins von jener Sorte, die besser als alle anderen wissen wollen, wie man reiten soll, aber selbst nicht reiten können.

Er hatte Ideen – strahlende Ideen – tiefe Ideen – unfaßbar geniale Ideen, die alles bisher Dagewesene in Schatten stellten. Er war von seiner Vollkommenheit ebenso fest überzeugt, wie von der gänzlichen Bedeutungslosigkeit aller anderen Generalstäbler. Er war aus Schwaben, war apoplektisch, kahlköpfig, hatte rosige, blühende Wangen und redete wie ein Wasserfall.

Wenn er seine kleinen, runden, braunen Augen aufsperrte, sein Auditorium fest anblickte und dabei ein Brillantfeuerwerk von gut gespitzten Argumenten und Widerlegungen in endlosen Wortschlangen über die nimmermüden Lippen herausließ, dann betäubte er sein Auditorium – aber auch sich selbst, so daß er jeden auch noch so begründeten Einwand überhörte. Denn er überzeugte weder, noch ließ er sich überzeugen. Er konnte nur sich selbst reden hören und behielt, seiner Meinung nach, deshalb stets das letzte Wort. Er hatte also recht, war maßlos erstaunt und ungehalten, wenn man doch gegen seine Meinung zu handeln wagte, und tat alles, um es zu hintertreiben.

Also ein unbequemer Untergebener, der an keine Stelle hinpaßte, wo es große Entschließungen zu fassen galt, dem aber trotzdem ein viel zu weitgehender Einfluß eingeräumt worden war. Beim Kriegsrat wurde das merkbar.

Man zankte sich dort um die verschiedenen Offensivpläne der verschiedenen Armeeleitungen – obwohl der Herzog von Braunschweig, als Oberbefehlshaber, aus eigener Machtvollkommenheit den Angriffsplan entwerfen und, ohne Befragung anderer, ins Werk setzen konnte und mußte.

Seine Idee war von Anfang an: sofort mit zehn Divisionen in sechs Kolonnen den Thüringer Wald zu überschreiten, sich bei Meiningen und Hildburghausen zu vereinigen und von dort aus anzugreifen, eine Division im Bayreuthischen zu postieren, um die Pässe zu besetzen und zu verteidigen, und drei Divisionen rechts vom Thüringer Wald auf der Straße nach Frankfurt vorgehen zu lassen, um dort das Korps Angereau festzuhalten.

Wäre dieser Plan sofort ohne Zaghaftigkeit als Überfall ausgeführt worden, dann hätte man auch sicherlich mit ihm Erfolg gehabt.

Auch wenn die Überrumpelung nicht gelang – wenn der Feind schneller sein würde und der Bewegung der preußischen Armee zuvorkäme, dann vereinfachte dieser Plan doch die Verteidigung. Denn durch die konzentrierte Aufstellung bei Erfurt und Weimar war man imstande, dem Feind frontal entgegenzutreten, wenn er über den Thüringer Wald oder von der Frankfurter Straße käme, und wäre durch die Saale geschützt, wenn er durchs Bayreuthische gegen die deutsche linke Flanke vorginge. So hätte man die Rückzugslinie auf Magdeburg und Wittenberg gewahrt und unter allen Umständen die Elblinie und Berlin gedeckt.

Der Befehlshaber der zweiten Hauptarmee, Fürst Hohenlohe, hatte sich aber von seinem übergenialen Generalstabschef Massenbach einen ganz anderen Plan ausklügeln lassen, überwältigend, versteht sich, aber verwirklicht, unklar und unpraktisch.

In der Hauptsache ging der Plan darauf aus, eine Offensive auf dem rechten Saaleufer vorzunehmen unter gleichzeitiger Entsendung kleiner Detachements auf der Eisenacher Straße und Patrouillen durch den Thüringer Wald. Unter gänzlicher Umgehung des Oberbefehlshabers und hinter dessen Rücken unterbreiteten Hohenlohe und Massenbach dem König diesen Plan.

Es gelang ihnen wohl nicht, dessen förmliche Annahme durchzusetzen. Aber sie stifteten durch ihre Vorstellungen und Mahnungen immerhin allerhand Verwirrung an, verursachten Zeitverlust, machten den ohnehin durch Alter geschwächten Oberbefehlshaber unsicher – und verschafften so dem Gegner noch mehr Zeit, die er gut zu benutzen verstand.

Als der König dann bei der Armee ankam, griff der Herzog begierig die Gelegenheit auf, ihm die Verantwortung aufzubürden, zog sich selbst auf die zweite Stelle zurück und veranlaßte Zusammenberufung eines Kriegsrates, der also den endgültigen Entschluß fassen sollte, zu dem er allein nicht mehr die nötige Entschlossenheit hatte.

Zum Kriegsrat waren erschienen, außer dem alten, immer noch weltmännisch eleganten Herzog von Braunschweig und dem Fürsten Hohenlohe, der achtzigjährige, stattliche und ungemein berühmte Feldmarschall von Möllendorf, in jeder Beziehung dekorativ und eine Zierde jeder Versammlung, und der Kommandierende der dritten Armeegruppe, der kleine feurige Draufgänger General von Rüchel, mit blitzenden Augen unter krausem weißen Haar, entschieden, polternd, herrisch und ein wenig martialisch sich brüstend. In seinen eigenen und anderer Augen war er der gegebene Oberbefehlshaber, wenn nicht höfische und andere Rücksichten die Primen ihm vorgezogen hätten. Jedenfalls sah er in sich den berufenen Hüter der friderizianischen taktischen Tradition, wie sie noch auf den Paradeplätzen mit Eifer und Gewissenhaftigkeit geübt wurde.

Ferner waren anwesend die drei Generalquartiermeister-Leutnants Phull, Massenbach und Scharnhorst, die berufen waren, unter Führung des Generalquartiermeisters und Kriegsministers Gensau, gemeinsam den Generalstab zu leiten. Verschiedenartigere Leute als diese drei zogen noch nie an einem Strang. Phull war unberechenbar, eigenwillig, schrullenhaft, Scharnhorst ruhig, sicher und methodisch und Massenbach übersprudelnd von gelehrten Schlagwörtern und von Gründen, gegen die nicht aufzukommen war.

Phulls Strategie ging von der Lage der Magazine aus, hatte sich eins von diesen Magenzentren ausstrahlendes »Radialsystem« zurechtgelegt und kam darüber nicht hinaus.

Massenbach wiederum klebte am Terrain und vergaß darüber die Truppe.

Wogegen Scharnhorst, mit sicherer Intuition für die Bedeutung der Individualität und deren Schulung, alles darauf legte, offene Augen, einen klaren Kopf und schnelle Entschlußfähigkeit zu schaffen, diese durch kriegsgeschichtliche Studien zu fördern und so einen Stab um sich zu scharen, der, von keiner vorgefaßten Theorie behindert, jeder der tausend wechselnden Situationen im Kriege gerecht werden konnte.

Diese drei Systeme führten miteinander Krieg und führten ihn so mit dem Feind.

Der kleine, oberflächliche und verbindliche Minister des Äußeren, Graf Haugwitz, chevaleresk, hinterhältig, glatt, poliert und leichtfertig wie immer, war auch dabei. Ihm zur Seite sein Adlatus, der frühere Botschafter in Paris, Marquis Luchesini. Der Diplomatie dieses Braven verdankte Preußen den Pariser Vertrag, durch den es zum Vasallenstaat Napoleons degradiert werden sollte.

Anwesend war ferner, wenn auch ohne Sitz und Stimme im Kriegsrat, die rechte Hand des Königs, der Kabinettsrat Lombard, der einflußreichste Mann am Hofe und im Lande verhaßt wie kein zweiter.

In einer Zeit, in der die Friseure als Anekdotenerzähler und Neuigkeitskramer ebenso geschätzt waren wie als Künstler, und ihre vornehmste Obliegenheit die war: der feinen Welt die letzte Tournure zu geben – da waren es nur Leute von Esprit, Witz und tadellosen Manieren, die es auf dieser Laufbahn zu etwas bringen konnten. Sie waren gewissermaßen Hüter und Träger des guten Geschmacks und dessen berufenste Vertreter und waren in Reinkultur, was der hohe Adel erst durch die Kunst ihrer Hände wurde. Sie fertigten die mondäne Attrappe an, die den Inhalt, das übliche sündige Fleisch und Blut, mit Anstand verdeckte.

Als Sohn eines Perückenmachers hatte Lombard also in dieser Beziehung Ahnen erster Güte, auf die er sich berufen konnte. – Er war auch wohlgebildet, gefällig, weltmännisch geschliffen, aalglatt und falsch, von der Überlegenheit der französischen Kultur vollkommen überzeugt, und also auch der eifrigste Verfechter einer franzosenfreundlichen Politik. – Er war Träger der Tradition von der Unumstößlichkeit und Machtvollkommenheit einer Kabinettsregierung, wie sie am preußischen Hofe noch in Reinkultur bestand. – Er war ohne Ministerportefeuille mächtiger als sämtliche Minister der drei Könige, denen er gedient hatte, und war ohne Sitz und Stimme in der Regierung doch maßgebend, weil stets in persönlicher Berührung mit dem König.

Des weiteren nahmen an der Beratung teil: der würdige General von Köckritz, der Generaladjutant Oberst von Kleist, und eine Unzahl Räte und Schreibersleute!

Prinz Louis Ferdinand war nicht einmal als Zuhörer geladen und wartete mit Blücher im Quartier des Generals von Rüchel auf Nachricht vom Verlauf der Konferenz.

Das große Wort bei der Beratung führte natürlich Oberst von Massenbach, der in langen und wortreichen Ausführungen zu beweisen versuchte, daß alles Heil nur darin zu suchen wäre, mit beiden Hauptarmeen links über die Saale abzumarschieren, die feindliche Armee auf dem Marsche anzugreifen, die Rückzugslinie auf Dresden zu nehmen und so auch Schlesien, das ohnehin durch Böhmen gedeckt war, noch mehr zu schützen.

Rüchel würde inzwischen mit seiner Armee irgendwo auf der rechten Flanke rekognoszieren.

Oberst von Scharnhorst dagegen, ruhig klar und überlegt wie immer, bestand auf dem hauptsächlich von ihm entworfenen Offensiv- und Defensivplan des Herzogs von Braunschweig, freilich ohne den wortreichen Massenbach dadurch niederkämpfen zu können, und im Bewußtsein, daß man durch das Zögern wohl schon den rechten Zeitpunkt verpaßt hatte.

Man entschied sich endlich weder für das eine noch für das andere, beließ die Hauptarmee als Zentrum bei Erfurt, stellte die Armee Hohenlohe, unter gleichzeitiger Besetzung der Saalepässe, als linken Flügel bei Blankenhain auf und den rechten Flügel unter Rüchel bei Craula. Nebenbei sollte rekognosziert werden.

Der wankelmütige Oberbefehlshaber hoffte noch im geheimen auf Napoleon. Wenn nur nicht zur Offensive geschritten wurde, würde dieser wohl auch vermeiden wollen, als Angreifer zu scheinen, wodurch womöglich noch in letzter Stunde der ganze Krieg vermieden werden könnte.

In dieser Utopie wurde er allerdings bestärkt durch einen soeben beim König eingegangenen versöhnlich gehaltenen Brief Napoleons!

Prinz Louis Ferdinand lachte laut auf, als ihm General Rüchel nachher den Verlauf der Konferenz schilderte.

»Unser Oberbefehl erinnert mich täuschend an ein russisches Dreigespann, eine richtige Troika«, sagte er. »Das mittlere Pferd läuft da, wie Sie wissen, in stetem, ruhigem Trab – die beiden Seitenpferde in Galopp! Alle ziehen aber in einer Richtung vorwärts. Wogegen beim Oberkommando die drei Pferde – unsere drei Generalquartiermeister-Leutnants – alle woanders hin wollen! Scharnhorst in der Mitte hält den beiden andern, Phull und Massenbach, die Stange, so gut er kann! Aber der Fahrer auf dem Bock, der Herzog, gibt ihm nicht den nötigen Rückhalt! Er fährt unsicher, ist zu liebenswürdig und zuvorkommend, läßt jeden, der behauptet, ein Anrecht darauf zu haben, zu sich auf den Bock, duldet, daß biese unerbetenen Mitfahrer ihm noch in die Zügel fallen und läßt das Fahrzeug bald nach links, bald nach rechts schwenken, je nachdem sie ihm zurufen: ›Achtung Stein! Aufgepaßt eine Grube!‹

Im Wagen aber, unter der Krone, sitzt mein Vetter, der König, behauptet die Würde und läßt sich von den auf dem Steg mitschaukelnden beamteten Ohrenbläsern Lombard und Haugwitz schöne Vorträge halten über die herrliche Aussicht, die man haben könnte, wenn's nicht so neblig wäre, und übersieht darüber das schlechte Fahren des Kutschers!

Hinten aber, auf dem aufgestapelten Gepäck, sitzt der Kriegsminister Gensau, klein, dick und dumm, hält seine Akten zusammen und schreibt und rechnet und rechnet und schreibt und ordnet immer wieder die Gepäckstücke, deren überflüssigstes er selbst ist, je nachdem wie sie, bei der Fahrt auf dem holprigen Weg, durcheinandergeworfen werden.«

»Gensau,« sagte Rüchel, »von dem hörte ich eben ein entzückendes Geschichtchen, als ich vorgestern meine Armee verließ, um zum Kriegsrat hierherzukommen. Die Geschichte ist charakteristisch für das System und büßt nichts dadurch ein, daß sie wahr ist. Ich stieß nämlich plötzlich mit dem alten ›Isegrim‹, Yorck, zusammen. Hoheit kennen ihn? – Nein?! – Klein, dürr, knarrig, Querkopf erster Güte, sieht überdies aus wie eine schlechte Karikatur vom Alten Fritzen! – Er stand also da und schimpfte und fluchte und wetterte über die Schweinewirtschaft im Generalstabe, über die Kopflosigkeit und die Unordnung und die Liederlichkeit bei der Quartiermachung, kurz über Gott und alle Welt!

›Da steh' ich,‹ sagte er, ›und glaube nach beendigtem Tagesmarsch meine wohlverdiente Ruhe haben zu können, und plötzlich meldet sich zu nachtschlafender Zeit einer meiner Offiziere bei mir.‹

›Was will Er?‹ hab' ich gefragt. ›Meldung vom feindlichen Anrücken?‹

›Zu Befehl, nichts vom Feind zu sehen!‹

›Was treibt Er sich denn herum? Hat Er nicht seine Befehle?‹ frage ich.

›Zu Befehl, die hab' ich!‹ sagte er. ›Ich habe Order Quartiere zu beziehen. – Wir finden aber die Quartiere nicht!‹

›Soll ich Ihm helfen?‹ frage ich. ›Hat ein Oberst und Regimentskommandeur nichts Wichtigeres zu tun, als Kinderfrauendienst bei den Majors und Leutnants zu versehen? Wo ist Sein Quartierzettel? Zeige Er her!‹

Und ich nehme den Zettel und lese ihn vor, denn da stand deutlich und klar der Name des Dorfes, wo er Quartier nehmen sollte. Und ich wasche ihm noch gründlich den Kopf und werfe ihm den Wisch wieder hin.

Da sagt er ganz ruhig: ›Lesen kann ich auch! Und was drauf auf dem Zettel steht, weiß ich ebensogut zu deuten, wie der Herr Oberst selbst. Aber mit Erlaubnis zu sagen – ich möchte das Dorf nicht nur angewiesen haben, ich möchte es auch tatsächlich haben!‹

Das ging denn doch zu weit. – ›Soll ich Ihm den Weg zeigen? Schere Er sich! Was zum Kuckuck behelligt Er mich mit dergleichen?‹ schreie ich ihn an und kriege einen roten Kopf und gebe ihm noch einmal einen Denkzettel, der sich gewaschen hat.

Der Kerl rührt sich aber nicht vom Flecke! Er geht nicht! Er steht nur da und hört in aller Ruhe zu, wie ich ihm mit Schweinerei und saumäßigem Dienst und dergleichen um die Ohren werfe, und feixt auch noch und sagt dann endlich: ›Wenn das Dorf zu finden wäre – ich hätte es schon gefunden! Wir haben die ganze Gegend abgesucht! Aber nichts zu sehen! Die Nachbardörfer, ja, die waren da, aber unser Dorf nicht! Kein Mensch wußte etwas vom ganzen Dorf! Endlich haben wir einen uralten Küster vor der Tür seines Hauses gefunden – der sagte uns Bescheid. ›Das Dorf,‹ sagte er, ›war einst das größte und reichste hier in der Gegend – bis der Dreißigjährige Krieg kam! Der ließ aber keinen Stein auf dem anderen, der vertilgte das Dorf mitsamt den Bewohnern spurlos vom Erdboden!‹ – So sagte der Küster. Aber auf der Karte des Generalstabes steht das Dorf immer noch verzeichnet – in den Quartierlisten der Armee auch! Und da drinnen, in dem Dorfe sollen wir nun wohnen!‹

›So eine Sauwirtschaft ist nur unter dem alten Gensau möglich‹, sagte Yorck und fluchte und trug mir in drei Teufels Namen auf, die Sache gelegentlich des Kriegsrats vorzubringen, was ich auch mit Wonne besorgt habe! Das war meine Zutat zur heutigen Beratung! Mehr praktische Arbeit wurde von mir weder geleistet noch verlangt, und von den meisten anderen ›Beratern‹ auch nicht!«

Der Prinz lachte noch toller. Blücher aber, ärgerlich über die lange Dauer der Beratung, schimpfte gleich los.

Rüchel hätte von Rechts wegen das Oberkommando haben müssen – der Prinz hier mindestens ein Armeekorps statt einer Division, und er, Blücher selbst, müßte die ganze Kavallerie unter sich haben, dann stünde man jetzt nicht noch hier! Dann hätte man längst die Franzosen auseinandergejagt, den Rheinbund gesprengt und den sauberen Königen von Napoleons Gnaden, den von Bayern und den von Württemberg mitsamt ihrem badischen Bundesbruder gezeigt, wo man im deutschen Vaterlande von Gottes Gnaden zu Fürsten ausersehen wäre! Eine Schmach war's, daß sie, obwohl Deutsche, gegen Deutsche kämpfen wollten! Ein Blödsinn aber von der preußischen Regierung, zu glauben, diese Abtrünnigen nur dadurch vom Kampf abhalten zu können, daß Napoleon sie nicht angriffe! Denn, ob er als Angreifer oder Angegriffener dastünde, gleichviel! Die dreiundsechzigtausend Mann Bayerns, Schwabens und Hessen-Darmstadts würden doch gegen Preußen marschieren und helfen es einzuengen! Dagegen wäre nur eins am Platze gewesen: schnell wie der Wind dazwischenfahren! Und wenn ein paar von den Zaunkönigen Napoleons dabei vom Ast gefallen wären – schaden täte das der deutschen Sache nicht! Solche Fürsten könnte man entbehren!

Die Armeeleitung wußte aber nicht mehr, was sie wollte. Sie ließ jede gute Gelegenheit, dem Feind einen Streich zu spielen, vorübergehen und schien nur zu dem einen entschlossen zu sein: stets zu spät zu kommen.

So hatte man erst jetzt, wo man sicher sein konnte, daß die französischen Korps ihren Standort längst verlassen hatten, den großen Entschluß gefaßt, ihnen mit einem kühnen Husarenstreich in die Quartiere, wo sie nicht mehr lagen, zu fallen, um ihren natürlich längst stattgefundenen Aufmarsch zu stören! Und statt sich damit zu begnügen, sich mit ein paar Schwadronen bei diesem nachträglich mutigen Unternehmen zu blamieren, wollte man die ganze Vorhut unter dem Herzog von Weimar quer durch den Thüringer Wald, zu ebendiesem Zweck schicken! – Ganze zwölftausend Mann, die bei der Hauptarmee viel nötiger waren, aber jetzt todsicher dort fehlen würden, wenn's zur Entscheidung käme! Und das waren von den besten Truppen Preußens!

Da waren darunter das berühmte Regiment Kuhnheim, das älteste der Armee – das Regiment Braunschweig-Oels, das seinerzeit den Sieg bei Turin entschied – das Regiment von Borck, das unter Blüchers eigenen Augen bei Kaiserslautern in Schritt und Richtung wie auf dem Paradeplatz marschierend die französischen Linien durchbrach – da waren das seit Zorndorf, Kollin und Prag berühmte Pommernregiment Owstien, das Grenadierbataillon Graf Wedel, die Yorckschen Jäger, die Husarenregimenter von Pletz und von Zieten – nächst seinen eigenen »Roten«, auf die er nichts kommen ließe, die besten der Armee! – Lauter Kerntruppen, auf die ein Verlaß sei! Und die ließ man ziehen! Man war doch ohnehin viel zu schwach! Durch Stockung der Anwerbung, durch Desertionen und durch die vielen Invaliden, die beim Ausmarsch zurückbleiben mußten, waren die Truppenteile sowieso weit unter den Bestand gesunken, den sie haben sollten! Viele Tausende waren so verlorengegangen! Und die ostpreußischen Truppen waren überhaupt nicht ausgerückt! – Das waren über zwanzigtausend Mann. Fast fünfzehntausend hatte man aus Angst vor den lieben Polen im Herzogtum Warschau und zur Verstärkung der Garnisonen in den nicht bedrohten schlesischen Festungen gelassen! In Westfalen fühlte man sich auch der Bevölkerung nicht sicher und ließ dort fast ebensoviel stehen! – Von den westpreußischen Truppen hatte man, dämlicherweise, eine »strategische Reserve« gebildet, die irgendwo in der Luft hing und sicherlich erst zum Vorschein kommen würde, wenn's zu spät wäre und die anderen Truppen abgekämpft waren – sicherlich aber nicht, wenn sie benötigt würde! Von der ganzen berühmten preußischen Armee, von zweihundertundzwanzigtausend Mann, war nur die Hälfte zur Stelle, außer den achtzehntausend Sachsen, die nicht zählten! Überhaupt die Bundesgenossen! Die hätten ganz anders angepackt werden müssen! Kurz und gut erklären: Entweder du marschierst mit und schlägst dich, wo es eine deutsche Sache gilt, oder ich verschlucke dich! Sonderinteressen gibt's nicht! Was war das nun wieder für eine Schlappschwänzigkeit der preußischen Diplomatiker gewesen, all den kleinen Fürsten Neutralität zuzugestehen?! Mecklenburg, Anhalt, die Schwarzburg, die Lippe, die sächsischen Herzöge, den Herzog von Braunschweig, alle ließ man neutral bleiben – und Kurhessen durfte gar abwarten, bis es sähe, auf welcher Seite es zum Sieg käme, ehe es sich entschlösse einzugreifen! Kursachsen schickte bloß seine halbe Armee, Weimar ein – sage und schreibe – ein Bataillon Jäger!

