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Die Waise.

An dem Jungen ist Hopfen und Malz verloren, eiferte der Landrath G. gegen seine Frau Gemahlin; wenn er seine Bosheit nicht ablegt, so lasse ich ihn in irgend eine Waisen-Anstalt aufnehmen, wo dergleichen Gesindel am zweckmäßigsten aufgehoben ist. Hätte ich seinem Vater, auf dem Sterbelager, nicht mit Mund und Hand versprochen, für den Knaben zu sorgen, ich hätte denselben schon längst zum Hause hinausgejagt. Denke nur, die infame Bestie hat unsern Adolf mit dem Kopfe gegen die Wand gestoßen, daß der arme Junge laut wehklagend bei mir um Hülfe nachsuchte. Konnte unser Adolf durch diese Canaille nicht gefährlich verwundet werden? Das fehlte noch, daß wir die eigenen Kinder von solcher Natterbrut mißhandeln ließen.

Unser Adolf ist von dem Bettelknaben gestoßen worden, sagst Du? und Du hast das Ungeheuer nicht gleich fortgejagt? Ach, Mann, Du hast es zu verantworten, wenn der arme Adolf Schaden genommen hat; nein, mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen? Ach, mir schwindelt es bei dem bloßen Gedanken! Wo ist mein Sohn? ich muß ihn sehen, um Himmelswillen.

Beruhige Dich, liebe Frau, es ist diesmal noch so abgelaufen; doch da kommt ja unser lieber Sohn. Komm her Adolf, erzähle der Mutter, wie Dich der böse Friedrich behandelt hat.

Komm auf meinen Schooß, liebes Kind, so, nun erzähle, was that Dir Friedrich?

Ja, Friedrich hatte einen bunten Ball, den wollte ich gern einmal haben; aber Friedrich gab mir den Ball nicht; da, da hat er mich gestoßen, entgegnete der Knabe.

Laß doch mal sehen, lieber Junge; es hat doch nicht geblutet?

Nein, aber es that weh, schluchzte von Neuem das Söhnchen.

Na sei nur ruhig, liebes Kind, Friedrich wird seine Strafe vom Vater erhalten; er soll Dir nichts wieder thun.

Das wird er wohl bleiben lassen, entgegnete der Landrath; ich habe ihn tüchtig durchgepeitscht und die Bestie in den Hundestall sperren lassen, wo er seinen bösen Muth an dem alten Felix kühlen kann. Durch Hunger muß man den Muthwillen des jungen Burschen auszutreiben suchen, sonst wird nichts Gutes aus dem Buben. Läßt er sich das Geringste wieder zu Schulden kommen, so lasse ich ihn, wie gesagt, in eine Waisenanstalt bringen, wo er eigentlich hingehört.

Vom Kopf bis zu den Füßen mit Schwielen über und über besäet, hatte der arme älternlose neunjährige Knabe, furchtsam in einem Winkel des schmutzigen Stalles sich niedergekauert, und die hellen Thränen liefen ihm über die aufgeschwollenen Wangen.

Du lieber Gott, seufzte der arme Knabe, wäre ich doch lieber der alte Felix, der bekommt nicht immer Prügel; aber ich werde immer so sehr geschlagen, wenn ich auch nichts gemacht habe; wenn ich nur wüßte, wie ich sterben könnte.

Sei ruhig, Friedrich, tröstete der alte Johann, der Bediente des Herrn Landraths, der unbemerkt sich hingeschlichen hatte; Du wirst es schon noch einmal besser bekommen; sei nur recht folgsam und laß Dich mit dem bösen Adolf nicht wieder ein. Was hast Du ihm denn gethan?

Ach, gar nichts, sagte weinend der Knabe; meine Schwester hat mir zu meinem Geburtstage einen bunten Ball geschenkt, den wollte mir Adolf nehmen, und als ich den Ball, der mir so lieb ist, nicht weggeben wollte, so riß mir Adolf denselben mit Gewalt aus den Händen und schlug mir gerade in die Augen, als ich den Ball nicht gutwillig hingab. Bei diesem Ringen stieß er sich mit dem Kopf gegen die Wand. Da fing er laut an zu schreien und sagte zu seinem Vater, ich hätte ihn gestoßen. Sein Vater hat mich dann mit der Peitsche geschlagen und in diesen Stall gesperrt.