»Das sind alles in allem fünfzigtausend Mann, die wir hätten mehr haben können, wenn wir nur den Mut gehabt hätten, einmal gegen diese Herrschaften bestimmt aufzutreten! Aber das wagten wir nimmermehr! Was heißt das, von Kurhessen eine derartige Niedertracht zu dulden! Das liebäugelt mit dem Korsen und will sich seinem Rheinbund anschließen und ihm die Stiefelsohlen lecken, wenn er ihm bloß gestattet, Darmhessen zu schlucken! Und rutscht auf dem Bauch vor Preußen und macht auch den Norddeutschen Bund mit, wenn wir ihm zugestehen, die angrenzenden kleinen Standesherrschaften zu annektieren! Und schmeißt uns den ganzen Bund um, weil wir dazu nur ›nein‹ sagten statt den Kurfürsten fest am Genick zu packen und ihn auf die Knie zu zwingen! Himmeldonnerwetter, hätte man mir nur freie Hand gelassen, als ich auf dem Weg hierher durch Kasse! kam. Ich hätte den guten Kurfürsten schon beim Schlafittchen genommen! Ich hätte uns die hessische Armee, mir nichts dir nichts, angegliedert! Und mitgegangen wäre sie! Aber da kamen wieder die berühmten Kontraorders vom Kabinett, und nun können wir sehen, wie wir's machen! Ich würde kein Wort darüber verlieren, wenn es nur sonst ein Ende nähme mit dieser bodenlosen Unentschlossenheit und diesem Hin und Her ohne Reim und Räson! So geht's ja nie und nimmer mit zwei kommandierenden Generalen und drei Quartiermeistern, die alle woanders stehen und alle was anderes wollen, und kreuz und quer kommandieren und nachher, jeder für sich, die Entscheidung vom König holen, der selbst nicht weiß, ob er alles oder gar nichts will!

Dabei ist die Armee noch in der Umbildung, hat die Einteilung in Divisionen kaum durchgeführt, geschweige denn jemals im Ernstfall ausprobiert! Wenn die Leute, die uns heute kommandieren, uns da nicht eine große Schweinerei bescheren, will ich gehängt sein! Ich bin gespannt, was schließlich bei dem Kriegsrat herauskommt!«

»Ich nicht!« sagte der Prinz, dem das Schimpfen des alten Haudegen sichtbar großes Vergnügen bereitete. »Wenn mein Vetter gescheit wäre, würde er tun wie unser gemeinsamer Ahnherr, der große Friedrich, und rundweg jeden Kriegsrat verbieten. Er würde die ratlosen Herrschaften nach Hause schicken und Rüchel und Sie, Blücher, und mich zu sich rufen und sagen: ›Jetzt macht die Sache, ihr drei! Macht sie schnell, macht sie gut, sucht den Feind auf und schlagt ihn!‹ Das tut er aber nicht, er ruft Herrn Beyme, er ruft Herrn Lombard! Und Lombard, der ergraute, parfümierte Friseurjüngling – der Allerweltscharmeur, der blasierte, lebensmüde Genußmensch – Lombard kommt tänzelnd herbei und lispelt deliziös: › Sire, vous voulez la guerre? Quelle horreur! Woßu la guerre? Man verständigt sich – schließt einen Kompromiß – beseitigt die Differenzen – reicht sich die Hände! Unter Leuten von Welt das Leichteste, das Einfachste was sich denken läßt! Jener Parvenu – jener Kaiser von Pöbels Gnaden – er ist noch zu neu in seiner Würde, er hat noch keine Manieren! Gehen wir ihm mit gutem Beispiel voran!‹

Und dann setzt sich der Herr Lombard an den Schreibtisch, streift die Spitzenmanschette zurück, taucht mit Grazie seinen Federkiel in französisch parfümierte Tinte und schreibt soigniert, formvollendet, ohne den geringsten Verstoß gegen die längst abgestorbene Etikette, in tadellosem Französisch, aber im Namen des Königs von Preußen – ein Manifest, als einzige Antwort auf die Unverschämtheit Napoleons, unser Ansbach zu besetzen! Und der König läßt gehorsamst das Elaborat seinen Weg in den Papierkorb des Korsen, statt in den seinigen nehmen! Er befiehlt uns nicht, sofort wie der Blitz dreinzusausen und mit blanken Hieben im eigenen Blute des Unverschämten die einzige ihm gebührende Antwort zu schreiben! Das hätte unverzüglich und unverzagt schon vor Wochen getan werden müssen! Da hätten wir die Franzosen zum Teufel gejagt! Aber jetzt – –«

»Eine Schmach ist es!« rief Blücher, »eine Schmach und Schande, wenn man bedenkt, welcher Sprache sich jener kleine Kerl unseren Fürsten gegenüber erfrecht! Schockschwerenot! Setzt der uns unten am Rhein seinen Schwager auf die Nase, jenen Bäckerjungen aus Cahors, den Seiltänzer Murat! Den macht er zum Herzog von Berg, läßt ihn unsere Abteien Essen, Eltern und Werden nehmen und dehnt so seinen Rheinbund immer weiter nordwärts aus, engt uns immer dichter ein – sucht Sachsen und Hessen auch heranzulocken und läßt uns dann gnädigst wissen, wenn wir uns darüber beschweren, daß er so den Norddeutschen Bund hintertreibt: Er, Napoleon, hätte die Unabhängigkeit aller deutschen Fürsten garantiert, er werde keinen Oberherrn unter ihnen dulden!

Das muß sich ein König von Preußen ins Gesicht sagen lassen! Und zieht nicht gleich vom Leder, ruft nicht alles, was deutsch spricht, unter die Fahnen zum Kampf gegen den Frechling, sondern überlegt's noch, macht einen Schritt vorwärts, zwei Schritte rückwärts und bloß halb mobil, zaudert und überlegt und fragt: ›Soll ich, soll ich nicht? – Liebt er mich? Liebt er mich nicht?‹ Wo es doch sonnenklar ist, daß er uns absichtlich auf die Hühneraugen treten wollte!«

»Der König hofft noch den Frieden zu bewahren – er hofft im letzten Augenblick den Krieg abzuwenden«, sagte der Prinz. »Und leider ist das ganze Oberkommando ebenso vertrauensselig und tut nichts, um seine Zweifel zu entkräftigen! Ein Glück ist es, daß ich die Vorhut der zweiten Armee habe, und daß Sie, Blücher, die von der Hauptarmee jetzt übernehmen! Wir werden uns da nichts entgehen lassen, nicht wahr?«

»Nein, hol' mich der Teufel, da soll mich nichts zurückhalten!«

»Die erste Gelegenheit, mit den Franzosen handgemein zu werden, nutze ich aus! – Sie sollen's sehen, ich mach's, und das wird eine Sache, von der man reden wird! Und dann gibt's kein Zurück! Für die Ehre Preußens, Blücher, für den Ruhm der preußischen Armee, dafür setze ich mein Leben ein! Das schwöre ich!«

»Ich auch, bis zum letzten Blutstropfen!«

Sie gaben sich die Hände, und Rüchel, als Dritter im Bunde, legte auch den feierlichen Schwur ab, gab dann Blücher die Befehle, auf die er wartete, und hieß ihn sich auf seinen Posten begeben. Prinz Louis Ferdinand holte sich noch vom Prinzen Hohenlohe Instruktionen und saß kurz darauf im Sattel, um seine Division in Rudolstadt aufzusuchen.

*

Im Schlosse zu Jena dampften die Schüsseln auf der Tafel des kommandierenden Generals. Man hatte im Oberkommando der Hohenloheschen Armee einen Mordshunger. Seit drei Tagen war man zu keinem rechten Mittagsmahl gekommen, immer trafen gerade zur Tischzeit Hiobsposten ein, die getroffene Dispositionen über den Haufen warfen und ohne Verzug neue verlangten.

Im Salon warteten die Mittagsgäste des Fürsten, der General Sanitz, der für den erkrankten General von Prittwitz die in Jena stehenden Reserven kommandierte, die beiden Adjutanten, Major von der Marwitz und Major Loucey, und einige Stabsoffiziere.

Die Stimmung war gedrückt. Ein Teil der Avantgarde unter Tauentzien war von Bernadotte besiegt – der Rest unter Louis Ferdinand bei Saalfeld geschlagen, der Prinz selbst gefallen! Man war zur Unterhaltung wenig geneigt. Jeder der Anwesenden hatte seinen guten Teil Zweifel und Ungewißheit zu trugen und zögerte, ihm Worte zu verleihen. Und schließlich war man, wie gesagt, hungrig und entschlossen, sich wenigstens heute nicht stören zu lassen, sondern erst auf die Schüsseln einzuhauen und dann auf den Feind.

Der Fürst ließ auf sich warten.

Er beriet noch im Arbeitszimmer mit seinem getreuen Massenbach und diktierte verschiedene sofort zu erledigende Dispositionen. Der Hunger setzte ihm wohl ebensosehr zu wie seinen Gästen, die draußen warteten. Aber erst kommt der Dienst, und der verlangte heute schnellen Entschluß! Dann würde die Suppe um so besser munden, und man hätte, nach dem Essen, auch ein Viertelstündchen Zeit zum Ausruhen – was bei einem Sechziger, dem die Strapazen des Hoflebens geläufiger waren als die im Lager, nicht ganz ohne Bedeutung zu sein pflegt.

Die ersten Donnerschläge des Korsen waren gefallen, der Nebel, der seine Absichten bis jetzt verhüllte, hatte sich für einen Augenblick verzogen; man erkannte, aus welcher Richtung das Gewitter nahte, sah, was man versäumt oder falsch gemacht hatte, und traf Maßnahmen, der ersten Verwirrung zu begegnen und die Dinge der neuen Sachlage gemäß zu ordnen.

Massenbach, sonst nicht gewohnt bei seinem für gewöhnlich gutmütigen und gefügigen Herrn Widerspruch zu finden, hatte heute einen schweren Stand.

Der Fürst hatte schließlich auch seine eigene Haut zu Markte zu tragen. Er war nervös und ungehalten, die Verantwortung für Fehlschläge auf sich nehmen zu müssen, die der übereifrige Eigensinn seines Generalquartiermeisters verschuldet hatte. Er warf ihm vor, absichtlich unklare und zweideutige Instruktionen an die Unterbefehlshaber gegeben zu haben, wodurch jeder von ihnen sozusagen einen Freibrief auf eigenmächtiges Vorgehen erhalten und auch, zum Schaden des Ganzen, davon Gebrauch gemacht hatte.

»Es geht nicht,« sagte der Fürst, »wenn man einen Befehl erteilt, gleichzeitig anzudeuten, daß man die Sache vielleicht doch lieber anders gemacht haben möchte! Ich habe mir unsere an den Prinzen Louis Ferdinand ergangenen Befehle vorlegen lassen. Der Prinz mußte nach ihnen glauben, das Wohl der ganzen Armee hinge davon ab, uns den Flußübergang bei Saalfeld zu sichern. Deshalb warf er sich mit seiner einen Division dem ganzen Korps Lannes entgegen und nahm einen aussichtslosen Kampf mit dem Feind auf, statt sich, wie befohlen, in Ordnung zurückzuziehen und nur in Fühlung mit ihm zu bleiben! Und da haben wir die Niederlage! Seine Division in alle Winde zersprengt, die Stimmung bei der übrigen Armee verdorben und die Siegeszuversicht der Soldaten aufs schwerste erschüttert!«

Das wäre keineswegs der Fall, meinte Massenbach, zog schleunigst alle Schleusen seiner Beredsamkeit auf und überschwemmte den Fürsten mit einer Schwallwoge von guten Gründen.

– Kleine Fehlschläge – und nur um einen solchen handelte es sich in diesem Fall –, kleine Fehlschläge kämen stets im Kriege vor; damit müsse man rechnen, wie schmerzlich sie auch seien! – Die Schlappe bei Saalfeld würde keinesfalls die Stimmung bei den Truppen verderben! Was Prinz Louis Ferdinand in der Beziehung gefährdet hätte, hatte er durch seinen Heldentod wieder gutgemacht!

Hier nahm Massenbach den Mund recht voll, gab im breitesten Schwäbisch eine begeisterte Lobeshymne altpreußischen Heldengeistes zum besten, ließ die kriegerische Tugend des echten Hohenzollernsprossen in den hehrsten Farben schillern, beschrieb, wie der Prinz, als er seine fliehenden Reiter zum Stehen bringen wollte, im Strudel mitgerissen wurde und vergebens dagegen ankämpfte – wie er, als sein Pferd beim Übersetzen eines Gartenzaunes hängenblieb, von den Franzosen eingeholt wurde –, wie er sich dann mit Löwenmut gewehrt, Pardon weder gegeben noch genommen hatte, vielmehr den Stern des Schwarzen Adlers auf seiner Brust mit dem Hut bedeckt, um nicht als Prinz erkannt und geschont zu werden, und wie er so lieber mit dem Tod als mit der Schmach der Gefangenschaft seine Niederlage besiegelte!

Sonst war Massenbach des Eindrucks seiner Beredsamkeit auf den Fürsten sicher. Heute aber versagte sie total!

Keine Rührung, kein Seufzer, keine Träne! Auch kein einziges Zeichen des Beifalls, als er die Nachricht hinzufügte, die Trümmer der Division Louis Ferdinand seien von General Grawert, der ihnen von Orlamünde aus nach Rudolstadt entgegenrückte, aufgenommen und neu geordnet worden!

»Die Schlappe bei Saalfeld war schon der zweite Donnerschlag, der uns traf! Tauentzien bescherte uns den ersten bei Schleiz!« sagte der Fürst ärgerlich. »Und Sie haben alles mit verschuldet, Massenbach! Hätten Sie nur Ihren Plan: mit Gewalt das Hauptgewicht der Operationen auf das rechte Saaleufer zu verlegen, zurückgesteckt und strikte die Order des Hauptquartiers befolgt! Nun wissen die Generäle nicht aus noch ein! Ein jeder handelt für sich – meine Armee steht überall zerstreut! – Keine Sammlung, keine Einheit! Wenn's jetzt zum Schlagen käme, sind wir beim ersten Anstoß in alle Winde zerstreut!« –

Auch gegen die Besorgnis hatte Massenbach ein beruhigendes Pflaster bereit.

– Er hätte, wie der Fürst ihm schon vorher in weiser Voraussicht bedeutet hatte, Stafetten mit Marschorders überallhin ausgesandt, und aus allen Richtungen strebten schon die zerstreuten Teile der Armee zum linken Saaleufer hin! Verschiedene Truppen wären schon angelangt! Die sächsischen Regimenter zögen sogar in dieser Minute durch die Stadt! Nachmittags wolle er, Massenbach, selbst hinauf nach dem Landgrafenberg und dahinter, an der Schnecke und am Kapellendorf, wie befohlen, das Lager ausstecken. Es wäre sogar höchste Eile damit, um fertig zu werden, ehe die Truppen einrückten!

– Ob nicht in Anbetracht dessen Seine Durchlaucht die Gnade haben möchten, zu befehlen, daß aufgetragen werde? Die Suppe würde sonst kalt werden! –

Da kam ihm der Fürst mit dem dritten Donnerschlag von dem mit Windeseile über den Thüringer Wald hinaufziehenden napoleonischen Gewitter und teilte ihm die soeben eingegangene Nachricht mit, Naumburg mit seinen reichen Vorräten und Magazinen wäre gefallen!

»Naumburg?« flüsterte Massenbach und wurde ganz still.

»Ja,« sagte der Fürst, »und das haben wir auch durch unsere unklare Befehlsgebung, an der Sie nicht so ganz unbeteiligt sind, verschuldet! Derlei unliebsame Überraschungen, wie jetzt mit Naumburg, setzt man sich nicht aus! Ich hatte bestimmte Befehle gegeben, die dem vorgebeugt hätten, wenn sie befolgt worden wären. Ich hatte, wie Sie wohl wissen, unseren am weitesten nach Osten stehenden vorgeschobenen Postierungen befohlen, gegebenenfalls sich ohne Kampf, aber in steter Fühlung mit dem Feind, von Hof über Schleiz nach Naumburg zurückzuziehen und uns stets à jour mit allem zu halten! Der Graf Tauentzien aber verwechselte, von Ihnen angesteckt, seinen Posten als Kommandant der Avantgarde mit der Stellung eines Oberkommandierenden! Er disponierte selbst, schlug sich gegen Befehl und wurde, wie sie wissen, von Bernadotte aufs Haupt geschlagen! Damit fing's an! Das war das Horsd'œuvre! Weil Tauentzien sich statt auf Naumburg nun so allmählich hierher, nach Jena, mit dem Rest seiner Truppen zurückziehen mußte, fehlte mir seit Tagen jede Nachricht über die Fortschritte der Franzosen auf dem Wege nach Leipzig! Die hätten wir längst haben müssen und unsere Gegenmaßnahmen beizeiten treffen können, stände Graf Tauentzien heute wie befohlen in Naumburg, statt bei uns zu dinieren!«

»Der Graf hat abgesagt! Dienstlich verhindert!« beeilte sich Massenbach einzuwerfen, wagte dann noch eine schüchterne Erinnerung an die wohl längst erkaltete Suppe vorzubringen und fand diesmal bei seinem Herrn ein geneigteres Ohr. Denn der durchlauchtige Magen fing immer gebieterischer an, sich Geltung zu verschaffen.

Man verfügte sich also in den Speisesaal, trat an den reichgedeckten Tisch, die Diener schoben die Stühle zurück, die Tafeldecker hoben die Deckel von den Schüsseln, appetitlich duftende Dämpfe reizten die Gaumen, das Vorgefühl kulinarischer Genüsse erheiterte die Stimmung – man wurde gesprächig, fing an, alles in Rosenrot zu sehen, ließ Vergangenes Vergangenes sein, löffelte vergnügt die delikate Suppe aus und sah schon den Madeira in den Gläsern funkeln.

Da stürzte atemlos, unter gänzlicher Mißachtung einer jeglichen Etikette, der Kammerdiener des Fürsten herein.

»Die Franzosen sind in der Stadt!« schrie er leichenblaß, und all die erhobenen Suppenlöffel blieben auf halbem Wege zu den aufgesperrten Mäulern stehen, um sich dann langsam wieder auf die Teller zu senken.

»Die Franzosen?« sagte der Fürst ungläubig. »Unsinn! Sie können nicht fliegen!«

Und er löffelte wieder seine Suppe, kaltblütig, wie's sich einem erprobten Kriegshelden geziemt.

Aber einige von den Stabsoffizieren meinten, es wäre doch wohl möglich! Sie hätten den Feind am Tage zuvor gesehen, als sie den Vorposten Befehl überbrachten, und es wäre schon anzunehmen, daß er heute seine Streifzüge bis nach Jena ausgedehnt hätte! Die Adjutanten eilten hinaus, um sichere Nachricht zu verschaffen. Massenbach aber aß für drei, in beschleunigtem Tempo, und der Fürst, der sich auch nicht gern beim Essen stören ließ, befahl den Fisch zu servieren. Er schnalzte vor Wohlbehagen beim Anblick der leckeren Forellen, die sich graublau und mattsilbern unter hellgelben Zitronenscheiben auf den glänzenden Schüsseln behaglich rekelten. Er ließ sich ein paar auf den Teller geben, nahm reichlich Butter dazu und fing schon an, die größte zu zerlegen.

Da ging draußen ein Geschrei und ein Getöse los, als wäre das Jüngste Gericht plötzlich über das Land Thüringen hereingebrochen – ein Laufen war's, ein Fahren, ein Fluchen, ein Poltern! Der Fürst ließ Messer und Gabel sinken, ließ Forelle Forelle sein, erhob sich vom Tisch, befahl, die Pferde vorzuführen, ließ sich Hut und Degen geben und ging aus dem Speisesaal hinaus, von allen Anwesenden gefolgt, mit Ausnahme von Massenbach.

Der hatte sich fest vorgenommen, sich heute durch nichts von der Stillung seines Appetits stören zu lassen, weder vom Kaiser Napoleon noch von irgendeinem anderen Engel des Gerichts! Er nahm also ruhig seinen Platz wieder ein und gab dem Hofmeister einen Wink – die Lakaien traten mit gefüllten Schüsseln an, und der Herr Generalquartiermeister nahm ihnen die Parade ab, revidierte aufs gründlichste, was sie an Proviant noch vorrätig hatten, und verschonte auch nicht die Batterie von Flaschen, die aufgefahren war! Indessen auf den Straßen der Lärm wuchs und den Ohren des schmausenden Helden das geeignete kriegerische Tafelkonzert lieferte.

Draußen sah es wüst aus. Der Markt war übersät mit fortgeworfenen Gewehren und Patronentaschen, deren sich die durchmarschierenden sächsischen Regimenter, von wilder Panik ergriffen, entledigt hatten. Auf der Saalebrücke war ein wirrer Knäuel von festgefahrener Artillerie und Munitionswagen, ein Schreien und Fluchen, um loszukommen, und schließlich ein rasches Davongaloppieren der Gespannpferde, nachdem die Fahrer die Stränge durchschnitten und sich in die Sättel geschwungen hatten. Durch alle Tore strömten Soldaten in die Stadt hinein, um durchs nächste wieder hinauszufluten; die Jenenser, von der allgemeinen Angst ergriffen, sperrten sich in ihre Häuser ein und gaben auch manchen von den wackeren Vaterlandsverteidigern einen Unterschlupf – ließen aber dafür die bei ihnen in Quartier liegenden Offiziere nicht hinein, um ihr Gepäck und ihre Pferde zu holen. Alles schien den Kopf total verloren zu haben. Einzig ein paar Regimenter der unter Tauentzien stehenden geschlagenen Avantgarde, die von Hof über Roda nach Jena gekommen waren, nachdem sie mit dem Feind handgemein gewesen waren und also wußten, wo er war und was sie an ihm hatten – einzig sie behielten die Fassung. An ihrer Spitze umritt denn Hohenlohe die Stadt, um die Friedensstörer, falls sie wirklich noch da waren, zu stellen und zu schlagen.

Da, wo er hinkam, war aber nichts zu sehen. Einige Leute wollten Franzosen auf den Bergen um die Stadt herum bemerkt haben. Und da der Fürst, bei näherem Nachsehen, ein paar Uniformen zwischen den Büschen dort oben bemerkte, so schickte er Patrouillen hinauf, um nach dem Rechten zu sehen.

Sie kamen zurück und brachten als Gefangene – einige Verwundete von der bei Saalfeld versprengten Division des Prinzen Louis Ferdinand mit, die weder in Lazaretten noch in Bürgerhäusern Unterkunft gefunden hatten, die auch, wie fast die ganze durch Gewaltmärsche gehetzte Hohenlohesche Armee, in den letzten drei Tagen nichts gegessen hatten und nun, um ihren Hunger zu stillen, dort oben in den Feldern nach Kartoffeln gruben. Für ihre Entbehrungen hatte ja auch die bekanntlich pünktlich waltende Nemesis der Weltgeschichte den Fürsten durch ebenso häufige Störungen seiner Mahlzeiten gestraft, da ja er die Verantwortung zu tragen hatte und sein Generalquartiermeister nur zu sündigen brauchte!

Diese armen Leute waren es, die den Schrecken über Stadt und Land losgelassen und so vielen tapferen Leuten eine schmähliche Niederlage bereitet hatten.

Ein paar Hasenfüße von der Straße hatten sie gesehen und »die Franzosen kommen!« geschrien. Und gleich war der Teufel los, Lärm wurde geschlagen, Besinnung, Mut und Ordnung waren hin, und eine Schlacht ging verloren, in der es nur Besiegte, aber keinen Angreifer und also auch keinen Sieger gab!

Der Fürst kehrte an der Spitze seiner Tapferen in die Stadt zurück, befahl die ineinandergefahrene Artillerie auseinanderzubringen und die Fahrer, die die Stränge durchgeschnitten hatten und geflohen waren, festzunehmen und mit aller Strenge der Kriegsgesetze zu bestrafen – eine Aufgabe, die die sächsische Generalität gütigst übernahm und auch pünktlich – – bis auf die Bestrafung – durchführte!

So konnte sich der Fürst endlich wieder zu Tisch setzen und in den inzwischen bei der Verwirrung gründlich geleerten Schüsseln Nachschau halten. Viel fand er nicht mehr vor, die Forellen waren längst in andere Gewässer hineingeschwommen, die Lakaien hatten vor Schrecken in ihren Verstecken weder sehen noch hören können, und der Herr Generalquartiermeister war auf die Berge geklettert, um das Lager auszustecken, das noch vor Sonnenaufgang bezogen werden sollte.

So endete der erste Tag der für die Franzosen so glorreichen Schlacht bei Jena.

Aber mancher tapfere Bursche knirschte vor Wut mit den Zähnen, als er von der Panik hörte, und schwur hoch und heilig, wenn es wirklich zum Kampf käme, die Schmach mit dem Blute der Franzosen abzuwaschen oder selbst dabei ins Gras zu beißen!

Am nächsten Tag kamen der König und der Herzog von Braunschweig von Weimar herübergeritten. Sie wollten mit Hohenlohe die auf Grund der erlittenen Niederlage Tauentziens und Louis Ferdinands veränderte Sachlage beraten und beschließen, was nun zu tun wäre, um sich der nach dem Fall Naumburgs drohenden Überflügelung zu entziehen und aus der Falle hinter der Saale wieder herauszukommen.

Das Resultat der Beratung wurde, daß das Hauptheer von Weimar über Auerstedt auf die Unstrut zu in Marsch gesetzt werden sollte. Rüchel, der mit seiner Armee in Erfurt stand, sollte folgen, zunächst nach Weimar – der Herzog von Weimar sollte von seinem »Husarenstreich« nach Franken zurückberufen werden, Hohenlohe die Saaleübergänge bei Jena, Dornburg und Camburg besetzen, um den Flankenmarsch der Armee zu schützen und dann nachkommen. In Sachsen wollte man sich mit der Reservearmee unter dem Herzog von Württemberg treffen und so vereint dem Feind entgegentreten.

Der Rand des Saaleplateaus, vorzüglich der Landgrafenberg, sollte besetzt, aber kein Angriff unternommen werden.

Man trennte sich wieder.

Der Fürst, der sich bestimmt vorgenommen hatte, wenigstens heute zu Mittag zu essen, wollte sich eben zu Tisch setzen, als ihm wieder zwischen Lipp' und Bechersrand eine Probe gegeben wurde, wie sehr die Disziplin in seiner Armee gelockert war und wie wenig er sich auf sie verlassen konnte.

Zunächst wurde er durch die Nachricht gestört, daß der Feind die dicht bei Jena stehende Feldwache angegriffen hatte – was ja an sich keine Katastrophe bedeutet hätte, wenn jene Nachricht ihm nicht durch den Chef jener Feldwache selbst überbracht worden wäre, der auch gleich, vorsichtshalber, sein ganzes Wachkommando nach der Stadt mitgenommen und also dem Feind offene Bahn gelassen hatte. Das mußte schleunigst in Ordnung gebracht werden und wurde auch durch den Adjutanten des Fürsten, Major Loucey, mit einem Bataillon eines der in Jena stehenden Regimenter Tauentziens besorgt. Außerdem bekam der sächsische General Senft, der zwischen Jena und Dornburg stand, Befehl, mit seinen Dragonern die neue Feldwache zu unterstützen, die Saaleufer zwischen Dornburg und Jena zu beobachten, Dornburg zu besetzen und auch mit einigen Eskadrons nach Camburg zu gehen, um die dort befindliche Brücke, die in die Hände der Franzosen gefallen war, zu nehmen.

Der General tat das alles äußerst saumselig, wofern er es überhaupt tat, dirigierte eine Eskadron halbwegs nach Camburg und setzte sich mit dem Rest seiner Dragoner irgendwo zur Ruhe. Der Fürst wußte aber davon nichts.

Es stand jedoch in den Sternen geschrieben, daß der gute Fürst, der sosehr die Freuden der Tafel liebte, gerade in dieser Beziehung seines Lebens nicht froh werden sollte!

Mit Entbehrungen seines durchlauchtigen Bauches mußte er die Sünden seines Kommissariats vergelten, das so schlecht für das leibliche Wohl seiner Soldaten sorgte. Nolens volens mußte er die Qualen des Hungers selbst leiden für alles, was die braven Soldaten entbehren mußten! Und gar noch für die Sachsen, obwohl diese ein eigenes Oberkommando, eigene Verpflegung und eigenen Generalstab hatten und ihn in dieser Hinsicht gar nichts angingen!

Das hinderte sie aber nicht, einen Kriegsrat ihres Verpflegungsdepartements, mitsamt dem Adjutanten der kommandierenden sächsischen Exzellenz, zum Fürsten zu schicken, mit der kategorischen Mitteilung: Wenn die Preußen ihnen nicht sofort zu essen gäben, würden sie, die Sachsen, sogleich abmarschieren und den Krieg Krieg sein lassen!

Der Fürst verzog keine Miene bei der wenig erfreulichen Tatsache, daß seine halbe Armee angesichts des Feindes mit Rebellion drohte. Er versprach alles und schickte sofort seinen braven Massenbach spornstreichs nach Weimar zum König, um Brot für die Sachsen zu erbitten. Denn er war davon überzeugt, wo kein anderer etwas Eßbares verschaffen könnte, da würde Massenbach bewirken, daß die Steine zu Brot werden würden. Aber leer käme er nicht zurück! –

Nachdem der Fürst diese Anordnungen getroffen hatte, setzte er sich nicht noch einmal zu Tisch, denn das hatte er sich schon abgewöhnt und als aussichtslos aufgegeben! Sondern er bestieg sein Pferd und begab sich ins Lager, ließ die Truppen aus den Zelten hervortreten und ritt die Front ab.

Es wurde eine lange Inspektion.

Er ritt die preußischen und schlesischen Bataillone ab, beim rechten Flügel der Aufstellung anfangend, fragte sie nach allem – ob und wie und mit was sie versorgt waren –, was sie bekommen und was sie nicht bekommen hatten? Er redete mit ihnen von den alten Feldzügen, die sie gemeinsam mit ihm durchgemacht hatten, sprach wie ein Kamerad, sprach auch wie ein Vorgesetzter, schön und markig, von altpreußischem Geist, von ruhmgekrönten Fahnen und altbewährter Waffentüchtigkeit, von Treue und Pflicht, von König und Vaterland – entflammte so den Mut und den nimmermüden guten Willen der Braven und bekam gleich Gelegenheit, ihn auf die Probe zu stellen.

Denn noch hatte er den linken Flügel nicht abgeritten, da knatterte und ratterte es links herum am Rande des Saaletales los, und die Nachricht wurde ihm gebracht: Jena wäre geräumt und auch evakuiert – die Franzosen wären drin, und Tauentzien, der die Avantgarde befehligte, wäre auf den Landgrafenberg heraufgekommen! Leider aber fast gleichzeitig mit ihm die an Zahl weit überlegenen Franzosen, so daß er sich vom Talrand kämpfend zurückziehen mußte!

Da war kein Zweifel mehr, was zu tun war! Als alter erprobter Kriegsmann ließ der Fürst sofort Füsiliere und Jäger tiraillierend vorgehen und den Feind aus dem nächsten Forst, wo er sich festgesetzt hatte, wieder hinauswerfen. Er setzte dann preußische Grenadiere und reitende Artillerie in Marsch, um die Franzosen, die noch nicht in allzu großer Stärke auf dem Plateau sein konnten, wieder in das Saaletal hinunterzuwerfen, von dem sie, bei weniger Schlamperei und besserem Aufpassen der Vorposten, niemals hätten heraufkommen dürfen! Alles jubelte ihm zu und war des Sieges gewiß. Der Fürst wollte auch seine Tapferen in höchsteigener Person anführen und war schon im Begriff, den Befehl zum Angriff zu geben.

Da kam Massenbach, den ein ungnädiger Himmel nicht unterwegs das Genick hatte brechen lassen – da kam dieser Unglücksmensch spornstracks aus Weimar zurückgesprengt, wohin ihn ein mißgünstiges Geschick in überflüssiger Sorge um den Magen der guten Sachsen entsendet hatte! Da kam er atemlos an und brachte als erstes den strikten Befehl des Königs: unter keinen Umständen irgendeinen Angriff zu unternehmen.

Der Fürst wütete und schlug sich zornig mit der Reitgerte auf den Stiefel, als wäre der Stiefel Massenbach. Er fluchte und wetterte und beteuerte: Wenn der König hier wäre, würde er selbst zum Angriff blasen lassen! Die Gelegenheit wäre günstig, es galt die Sicherheit, ja die Existenz der ganzen Armee. Man müsse den Franzosen schnell wieder vom Plateau hinunterwerfen! Nach einigen Stunden wäre er zu stark, da wäre es zu spät! Also keine Zeit, erst aus Weimar Befehle einzuholen! –

Massenbach zuckte mit den Schultern, sperrte seine runden braunen Gucklöcher auf, blickte dem Fürsten unverzagt ins Gesicht und wiederholte, mit vor Ehrfurcht zitternder Stimme, den königlichen Befehl, hier keinen Angriff zu wagen, aber sofort nach Dornburg zu gehen, um die dort verlorengegangene Brücke zurückzunehmen, damit der Abmarsch der Hauptarmee ungestört vor sich gehen konnte.

Befehl ist Befehl.

Zähneknirschend fügte sich der Fürst, befahl seinen Braven, statt vorwärts auf den Feind zu gehen, links abzuschwenken und nach Dornburg zu ziehen, setzte sich selbst an die Spitze, da er nun schon das Kommando übernommen hatte, ließ die Franzosen auf dem Plateaurand bleiben und überließ es dem General Tauentzien, mit der Avantgarde die Hauptstellung zu bewachen.

Diese Stellung, vom Lager bei Kapellendorf bestimmt, war von dem übergenialen Massenbach fast mit dem Rücken gegen den Feind gewählt. Ob er es tat, um wieder einmal etwas anders und origineller als gewöhnliche Leute zu sein – um dem Feind recht nachdrücklich seine Verachtung zu zeigen –, oder aus übergroßer Höflichkeit, um es ihm recht bequem zu machen, der preußischen Armee in den Rücken zu fallen, das mag dahingestellt bleiben!

Massenbachs Genie reichte aber nicht so weit, anzunehmen, daß der Feind sich gewiß nicht um des Königs von Preußen Verbot, zu kämpfen, kümmern würde! Da man aber den Gehorsam so weit trieb, sich auch kopflos aller Vorteile einer starken Stellung zu begeben – da man also die Saale nicht einmal so lange verteidigte, daß man die Absichten des Feindes erriet – da die Brücke über den Fluß nicht abgebrochen, die Stadt Jena geräumt wurde – da der Talrand ohne Widerstand dem Feind überlassen und ihm gar Zeit und Raum gegeben wurde, dort, auf den beherrschenden Höhen festen Fuß zu fassen, so wäre wohl vorauszusehen gewesen, daß man, ungeachtet aller Verbote, doch gezwungen werden würde, eine Schlacht anzunehmen.

Man hätte sich also ebenso gern gleich, ohne jene Fehler zu begehen, unter unverhältnismäßig günstigeren Bedingungen schlagen können und müssen. Statt später eine Schlacht in offenem Gelände gegen vielfache Übermacht liefern zu müssen, hätte man sich auf ein aussichtsreiches Nachhutgefecht in vorzüglichen Stellungen beschränken und mit dem Gros der Hauptarmee nachziehen können.

Durch den Kadavergehorsam seines Generalquartiermeisters Befehlen gegenüber, die der Befehlende selbst, nach Kenntnisnahme der veränderten Sachlage, sicherlich sofort zurückgenommen hätte, und durch seine eigene Machtlosigkeit gegen diesen seinen bösen Geist, verlor Hohenlohe so die Schlacht, schon ehe sie geschlagen war.

*

Am Nachmittag desselben Tages kletterte ein kleiner Mann in grauem Rock, den dreieckigen Hut auf dem Kopfe, den Abhang des Landgrafenberges hinauf, stellte sich da oben auf den höchsten Auslug, die Arme über der Brust verschränkt, und blickte über die Gegend aus.

Ein paar kurz hingeworfene Worte von ihm genügten, und gleich flogen Kuriere nach allen Richtungen hinaus mit Befehlen für die kaiserlichen Marschälle, schleunigst, wo sie auch waren, auf Jena zu marschieren, wo man allem Anschein nach die preußische Hauptarmee gestellt hatte.

Inzwischen zog aber die preußische Hauptarmee ganz woanders in aller Gemütsruhe weiter an der schützenden Saale entlang.

Auf dem Landgrafenberge bei Jena bereitete sich das Gewitter vor.

Aus allen Schluchten, die rundherum zur Kuppe hinaufführten – aus dem Rauhtal, dem Mühltal, aus der Eule und dem Steiger, fluteten in endlosem Strom nach und nach an die hunderttausend Mann hinauf mit Roß und Wagen, mit Rohren und Protzkästen!

Wie ein Gewimmel geschäftiger Ameisen, so kribbelte und krabbelte es von kleinen nervigen, schnellfüßigen Kerls gegen den einen Punkt hin, wo der kleine Mann im grauen Rock stand.

Bäume wurden gefällt, Wege mit Geistergeschwindigkeit hervorgezaubert, und längs der so gewonnenen Bahnen glitten immer neue Reihen von Kanonen, Protzkästen und Pulverkarren hinauf. Und von oben keine Störung, kein einziger Schuß, kein überraschender Angriff der preußisch-sächsischen Armee, die, teils im Lager bei Kapellendorf, teils um Dornburg herum in weitläufige Quartiere gelegt, an alles andere eher dachte als daran, den unerbetenen Gast wieder in die Schluchten hinabzuwerfen.

Der kleine Mann stand da unbeweglich als ruhender Punkt und Richtzeichen in all dem Getriebe, das auf ihn zustrebte, um nachher, von seiner Hand zusammengefaßt, sich wieder strahlenförmig, wie aus einem Fächer heraus, über die Gegend zu ergießen und die preußische Armee zu umfassen, sobald der Augenblick dazu da wäre.

Der Wind spielte mit den Schößen seines langen grauen Mantels. In der zunehmenden Dämmerung verwob sich ihr Flattern mit den aus den Schluchten der Saale aufsteigenden Dünsten, die immerfort zunahmen, als ginge der Nebel von den grauen Rockschößen aus. Immer dichter wurden die Dünste, schon füllten sie die Täler und die Schluchten und ließen einzelne Kuppen nur noch als übriggebliebene Inseln aus der Überschwemmung herausragen, bis auch sie versanken und das Wolkenmeer sich vom Thüringer Wald, über die Unstrut, bis weit nach der Elbe hin ausbreitete, Städte und Gehöfte verschlang und alles Leben vom Erdboden vertilgte.

Im Schutz dieses Nebels fing der kleine graue Mann an, seine Netze zu legen und seine Fallen zu stellen, schnell, behende, sicher und leise schleichend wie das Unheil selbst.

Sorglos ruhte das Wild. Nur weit in der Ferne und außer Bereich des Waltens jenes unheilschwangeren Geistes wachte ein Wille, von bösen Ahnungen getrieben – ein Wille, der die Macht des Zauberers brechen wollte. Aber er war noch unfrei, noch von den Fesseln blinden Gehorsams gebunden.

Blücher – denn er war es – ging da, von quälender Unruhe getrieben, rauchte sein kurzes Pfeifchen, schnupperte nach allen Windrichtungen hin, räusperte sich, hustete die sauverfluchten Nebeldämpfe aus, spuckte und fluchte über den drückenden Dunst, der das Atmen behinderte und den Ausblick versperrte!

Er dachte daran, wie er einst im Traum den Wolken des Himmels Blitze entriß und die Nebel verscheuchte.

Ja, das wäre so etwas, frei zu fliegen, die Augen offen, alles sehen, im Fluge das Notwendige gleich erfassen und blitzschnell zur Tat werden lassen, statt wie jetzt, am Gängelbande eines anderen, Befehle auszuführen, die der erste beste Stabsoffizier ebensogut bewältigen könnte!

Als ihn heute unterwegs der Befehl des Königs erreichte, sofort seine Truppen zu verlassen, um zu ihm ins Hauptquartier zu kommen, da dachte er: jetzt ist deine Zeit da, jetzt braucht man dich zu etwas, was nur du leisten kannst!

Er ritt schnell wie der Wind hin und kam abgehetzt an – nur um die Nachricht zu empfangen, der König schliefe und wünsche ihn erst am nächsten Morgen zu sehen.

Eiliger war's also nicht!

Ärgerlich suchte er sich Nachtquartier in einer Scheune und ging nun davor auf und ab und lauschte auf die tausend verschiedenen Laute, die, wie Hilferufe Ertrinkender, von allen Seiten aus dem Nebel herausdrangen.

Alles Leben schien von dem feuchten, klebrigen Dunst verschlungen. Fort war die stolze preußische Armee, fort die strammen Grenadiere mit ihren steif gedrehten Zöpfen und stolzen Schnauzbärten, fort die bunten Röcke der Husaren, die Harnische der Kürassiere, die wehenden Helmbüsche und blitzenden Seitengewehre! Alles war fort, alles versunken in den wogenden Nebelschwaden, aus denen das Rollen der Räder, das Wiehern der Pferde, das Rufen und Pfeifen und Trommeln immer gedämpfter herausdrang, um schließlich zu verstummen, je nachdem wie die marschierenden Truppen ihre Biwake einnahmen.

Keine Müdigkeit vermochte aber den einsamen Mann dazu zu bringen, sich auch zur Ruhe zu begeben. Am liebsten hätte er sich an die Spitze seiner »Roten« gesetzt, wäre, auch ohne Befehl, aufs Geratewohl in den Nebel hineingaloppiert, hätte die Gegend bis zur Saale nach Franzosen abgepirscht, hätte das Kroppzeug gestellt, und, wie schon sooft, mit dem preußischen Husarensäbel traktiert.

Aber, es wollte hier alles befohlen sein! Und die Kunst des Befehlens war den wenigsten gegeben!

Der Teufel mochte auch wissen, wo seine »Roten« biwakierten und wie weit sie zurückgeblieben waren! Ohne sie gelänge kein Streich! Die anderen von der Kavallerie, das waren eben die anderen!

Stunde um Stunde verging; die Dünste begannen allmählich eine hellere Färbung anzunehmen; irgendwo im Osten wühlte etwas Gelbliches sich mühsam Weg durch die Nebel. Hoch und höher stieg es, ohne mehr zu erreichen, als die Dichtigkeit der Dunstschleier noch anschaulicher zu machen. Ein fahles Licht war alles, was bis zur Erde durchsickern konnte, so daß man zur Not noch die Hand vor den Augen sah! Rundherum fing es aber an zu heulen und zu rufen, als zögen die alten Recken der Urzeit wiederum zur Jagd auf den Thüringer Wald, während die Räder ihrer Streitwagen ratterten, die Pferde wieherten und die Sippen folgten, unter Geschrei und Gejohle, um die erlegte Beute zu zerteilen und fortzubringen.

Das Getöse nahm zu und schwoll, vom Nebel zusammengefaßt, immer unheimlicher an.

Jetzt zogen die alten Heidengötter zum Ragnarök aus; die Midgardsschlange ringelte ihren Leib um die Welt; der Fenriswolf sperrte seinen Rachen auf; alles eilte dem Endkampf entgegen – die Götterdämmerung war da!

Und er mußte hier auf Befehle warten, statt sie selbst wie zündende Funken in den Tumult hineinzuschmettern!

Er hielt's nicht länger aus. Er befahl, das Pferd vorzuführen, ließ seine Adjutanten wecken – seinen Sohn, den Rittmeister von Blücher und den Rittmeister Graf von der Goltz – und ritt, von ihnen gefolgt, um sich beim Könige zu melden.

Der König war schon zu Pferd. Er ließ Blücher wissen, daß bei Kösen Franzosen über die Saale gegangen waren, und daß er gegen sie vorgehen müsse. Befehle möge er sich beim Oberkommandierenden, dem Herzog von Braunschweig, holen.

Der Herzog gab Blücher, da die »Roten« noch nicht angelangt waren, von der Division Schmettau mit, was von den Heisingschen Kürassieren und vom Dragonerregiment Königin da war. General Schmettau, der seine Kavallerie selbst gut gebrauchen konnte, nahm das gewaltig krumm, ohne es indessen ändern zu können.

Blücher selbst, nicht gerade froh, seine eigenen Leute nicht um sich zu wissen, ließ aber fünf gerade sein, ließ zum Sammeln blasen, setzte sich an die Spitze der Regimenter und galoppierte in den Nebel hinein!