Sei recht still, mein Sohn; hier nimm dieses Butterbrot und diese Äpfel; ich werde Dir auch zu Trinken bringen, tröstete der alte Johann, und eine Thräne des Mitleids zitterte in den grauen Wimpern des betagten Dieners.

Ich danke, guter Johann, schluchzte der Knabe; wäret Ihr nur mein Vater, Ihr würdet mich nicht immer schlagen.

Nein, gewiß nicht, armer Knabe.

Mein Vater, der zu dem lieben Gott gegangen ist, war auch so gut, wie Ihr; wenn der noch lebte, wollte ich froh sein.

Ja wohl, lieber Friedrich, könntest Du das; doch tröste Dich, Du hast noch einen Vater im Himmel, der Dich nicht verläßt.

Ach, das ist wohl der liebe Gott, der ist wohl auch so gut, wie Ihr, guter Johann?

Ja Knabe, der ist noch tausendmal besser, als ich, bete nur recht fleißig zu ihm; dann wird es Dir auch gut gehen.

Ach, ich bete schon alle Tage; aber man schlägt mich doch immer wieder, seufzte der Knabe, und faltete die aufgelaufenen Händchen.

Nein, sagte der alte Johann darauf zu seiner Ehefrau, und die Thränen liefen ihm über die Wangen, ich halte es nicht länger mehr aus; das Herz muß einem brechen, wenn man ein unschuldiges Kind so mißhandeln sieht. Es ist mein Herr, aber bei Gott, Gefühl hat er nicht im Leibe, sonst würde er das arme Kind nicht so tyrannisiren. In den Hundestall ist der arme Wurm gesperrt und am ganzen Körper wund geschlagen. Nein, bei Gott, das ist zu arg, und soll ich mein Brot verlieren, die Menschlichkeit gebietet hier Einhalt zu thun.

Aber, guter Mann, was willst Du denn machen, Du kannst Dich doch nicht gegen Deinen Herrn auflehnen? Das arme Kind hat mich schon längst gedauert; aber was kann man dabei thun? Der Landrath hat es einst bei Gott zu verantworten, wenn er dem Knaben zu viel thut.

Ja wahrhaftig, das wird ihm schwer werden; denn viel zu sehr hat er sich an dem Knaben versündigt. Noch eine kurze Zeit will ich schweigen und Alles geduldig mit ansehen; aber dann mag Gott helfen.

Gott, Johann, Du bringst Dich am Ende noch um Dein Brot; sei lieber still, Gott wird den armen Wurm nicht verlassen, – und …

Johann, Johann! rief es mit starker Stimme auf dem Hofe.

Na, was wird der wieder wollen, gewiß wegen des Knabens.

Höre, Johann, ich habe den Friedrich, seiner Bosheit halber, in den Hundestall sperren lassen; laß den Jungen bis morgen sitzen und gieb ihm nichts weiter, als Wasser und Brot. Hörst Du, die Bestie soll ein wenig gedemüthigt werden!

Wie Sie befehlen, Herr Landrath.

Ha, Schande, daß sich Gott erbarme, Bestie nennt er die arme Waise? Na Geduld, Herr Landrath, Sie haben auch Kinder, es ist noch nicht alle Tage Abend; man weiß noch nicht, wie es diesen geht; brummte der alte Johann vor sich hin. Wasser und Brot soll ich dem armen Kinde reichen und die Nacht über im Stalle lassen; ja, dann müßte man auch ein Herz von Stein haben, wie Sie, Herr Landrath.

Kaum hatten sich Alle im Schlosse zur Ruhe begeben, so schlich der alte Diener behutsam nach dem Stalle; schon aus der Ferne hörte er den Knaben weinen, und selbst der alte Felix mochte fühlen, daß sein Begleiter nicht in diese Wohnung gehöre; denn den ganzen Abend hatte der Hund des Knaben Gewimmer mit einem ungewöhnlichen Geheul begleitet.