Auf dem Landgrafenberg bei Jena aber war sein Widersacher, der kleine Mann im grauen Rock, nicht müßig gewesen. Ihm hatte keiner etwas zu befehlen. Und das Glück war mit ihm. Kein Feind störte sein waghalsiges Unterfangen, seine ganze Armee die Schluchten nach dem Berg hinaufklimmen zu lassen – kein überraschender Angriff beim Aufmarsch –, kein plötzliches Hineinkartätschen in die marschierenden Massen. Alles ging wie am Schnürchen. Und er selbst biwakierte inmitten seiner Garden auf der höchsten Kuppe so ruhig, als schliefe er in seinem Bett in den Tuilerien. Nichts konnte seinen Schlaf stören, weder trübe Ahnungen noch der aus allen Schluchten des Saaletales hervordrängende Lärm, der die ganze Nacht anhielt, bis seine stolze Armee oben und nach allen Seiten hin in die vorbezeichneten Stellungen aufmarschiert war!

Selbst hatte er schon die Stellungen der preußischen Armee rekognosziert und war bisweilen so nahe an sie herangekommen, daß er Feuer bekam und sich schnell niederwerfen mußte.

Dann fing er, vom Nebel begünstigt, an, seine Truppen wie Schachfiguren hin und her zu schieben, schob Davoust mit seinem Korps weit über Naumburg hinaus, um die preußische Armee von ihren Verbindungen abzuschneiden, zog selbst alles Erreichbare von dem anderen Korps an sich heran und stand zum Losschlagen bereit.

Gegen Morgen fing es dann an im Nebel zu rattern und zu knattern. Das zeitweilige Aufblitzen des Mündungsfeuers aus den Gewehren und Geschützen gab zu erkennen, wo Freund und Feind waren, ließ aber keinen Schluß auf die Menge oder die Art der kämpfenden Truppen zu.

Die Preußen griffen an.

Graf Tauentzien hatte die Bataillone Erichsen, Pelet und Rosen bei Closewitz-Lützeroda und im Issenstedter Forst aufgestellt und ging selbst von Dornburg aus mit mehreren sächsischen Bataillonen vor. Gegen sich aber hatte er die drei Divisionen des Marschalls Lannes mit vielem Geschütz. Ganze Regimenter löste dieser als Tirailleurs auf, die Tauentziens kleine Schar so heftig bedrängten, daß er sie auf Vierzehnheiligen und Altengönne zurücknehmen und hinter den Divisionen des Generals Grawert in Aufnahmestellung führen mußte.

Dieser hatte den Nachteil von Massenbachs dumm gewähltem Lager nach Möglichkeit wieder gutzumachen gesucht. Er hatte seinen linken Flügel linksherum auf Klein-Romstedt geworfen, bekam so die Front auf Vierzehnheiligen und kehrte, wie sich's gehörte, dem Feinde das Gesicht zu, statt den Rücken, was ihm nachträglich gar das Lob eines großen Feldherrn eingebracht hat.

Gegen Grawert schwärmten nun die französischen Tirailleurs wie die Grasmücken aus und füllten die ganze Gegend. Ihnen war auch Artillerie beigegeben, so daß der Aufmarsch der Division Grawert im heftigsten Feuer stattfinden mußte. Trotzdem avancierten die Grenadiere so ruhig, als wären sie auf dem Exerzierplatz. Mit klingendem Spiel ging's im Geschwindschritt vorwärts, so daß die Infanterie dicht hinter der auf Linien auseinandergezogenen Kavallerie blieb. Fast bis zu Vierzehnheiligen heran kamen sie. Dann ließ Hohenlohe haltmachen, um das Fallen des Nebels abzuwarten.

Der Feind indessen wartete nicht, sondern schoß wacker hinein in die wie Schießscheiben dastehenden Reihen und lichtete sie nach Kräften. Er selbst war nicht zu sehen. Hinter jeder Unebenheit des Bodens nahm er Deckung und hatte seine Kanonen so gut eingegraben, daß vom Rohre nichts zu sehen war. Da sowohl Infanterie wie Kavallerie durch diese ununterbrochene Belästigung unruhig wurden, war ja nichts natürlicher, als die letztere gleich zur Attacke anzusetzen, sie zwischen die tiraillierenden Monsieurs hineinsausen zu lassen und diese auf die preußische Infanterie zuzutreiben. Aber der Gedanke fand bei der Führung keine Gegenliebe, die Kavallerie blieb weiter auf dem Flecke als Zielscheibe und durfte ihre Säbel nicht gebrauchen.

Endlich fiel der Nebel, und vor den Augen der Tapferen tauchten die französischen Linien auf, wie sie mit klingendem Spiel zum Angriff vorgingen und weit über die beiden Flügel der Preußen hinauslangten. Hinter ihnen standen ganze Kolonnen, von denen immer mehr Leute in die Linien einschwenkten, je nachdem, wie sie sich dehnten und Lücken entstanden.

Vor der drohenden Überflügelung wankte und wich bei den Preußen alles zurück. Und wo's zurückgeht, ist's vorbei mit Vertrauen und Zuversicht. Hier und dort riß Unordnung ein, die Unordnung artete zur Flucht aus. Und der Franzose, nicht faul, ließ seine Kavallerie los, wo er die geringste Verwirrung witterte. Wie die Affen sausten die kleinen betrunkenen Kerls drein, fuchtelnd und schreiend, und ritten alles nieder, schon weil sie ihre eigenen Pferde nicht halten konnten.

Manch preußischer Kavallerist biß vor Wut die Zähne zusammen oder fluchte laut über die unfähige Leitung, die es gar nicht zum Dreinhauen kommen ließ! Sie raubte so den Preußen ihre beste Waffe, setzte sie falsch ein, zog sie in Linien aus, ließ sie im Kartätschenfeuer stehen oder nur schleichend vorrücken – etwas, was weder Leute noch Pferde aushielten. Voll Neid schielten sie zu den Sachsen hinüber deren Kavallerie, obwohl nicht besser, weit mehr leistete, weil sie besser geführt war.

Immer mehr rückte die Front der Franzosen vor, unter Trommelschlag und schmetternden Fanfaren, drückte die Mitte gegen das Dorf Vierzehnheiligen, bog den rechten Flügel um die preußische Linie herum – schob seinen linken Flügel weit über die nach Weimar führende Chaussee hinaus und umfaßte den preußischen rechten. Der Rückzug artete in Flucht aus. Die sächsischen Bataillone Maximilian, Rechten und Winkel nahmen dabei mechanisch die Fährte auf die nächste Chaussee auf, gleichviel wohin sie führte, und kamen so gen Weimar, was ganz verkehrt war. Und die Nächststehenden folgten in gleicher Richtung. Auf dem linken Flügel dagegen gingen Tauentzien und Holtzendorf auf Apolda zurück. Die Armee wurde dadurch in zwei Teile gerissen, und der Feind, nicht saumselig, schob nach, was er konnte, und förderte so nach Kräften die Trennung.

Die Ankunft des Generals Rüchel mit seinen fünfzehn Bataillonen änderte an der Niederlage nichts. Gegen die Übermacht konnte seine Armee ebensowenig an wie die Hohenlohes, der seine Soldaten keinesfalls an Tapferkeit nachstanden.

Er ließ sie in Treffen geordnet, staffelweise – » en échelons« – vorrücken. Sie schlugen sich brav, solange es ging, wankten dann, wichen und flohen. Er selbst wurde auch, wie alle anderen Befehlshaber, verwundet und vom Strudel der Fliehenden mitgerissen. Sein ganzes Vorgehen hielt den doppelt überlegenen Feind nicht von der Verfolgung ab – es war bloß eine Einzelhandlung mehr in dieser aus lauter Teilkämpfen bestehenden Schlacht, in der großzügige Führung nur auf seiten Napoleons zu finden war.

Während dies alles sich bei Jena zutrug, war weiter nördlich auf dem Plateau hinter der Saale, bei Kösen, Blücher mit der Avantgarde in den Nebel hineingaloppiert. Er stieß dann plötzlich auf etwas, das er für eine Hecke ansah, bald aber als feindliche Infanterie erkennen mußte. Er segnete den Nebel, der es ihm so ermöglicht hatte, in den Rücken der feindlichen Aufstellung zu kommen, fluchte aber, weil er nicht daran gedacht hatte, den Oberbefehlshaber gleich um mehr Truppen zu bitten, und schickte den Grafen von der Goltz spornstracks zurück, um Infanterie und reitende Artillerie zu holen. Dann würde er versuchen, die feindliche Aufstellung aufzurollen, und es wäre ihm auch gelungen.

Aber sein Adjutant kam nicht zurück, sein Sohn, den er nachschickte, kam wohl wieder, aber ohne Bescheid.

Weder Infanterie noch Artillerie wurden ihm geschickt, dafür fuhr eine Batterie die Chaussee nach Hassenhausen in Karriere hinauf und wurde vom Feind in der Fahrt genommen.

Blücher gab dann seinen Eskadrons Befehl zur Attacke, um auch so die feindliche Infanterie zu durchbrechen. Sie erhielten zwar von links starkes Kartätschenfeuer, gingen aber trotzdem erfolgreich vor, bis auf einmal, durch irgendeine Schlamperei, bei irgendeiner Schwadron »Kehrt« geblasen wurde, und infolgedessen alles stockte und zurückwich.

Blücher stellte die Ordnung wieder her und erneute den Angriff. Um das Maß der Unordnung vollzumachen, wurde er aber dabei im Rücken von der eigenen Artillerie beschossen, und da war es aus! Die Kavallerie, die sich umzingelt glaubte, wich, und als Blüchers Pferd erschossen wurde und man den General selbst fallen sah, wandte sich alles zur Flucht, und er selbst, auf dem Pferd eines Trompeters nacheilend, wurde vom Strom der Fliehenden mitgerissen. Vergebens stellte er sich mit einer Standarte in der Hand den Leuten entgegen, und bat und beschwor sie, stehenzubleiben, – sie waren nicht zu halten.

Inzwischen waren die Divisionen von Schmettau und Wartensleben rechts und links von der von Auerstedt nach Hassenhausen führenden Chaussee aufmarschiert und zum Angriff vorgegangen, um dem Feind diesen seinen einzigen Stützpunkt diesseits der Saale zu entreißen.

Ihre altgewohnte Taktik aus der friderizianischen Zeit – das Avancieren en échelons –, Bataillonssalven abzugeben und mit dem Bajonett den Rest zu erledigen, kam trotz aller Tapferkeit nicht gegen die neue Kampfart des Gegners auf.

Sie litten entsetzlich im Tirailleurfeuer der behenden Franzosen, deren Kartätschen große Gassen in ihre wie Zielscheiben dastehenden Glieder rissen.

Gleich zu Anfang der Schlacht wurde General Schmettau erschossen. Der Herzog schickte darauf seinen Generalquartiermeister Scharnhorst nach dem linken Flügel, um die Ordnung wiederherzustellen und dort zu befehlen. Als er aber selbst kurz darauf durch die Augen geschossen wurde, da fehlte Scharnhorst, der ja die Befehlsausgabe für das Ganze zu ordnen hatte, an der entscheidenden Stelle, und die Preußen waren ohne Führung.

Feldmarschall Möllendorf war da, war aber schon zu alt und versagte völlig.

Der König war zu unerfahren und auch zu unentschlossen.

Die Schlacht war, wenn sie weiterging, trotz aller anfänglichen Mißerfolge gewonnen. Allein man ahnte es nicht.

Man hätte wohl wissen können und müssen, daß man höchstens ein einziges französisches Korps sich gegenüber hatte –, daß man also über eine erdrückende Übermacht verfügte!

Davoust hatte mehr gelitten als die Preußen und hatte keine Reserven mehr. Aber die preußischen Reserven unter Kalckreuth waren noch intakt.

Blücher ahnte, wie die Sache stand. Er bat den König um Kavallerie, um noch einmal den Versuch zu machen, eine Entscheidung herbeizuführen. Er erhielt sie auch, aber, gerade als er zur Attacke blasen lassen wollte, auch den unausbleiblichen Gegenbefehl. Er solle es lieber bleibenlassen. Es nütze doch nichts mehr. Die Kavallerie hatte es ja heute schon einmal schlecht gemacht. Und die Reserven, die bei Eckartsberga standen und untätig zusahen, wie sich ihre Kameraden verbluteten –, die wollte der König nicht auch noch opfern! Er glaubte nicht an den Sieg und siegte infolgedessen nicht. Er begnügte sich damit, zu befehlen, die Schlacht abzubrechen und einen allgemeinen Rückzug auf Weimar zu nehmen, um sich dort mit Hohenlohe zu vereinigen.

*

Blücher war tobend und fluchend fortgeritten, als der König ihm seine Zustimmung versagte, noch einmal mit der Kavallerie die Schlacht wiederherzustellen.

Der König, der seinen alten Haudegen kannte und ihm nicht recht traute, schickte ihm gleich einen Adjutanten nach mit dem Befehl, zurückzukehren und bei seiner Person zu bleiben.

Sonst wäre es nicht sicher, daß nicht Blücher auf eigene Faust hin doch noch etwas unternähme!

Der Alte kam, meldete sich steif und korrekt zur Stelle, nahm seinen Platz im Gefolge ein, wurde vom König ins Gespräch gezogen, ritt gehorsamst heran, salutierte, antwortete kurz: »Zu Befehl, ja – zu Befehl, nein!« auf alle Fragen, die der König an ihn richtete, und kam aus der Einsilbigkeit gar nicht heraus.

Der König ließ sich aber nichts merken. Er tat, als wäre alles in bester Ordnung, und sprach weiter auf Blücher ein, ohne seine schlechte Laune zu beachten. Und das paßte Blücher nun ganz und gar nicht in den Kram.

Als der König ihm seine Ansichten über die Ereignisse des Tages mit einer für ihn sehr ungewöhnlichen Gesprächigkeit auseinandergesetzt hatte und eine Pause machte, in der Erwartung, nun Blüchers Meinung zu hören zu bekommen, da schwieg Blücher steifnackig weiter.

Der König konnte dann nicht umhin, ein wenig die Majestät herauszukehren. Er hielt sein Pferd an, was eine Stockung in der Vorwärtsbewegung des ganzen Gefolges bewirkte, blickte auf Blücher, dessen Pferd auch gehorsamst und alleruntertänigst stehenblieb und sagte ein wenig ungeduldig:

»Nun? – Endlich Meinung hören lassen!«

»Zu Befehl, Majestät, meine Meinung ist die, wir reiten in verkehrter Richtung!«

»Was heißt das?«

»Wir kehren dem Feind den Rücken –, das ist immer verkehrt! Die Richtung vorwärts ist mir lieber!«

»Uns auch! Wenn aber unsere Leute zurückgehen!«

»Hasenfüße gibt's in jeder Armee. Es sind aber genug tapfere Männer dabei gewesen!«

»Wir waren überflügelt!«

»Die Überflügelung hätte ich abgestoßen, so Eure Majestät mich hätte gewähren lassen!«

»Es wäre Ihm ebenso schlecht gegangen wie bei Seiner ersten Attacke!«

»Die erste Attacke wäre auch gut gegangen, hätte uns die eigene Artillerie nicht mit Kartätschen beworfen! Der Feind war schon erschüttert! Er hatte keine Reserven! Unsere Reserven waren nicht zum Kampf gekommen. Die Schlacht stand schon. Ein kleiner Stoß noch, und sie wandte sich zu unseren Gunsten! Wir hätten Davoust vernichtet und uns freie Bahn in der alten Marschrichtung erkämpft! Majestät wollen's mir zu Gnaden halten, aber für so etwas habe ich Nase!«

»Und wenn's doch anders gekommen wäre, als Er denkt, und das wäre gewiß der Fall gewesen – wir hätten nur unnütz das Blut unserer Leute verspritzt!«

»Majestät halten zu Gnaden, aber dazu sind wir alle da! Wenn's gilt, König und Volk zu retten, ist kein Leben zu teuer!«

Der König schwieg. Eine Weile ritten sie in Gedanken weiter. Er fing schon an zu dunkeln.

Plötzlich hielt der König wieder sein Pferd an und richtete sich straff auf; seine hohe Gestalt zeichnete sich kräftig gegen den Oktoberhimmel ab.

»Nun haben wir ihn!« dachte Blücher. »Jetzt gibt er klein bei. Jetzt gibt er den Befehl zur Umkehr und läßt uns die Schlacht erneuern!«

Er hatte sich getäuscht.

Der König seufzte nur, blickte ihn dann an und sagte trocken: »Er hätte das Spiel nicht gewonnen, Blücher!«

»Ich habe wohl dann und wann ein Spiel verloren, Majestät – aber noch öfter eins gewonnen! Und das nur, weil ich das Spiel gewagt habe!«

Der König hatte schon eine derbe Antwort bereit.

Da knatterte es plötzlich irgendwo auf der rechten Seite los, Blücher gab seinem Pferd die Sporen, sprengte hin, um zu sehen, was los war, und kam zurück mit der Meldung, man hätte ein paar naseweise Chasseurs zum Teufel gejagt.

»Werden uns noch durchschlagen müssen!« sagte der König eintönig und setzte den Weg fort. Blücher ritt voraus und untersuchte das Terrain, war bald hier, bald dort und kehrte bisweilen zum König zurück mit der Meldung über seine Wahrnehmungen, wurde für seine Fürsorge bedankt, aber sonst nicht weiter ins Gespräch gezogen.

Auf einmal, dicht vor Buttstedt, erhob sich an der Spitze der zurückgehenden Kolonnen ein großes Geschrei. Herannahen von Truppen wurde gemeldet. »Die Franzosen sind da!« schrie alles. »Wir sind abgeschnitten!« Und gleichzeitig knallte es rechts und links im Gebüsch los.

Alles stockte.

Patrouillen gingen vor und kamen zurück mit der Nachricht, Teile der Armee Hohenlohe zögen aus entgegengesetzter Richtung heran. Man hätte heute bei Jena gekämpft, der Fürst wäre geschlagen und geflüchtet – man wisse nicht wohin – Grawert und Rüchel wären vernichtet, die Sachsen gefangen – die Franzosen verfolgten gegen Weimar die dorthin Geflohenen, man hätte auch hier bald mit ihrem Erscheinen zu rechnen!

Alles stürzte vor, um selbst zu sehen und zu hören und von den Anrückenden nähere Kunde zu bekommen.

Jede Ordnung hörte auf. Die Verbände wurden zerrissen, alles eilte in wirren Haufen durcheinander, schreiend, fluchend, tobend, ohne zu wissen wohin, ohne auf das Kommando zu hören, nur vorwärts auf dem nächsten Weg. Und ging's nicht schnell genug auf den von der Bagage verstopften Chausseen, dann wurde einfach geplündert, die Regimentskassen verteilt, die Proviantwagen geleert und in die Gräben geworfen. Und wo es etwas Trinkbares zu fassen gab, wurde sofort ein allgemeines Gelage veranstaltet. Die Trunkenheit nahm bei den durch langen Hunger entkräfteten Soldaten reißend zu. Wüste Schmähreden auf die Offiziere, die das ganze Unglück verschuldet hatten, wurden laut, die unflätigsten Schimpfwörter schwirrten durch die Luft, vermischt mit dem kreischenden Gesang der betrunkenen Polen, die mit Sack und Pack abzogen und sich laut damit brüsteten, daß sie nun zu den Franzosen übergingen.

Die Offiziere, die Ordnung zu schaffen suchten, wurden gröblichst insultiert. Die Quälgeister unter ihnen ernteten jetzt die Frucht lange keimenden Mißvergnügens, wurden geschlagen, geschmäht und ihnen ins Gesicht gespuckt. – Die Mannschaften rissen ihre Abzeichen ab, warfen Knöpfe, Achselklappen, Packung und Gewehre in den Kot, daß die Landstraße weithin mit den fortgeworfenen Gegenständen besät wurde.

»Mit Preußen ist's jetzt aus!« schrien sie, »Preußen ist hin! Unseres Diensteides sind wir ledig!«

Der König war gleich nach Empfang der Unglücksbotschaft von Jena mit seinem Gefolge weitergeritten. Er nahm den Weg, statt nach Weimar, nordwestlich gen Sömmerda, um von dort nach Sondershausen zu kommen, welchen Ort er als neuen Treffpunkt und Sammelstelle für die Armee angab.

Sein Befehl an die Truppen, ihm dorthin zu folgen, wurde nur von einem Teil befolgt.

Ein großer Teil unter Möllendorf und Oranien war schon dicht vor Weimar angelangt und zog von dort weiter nach Erfurt.

Der König nahm in Sömmerda Quartier und begab sich gleich zur Ruhe. Am folgenden Tag setzten ihm die Generäle zu, er möchte schnellstens vorreisen, um im Hinterlande den Widerstand zu organisieren. Er wäre jetzt da viel nötiger als hier. Er weigerte sich aber standhaft, die Armee zu verlassen.

Blücher schwieg sich anfangs zu der Sache aus. Er überlegte es sich so: Als Heerführer ist der König ebenso unerprobt und unfertig, wie die hohen Generäle untauglich. Ist der Vorteil, die Autorität des Königs im Bedarfsfalle zur Stelle zu haben, größer als der Nachteil, selbst möglicherweise vor ihr zurückweichen zu müssen? Die Sache schien ihm unsicher. Allein würde er am Ende mit den Generälen am besten fertig. Da brauchte er kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Entschlossen setzte auch er dem König zu und brach dessen Widerstand.

In liebenswürdigster Weise bedankte sich der König bei Blücher für dessen umsichtige Führung bei dem gefahrvollen Nachtritt und entband ihn von der Pflicht, ihn weiter zu begleiten, da die Armee seine Kraft anderswo besser benötige. Aber von den roten Husaren nähme er gern die Eskorte für die Weiterfahrt nach Sondershausen an.

Blüchers Augen leuchteten vor Freude, als er das hörte.

Die nötigen Befehle waren schnell gegeben. Aus den Reihen seines stark zusammengeschmolzenen Regiments suchte er selbst die sichersten und erprobtesten Leute aus, und bald zog da eine kleine Schar von fünfzig Husaren vor dem Quartier des Königs auf, unter dem Befehl des Rittmeisters von Wolky, dem des Generals zweiter Sohn, der Leutnant von Blücher, beigegeben war.

Die »Roten« waren sehr ungehalten über den Rückzug, gerade wo sie die Hoffnung gehabt hatten, gegen den Feind geführt zu werden, und zwar von ihrem Alten selbst, den sie in der Schlacht schmerzlich vermißt hatten.

»Der Feind brauchte nicht viele Schläge mehr,« meinte einer, »warum wurde nicht die Reserve eingesetzt?«

»Der alte Kalckreuth ist schon schlapp!« antwortete ein anderer. »Er hatte schon längst einen Knacks, und nun geht ihm wohl vollends die Puste aus!«

»Wir hätten bei unserem Alten sein müssen, als er zur Attacke blasen ließ!« sagte noch einer. »Da wär's ein anderer Tanz geworden! Wir hätten ihn nicht aufsitzen lassen! Dunnerslag – so davonzulaufen vor den paar Chasseurs! Eine Schmach war's und eine Schande! Aber die Königindragoner – – und die Reitzensteinkürassiere – und gar die von Heising! Die denken nur an ihren Magen! Ihre besten Leute fouragierten, als es zur Schlacht gehen sollte, und die anderen, nun, die sind eben nur bei den Paraden zu gebrauchen! Na, nun werden wir ja – – – Kinder – das Regiment kommt zu Ehren!«

»Man gut, daß wir zusammenblieben und hierherkamen. Ich war schon entschlossen, mich in den Busch zu schlagen und zu sehen, wie ich durchkäme, als der Kuddelmuddel unterwegs losging und alles davon redete, sich dem Franzmann zu ergeben! Und hätte ich unseren Alten nicht gesehen – ich wäre längst über alle Berge!«

Da kommandierte der Rittmeister: »Achtung!«

Die Glieder richteten sich; die Leute saßen wie angegossen in den Sätteln; auf Kommando flogen die Säbel aus den Scheiden und salutierten. Denn Blücher erschien jetzt auf der Freitreppe, von zwei Lakaien mit brennenden Armleuchtern begleitet.

Wie er so dastand in der Oktobernacht, hoch, schlank und elastisch wie eine Stahlfeder, das Gesicht mit dem grauen Schnurrbart frisch gerötet, die dunkelblauen Augen vor innerer Glut funkelnd, da war's jedem der unten Harrenden, als träte er ihnen heute zum erstenmal vor Augen als der Herr und Gebieter, dessen Wort ein jeder sich zu fügen hatte, und wenn's geradeswegs in den Tod ginge! Ein Gefühl von Sicherheit und Zutrauen kam sofort über sie; die Haltung straffte sich, die Faust krampfte sich stählern um den Säbelgriff, die Schenkel griffen fester um den Sattel, so daß Reiter und Pferd miteinander verwachsen schienen. Und als Blücher vortrat, und mit seiner sonoren, weithinschallenden Baßstimme ihnen zurief: der König habe dem Regiment die Gnade erwiesen und von ihm eine Eskorte angenommen, und er, Blücher, erwarte von jedem einzelnen unter ihnen, daß er sich der hohen Ehre würdig zeige und sein Äußerstes hergebe, um die geheiligte Person des Monarchen glücklich durch alle Fährnisse hindurchzubringen, da bedurfte es nicht noch der Drohung, mit der er glaubte seinen Worten weiteren Nachdruck geben zu müssen, als er die Worte hinzusetzte: »Und das sage ich euch, Kinder, wer von euch nach einem etwaigen Unglück mir noch lebendig unter die Augen zu treten wagen sollte, den würde ich mit eigenen Händen in Stücke hauen!«

Eisenhart klang das, und eisenhart stand der Alte da, wie ein Engel des Gerichts, die Hand auf dem Säbel.

Nicht seinen lieben Roten galten diese drohenden Worte, das wußten sie alle! Sie wußten, daß er sie wohl kannte und keinen Zweifel an ihnen hatte. Er war ihr Vater und sie seine Kinder, Fleisch seines Fleisches, Blut seines Blutes! Wie er für sie und mit ihnen, so würden sie alle freudig auf seinen geringsten Wink in den Tod reiten – dazu bedurfte es weiter keiner Mahnung und beileibe keiner Drohung! Die Worte soeben, die hatten den anderen gegolten, die gestern so schlecht geritten waren und ihren Alten im Stich gelassen hatten, statt ihm zum Sieg zu folgen! Denen waren sie ein gerechter Vorwurf, und die trafen sie auch – an den Roten vorbei, die dabei stolz blickten und mit begeisterten Zurufen seine Ansprache beantworteten.

Dann rief Blücher den Rittmeister von Wolky und seinen Sohn zu sich, sagte ihnen, er hätte befohlen, daß das Husarenregiment von Schimmelpfennig und das Dragonerregiment von Kraft rechts und links von der Chaussee marschieren sollten, um die Reise des Königs zu sichern – befahl ihnen äußerste Wachsamkeit und ging dann hinein, um dem König zu melden, daß alles bereit sei.

Der König wartete schon. Er bat die Generäle, sich vorläufig auf keine Kampfhandlungen einzulassen, da er dem Kaiser Napoleon geschrieben hätte und Waffenstillstandsverhandlungen in Aussicht ständen. Dann verabschiedete er sich vom General von Kalckreuth, dem er den Oberbefehl über sämtliche in Sömmerda stehenden Truppen übertrug, verbat sich das Geleit des alten, todmüden Herrn, ließ sich von Blücher hinausbegleiten, stieg mit seinem Gefolge zu Pferde und trabte davon.

Blücher, von stolzer Genugtuung erfüllt, blieb stehen, solange er noch die wogenden Reihen seiner roten »Kinder« sehen konnte. Dann machte er kehrt und ging zum General Kalckreuth hinein, um die weiteren Maßnahmen zu besprechen.

Er fand den alten Herrn gänzlich gebrochen vor.

Im Lehnstuhl zusammengesunken, kaum noch atmend, saß er da und starrte wie entgeistert ins Leere hinaus.

An der Tür wartete ein eben angekommener Kurier.

Mit einer schwachen Handbewegung zeigte Kalckreuth auf den Boten und sagte tonlos: »Erfurt kapituliert! Möllendorf und Oranien mit zehntausend Mann unserer besten Truppen haben sich kampflos Murat ergeben! Die Zitadelle Petersberg auch!«

»Die Zitadelle auch?!«

Blücher schlug auf den Tisch, daß der alte Kalckreuth vor Schrecken fast vom Stuhle gefallen wäre. Er schrie, daß alles zusammenlief und bestürzt ins Zimmer drängte, denkend, die Generäle wären vom Feind überfallen worden – obwohl der Feind doch nicht, wie der leibhaftige Gottseibeiuns, durch den Schornstein zu kommen pflegte!

»Himmeldonnerwetter!« schrie Blücher, »schlag diese Schufte tausend Millionen Klafter in die Erde hinein, die König und Land verraten – diese Memmen, die nicht den Mut finden, lieber zu sterben, als ewige Schande auf sich zu laden – diese hundsmiserablen Mummelgreise, die zu weiter nichts taugen, als alt und überflüssig zu werden und im Wege zu stehen! Ich hab's kommen sehen! Ich hab's gewußt! Da soll aber nur noch einer versuchen das Maul aufzutun, um von Kapitulation zu reden! Wer's wagt, den erwürge ich mit diesen Händen. Und wenn mich darob der Teufel lebendigen Leibes dreimal holen würde – ich tu's!«

Der alte Kalckreuth erhob sich auf zitternden Beinen bei der fürchterlichen Drohung. Bleich, abgehetzt, todmüde von dem Nachtmarsch und der vorhergehenden Schlacht, stand er da, die lebendige Illustration zu dem Worte Kapitulation, und sah schon halb erwürgt aus. Er öffnete die Lippen – aber ehe er noch etwas entgegnen konnte, meldete sich ein eben eingetroffener Kurier Hohenlohes, rapportierte, der Fürst sei wohlbehalten in Vippach und erbäte sich vom König Befehle.

»In Vippach!« rief Blücher. »Geb Gott, er wäre ganz woanders, wo's recht heiß ist! Geb Gott, er wäre in der Hölle mitsamt seinem Massenbach, und käme nie wieder auf deutscher Erde zum Vorschein! Sonst erleben wir womöglich noch größere Schweinereien als die, die er uns in Jena bescherte! Was will der Fürst noch Befehle, wo er ihnen doch nicht gehorcht?!«

Kalckreuth stand mit offenem Munde und unausgesprochener Antwort und blickte ihn entsetzt an. Schließlich winkte er den Boten näher heran und gab ihm mit tonloser Stimme den Bescheid: er möge seinem Herrn bestellen, der König wäre in Sondershausen, und der Fürst würde gut tun, sich auch dorthin zu begeben und sich dort Befehle zu holen.

Dann schrumpfte er in dem Stuhl zu einem leblosen Haufen müder Menschlichkeit zusammen und schlief auf der Stelle ein.

Blücher aber ließ sich ein kräftiges Frühstück kommen und war bald wieder bereit, es mit jedem Schicksal aufzunehmen.

*

Die von Blücher befehligte Arrieregarde war auf dem Rückzug bis in die Gegend von Weißensee gekommen, als plötzlich Prinz August, der ein Bataillon im Regiment König befehligte, in voller Karriere an Blücher heransprengte und ihm schon aus der Ferne laut zurief:

»Die Hundsfötter! Die Hundsfötter! Kommen Sie rasch mit, General, wenn Sie das Unglück noch verhindern wollen, sonst haben wir im nächsten Augenblick die Kapitulation!«

»Da soll doch der Donner dreinschlagen!« rief Blücher, hochrot im Gesicht. »Sind die Leute denn alle alte Weiber geworden?«

Er gab seinem Pferd die Sporen und sprengte nach dem Standort des Kalckreuthschen Oberkommandos, wo der alte General eben im Begriff war, sich zur Unterredung mit dem Marschall Soult zu begeben.

»Wer redet hier von Kapitulation?« schrie Blücher ihn an. »Da kann doch keine Rede davon sein, daß wir kapitulieren müssen! Wir schlagen uns durch, wenn's sein muß – aber uns ergeben? Nee! Das geschieht nie und nimmer!«

Kalckreuth setzte ihm lang und breit die Verhältnisse auseinander, die ihn zwangen, besondere Rücksichten zu nehmen: die königlichen Prinzen, die in seiner Armee standen – die Garden, die er dem König unversehrt erhalten müsse, und schließlich, aber nicht zuletzt, des Königs Verbot, sich in einen Kampf einzulassen. –

»Was die Prinzen betrifft,« antwortete Blücher, »so sind sie selbst sicherlich die letzten zu verlangen, daß hier kapitulieret wird, damit ihre Haut heil bleibt. Sie werden sich für die Ehre bedanken. Und der Kopf eines Gardisten ist nicht einen roten Heller mehr wert als der eines gemeinen Soldaten. Der König hat Kampfhandlungen verboten, sehr wohl! Aber er hat uns nicht befohlen, seine Truppen dem Feind auszuliefern. Noch weniger hat er uns untersagt, uns zu wehren, wenn wir angegriffen werden, oder den Franzmann zu werfen, wenn er sich uns in den Weg legt. Pulver und Blei haben wir genug, scharfe Säbel auch; sowie Leute, die dem Franzmann damit dienen können. Wer wird so dämlich sein, dem Franzmann da etwas anderes als blanke Hiebe zu geben?!«

Kalckreuth wollte noch etwas entgegnen. Ehe er aber dazu kam, erhob zum maßlosen Staunen Blüchers der Oberst von Massenbach seine Stimme – Massenbach, der bei Jena von seinem Opfer, Hohenlohe, getrennt worden war und jetzt plötzlich im Hauptquartier Kalckreuths zum Vorschein kam.

Dieser Unglücksmensch tat also sein wortreiches Maul auf und übersprudelte gleich von Gründen und Gegengründen und großzügigen Projekten, die gänzlich in den Wolken hingen.

Die Nutzlosigkeit jedes weiteren Kampfes stände ohne weiteres fest, die brauche er nicht noch darzutun nach den Niederlagen, von denen die preußische Armee betroffen worden war.

»Wozu noch mehr vergebliche Blutopfer! Wenn man unter den obwaltenden Umständen kapituliert, dann nimmt man nicht dem König eine Armee, sondern erhält sie ihm!« sagte er dann und beantwortete die entrüsteten und erstaunten Ausrufe, die diese verblüffende Bemerkung begleiteten, mit einem selbstgefälligen und überlegenen Lächeln.

»Kapitulieren wir – ich wiederhole es –, dann erhalten wir dem König seine Armee! Denn der Kaiser Napoleon ist groß; er ist erhaben und edeldenkend; er ist nicht nur ein großer Feldherr und ein wahrhaft großer Mensch, sondern vor allem ein politisches Genie. Er will uns nicht vernichten, er will ein starkes, mit ihm verbündetes Preußen. Er wird, nach meiner festen Überzeugung, dem König seine Armee völlig intakt wiedergeben, wenn er nur weiß, daß sie nachher gemeinsam mit ihm gegen Rußland kämpft. Freilich wäre es dazu notwendig, daß wir uns jetzt erst politisch anders einrichten!«

»Herr, was redet Er da für einen Kohl?« fiel ihm Blücher in die Rede.

Aber Massenbach reckte seine kleine Gestalt auf, setzte die Stumpfnase hoch und versuchte auf den viel längeren Blücher verächtlich herabzusehen.

»Ich deklariere,« sagte er mit Nachdruck, »die Allianz mit Rußland ist unser sicheres Verderben. Wer dem Staat redlich dienen will, muß den König daran zu hindern suchen. Rettung für den Staat ist nur noch in einer Allianz mit den Franzosen zu finden!«

Damit kam er aber bei Blücher schlecht an.

»So'n Sauverfluchter – so'n Schwerenotverdammter! Das müssen wir uns sagen lassen! So'n Gewäsch wagt er uns zu bieten!? Wo wir allezeit bereit waren und bereit sind, den letzten Hauch herzugeben, um den Franzmann aus dem Lande herauszujagen, da wollen Sie ihm Tür und Tor öffnen und ihn gar noch in die Arme schließen! Das ist Verrat – das ist – –«

Er kam in solche Aufregung, daß er nicht weitersprechen konnte, und es wäre Massenbach sicherlich sehr übel ergangen, wäre nicht im selben Augenblick ein Parlamentär vom Marschall Soult angekommen, der den Oberbefehlshaber zu einer weiteren Besprechung einlud.

Das nahm sofort seine ganze Aufmerksamkeit gefangen, und Massenbach wurde vergessen.

Als man aber nachher zum Verhandlungsort ritt, da ritt Massenbach mit. Denn er mußte ja überall dabei sein und sein dickes Fell zu Markte tragen.

Soult und die begleitenden Offiziere waren nicht besonders liebenswürdig. Sie kehrten recht deutlich den Sieger heraus und führten die Unterhandlung in so hochfahrender Weise, als sei es eine Gnade von ihnen, überhaupt darauf zu verzichten, die Preußen kurz und klein zu schlagen und zu Brei zu treten.

Blücher sprach kein Französisch.

Er glaubte aber trotzdem aus der langen Unterhaltung Kalckreuths mit den Franzosen ein paarmal das Wort »Kapitulation« heraushören zu können. Und als das im Anschluß daran einsetzende Geflüster nicht aufhörte, riß ihm schließlich die Geduld.

Er ging zum Marschall Soult hin und rief ihm laut und ohne Umschweife zu: »Kapitulation hin, Kapitulation her! Als Soldat bin ich in Ehren grau geworden. Als ehrlicher Soldat lasse ich mich jederzeit zusammenhauen, wenn's nicht anders ist! Aber kapitulieren, nein! Die Feigheit dürfen Sie nimmermehr von mir verlangen!«

Dabei schlug er auf die Säbelscheide, daß es klirrte.

Bei den Franzosen ging dann ein Geschnatter los.

Wer jener Monsieur sei, der so aufgeregt tat! – Ob er oder le comte Kalckreuth das Kommando hätte? Man ließe sich einen derartigen Affront nicht bieten, man wäre schockiert, konsterniert und wer weiß was noch! – Man stampfte auf den Boden, ließ die Äuglein zornig blitzen und wetterte und zeterte, daß die Stimmen sich überschlugen.

Blücher fand das höchst ergötzlich und lachte ihnen aus vollem Halse ins Gesicht.

»Wenn die Herren einen Wettkampf im Krähen veranstalten wollen, ich habe nichts dagegen!« sagte er. »Aber dazu bedarf es meiner Gegenwart nicht!« Worauf er ihnen den Rücken kehrte, in den Sattel sprang und davongaloppierte. Die Franzosen taten das gleiche. Und die Herren Kalckreuth und Massenbach kehrten betrübt zu den Truppen zurück.

In bester Ordnung wurde denn, trotz dem Feuer der Franzosen, weiter marschiert bis nach Sondershausen.

Dort legte Kalckreuth sein Kommando nieder, nahm Urlaub und reiste von der Armee fort, was Blücher aufs höchste erfreut hätte – wenn der König nicht dem Fürsten Hohenlohe das Oberkommando über die ganze Armee gegeben hätte.

»Nun geht die Unordnung erst recht los!« fluchte er. »Für einen lahmen Gaul tauschen wir einen blinden ein. Himmelsakrament, wo findet sich ein Kerl, der alles in Ordnung bringt und mir hilft, diese Bangbüxen und Stümper zu Paaren zu treiben?! Wo find' ich den?«

Da öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand ein unscheinbarer Mann in etwas gebückter Haltung, die Augen müde und trübe blickend, als wären sie von Arbeit überanstrengt; das Gesicht von tiefen Furchen durchwühlt. Mit nachlässigen Bewegungen kam er herein, grüßte, strich sich die wirren Haare aus der Stirn und blieb vor Blücher stehen.

»Scharnhorst!« schrie dieser. »Sie kommen wie gerufen! Sie fehlten mir gerade! Ich bin nichts als Gift und Galle, nach all der Feigheit und Miesepeterei hier. Erzählen Sie mir wenigstens eine gute Neuigkeit!«

Scharnhorst schüttelte müde den Kopf.

»General,« sagte er, »das geht nimmermehr, wenn Fürst Hohenlohe jetzt den Oberbefehl haben soll und Massenbach alles wieder verfahren darf!«

»Ob das geht!« rief Blücher, gallig auflachend. »Geradeswegs zum Teufel geht's, darauf können Sie Gift nehmen.«

»Dann tun wir beide wenigstens, was wir können, um den Schaden zu vermindern! Retten wir die schwere Artillerie! Die läßt sich nun und nimmer über den Harz bringen, wo der Fürst sich jetzt mit der Armee durchschleichen will. Sie bleibt auf den schweren Wegen stecken. Wenn Sie, General, den Befehl über die Kolonne nehmen und mich alles anordnen lassen, dann bringen wir die Artillerie viel sicherer und ebenso schnell auf dem Umweg um den Harz herum ans Ziel. Wir ziehen über Osterode, Braunschweig und bei Sandau über die Elbe. Ich lasse überall im voraus Gespanne requirieren und bei den Haltepunkten bereitstellen, damit die Artilleriepferde, die total abgetrieben sind, geschont werden können. Ich sorge auch dafür, daß wir sofort bei Sandau Fährgelegenheit haben. Das ist alles zu machen, wenn nur ein Mann wie Sie das Kommando nimmt, damit gut aufgepaßt, schnell und energisch im Falle der Gefahr durchgegriffen und ohne Zaudern vorwärtsgegangen wird! Wollen Sie?«

»Sofort!« sagte Blücher. »Das schaffen wir zusammen! Wir wollen den anderen zeigen, Oberst, was zwei aufrechte Kerle vermögen, wo andere die Köpfe hängen lassen. Wie viele Rohre sind das?«

»Einunddreißig. Und ein Bataillon Infanterie als Bedeckung.«

»Das genügt! Wir nehmen noch an die sechshundert Pferde von meinem Regiment! Kommen Sie, gehen wir gleich zum Fürsten und bringen es ins reine, und dann los!«

Sie schüttelten sich die Hände. Beide hatten gefunden, was sie suchten. Der Generalquartiermeister das starke aktive Temperament Blüchers, das keine Hindernisse kannte und Autorität genug hatte, alles mit sich fortzureißen – Blücher den klugen, sicher und kühl berechnenden Kopf Scharnhorsts, den trefflichen Organisator, den unermüdlichen Arbeiter, den vorausschauenden Blick, der schnell die Grenzen des Möglichen erfaßte und nicht die geringste Kleinigkeit dem Zufall überließ, der die Notwendigkeit des wagehalsigen Temperaments eines Spielers für die Durchführung einer Sache vollauf einsah, ihm aber auch im Bedarfsfalle einen Dämpfer aufzusetzen verstand.

Sie taten sich zusammen, um ein paar Kanonen zu retten, und daraus wurde ein Bund zur Rettung des ganzen Vaterlandes. Ein Bund ohne feierlichen Schwur, ohne Verbrieftes und Gesiegeltes – »vom Zufall herbeigeführt«, würde der Skeptiker sagen – »mit Notwendigkeit – aus Schicksal«, wie der Fatalist es deuten würde. Kurz und gut, es wurde. Und der Bund hielt.

Sie schritten also zur Ausführung ihrer ersten gemeinsamen Tat und zogen mit dem Artilleriepark ab.

Inzwischen führte Hohenlohe die Armee auf den vielfach verschlungenen Wegen durch den Harz und machte in Quedlinburg halt.

Dort wurde zur Abwechslung wieder einmal Kriegsrat gehalten.

Hohenlohe, der seine Niederlage bei Jena so schnell mit dem Oberbefehl über die ganze Armee belohnt sah, hatte nämlich nichts Eiligeres zu tun gehabt, als seinen lieben Massenbach wieder hoch in Ehren einzusetzen, und da war guter Rat teuer.

Bei der Beratung erhoben sich Stimmen dagegen, daß von allen Seiten die Truppen nach Magdeburg hinstrebten und so die Festung verstopften.

Der Hauptmann von dem Knesebeck schlug entschlossen vor, davon gänzlich abzusehen. Es wäre, so meinte er, zweckmäßiger, nur die Versprengten nach Magdeburg laufen zu lassen, um sie dort neuzuordnen. Die armierten und formierten Truppen dagegen könnte man weit vorteilhafter nach Hameln werfen, sich dort mit dem noch intakten Korps des Herzogs von Weimar vereinigen lassen. Dann mit diesem, mit den westfälischen Truppen Lecoqs, und mit Blüchers Artillerie zusammen, Hessen und Westfalen insurgieren, den Feind von Berlin und von der weiteren Verfolgung der aufgelösten Truppen abhalten, und dem König Zeit geben, eine neue Armee zu bilden und, vereinigt mit den Russen, heranzuführen.

Der Plan, der das Gute an sich hatte, wieder die Aktivität der Truppen zu beleben und ihre Unternehmungslust neu zu entfachen, fand allseitigen Beifall.