Komm', Friedrich, flüsterte Johann dem Knaben zu, nachdem er die Thür geöffnet, mit in meine Stube, Du sollst in meinem Bett schlafen; sei nur ruhig, daß uns Niemand hört; morgen früh bringe ich Dich wieder her, dann wird Dein Arrest auch abgelaufen sein.

Willig folgte der Knabe und ließ sich das ihm vorgesetzte Abendbrot trefflich munden; worauf er bald, im weichen Bett des alten Johann, einschlief.

Ob wohl ein Engel unschuldiger sein kann, sagte Johann zu seiner Ehefrau, als Beide den schlafenden Knaben betrachteten. Sieh' nur die vielen Schwielen, der ganze Körper ist davon übersäet, ob sich der Herr nicht schämen muß, ein Kind so zu mißhandeln; und wenn er den Knaben noch aus Gnade und Barmherzigkeit zu sich genommen hätte; aber so erhält er für denselben noch Erziehungsgelder; denn der Herr Kammerrath hinterließ doch ein ansehnliches Vermögen, welches den beiden Kindern zugefallen ist. Friedrichs Schwester ist doch einige Jahre älter und in einer guten Erziehungsanstalt; für diese ist gesorgt, aber für den armen Knaben ist es ein Unglück, daß er in solche Hände gefallen ist. Auf den Knaben scheint sich Alles im Hause gesetzt zu haben; sogar der ungezogene Adolf glaubt ein Recht zu haben, den armen Jungen auf jede nur mögliche Art zu necken und zu schlagen; denn er sieht es ja nicht besser von den Ältern. Die kleine Antonie scheint das einzige Wesen zu sein, welches auf den Knaben noch etwas hält. Na, Gott wird Dich armen Knaben nicht verlassen, sagte Johann, und strich dem schlafenden Kinde die goldgelben, wild umherhängenden Locken aus dem Gesichte.

 

Noch zwei Jahre ertrug der unglückliche Friedrich die fast unmenschliche Behandlung seiner Pflegeältern; bis dahin hatte er stets einen väterlichen Freund und Rathgeber in dem alten Johann gefunden, der immer zu trösten und zu helfen wußte; allein der unerbittliche Tod hatte ihn auch dieser Stütze beraubt. Ein Brustübel hatte schnell und unvermuthet die Lebenskräfte des würdigen alten Dieners aufgerieben. Friedrichs Schmerz darüber war unbeschreiblich, als man den alten Mann in die Gruft senkte; gern wäre er an dessen Stelle, den er mehr als Vater liebte, gestorben; denn nun hatte er Niemanden mehr, der sich seiner annahm. Als ein Knabe von eilf Jahren lernte er jetzt einsehen, wie unverdient man ihn öfters hart züchtigte und wie lieblos man ihn behandelte; denn man mißgönnte ihm ja das tägliche Brot.

Doch man würde es für Übertreibung halten, wenn die vielen unverdienten Mißhandlungen, welche die arme Waise zu erdulden hatte, aufgezählt werden sollten. Oft weinte der Knabe in seinem stillen Kämmerchen die bittersten Thränen darüber und faltete, nach der Weisung des unvergeßlichen Johanns, die Händchen zum inbrünstigen Gebet.

Einst war die Geldbörse des Landraths abhanden gekommen; der Verdacht der Entwendung fiel auf den unglücklichen Friedrich, weil Niemand anders als er und die beiden Kinder des Landraths in der Stube gewesen waren. Erst mit guten Worten, dann mit Drohungen und endlich mit harter Züchtigung und Einsperrung, bei Wasser und Brot, wurde das arme Kind gefoltert, daß es gestehen solle, wo es das Geld hingethan habe. Umsonst weinte Friedrich und betheuerte flehend seine Unschuld; der Landrath aber behauptete steif und fest, kein anderer, als der verstockte boshafte Knabe könne das Geld haben.