Er hatte aber den einen und unverzeihlichen Fehler, nicht von Massenbach zu stammen. Und damit war er erledigt.

Oberst Massenbachs Geist durfte sich nie und nimmer in den Bahnen eines anderen bewegen. Und ihn gar der Unbequemlichkeit unterwerfen, sich mit der Prüfung von Gedanken anderer Leute abzugeben, das ging ihm wieder die Natur!

Er entschied also kurz: Die Idee des Hauptmanns von dem Knesebeck wäre gut, sie wäre sogar ausgezeichnet, aber sie ließe sich leider nicht verwirklichen. Unter den obwaltenden Umständen müsse an dem Plan, hinter die Oder zu gehen, festgehalten und die Richtung auf Magdeburg eingehalten werden. Das wäre seine unverfängliche Meinung.

Gründe gab er nicht an. Soweit durfte er seine Autorität nicht aufs Spiel setzen. Er hatte es auch nicht nötig. Denn der Fürst, müde, gelassen und kurzsichtig wie immer, sagte zu seinen Ausführungen ja und amen, ohne nach Gründen zu fragen. Und so bewegte sich alles im alten Trott.

In und um Magdeburg sammelte sich denn so allmählich der Rest der stolzen preußischen Armee – alles in allem fünfundvierzigtausend Mann –, um von den kunsterfahrenen Händen Massenbachs in neue Unordnung geordnet zu werden.

In der Stadt hielt der jetzt allmächtige Herr Hof, ließ Offiziere und Adjutanten, die nunmehr von ihm allein ihre Befehle erhielten, antichambrieren und war nicht zu sprechen, kränkelte an allen Ecken und Enden, hatte seelische Depressionszustände, bedurfte sehr der Schonung, schrie und tobte über den Fürsten und alle Welt, die ihn mit allerlei Drecksachen plagten, ihn, dessen Kopf von gigantischen, weltbeglückenden Problemen brannte! Man solle ihn in des Teufels Namen in Ruhe lassen! Er bedürfe keines Rates; er wüßte schon am besten, was zu tun wäre! Und übrigens wäre er müde und müsse erst ausschlafen, um überhaupt denken zu können!

So ungefähr lauteten die »Befehle«, die der Herr Generalquartiermeister zu erteilen geruhte. Und so geschah es, daß das ganze Festungsglacis von Packwagen und allerlei Troß derartig vollgefahren wurde, daß die Artillerie der Bastionen im Ernstfalle nie und nimmer hätte feuern können, ohne erst die eigene Bagage zusammenzuschießen – die Straßen waren von festgefahrenen Fahrzeugen verstopft, die Soldaten langten an, kamen und gingen planlos, statt sofort gefaßt und auf ihre Truppenteile gebracht zu werden. Und, als man schließlich mit der Hälfte der Armee aufbrach, wurden die verkehrtesten Maßnahmen für den Weitermarsch getroffen.

In großem Bogen strebte man auf Umwegen dem Ziele, Stettin, zu, ließ dem Feind den kürzeren und bequemeren, geraden Weg nach Berlin offen, überließ ihm also kampflos die dortigen reichen Vorräte, bis auf die Kassen, die der Minister von Stein heimtückischerweise vor der allerseits einreißenden Schlamperei zu retten wußte.

Dafür sorgte Massenbach in noch nicht dagewesener Weise für das leibliche Wohl der marschierenden Truppen, so daß sie niemals zur Ruhe kamen und stets hungrig blieben.

Der Weg nach dem jeweiligen Marschziel wurde mit größter Sorgfalt so gewählt, daß man sich selbst auf dem Bogen und der Feind sich auf der Sehne bewegen konnte, damit man ja nicht vor den charmanten Franzosen ans Ziel käme. Die Marschordnung wurde so eingerichtet, daß nicht zuviel Kavallerie die dem Feinde zugekehrte Flanke der marschierenden Kolonne schützte, dagegen die linke ungefährdete Flanke von der Masse der Kavallerie bedeckt war – wohl zu merken, in Tagesmarschabstand, damit ihr Chef, der alte Blücher, nicht zu unbequem oder vorlaut werden konnte.

Für Nachtquartier, für Brot und Branntwein und anderes Essen wurde getreulich gesorgt. Aber auch dafür, daß man todsicher anderswohin marschierte, wo nichts bereitstand und auch nichts aufgetrieben werden konnte. Der Umwege gab es noch lange nicht genug! Es mußten immer neue, immer andere gefunden werden! Den Anlaß zum Suchen gab das ewige Schießen der eigenen Marodeure, überall, wohin man kam. Da witterte Massenbach Franzosen die Masse! – Im Geiste sah er seine Lieben von ihnen abgeschnitten oder umzingelt, erlaubte sich auch keinesfalls auf den ketzerischen Gedanken zu kommen, zu kämpfen oder sich durchzuschlagen, und teilte seine Mutlosigkeit und seine Überzeugung von der Nutzlosigkeit eines jeden ferneren Widerstandes den Truppen mit.

So brachte er die Armee, bis auf die Hälfte zusammengeschmolzen, ausgehungert und durch unnütze Nachtmärsche bis auf den Tod ermüdet, aber kampflos, bis in die Gegend von Prenzlau, wo sie fast gleichzeitig mit den Spitzen von Murats Kavallerie, am 21. Oktober, ankam, nachdem bei Wichmannsdorf, an dem Boitzenburger See, der Rest des berühmten Regiments Gens'darmes abgeschnitten, gefangen und zur Verherrlichung des Einzugs Napoleons nach Berlin abgeschoben worden war.

Die von Blücher und Scharnhorst vollständig gerettete und der Armee wieder zugeführte Artillerie ging selbstverständlich fast gleichzeitig ebenso vollzählig wieder verloren, sobald sie in andere, weniger geschickte Hände gekommen war.

*

Tram – tararam, tram, tram.

Tram – tararam, tram, tram –

Die Trommler schlugen drein, die Trompeten schallten, im Lustgarten schoß man kaiserlichen Salut, die Glocken bimmelten aus sämtlichen Kirchen, französische Fahnen flatterten überall leicht, graziös und kokett bestrickend von allen Schlössern und Staatsgebäuden und besonders reich vom Brandenburger Tor, durch das der Einzug genommen werden sollte. Der sterbende Oktober gab noch seinen schönsten Altweibersommertag her, um dem Fest die richtige Weihe zu geben. Französische Grenadiere säumten die Straßen ein. Bis weit hinaus auf die Charlottenburger Chaussee sah man die schnauzbärtigen Kerle mit ihren doppelten Bandelieren, in schnurgeraden Linien über der Brust gekreuzt, Gewehr präsentieren und sich martialisch brüsten.

Und dahinter drängte sich alles, was in einer Stadt wie Berlin kreucht und fleucht, reckte sich die Hälse lang, stieß sich die Rippen ein, zertrat sich die Füße, fluchte, lachte, johlte und schrie vor Aufregung, jenes apokalyptische Ungeheuer, das die ganze alte Welt in Trümmer geworfen hatte, endlich einmal mit Augen zu sehen.

Tram – tararam, tram, tram!

Tram – tararam, tram, tram! –

Die Tambours schlugen ihre Wirbel mit Macht, die Bläser bliesen aus vollen Backen, immer näher kam's, immer lauter schmetterten Posaunen und Trompeten, die Pikkoloflöten wieherten, der Wind wehte die Klänge immer näher, man vernahm schon die Melodie.

» Allons enfants de la patri – i – e«, sang gleich ein blasser Ästhetenjüngling mit interessanten dunklen Stirnlocken laut irgendwo hinter dem Rücken der anderen mit – mit einer Vehemenz, daß sich seine dünne Fistelstimme noch vor Rührung überschlug. »Das Lied – das Lied ist's, das die Welt erobert! Überall entflammt es die Herzen, überall entfacht es die Begeisterung! Und wenn sie's hören, empfangen die geknechteten Völker dankbar ihre Freiheit aus der Hand des Befreiers!«

»Halt's Maul, Aff' verfluchter!« rief ihm ein dicker Fleischerbursche zu, und versetzte ihm einen Bauchstoß, daß ihm das Singen verging.

»Au, meine Hiehneroogen!« kreischte schrill eine Stimme.

Eine andere gab zur Antwort: »Wennde schon Oogen in de Stiebeln hast, denn guck dir doch unten besser vor, Rindvieh!«

»Bei ihm guckt bloß de jroße Zeeh raus, und die hat keene Oogen nich! Die is blind!« lachte ein dritter.

»Wat der uns woll noch an Steuern abknöppen wird!« knurrte ein dicker Budiker, stieß seinen Nachbar in die Seite und zeigte auf »seinen« Gerichtsvollzieher, der sich eben an ihm vorbeidrängelte.

»Nu wat denn?« antwortete der Angeredete. »Der wird dir schon janz eklig kommen und nich zu knapp! Denn wat dem sein neuer Herr und Jebieter is – det Napolibum – det soll jerissener sind wie ville Jerichtsvollzieher! Det jehört woll ooch zum Jeschlecht derer von Nimm!«

Immer lauter wurde das Geschrei der Leute. Die Einzelgespräche versanken in dem allgemeinen Trubel, die Marseillaise, von dröhnenden Trommelwirbeln rhythmisch gehoben und vorwärts getragen, schwoll immer machtvoller an und erfüllte mit ihren Klängen die Luft, die Posaunen spien ganze Massen von Fanfaren aus, als gälte es die Mauern Jerichos umzublasen. – Immer näher und näher schob sich das Ereignis; ein Wald von silber- und goldgestickten Fahnen schaukelte langsam und feierlich vorwärts auf das Tor zu, durch dessen mittleren Bogen hindurch und auf die »Linden« hinein.

Wo aber der Zug der Fahnen vorbeikam, verstummte der Lärm, die Köpfe senkten sich, die Gesichter wurden ernst, zornige Worte preßten sich über zusammengekniffene Lippen, die Fäuste ballten sich, die Augen wurden feucht.

Es waren – preußische Fahnen, vor allem die Feldzeichen der preußischen Garderegimenter, von Siegen schwer, von Ehren bekränzt, die in den Schlachten des Großen Friedrich einst ihre Bluttaufe erhalten hatten und jetzt, von achtzig französischen Grenadieren getragen, auf der altgewohnten Straße ihrer einstigen Triumphe dem Besieger Preußens in seiner Hauptstadt voranflattern mußten.

»Hol' der Teufel die Schufte, die sie so schlecht verteidigt haben!« fluchte ein alter Veteran zwischen den Zähnen.

»Nie wieder!« schrie ein anderer und vergaß sich so weit, daß er die Faust drohend gegen die französischen Soldaten schüttelte. »Nie wieder wird euch das hier im Lande vergessen werden, solange die Welt noch steht!«

» Silence messieurs! Silence donc ici!« wetterte es prompt aus der Reihe der spalierbildenden Soldaten, und ein paar derbe Kolbenstöße unterstützten die Mahnung. Indessen verstummte die Marseillaise plötzlich, und der Zug hielt an.

Der Kaiser Napoleon, hoch zu Pferd und umgeben von den Marschällen Berthier, Davoust, Augereau, Bessières und Lefebvre, hielt jetzt am Tor an, um die programmgemäße offizielle Begrüßung entgegenzunehmen.

Eine Gruppe der angesehensten Bürger Berlins, an ihrer Spitze der Zivilgouverneur Fürst von Hatzfeld selbst, trat vor, um dem Kaiser die Schlüssel der Stadt feierlichst zu überreichen.

Der Fürst hielt seine Ansprache; der Sieger von Marengo, Austerlitz und Jena dankte mit seiner melodischen Stimme in leicht singendem Tonfall, die Worte mit absichtlicher Feierlichkeit dehnend und fast skandierend. Er ließ dann die Schlüssel der Stadt vom neuernannten Gouverneur in Empfang nehmen, blickte auf das Tor hinauf zur bronzenen Viktoria, die ihm mit ihrem Viergespann leichtgeschürzt entgegengesaust kam, lächelte bedeutsam und sagte dann, ohne seine Worte an irgendeinen zu richten:

»Die Dame fährt in verkehrter Richtung. Der Sieg kommt heute aus Westen, Messieurs, die Siegesgöttin also auch! Wir wollen ihr auf den rechten Weg helfen!«

Ein Zeichen seiner Hand – die Musik fiel ein, die Trommeln schlugen, die Bläser prusteten, und durchs Siegestor der Hohenzollern zog die glänzende kaiserliche Kavalkade ein, strotzend von Orden und goldenem Schmuck, mit wehenden Federbüschen, prachtvollen Gewändern, von fürstlich aufgeschirrten Pferden getragen. Allen voran Napoleon selbst im grauen Mantel, den schwarzen dreieckigen Hut auf dem Haupte.

» Vive l'empereur!« riefen vorschriftsmäßig die Garden. Vereinzelte Hurrarufe aus der Menge wurden laut.

»'t is ja een janz kleener Mann!« quiekte plötzlich eine Stimme.

»'n janz kleener!« brummte eine Baßstimme Antwort. »Det meen ick ooch! Und det will nu janz wat Jroßet sind?! So'n Quatsch!«

»Fif Langperöhr!« johlten ein paar strebsame Gassenjungen.

Und dann brach ein Sturm los, wie er selten auf der Feststraße Berlins getobt hatte. Der Clou des Festzuges kam, die Überraschung, die Napoleon den Berlinern als Angebinde bot, indem er gleichzeitig seine eigene verletzte Eitelkeit in der raffiniertesten Weise rächte.

Hinter dem Festzug her wurde der Stolz der Berliner, ihr feinstes Regiment, das Regiment Gens'darmes, wie eine Viehherde über die Linden getrieben, durcheinandergeworfen, mit abgerissenen Uniformen, ohne Waffen, ausgehungert und zu Tode gehetzt, um nicht beim Triumphe seines Besiegers zu fehlen.

Eben die Offiziere, die einst so mutvoll an den Stufen der französischen Gesandtschaft ihre Säbel gewetzt hatten, eben die mußten jetzt, dieser Säbel beraubt, an dem Ort ihrer Tat gefangen vorüberziehen, um so ihren einstigen Übermut zu sühnen.

Und derselbe Pöbel, der ihnen damals zujauchzte und noch lauter als sie Frankreich verwünschte – derselbe Pöbel pfiff sie jetzt aus, beschimpfte sie, verlachte sie, bewarf sie mit Kot aus dem Rinnstein und mit unflätigen Zurufen, und gab ihnen die Schuld an dem Krieg und an der Niederlage und an der ganzen Schmach, die über das Vaterland hereingebrochen war. Er hätte sie in Stücke gerissen, hätten nicht die französischen Grenadiere in der Aufrechterhaltung der Ordnung eine geübte Hand gehabt.

Man erhob sich zum Richter, vergaß darüber, wie sooft, die eigene Schuld, und machte sich dadurch erst recht mitschuldig! –

Der Sieger aber, der die Geschmacklosigkeit gehabt hatte, die in ehrlichem Kampfe überwundenen Feinde wie eine Herde gefangener Barbaren im Triumphzuge der Cäsaren mitzuschleppen, er zog weiter nach dem Schloß, empfing dort die sogenannte »Intelligenz«, charmierte, poussierte, kokettierte mit dem Allerweltsbürgertum, das auch hier in Berlin seine üppigsten Blüten trieb, alles bewitzelte, alles verspottete, und vor allem jedes patriotische Gebaren ins Lächerliche zog.

Er teilte Auszeichnungen aus, er ordnete die Verwaltung der Stadt, ernannte Gouverneure, Kommandanten, Richter und Polizeichef, empfing Deputationen und hervorragende Persönlichkeiten der Literatur, der Kunst und der Geldaristokratie, lauter französelnde Weltbürger und hypergebildete Kulturfexe, amüsierte sich über ihre plumpen Schmeicheleien, ließ sich ruhig anhimmeln und quittierte für die Kriecherei, indem er dem besiegten Vaterland jener Vaterlandslosen eine sofort zu entrichtende Kriegskontribution von hundertneunundfünfzig Millionen Mark auferlegte und rücksichtslos einzutreiben befahl. Er verstand den Spaß und wußte eben, was Siegen heißt!

*

»Sagen Sie mal, Herr Kamerad,« sagte der Major von der Marwitz, der Adjutant Hohenlohes, zum Kapitän von Tippelskirch vom Generalstab, gerade als dieser den Fuß in den Steigbügel setzen wollte, »sagen Sie mal, ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß die kleinsten Ursachen oft die größten Wirkungen haben, und daß, insbesondere in der Weltgeschichte, Begebenheiten von den weittragendsten Folgen, von denen das Schicksal von Nationen abhängt, meistens durch ganz nebensächliche und sonst gleichgültige Umstände herbeigeführt werden?«

»Ich gebe zu, ich habe schon manchmal darüber nachgedacht!«

»Dann werden Sie sich nicht wundern, daß ich jetzt behaupte: wenn wir hier kapitulieren müssen, und ich sehe es schon kommen – –«

» Ich kapituliere nicht – ich reite dann eher davon!« rief der Kapitän lebhaft.

»Recht tun Sie, Herr Kamerad! Und wäre ich nicht als Adjutant an die Person des Fürsten gebunden, so würde ich es auch so halten. Ich wollte auch nur dartun, daß wir, wenn wir hier kapitulieren müssen, in diese Zwangslage durch den Umstand versetzt worden sind, daß Herr Oberst von Massenbach eine so überaus empfindliche Milz hat.«

Der Kapitän von Tippelskirch lachte.

»Es ist mein Ernst, Kamerad«, sagte der Major. »Mit der Milz ist nicht zu spaßen – mit Massenbachs am allerwenigsten! Wozu das Ding eigentlich da ist, darüber stritten sich von jeher die Gelehrten und streiten sich immer noch. Bei Massenbach ist sie aber ganz bestimmt dazu da, um den guten Oberst zu quälen!«

»Da geschieht ihm nur sein Recht!«

»Sie können überzeugt sein, Herr Kamerad, daß ich ihm noch größere Qualen gönnen würde, wenn wir nur nicht so sehr davon in Mitleidenschaft gezogen würden.«

»Wieso denn?«

»Nun eben weil jenes merkwürdige Klümpchen Fleisch, das man Milz nennt, dem Herrn Massenbach total das Reiten verleidet.«

»Ach so!«

»Kaum sitzt er im Sattel und schlägt ein rascheres Tempo ein, sofort versetzt ihm seine Milz einen Stich, daß er den Atem verliert und nicht weiter kann. Da hilft ihm nichts als der gewöhnliche langsame Trott, oder, am liebsten, daß er im Wagen weiterfahren kann. Galopp oder Trab ist ihm unmöglich auszuhalten. Und dabei soll der Mann rekognoszieren.«

»Wie das ausfällt, läßt sich denken!«

»Ja, aber nur denken! Denn er nimmt die letzte Zeit auf seine Patrouillenritte niemand mit! Er rekognosziert immer allein. Und wissen Sie warum?«

»Nun?«

»Um ohne Zeugen zu sein! Ich habe die Überzeugung gewonnen – und ich möchte beinahe darauf schwören, daß es sich so verhält –, ich habe also die Überzeugung: er unterschlägt wegen der Schmerzen in der Milz den ganzen Ritt, setzt sich irgendwo im Gebüsch hin und kommt dann nach einer Weile wieder mit den wahnsinnigsten Rapporten! Nur so habe ich mir all die merkwürdigen Beobachtungen erklären können, die er gemacht haben will. Er hat sie eben nicht gemacht. Er hat sich gesagt: ›Es könnte so sein, es könnte aber auch so sein! Nehmen wir also das › auch so‹ für sicher! Warum sollte ich mit meinem Scharfblick nicht eine Entfernung ohne Vermessen einschätzen können? Brauche ich eine Brücke, ein Defilee, einen Paß zu sehen, um zu wissen, daß sie da sind? Und was den Feind betrifft, daß der hinter uns her und vor uns und überall ist – wer würde wagen, das von den Franzosen zu bezweifeln? Um das festzustellen, dazu brauche ich keinen Ritt zu machen! Das weiß man auch so! Wer kontrolliert's mir übrigens? Keiner! Und wenn schon – der Fürst glaubt mir aufs Wort! Die anderen Kerls können mir was! Wozu sich schinden?‹ So wird er räsoniert haben!«

»Das hat allerdings etwas für sich«, sagte der Kapitän von Tippelskirch und schlug sich mit der Reitgerte auf den Stiefel. »Mir war es auch merkwürdig, wie er so gar nicht mehr die Entfernungen einschätzen konnte! Denn der Kerl ist nicht dumm! Und kann er auf einmal nicht mehr rechts von links unterscheiden, so liegt's nicht am Sehvermögen, auch wird er nicht so ganz auf den Kopf gefallen sein. Schließlich muß er doch auch als Generalquartiermeister die Karten kennen. Ich kann mir nicht helfen, aber ich sehe da so etwas wie bösen Willen walten! Der Kerl hat etwas vor!«

»Wissen Sie, Herr Kamerad,« sagte von der Marwitz zögernd, »ich mag ihn auch ganz und gar nicht. Aber Gerechtigkeit muß sein. An bewußten Verrat glaube ich nicht. Dazu wäre er meines Erachtens auch dann nicht imstande, wenn er die Neigung hätte, denn er ist zu feige. Er ist ein unbedeutender Kopf, der zu Einfluß gelangt und übergeschnappt ist, so daß er sich nur noch mit großen weltbewegenden Plänen abgibt, die er weder fassen noch bewältigen kann. Da passiert es ihm eben, so in Gedanken zu sein, daß er rechts und links verwechselt, falsche Rapporte bringt und verkehrt disponiert. Wir haben's dann auszufressen, sitzen in der Klemme und müssen verhandeln.«

»Das müssen wir eben nicht! Und wenn ich sehe, daß das losgeht, dann reite ich davon. Wenn Sie mitkommen, soll es mir lieb sein.«

»Ich überlege es mir noch!«

Der Kapitän sprang in den Sattel und legte die Zügel in der Hand zurecht.

»Er ist aber doch ein ausgemachter Franzosenfreund«, sagte er ärgerlich. »Sie haben doch selbst gehört, wie er gegen das Bündnis mit Rußland wetterte. Sie waren doch dabei, als er erklärte: In dem Augenblick, wo wir uns mit Rußland alliieren, verläßt er die preußischen Dienste und geht ins Französische!«

»Ich weiß. Ich habe ja selbst im ersten Ärger dem Fürsten gesagt, er müsse wegen dieser Äußerung erschossen werden. Aber der Fürst hat mich ausgelacht. Massenbach wäre nicht ernst zu nehmen, sagte er. Und dabei nimmt er ihn selbst verteufelt ernst und läßt sich von ihm total beherrschen.«

Der Kapitän beugte sich vom Pferde herunter.

»Wissen Sie was, Kamerad, der eine von den beiden ist ein Schuft, der andere ein Schwachkopf! Das meine Meinung! Wenn es ihre Privatangelegenheit wäre, würde ich keinen Ton sagen. Aber wenn Tausende von Leben von ihren Schrullen abhängen, wenn das ganze Land darunter zu leiden haben wird, daß solche Leute zu befehlen haben – – Na –, wie gesagt, ich reite meines Weges! Wenn's soweit ist, pfeife ich Ihnen!«

Er grüßte, gab seinem Pferd die Sporen und ritt davon. Major von der Marwitz stieg auch in den Sattel und schloß sich dem Fürsten Hohenlohe und Massenbach an, die sich jetzt zu einer Unterredung mit den Franzosen begaben.

Auf einer niedrigen Wiese kamen sie ihnen entgegengaloppiert, versteht sich, auf guten, erbeuteten preußischen Kavalleriepferden, um recht niederschmetternd zu wirken. Murat selbst ritt das bei Saalfeld erbeutete Pferd Louis Ferdinands; sein Gefolge hatte sich beim Regiment Gens'darmes beritten gemacht.

»Dieser freche Gaskogner – dieser Naseweis von einem Bäckerjungen!« sagte von der Marwitz laut, als er den blaurotgolden herausgeputzten napoleonischen Reitergeneral sah, wie er sich unter der reichen Verschnürung brüstete und blähte, die gelockten Haare schüttelte und gleich anfing in einer Weise zu schwadronieren, gegen die Massenbachs Zungengeläufigkeit das reine Kinderspiel war.

Der war auch stumm wie ein Fisch und tat das Maul nicht einmal auf. Er starrte nur, wie der Fürst, entsetzt auf Murat, als dieser anfing, nach rechts und links, nach Nord und Süd in die leere Landschaft hineinzuzeigen, und plötzlich vor seiner erstaunten Phantasie die ganze französische Armee aus dem Ärmel schüttelte.

» Voilà le corps du maréchal Lannes! Voilà le corps du maréchal Bernadotte! Voilà le corps du maréchal Soult!«

Soult, der hinter der Elbe stand! –

» Je vous donne ma parole d'honneur, que vous êtes cernés par cent mille hommes! Je me trouve ici avec cent mille hommes, messieurs!«

Und dabei hatte der Gauner nicht mehr als tausend Mann und sechs Kanonen! Es wäre ein leichtes gewesen, sie zum Teufel zu jagen, wenn man auch nur den Gedanken eines Widerstandes zu hegen gewagt, und wenn nicht Massenbach so liederlich rekognosziert hätte.

Wen der Himmel aber verderben will, den schlägt er mit Blindheit. Und so sah der Fürst Hohenlohe im Geiste nichts als diese fürchterlichen Truppenmassen von allen Seiten dräuen, sah desgleichen das Herz seines geliebten Massenbach immer tiefer in die Hosen sinken und hörte kaum noch hin, als von der Marwitz ihn bat, doch von dieser tiefgelegenen Wiese auf die Chaussee heraufreiten und selbst Umschau halten zu wollen, oder noch besser, ihn mit einer Patrouille auszusenden, ehe er seinen Entschluß fasse.

Massenbach hatte rapportiert! Massenbach hatte all das auch gesehen! – Das genügte!

Das war der Kehrreim vom Lied – das Gesetz, gegen das es keinen Einspruch gab!

Und vollends, damit nichts am Grotesken fehlte: als in der Ferne, auf dem Wege von Stettin, einer von den eigenen Pulverwagen aufflog und eine kugelförmige Wolke hochging, die in der Luft eine Weile hängenblieb, als dann alles verblüfft hinschaute, und man sich gegenseitig fragte, was das wohl sein könne, da fiel man zum Überfluß noch auf den Bluff eines der lächelnden Herren Franzosen herein, der mit frecher Stirn ganz ruhig erklärte: »Das ist das Signal von Marschall Soult, daß er Sie von Stettin abgeschnitten hat! Sie sind umzingelt, Messieurs!«

Der Chef der Artillerie, Oberst Hüser, kam dann noch mit der wenig erfreulichen Nachricht hinzu: es fehle den Soldaten an Taschenmunition, und er selbst hätte nur noch fünf Schuß pro Kanone übrig. Und da war es aus.

Da willigte Fürst Hohenlohe ein und kapitulierte mit zehntausend Mann und dreißig Kanonen vor Murats tausend Leuten und vor seinen sechs fürchterlichen Rohren! Alles, weil der Herr Generalquartiermeister Oberst von Massenbach eine Milz hatte und diese ihn am getreulichen Rekognoszieren behinderte! Und auch, weil der Artilleriechef nichts davon wußte oder wissen wollte, daß einzelne seiner Batterien noch über mehr als tausend Schuß verfügten!

Inzwischen balgten sich Blücher und seine Leute sechs Meilen davon nach Herzenslust mit Bernadotte herum. Bei Lychen wurden sie handgemein. Blüchers »Rote« hieben brav drein, die anderen Truppen taten auch ihr Bestes, schlugen den Franzmann gehörig aufs Haupt, bekamen wieder Mut und Selbstbewußtsein und sangen wieder zum ersten Male, seitdem der Rückzug angefangen hatte.

Da brachte man ein paar Deserteure von der Hohenloheschen Armee ein, die der Kapitulation entflohen waren, weil sie keine Lust hatten, unnütz eine Reise nach Frankreich zu machen. Und von ihnen erhielt man Kunde von dem Ereignisse. Das wirkte wie ein Donnerschlag. Laute Rufe des höchsten Zorns wurden bei den Offizieren hörbar, und Blücher fluchte und tobte, wie nur er es konnte!

In der Siegesstimmung, in der er war, wollte er gleich dreinhauen, zum Angriff vorgehen, sich nach Stettin durchschlagen und, wenn's sein mußte, bis zum letzten Mann kämpfen, um wenigstens so die von Hohenlohe und Massenbach geschändete preußische Waffenehre wiederherzustellen!

Er ließ Scharnhorst rufen und beratschlagte die Lage mit ihm. Scharnhorst, auch jetzt ruhig und besonnen wie immer, verstand es gut, die Draufgängernatur Blüchers zu bändigen, und fand auch gleich heraus, was zu tun wäre, um dem Ganzen am besten zu nützen. Und da sein Plan immerhin einiges von einem Husarenstücklein an sich hatte, so war Blücher nicht schwer zu überzeugen und willigte sofort ein.

Was Knesebeck beim Kriegsrat in Quedlinburg mit der ganzen Armee tun wollte und nicht durfte, das unternahm jetzt Scharnhorst mit dem Blücherschen Korps.

Statt also nach der Oder durchzubrechen, wollte er lieber umkehren, auf die Elbe zurückgehen, Magdeburg gewinnen oder Hamburg, wenn's nicht anders ging. – Die Hauptsache dabei war, die Franzosen von der Oder abzuziehen, damit der König Zeit bekäme, sein Heer zu sammeln und die Festungen zu verproviantieren.

Während der Beratung hatte sich aber die Kunde von der Kapitulation unter den Regimentern verbreitet. Und da es überall einige unsichere Kantonisten gibt, so gab's auch hier verschiedentlich Aufregung, und Rufe wurden laut, es sei am besten, wenn hier gleichfalls kapituliert würde, damit die ewige Hetze endlich einmal ein Ende nähme!

Als aber die Leute das muntere, hoffnungsvolle Gesicht Blüchers sahen, wie er mit Scharnhorst herauskam, und schmunzelnd versicherte: er wolle ihnen bald wieder Gelegenheit zu manch gutem Husarenstücklein geben, da faßten sie sich wieder ein Herz.

»Wo ich etwas zu sagen habe, da soll kein preußischer Soldat Schande haben! Das glauben Sie mich

So schloß er seine Ansprache.

Die kleine Neigung zur Meuterei war sofort verflogen. Man zog in westlicher Richtung ab, vereinigte sich bald mit dem jetzt von Winning befehligten Korps des Herzogs von Weimar und hatte die Genugtuung, die drei französischen Korps Lannes, Bernadotte und Soult von der Oder ab und auf sich zu ziehen. Aber auch die Mühseligkeit, von ihnen scharf verfolgt zu werden.

*

Massige Kirchen mit erzgrünen Dächern –
ragende Türme mit Zinnen und Zacken –
ringsum in leuchtendem Rot ein Meer
von Ziegeldächern und Treppengiebeln,
von breiten Strömen sanft umschlungen
und tiefen Gräben mit stillen Gewässern. –
Kein dräuender Schlund auf Wällen und Mauern,
kein Wächter im Turm, kein wehrhafter Streiter. –
Auf hohen Wällen rauschen die Bäume,
geheimnisvoll raunt es von alten Stürmen,
von Streit und Orlog in fernen Zeiten,
ehe alles im Dornröschenschlaf versank,
die Tat verträumte und weltfremd wurde.

Da naht ein Ritter – mit rauher Faust
er reißt im Gestrüpp eine Gasse.
Krachend saust aufs verschlossene Tor
der Knauf seines Schwertes, bricht Schloß und Riegel,
die Schläge dröhnen, die Bohlen bersten,
das Tor springt auf; – – –
schrill schmettert sein Streitruf hinein in die Stadt,
verscheucht den Schlaf;
aus rosigem, sonnigem Traum erwachend,
blickt alles froh dem Leben entgegen.
Da stürmt der Tod durchs Tor hinein,
durch alle Gassen in alle Häuser,
mit Mord und Notzucht, plündernd, sengend;
in Rauch und Flammen und Strömen von Blut
sinkt alles hin.
Sitte, Brauch und Gesetze der Väter
und heimische Wahrzeichen weichen den Welschen.
Statt Ordnung und Recht
Erpressung, Gewalt, Guillotine!

*

Im Rathause zu Lübeck, im Audienzsaal des Senats zu ebener Erde, hinter den in Hufeisenform gestellten grüngedeckten Tischen, saßen vollzählig versammelt, auf langen Sofas, die Mitglieder eines Hohen Senats, in altspanischer schwarzsamtener Hoftracht mit breiten Halskrausen, die die markigen Köpfe wie auf Präsentiertellern darboten.

Hinter der Balustrade, mitten im Saal, die ragende Gestalt Blüchers, den langen Reitermantel über die Schulter zurückgeschlagen, das graue Haar sich wirr türmend über der hohen Stirn. Wie ein alter, von stürmischem Flug zerzauster Adler, wie ein Recke der Vorzeit, so mutete er an. Hoheit strahlte seine ungebeugte Gestalt aus. Ehrfurcht flößte sie jedem ein, auch den gestrengen Herren auf den Ratsbänken, die versammelt waren, um wider ihn die Rechte einer Freien Reichs- und Hansestadt zu wahren.

»Lübeck hoch in Ehren!« sagte Blücher und erhob grüßend die Hand. »Dem Haupt der Hansa – der altberühmten Reichsstadt meinen ehrerbietigsten Gruß! Es tut mir leid, als ungebetener Gast vor einem Hohen Senat erscheinen zu müssen, und ich bedauere sehr, daß das Stadttor von uns mit Gewalt geöffnet werden mußte. Aber herein mußten wir. – Not kennt kein Gebot. Wir wurden von der Elbe ab- und hierhergedrängt. So gezwungen, einige Tage hier zu bleiben, um meine Truppen ruhen zu lassen und mit dem Nötigsten zu versehen, sichere ich einem Hohen Senat und der Bürgerschaft Lübecks die strengste Manneszucht zu und Schutz für Leben und Eigentum jedes einzelnen.

Einen Hohen Senat aber bitte ich um Gottes willen zur Verpflegung und Ausrüstung meiner Truppen, um Lieferung von fünfzigtausend Dukaten, achtzigtausend Broten, vierzigtausend Pfund Fleisch, dreißigtausend Flaschen Wein und Branntwein und Schuhe und Futter für fünftausend Pferde!«

Die Senatoren blickten sich ernst an.

Der präsidierende Bürgermeister, Dr. Plessing, nahm dann das Wort und erinnerte in gemessener und wohlgesetzter Rede an die allseits anerkannte Neutralität Lübecks, die durch seine Besetzung von der preußischen Armee jetzt auf das gröblichste verletzt worden war, wogegen er, in optima forma, den entschiedensten Protest hiermit einlegen wollte. Er bedaure aufs tiefste die tapfere preußische Armee und gäbe die Notlage zu, wolle sich auch nicht der Darstellung derselben durch ihren berühmten General verschließen, könne aber dessenungeachtet keinesfalls eine Verpflichtung zur Lieferung seitens der Freien Reichsstadt Lübeck anerkennen und erklärte, indem er sie doch nach Möglichkeit in Aussicht stellte, daß man nur der Gewalt weiche.

Blücher erhob bei den Worten sein Haupt.

»In welcher Form die Labung gegeben wird, ist mir gleich, wenn ich nur die Gewißheit habe, ohne zum Äußersten schreiten zu müssen, meine Leute hier erquicken zu können. Eins möchte ich aber doch Eurer Magnifizenz zu Gemüte führen: wenn das Nachbarhaus brennt, da hilft's mir nicht, mich vor mein Haus hinzustellen und dem Feuer zuzurufen: ›Dies Haus ist neutral! Da hast du nichts zu suchen, da darfst du beileibe nicht zünden!‹ – Das Feuer brennt, wo der Wind es hintreibt, und den fliegenden Funken kümmert kein Menschengebot. Ist der Krieg entfesselt, so zieht er seine Bahn. Wenn Fieber den Körper schüttelt, da nützt es nichts der Krankheit zu sagen: ›Die rechte Hand laß mir in Ruhe, den Kopf auch – sie sind neutral –, da darfst du nicht toben!‹ Nein – da fiebert eben alles mit, ob's will oder nicht! Das ist höhere Gewalt, meine Herren! Die Gewalt war's, die mich zwang, Ihre Neutralität zu verletzen, und allein die Gewalt wird es wohl sein, der Sie, meine Herren, hier weichen müssen. So möchte ich es jedenfalls verstanden haben! Denn ich tue hier nichts denn meine Pflicht gegen König und Vaterland, wenn ich versuche, seine Armee zu retten und seinen Feinden möglichst lange unbequem zu werden! Und nun mit Gott!«

Er grüßte und ging.

Im Gasthaus Zum Goldenen Engel, dem Rathause gegenüber, war das Hauptquartier aufgeschlagen.

Dort saßen Scharnhorst und der Hauptmann von Müffling mit Gehilfen in emsigster Arbeit, die Verteidigung der Stadt zu ordnen.

Die Mauern standen ja noch, waren jedoch verfallen, die Wälle mit hohen Bäumen bestanden, Artillerie war nicht vorhanden. Lübeck war also eine offene Stadt, aber leicht zu verteidigen, weil von zwei Seiten von Wasser umgeben, über das nur durch die vier Tore Zugang war.

Gegen drei von ihnen, gegen das Burgtor, das Hüxtertor und das Mühlentor, zog jetzt der Feind heran. Durch das Holstentor ging Blüchers Rückzugsstraße, auf der er schon Kavallerie und Troß nach Ratkau vorangeschickt hatte, während die Trave, bis in die Gegend von Israelsdorf, durch hinter dem Fluß aufgestellte Regimenter gesichert war, und die Armee so hier vor Überflügelung geschützt wurde.

Am Burgtor kommandierte der Herzog von Braunschweig-Oels.

Sowohl Blücher wie Scharnhorst hatten bei ihrer Besichtigung dort viel zu erinnern gefunden. Die Truppen vor dem Tor und auch die Artillerie waren unzweckmäßig aufgestellt. Sie suchten, so gut es ging, die schlimmsten Mißstände abzustellen, ermahnten den Herzog, sein Fußvolk beizeiten zurückzuziehen, damit der Feind nicht gleichzeitig mit ihm durchs Tor eindrängen könnte, und kehrten ins Hauptquartier zurück.

Dort fanden sie den Leutnant von Eisenhart, der soeben aus Münster mit der geretteten westfälischen Landeskasse eingetroffen war, um sie über See weiter in Sicherheit zu bringen. Bei der Geldknappheit Blüchers war er höchst willkommen, da er ihm so über die schlimmste Not hinweghalf. Nach Abgabe einiger Fässer mit harten Talern wurde Eisenhart sogleich mit seiner Geldfuhre nach dem Holstentor vorausgeschickt, um für alle Fälle rasch damit entschlüpfen zu können, falls der Feind doch unerwartet in die Stadt eindringen sollte.

Scharnhorst fing an verschiedene eilige Angelegenheiten mit Blücher zu besprechen. Da trat plötzlich ein untersetzter, dürrer Offizier mit grämlichem Gesicht, den Arm in der Binde, auf krummen Beinen durch die Tür herein – ging auf Blücher zu und fing zu dessen Verblüffung an, ihn in kurzem, knarrigem Ton zu schurigeln.

»Ich hätte mir von Ihnen eine bessere Führung erwartet, General!« sagte er. »Allerdings, Ihre Attacke bei Auerstedt war nicht berühmt! Und ich war vom Großherzog von Weimar, meinem vorigen Chef, nicht gerade verwöhnt, obwohl er für einen Prinzen ganz annehmbar funktionierte. Aber Sie lassen uns laufen und laufen ohne Ende! Unsere Leute werden marode; Tausende über Tausende sind uns bei den Gewaltmärschen der letzten drei Tage verlorengegangen. – Von meinen Jägern allein, von denen jeder Mann unersetzlich ist, vermisse ich über vierhundert!«

»Alle Wetter!« sagte Blücher, bei Erwähnung der Jäger aufhorchend, »da sind Sie wohl der Oberst Yorck?« und kam auf ihn zu, und betrachtete ihn mit unverhohlener Neugier, aber auch mit Wohlgefallen. Den Obersten hatte er, bei seiner Vereinigung mit dem Korps Weimar, unter seinen Befehl bekommen. Er schätzte ihn ungemein wegen seiner Tapferkeit und der geschickten Führung seiner Jäger, hatte ihm gleich den Befehl über die Nachhut überlassen und war deshalb bis jetzt nicht in persönliche Berührung mit ihm gekommen.

»Ich freue mich, Sie endlich einmal zu sehen, Herr Oberst!« sagte Blücher und reichte ihm die Hand.

»Nun, wenn Sie nicht immer so schnell weitergezogen waren, General, so hätte das früher sein können!« antwortete Yorck, ohne die ausgestreckte Hand zu bemerken.

»Der Oberst von Yorck meldet sich zur Stelle«, sagte Blücher belustigt und blickte Scharnhorst augenzwinkernd an.

»Ich merke es!« antwortete dieser.

»Ich hätte das früher besorgt,« sagte Yorck noch kratzbürstiger, »hätten Sie es nur nicht so eilig gehabt. So kann ich also erst heute meine Meinung vorbringen. Und die ist die: eine verlorene Schlacht wäre weniger mörderisch gewesen als diese Lauferei vor dem Feind. Sie hätten die Schlacht in unserer Position bei Gadebusch ruhig annehmen sollen. Da hatte ich meine Jäger noch alle beisammen, und Sie Ihre Leute auch, General. Munition hatten wir genug, und die Leute waren frischer. Da brauchten wir uns nicht von unserem Wege abdrängen lassen wie jetzt. Der Marsch auf Lübeck war ein Fehler. Hier müssen wir uns doch schlagen, aber lange nicht in so günstiger Verfassung wie dort. Sie haben sich eben von Ihren vielen gelehrten Offizieren« – er zeigte verächtlich auf Scharnhorst und Müffling – »gründlich nasführen lassen! Das meine Meinung!« –

Gesagt, die Hand an die Krempe seines Huts gelegt, kehrtgemacht und abmarschiert.

Blücher lachte.

»Zum Küssen ist er! So'n bissiger alter Dachs! Und recht hat er auch! Hundertmal juckte es mich auch unterwegs danach, gehörig dreinzuhauen! Und wären Sie Massenbach gewesen und nicht Scharnhorst, ich hätte mich den Teufel um Ihren Einspruch gekümmert! Sie haben aber immer so gute Gründe, Sie verfluchter Kerl, Sie! Und die schlechte Gewohnheit, immer recht zu kriegen! Da haben Sie nun den Salat!«

Weiter kam er nicht, da wurde er durch heftiges Schießen unterbrochen.

»Man schießt am Burgtor! Kommen Sie, Müffling, schauen wir nach.«

Der Hauptmann von Müffling stand auf, bereit, Blücher gleich zu folgen. Scharnhorst aber erhob energisch Einspruch.

An allen Toren würde heute gleichmäßig geschossen, das hätte nichts zu sagen! Wichtiger wäre jetzt die Befehlsausgabe! Blücher würde unbedingt im Hauptquartier benötigt!

Da kam das Schießen immer näher; man ritt im Galopp draußen auf der Straße. Französische Kommandorufe wurden laut.

Blücher blickte hinaus –

»Französische Dragoner mitten in der Stadt! Ich werde mich wohl hier wie in einem Sack fangen lassen! Der Teufel auch!«

Er lief die Treppe hinunter, von Müffling und seinem Sohn gefolgt.

Auf dem Hof standen die Pferde bereit. In den Sattel gesprungen, die Plempe gezogen, dem Pferde die Sporen gegeben, durchs Haustor hinaus, und dann los, wie toll um sich hauend, so kam der Alte auf den Markt hinaus, wo die Reserve stand.

Yorck, der ein paar Häuser weiter wohnte, kam auch heraus, steckte seine Jäger in die Häuser und auf die Böden, von wo aus sie die Straßen bestreichen konnten. Die anderen Truppen, von Blücher angefeuert, gingen in der Breiten Straße vor. Wiederholt trieb man die Franzosen zurück.

Da gelang es diesen, Artillerie auf dem Koberg in Stellung zu bringen. Von dort aus konnten sie in die Königsstraße und in die Breite Straße hineinschießen.

Ihre Kugeln schlugen weite Gassen in die Reihen der Verteidiger. Als einer der ersten sank, schwer getroffen, Yorck um.

Blücher trieb die Seinen an, den Oberst zu retten und die französischen Kanonen zu nehmen. Man kämpfte erbittert auf beiden Seiten. Da traf die Meldung ein, die Franzosen gingen längs der Trave auf das Holstentor zu und wären im Begriff, die einzige Rückzugsstraße abzuschneiden.

Wollte er sich nicht gefangennehmen lassen, so war es jetzt höchste Zeit, seine Truppen aus der Stadt zu führen. Mit allem, was in der Nähe war, zog er rasch ab und brachte sie noch glücklich durch das Tor hinaus.