Acht Tage wurde Friedrich in eine finstere Kammer gesperrt und täglich hart gezüchtigt, daß er den Diebstahl eingestehen sollte; ja, man würde noch barbarischer mit dem Knaben verfahren sein, wenn nicht, nach Verlauf dieser Zeit, des Landraths eigener Sohn, der boshafte Adolf, als Dieb der Geldbörse entlarvt worden wäre. Friedrich wurde zwar darauf aus seinem Kerker gelassen, aber wie sah er aus! am ganzen Körper wund geschlagen und abgezehrt bis auf die Knochen. Jedermann im Schlosse entsetzte sich vor seinem Aussehen, und selbst die Bedienung des Landraths, von Mitleid bewegt, machten den Knaben aufmerksam, das Haus seiner Peiniger zu verlassen und die Wohlthätigkeit anderer Leute in Anspruch zu nehmen. Mit diesem Gedanken war auch Friedrich schon lange umgegangen; nur hatte er sich immer noch vor der Strafe einer möglichen Zurückbringung gefürchtet; aber jetzt war ihm offenbar zu viel geschehen, und er verließ daher heimlich die Familie des Landraths.

Dieser tobte und schimpfte, als er Friedrichs Flucht erfuhr; habe ich's nicht immer gesagt, daß der Knabe ein Taugenichts ist, daß er alle Anlagen hat, ein Landstreicher zu werden? polterte er. Nein, die Canaille hat es noch zu gut bei mir gehabt, da zeigt sich der Übermuth. Er mag nun laufen, ich bekümmere mich nicht weiter um den Buben, und bringt man ihn wieder, so will ich ihn züchtigen, daß er sein Lebtage nicht wieder ans Fortlaufen denken soll.

Aber Gott behütete den Knaben vor dieser angedrohten Strafe. Derselbe war voller Todesangst einige Stunden weit gelaufen; dann hatte er, bis zu Tode ermüdet, auf eine vorüberfahrende Kutsche sich hinten aufgesetzt und hatte auf diese Weise mehrere Meilen noch am selbigen Tage zurückgelegt. Als es dunkel wurde, suchte er ein Wirthshaus auf, und durch sein kindliches Flehen und Bitten wurde er von dem gutmüthig scheinenden Wirthe für diese Nacht beherbergt. Zufällig befand sich in dem Gasthofe eine umherziehende Schauspieler-Gesellschaft, die bald den Knaben ausgeforscht und für sich gewonnen hatte. Erfreut, einen Zufluchtsort gefunden zu haben, nahm derselbe die glänzenden Versprechungen dieser zuvorkommenden Leute an und begab sich unter ihren Schutz.

Sechs Jahre lang zog er mit dieser wandernden Truppe durch viele Länder umher, und wenn ihm auch die Art und Weise, wie er seine erlernten Künste vor dem Publikum produciren mußte, nicht recht behagen wollte, so war er doch einerseits froh, ein Unterkommen gefunden zu haben, wo man ihn wenigstens menschlich behandelte.

 

Im Verlaufe dieser Zeit war der Krieg zwischen Frankreich und Österreich ausgebrochen, und Friedrich, der unterdessen zu einem wohlgebildeten kräftigen Jünglinge herangewachsen war, bekam zufällig einen französischen Officier zu sprechen, gegen welchen er den Wunsch äußerte, ebenfalls Soldat zu werden. Dieser lobte den Vorsatz des siebenzehnjährigen Jünglings und gab ihm bald Gelegenheit, diese Lieblings-Idee zu verwirklichen. Friedrich wurde also Soldat; aber freilich mußte er unter Napoleons Fahnen gegen sein eigenes Vaterland zu Felde ziehen; allein ihm war es wohl zu verzeihen, da ihn sein Vaterland in jeder Hinsicht nur stiefmütterlich behandelt hatte.

Im Hause des Landraths waren während dieser Zeit ebenfalls große Veränderungen vorgegangen, und es hatte den Schein, als ob mit der Entweichung Friedrichs aller Segen aus der Familie geschwunden sei.

Der saubere Herr Sohn, Adolf, war schon von zwei Universitäten, seines schlechten, unmoralischen Betragens wegen, relegirt, und trieb zuletzt als Spieler in großen Städten sich umher. Einst wurde er bei einem falschen Spiele von der Obrigkeit ertappt und ins Gefängniß geworfen, wo er sein strafwürdiges Vergehen mit halbjährigem Arrest büßen mußte. Nach Erduldung dieser Strafe langte er als bettelnder Landstreicher, an Schuh und Kleidern abgerissen, bei seinen Altern an, in deren Hause er geschäfts- und planlos auf bessere Zeiten wartete.

Auch der Herr Papa hatte mit seinen Finanzen übel gewirthschaftet; der prachtvolle Aufwand und die bedeutenden Geldmassen, die er für den liederlichen Sohn verschwendet hatte, um dessen Schuldenlast zu tilgen, hatten sein ganzes Finanzwesen dermaaßen erschüttert, daß er sich genöthigt sah, an die Kaiserl. Gelder, welche er in Verwahrung hatte, sich zu vergreifen, um die Gläubiger zu befriedigen. Leider konnte er die weggenommenen Gelder zum bestimmten Termine nicht wieder herbeischaffen, und nahm dann in der verzweifelten Lage seine Zuflucht zur Betrügerei. Nur zu bald kam man dieser auf die Spur, und die Folge davon war, daß der Landrath seines Dienstes entlassen wurde. Durch Vermittelung einiger bedeutender Freunde gelang es ihm wenigstens, als ein besonderes Gnadengeschenk, eine nothdürftige Pension zu beziehen, die ihn und seine Familie vor dem Bettelstabe schützte.

Ein allgemein bekanntes Sprichwort sagt: »Noth lehrt beten«; dies bewährte sich auch in der Familie des Landraths. Oft, wenn man sich um den Tisch setzte, um Kartoffeln und trockenes Brot nebst einem Kruge frischen Wassers zu verzehren, während man früher die ausgesuchtesten Speisen und Getränke nicht gut genug fand, sagte der Landrath manchmal mit thränefeuchtem Blick:

Ich habe mich doch wohl zu schwer an dem armen Knaben versündigt, daß mich Gottes Strafgericht so schwer dafür züchtigt; ich bin vielleicht die Ursache, daß der arme Knabe, von Allem entblößt, elendiglich umkam. Man hat doch nie wieder etwas von dem armen Friedrich vernommen, wollte nur Gott, daß er noch lebte, und daß es ihm gut ginge; gern wollte ich mein Unglück viel ruhiger und gefaßter ertragen, obgleich ich denken muß, es ist eine Strafe Gottes, daß ich so gewissenlos mit dem armen Kinde verfahren bin.

Auch die Frau Landräthin hatte die hochtrabenden Pläne aufgegeben, und war ganz demüthig geworden. Vorher hatte sie bürgerliche Frauen nur über die Achsel angesehen; allein unter den jetzigen Umständen war sie froh, wenn sich diese nur in ein Gespräch mit ihr einließen, oder sie etwas durch Stickerei verdienen ließen. Zum Glück war die Familie des Landraths nicht stark, sonst würde die Noth derselben noch größer gewesen sein. Vater und Sohn sahen sich genöthigt, durch Schreiben, und Mutter und Tochter mit Nähen und Stickerei etwas zu verdienen.

In dieser wahrhaft demüthigen Lage hatten sie einige Jahre ihren Lebensunterhalt nothdürftig zu bestreiten gesucht. Da wurde endlich auch diese Gegend von den siegreichen Franzosen, die dazumal Herren von Deutschland waren, überschwemmt, und die wenigen Habseligkeiten des Landraths wurden eine Beute der plündernden Soldaten, die, ohne viel Umstände zu machen, mitnahmen, was ihnen gefiel.

In halber Verzweiflung hatte an einem Sonntagmorgen die arme Familie den letzten Groschen für Brot ausgegeben, ohne damit den nagenden Hunger stillen zu können. Der Landrath rang, unter bitterem Thränenstrom, die Hände, und blickte verzweiflungsvoll auf sein krankes Weib, das schon mehrere Tage, in Folge ungewohnter Nahrungsmittel, hart darnieder lag. Nur nach ein wenig warmer Suppe hatte die Kranke schmachtend verlangt; aber auch diese konnte man ihr nicht verschaffen. Das Mitleid der Nachbarsleute, die selber mit Noth und Sorgen zu kämpfen hatten, anzuflehen, wagte man nicht, und doch sann man vergeblich nach, wie der kranken Frau zu helfen sei.