Nach vergeblichen Versuchen, noch mehr von seinen Tapferen herauszuhauen, zog er dann weiter nach Schwartau, legte das Fußvolk dort in Quartier und nahm selbst Wohnung in Ratkau, wo die Überbleibsel seiner Kavallerie standen.

In Lübeck aber hausten die Franzosen in der barbarischsten Weise mit Mord und Brand, Plünderung und Notzucht und respektierten so die Neutralität in der ihnen eigenen Art.

In ihren eigenen Chroniken, wo sie sich ihrer sonstigen Kulturtaten rühmen, steht nichts davon.

In den Rechenschaftsbüchern eines Hohen Senats zu Lübeck aber stehen noch verzeichnet die Unsummen an Kriegskontributionen und erpreßten »Geschenken«, die Bernadotte, Soult und Murat nebst Gehilfen zu ergattern wußten.

Wogegen dort, auf der Schuldseite, der Name jenes Mannes längst gelöscht wurde, der in einer Zeit, als alles den Kopf verlor und starke Festungen ohne Widerstand kapitulierten, wenigstens den Versuch machte, sich mannhaft zu wehren, und zwar in einer offenen Stadt.

Er brachte der Stadt wohl Leid dadurch. Aber das kittete sie nur um so fester an das Ganze.

*

Auf seinem Lager im Pfarrhofe zu Ratkau lag der General Blücher hingestreckt. Er fieberte.

Es war Mitternacht. Der Herzog von Braunschweig-Oels hatte ihn soeben mit einem Unterhändler des Marschalls Bernadotte verlassen, der ihm Kapitulation zu ehrenhaften Bedingungen angeboten hatte.

Kapitulation – dieses in den Annalen der preußischen Armee nur in bezug auf den Feind gebräuchliche Wort, hatte ihn unablässig verfolgt seit dem Unglückstage bei Auerstedt! Hätte vorher im Ernst jemand gewagt, ihm Preußen und Kapitulation in einem Atemzuge zu nennen, er hätte ihn ausgelacht, ihm den Rücken gekehrt und ihn keiner Antwort gewürdigt!

Seitdem er aber bei Auerstedt und anderswo die Unfähigkeit der Armeeführer gesehen hatte – seitdem klang ihm immer jenes fatale Wort in den Ohren, Tag und Nacht!

Wo er konnte, hatte er alles getan, um zu verhindern, daß der preußischen Armee diese Schmach angetan würde! Und wo er noch in letzter Stunde hinzukam, war es ihm auch gelungen.

Freilich – überall hatte er nicht anwesend sein können!

Die Schmach bei Prenzlau, wo Hohenlohe mit der Hauptarmee die Waffen streckte – diese unerhörte Schandtat wäre nie und nimmer geschehen, wäre er nur dabei gewesen!

Hätte er nur eine Ahnung davon gehabt, er wäre hingeritten wie der Blitz, hätte den Fürsten und jeden, der nur ein Wort von Kapitulation zu sprechen wagte, vor den Kopf geschossen! Aber geschehen wäre es nicht!

Denn das gab das Signal zu all den anderen Kapitulationen! Wenn der Oberbefehlshaber selbst mit der Hauptarmee sich ergab – was Wunder denn, daß die anderen folgten? Die Kavallerie bei Pasewalk, Bila bei Anklam, und dann: Stettin, Küstrin, Spandau! Wie reife Früchte beim ersten Windstoß vom Baume fallen, so fielen sie, die eine Festung nach der anderen, die eine Armee nach der anderen! Und jetzt war er selbst in der schmachvollen Lage, jenes Wort – jenes verhaßte Wort für immer und ewig seinem eigenen Namen anhängen zu müssen!

Es war ja noch nicht soweit! Er hatte es ja abgelehnt, vor Tagesanbruch in irgendwelche Verhandlungen zu treten! Bis dahin könnte noch manches passieren! Freilich war nicht viel Hoffnung da! Travemünde, wohin er mit dem Rest seiner Truppen ziehen wollte, war bereits gefallen; Geschütz und Gepäck auf dem Wege dorthin verloren, keine Munition mehr, seine Leute ohne Nahrung, frierend und hungernd! Da bliebe ihm nur – –

Er zwang seine Gedanken davon fort.

Der Braunschweiger hatte ihm auch ausführlich vom Einzug Napoleons in Berlin erzählt. Man hatte ja schon in Lübeck verschiedenes davon zu munkeln gewußt – und der Unterhändler Bernadottes hatte es sich jetzt noch angelegen sein lassen, die Begebenheit in möglichst grellen Farben zu malen, um ihn gefügig zu stimmen!

Er schloß die Augen, und sah es so deutlich vor sich, als hätte er es miterlebt, hörte die dröhnenden Trommelwirbel und das Schmettern der Trompeten, die das Nahen des Siegers verkündeten. Und dann ritt der kleine Kerl an der Spitze seiner Garden durchs Brandenburger Tor hinein, vor ihm die erbeuteten preußischen Fahnen, und dann hinterher – wie eine Viehherde, die zur Schlachtbank getrieben wird – die gefangenen preußischen Offiziere. Auch das hatte nicht an seinem Triumph fehlen dürfen!

Und der Pöbel auch nicht, der dem Triumphator huldigte und seine Opfer auspfiff! – –

Er stöhnte laut auf, als er an die Szene dachte. Die Hände krallten sich vor Wut zusammen beim Gedanken an all den Raub, den der Sieger in Berlin gemacht hatte, und all die Schmach und Schande, die er dafür aufs Haupt der Besiegten häufte!

Er lachte laut auf.

»So ist's recht!« rief er gallig, sich im Bett aufsetzend, und schlug mit der Faust auf den Bettrand. »So ist's recht! Nur zu, nur zu! Tritt sie mit Füßen – tritt nach Herzenslust! Die Deutschen trittst du nimmer tot! Aber du trittst sie zu einer Masse zusammen! Nur so werden sie's, nur die äußerste Gewalt kann das bewirken! Tritt sie – ihnen zum Heil und dir zum Schaden, wenn sie sich dann endlich gemeinsam gegen dich erheben!«

Er sank wieder zurück und lag da lange mit geschlossenen Augen, heftig atmend, die Wangen von Fieberglut gerötet. Gestalten tauchten vor seinem inneren Gesicht auf, Gefährten der letzten Kämpfe, der Flucht und des kläglichen Rückzugs!

Zunächst Massenbach!

Den hatte er auf dem Strich, seit Greußen, wo dieser Schuft sich unterfangen hatte, sein, Blüchers, Ehrenwort aufs Spiel zu setzen durch falsche Verdolmetschung seiner Weigerung, es abzugeben!

Den hatte er seitdem nicht aus den Augen gelassen!

Bei Jena war die Memme nicht zum Vorschein gekommen, wie überhaupt nirgends, wo es Ernst wurde! Da verduftete er gleich, um erst, wenn alles glücklich oder unglücklich vorbei war wieder aufzutauchen und neues Unheil anzustiften!

Jetzt hatte er sich aber für immer und ewig unmöglich gemacht!

Und das war das Gute bei diesem unerhörten Unglück, daß es die Spreu von dem Weizen sonderte, Schädlingen wie Massenbach die Larve vom Gesicht riß und unfähige Leute von den Führerposten entfernte, um die, die sich bewährt hatten, zum Heil des Ganzen an die Spitze zu bringen! So wurden dem Wiederaufbau wenigstens von Haus aus keine Hindernisse mehr in den Weg gestellt! –

Er fuhr auf.

»Er sagte doch –«, fing er laut an, und die Stimme bebte vor Zorn – »er sagte doch – –«

Er lachte laut auf.

» Kapitulieren, um dem König eine Armee zu erhalten! So'n Wahnsinn! Und darauf fallen gescheite Leute herein! So'n Wahnsinn! So'n gottverfluchter Wahnsinn!«

Er sank wieder hin, wickelte sich in die Decke und lag wieder still da. Im Kopfe brauste und brummte es von tausend Gedanken. Erlebtes und Erlauschtes trat da wieder in Erscheinung und schoß in bunten Bildern durchs Gehirn. Aus dem brodelnden Chaos tauchte bald dieses, bald jenes wohlbekannte Gesicht auf, als hätten sich die Geister zur Heerschau um das Lager des alten Helden versammelt, um zu raten, zu tadeln und ihm über das Bitterste hinwegzuhelfen. Er sann und sann nach einem Ausweg aus seiner Lage.

Könnte er dem König wenigstens seinen Arm und Kopf retten! Nur nicht kapitulieren müssen, jetzt, wo jeder, der etwas taugte, benötigt wurde!

Und doch, es war nicht zu vermeiden! – Was sonst aber taugte, das sollte wenigstens dem Könige erhalten werden!

Scharnhorst!

Da ließe er nicht nach – der mußte sofort ausgewechselt werden – das wäre Bedingung!

Der gehörte an führenderer Stelle! – Das wollte er dem König gehörig unter die Nase reiben! – Da wäre kein Wort des Lobes zuviel!

Dieser Kerl – Donnerwetter, was für ein Glück, daß er den gefunden hatte!

Er hatte einen Mann in dieser Welt, auf den zu bauen war, hatte ihn ausprobieren können und das reine lautere Gold an ihm gefunden!

Wie hatte er sich nicht bei der Kunde von Hohenlohes Kapitulation benommen! Wo sonst alles den Kopf verlor, blieb er ruhig, bestimmt, zielbewußt, und war sofort und ohne viel Gerede im klaren damit, was getan werden mußte!

Ohne viel Gerede, das war die Hauptsache.

Und den hatten die Franzosen nun gefangengenommen! Und Yorck auch, den Braven, der sich wie ein Löwe schlug!

Ob der wohl mit dem Leben davongekommen war?

Das mußte er wissen! Dann sollte auch der auf die Liste der sofort auszuwechselnden Offiziere.

Der alte Isegrim, der mit seinen Jägern während des Rückzuges so viele glänzende Proben von Heldenmut und außergewöhnlichen Führereigenschaften gegeben hatte – bei Altenzaun, wo er dem Korps Weimar den Elbübergang deckte – auf der Nossentiner Heide, wo er stundenlang mit der Nachhut dem Feind den Weg verlegte und ihm derartig an die Kehle sprang, daß er von der Verfolgung an dem Tag genug hatte – auch der Yorck mußte dem König erhalten werden, wäre er nur noch am Leben!

Der König, der würde wohl endlich gelernt haben, solche Leute zu schätzen! Er hatte wohl jetzt gesehen, was an denen war, die bis jetzt sein Vertrauen genossen hatten! Es war eine harte Schule für ihn gewesen! Er hatte sich aber brav gehalten! Zum erstenmal im Feuer! Gar nicht schlecht! Freilich, er hätte nicht die Schlacht abzubrechen brauchen!

Aber er war noch jung, unerfahren, und hatte nicht den rechten wagemütigen Leichtsinn, wenn's galt, das unbedingt Nötige aufs Spiel zu setzen!

Das war aber die Hauptsache, zum Donnerwetter! Auf die Waghalsigkeit des Spielers kommt es eben an! Von ihr hängt oft das Schicksal von Tausenden ab! Es kann so gehen – es kann auch so gehen! Man weiß es nicht im voraus! Und doch muß es gewagt werden!

»Wagemut, Wagemut,
sengt mir das Blut!«

trällerte er plötzlich laut vor sich hin. Und mit dem Gedanken, daß er als Prinzenerzieher zuallererst ihnen die Lust beibringen würde, die Karte zu biegen, damit sie nicht in den Ernstfällen zauderten, sondern nach rechter Mannesart fest zupackten – mit dem Gedanken schlief er ein und schnarchte bald, daß die Balken sich bogen.

Kaum war der Tag angebrochen, so wurde er mit der Kunde geweckt, zwei französische Generäle hätten sich als Abgesandte Bernadottes eingefunden, um die Kapitulation abzuschließen.

»Hol' der Teufel die Kapitulation!« schrie er heiser den Hauptmann von Müffling an, der, nach der Gefangennahme Scharnhorsts, das Amt des Quartiermeisters versehen mußte. »Haben die Kerls keine Nachricht von Yorck gebracht? Lebt er noch?«

Der Jubel, als die Frage bejaht wurde!

»Der Isegrim lebt! Der alte Dachs hat nicht ins Gras gebissen! Das dachte ich! Das wußte ich! So was Garstiges, so was Widerborstiges kriegen nicht einmal wir selbst klein! Geschweige denn die Ohnehosen mit ihren Käsemessern! Papier her – Papier und Tinte her!«

Das Fieber war fort, der Alte wie verwandelt! Das Glück im Unglück wirkte besser als alle Medikamente. Er riß Feder und Papier an sich und kratzte in dem unmöglichsten, aber von innigstem, burschikosem Humor durchtränkten Deutsch rasch ein paar Zeilen zusammen und reichte dem Hauptmann das Papier.

»Da nimm's, mein Sohn, gibt's den Franzosen! Das sollen sie für Yorck mitnehmen! Der alte Kerl soll wissen, daß ich ihn liebe, obwohl er mir so grob kam! – Er soll fühlen, daß noch einer da ist, der gute derbe Hiebe einschätzen kann, und der den Teufel nach Höflichkeit in solchen Dingen fragt, wenn der Hieb nur sitzt! – Und auch, daß ich an ihn denke, für ihn sorge und von seinen Taten dem König genau berichten und sie ins beste Licht rücken werde!«

Müffling verbeugte sich, versprach alles getreulich zu besorgen und wagte dann an den eigentlichen Zweck seines Kommens zu erinnern – an die Kapitulation – –

Blücher blickte ihn giftig an. Es galt also doch in den sauren Apfel zu beißen.

Er spuckte dreimal verflucht aus und schrie, so gut es ging – denn er war ganz heiser von dem vielen Kommandieren der vorhergehenden Kampftage –, schrie seinen guten Hauptmann Müffling an und sagte ihm, er möge in des Teufels Namen denn das Dokument mit den Parlezvous' abfassen! Aber deutsch, das bäte er sich aus! Denn er unterschreibe nur, was er lesen könne, und die gaskognischen Gauner und welschen Windhunde könnten ihm die Schuhsohlen lecken – er sagte etwas Schlimmeres –, sie könnten ihn dreiteilen, wenn sie wollten, und in kleine Stücke hacken, aber er unterschreibe nichts, wenn nicht hoch und heilig und ehrenwörtlich drin vom französischen Marschall verbrieft und gesiegelt würde, daß der Oberst von Scharnhorst und der Oberst von Yorck – denn er lebte noch –, daß also die zwei sofort ausgewechselt werden würden und gehen könnten, wohin sie wollten! Und wohin die wollten, das wüßte er schon – aber das ginge den Franzmann nichts an!

Ohne das unterschriebe er also nicht! Und unterschriebe auch so nicht, wenn er nicht auch die Gründe angeben könne, warum in drei Millionen Teufels Namen er kapitulieren mußte! Denn daß er das nicht gutwillig täte – daß er kein solcher Schweinehund wäre, das zu tun, solange er noch ein Körnchen Pulver auf der Pfanne hätte, das brauche er ihm wohl nicht erst zu sagen?! Und freies Geleit bedinge er sich für sein Gepäck aus. Denn da wäre die westfälische Landeskasse mit drin. Die wäre keine Kriegskasse und würde nicht von der Kapitulation betroffen. Die Franzosen könnten sich den Mund danach lecken. Und eine Eskorte für sie sollten sie auch noch stellen. Und nun solle er sich scheren, Musje Müffling, und ihm seine Ruhe lassen! Und er bäte sich aus, durch keinerlei Rückfragen behelligt zu werden! Er hätte jetzt seine Orders – er wüßte Bescheid, er solle es gut machen – basta! –

Damit wickelte er sich in seine Decke, drehte dem Quartiermeister den Rücken und schnarchte weiter.

Nach stundenlangem Hin und Her hatten die Unterhändler endlich das schicksalsschwere Aktenstück fertig, durch das der letzte Rest des Blücherschen Korps die Waffen streckte.

Von sechzehn Bataillonen hatte Blücher nur vier aus Lübeck retten können, als die Stadt fiel, und zwei Kanonen von zweiundfünfzig! Diese vier Bataillone sollten nun die Waffen strecken – aber mit allen Kriegsehren. Mit Seitenwaffen und Kanonen, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel sollten sie vor dem französischen Heere vorüberziehen, und die Offiziere sollten ihre Degen behalten dürfen. Auf die weiteren Bedingungen Blüchers waren die französischen Unterhändler auch eingegangen. Nur – die Angabe der Gründe zur Kapitulation wollten sie ihm nicht zugestehen. Das wäre gegen allen Brauch – das dürfe er nicht beanspruchen, und was sie da noch an Gegengründen vorzubringen wußten! –

»Was bei so'ner niederträchtigen Sache Brauch ist oder nicht, ist mir schnuppe!« sagte Blücher, als ihm Müffling das verdolmetschte. »Das Kapitulieren ist überhaupt nicht bei mir Brauch und soll, hol' mich der Teufel, nie wieder bei mir vorkommen! Und was ich beanspruchen darf, weiß ich selbst am besten und brauche mir das von so'n paar hergelaufenen Grünschnäbeln von Franzosen nicht weismachen zu lassen! Die sollen mich den Buckel herunterrutschen, aber unterschreiben tue ich nach meinem, nicht nach ihrem Kopf! Und wollen sie das nicht, sollen sie sich zum Teufel scheren!«

Die Franzosen guckten den alten kratzbürstigen Herrn erstaunt an, der sie so von seinem Lager aus mit heiserer Stimme anschrie. Sie blickten sich an, zuckten die Schultern, blickten Müffling an, steckten mit diesem dann die Köpfe zusammen und flüsterten in bedauerndem Tone ein paar freundliche Phrasen, von denen Blücher nur die Worte auffing: » monsieur le général – – encore très malade!«

Dann nickten sie endlich wohlwollend zustimmend. Müffling nahm das Dokument, tauchte den Federkiel ein, legte ein dickes Buch unter und gab das Ganze an Blücher, der, auf den linken Ellbogen gestützt, nach der Wand gedreht, und ohne den Siegern sein Gesicht zu zeigen, rasch ein paar Worte hinkritzelte.

Dann reichte er Müffling, ohne sich umzudrehen, Dokument und Federkiel, legte sich wieder hin, nach der Wand gekehrt, und ließ die Franzosen Franzosen sein.

Sie blickten sich wieder an, blickten Müffling an, schüttelten die Köpfe, blickten in das Dokument hinein und buchstabierten laut:

 

»Ik kapitüliär nür, wei' ik känn Brott ün känn Münissiong mehr 'abe –

Bluchêre –«

 

Sie falteten das Dokument zusammen, legten die Finger an ihre Käppis und salutierten mit ausgesuchter Höflichkeit die ihnen reichlich gezeigte Hinterfassade des alten Haudegens, lächelten sich an, schüttelten die Köpfe, rollten ihre kleinen Rattenaugen, daß sie lustig funkelten, drehten die Schnurrbärte spitz in die Höhe, und verließen dann mit Grazie die Höhle des Löwen, ohne von ihm eines Blickes gewürdigt zu werden.

*

Blücher begab sich zunächst als Kriegsgefangener nach Hamburg und hatte die Genugtuung, nach einigen Tagen Scharnhorst dem König senden zu können. Er versäumte nicht, ihn dem Monarchen angelegentlichst zu empfehlen und die Verdienste seines Generalquartiermeisters während des Rückzuges im hellsten Lichte strahlen zu lassen.

Der Einfluß Scharnhorsts zeigte sich bald.

Der König hatte im Zeitraum von kaum drei Monaten so viele Schläge auf sein Land niedersausen sehen wie kein anderer preußischer König vor ihm. Außer den Kapitulationen im freien Felde hatten die Festungen Erfurt, Spandau, Stettin, Küstrin, Magdeburg, Czenstochau, Hameln, Fort Plessenburg bei Kulmbach sich ergeben, und Glogau und Breslau würden, nach allem zu schließen, bald folgen. Trotzdem war der König noch ungebeugt. Er hatte gesehen, was morsch und baufällig in seinem Staate war, aber auch, daß noch frische und unverbrauchte Kräfte vorhanden waren. Das hatte ihm den Mut gegeben, ungesäumt an den Aufbau seines in Trümmer sinkenden Staates zu gehen.

Zunächst fing er da an, wo der Schaden am offenkundigsten zutage getreten war, bei der Armee.

Die Armee hatte es beim Volke verspielt! Preußischer Offizier zu sein, war eine Schande geworden! Alle Welt fand sich befugt und berechtigt, die Offiziere zu verhöhnen und zu beschimpfen! Der lang verhaltene Neid über ihre bevorzugte Stellung kam jetzt elementar zum Ausbruch und machte sich in der gehässigsten Form Luft, durch Pamphlete, in den Zeitungen, durch öffentliche Insulten!

Es galt also, der Armee die Stellung in der allgemeinen Achtung wiederzugeben, die sie als erste und unentbehrlichste Dienerin des Staates haben mußte, um ihres Amtes mit Erfolg walten zu können.

Es galt, ihr vor allem das Vertrauen zu sich selbst wiederzugeben! Es galt, sie zu reinigen! Und das konnte wiederum nur der Offizier selbst tun.

Der Offizier sollte selbst den Offizier richten! Jedes Regiment sollte ein Tribunal einsetzen, vor dem ein jeder Offizier, der sich im Felde irgend etwas hatte zuschulden kommen lassen, sich zu verantworten haben würde! Die Gutachten dieser Tribunale sollten alle an eine Immediatkommission gehen, die schließlich die Urteile nebst Begründung und genauem Bericht dem König unterbreiten müßte.

Am 1. Dezember 1806 erließ der König von Ortelsburg aus, während alles um ihn wankte, sein ewig denkwürdiges » Publikandum wegen Abstellung verschiedener Mißbräuche beider Armee«.

Von dem Tage der Veröffentlichung dieses Aktenstückes an datiert die Neuschöpfung der preußischen Armee, die sie zu der ersten der Welt gemacht hat. Das Publikandum Friedrich Wilhelms des Dritten war der erste Baustein in der Grundmauer, auf der sich sein Reich zum Heile Deutschlands wieder neu aufbauen sollte.

Und Blücher hatte da geholfen, die richtigen Mitarbeiter zu finden.

Wie der Magnet das Eisen, so zog der alte Haudegen alles Tüchtige an sich, sonderte es so von allem Untauglichen und brachte es an den Tag. Und das war schließlich nicht das am wenigsten Wichtige in seiner Lebensleistung!


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