Da schritt ein junger französischer Officier, die Brust mit Ehrenzeichen übersäet, vor der Wohnung der bedrängten Familie vorüber. Wie ein Blitzstrahl durchfuhr der Gedanke, den Officier um Mitleid anzuflehen, den Landrath, und im gebrochenen Französisch suchte er seine Noth dem jungen Kriegsmanne begreiflich zu machen.

Der Officier stutzte, sah den Landrath mit einem langen, durchbohrenden Blicke an, und nach kurzem Besinnen fragte er in einem wohlaccentuirten Deutsch:

Wo wohnen Sie?

Hier in diesem Hause, entgegnete der Landrath mit demüthig zitternder Stimme, indem er auf seine Wohnung deutete.

Ich habe heute nicht Zeit, morgen um diese Stunde werde ich bei Ihnen einsprechen, und mich von Ihrer Lage selbst zu überzeugen suchen. Nehmen Sie zuvörderst diese Kleinigkeit; und damit überreichte der junge Officier dem fast fußfällig dankenden Landrath ein blitzendes Goldstück.

Den edlen Geber segnend, erquickte sich die Familie an einem lang entbehrten warmen Essen und einstimmig pries man Gott, der selbst in Feindes Brust das Gefühl der Wohlthätigkeit zum Troste der leidenden Menschheit gelegt hat.

Feierlich bereitete man sich am andern Tage auf den hohen Gast vor, und Adolf war stundenlang nicht vom Fenster gewichen, um den gewaltigen Kriegsmann gebührend zu empfangen.

Der General-Lieutenant trat auch bald darauf in das armselige, aber reinliche Stübchen ein. Mit unzähligen Complimenten und Dankesworten wurde er empfangen, und auf allen Gesichtern sprach sich die Entzückung darüber aus, daß ein so hoher Stabs-Officier sich so weit herabließ, eine unglückliche Familie mit einem so hohen Besuche zu beehren.

Lange warf der junge Krieger einen prüfenden Blick auf die Familien-Mitglieder und kämpfte sichtbar mit einer innern Aufregung. Nachdem er nach mehreren gleichgültigen Dingen sich erkundigt hatte, fragte er, wie zufällig, den Landrath, indem er Letzteren scharf ansah:

Ist Ihnen nicht der Landrath G. bekannt?

Dem Landrath durchfuhr es, wie ein zweischneidig Schwert, als er seinen Namen von dem französischen Officier nennen hörte, und im Bewußtsein seiner Schuld stotterte er verlegen ein, Ja, hervor.

Ich habe, fuhr der Officier fort, einen Soldaten bei meiner Compagnie, der vom Landrath G. erzogen sein wollte, und frage also nur beiläufig darnach, weil ich mich besinne, daß der junge Mensch erzählungsweise diese Stadt nannte, wo der Landrath G. wohnen solle. Mir liegt gerade nichts an der Sache; aber doch hätte ich gern etwas Näheres darüber erfahren mögen; denn der Soldat, der übrigens ein braver Bursche ist, gab vor, vom Landrath und dessen Familie in seiner Kindheit so barbarisch behandelt worden zu sein, daß er endlich davon lief, sich mehrere Jahre bei einer Truppe umherziehender Schauspieler aufhielt und sodann in französische Kriegsdienste trat.

Vor Schreck wäre der Landrath bald in Ohnmacht gesunken, und er mußte all' seinen Muth und seine Besonnenheit zusammennehmen, um aus augenscheinlicher Gefahr sich zu helfen. Mit stammelnder Zunge entgegnete er:

Der Landrath G. wohnte allerdings vor längerer Zeit in diesem Orte; allein derselbe ist seines Dienstes entlassen worden, weil er sich einiger Ungerechtigkeiten zu Schulden kommen ließ; darauf hat er diese Stadt verlassen. Wo sich derselbe jetzt aufhält, kann ich nicht sagen, wahrscheinlich aber ist, daß er weit von hier weggezogen sein muß, weil Niemand seinen jetzigen Wohnort kennt.

Schon gut, mir liegt, wie gesagt, gar nichts an der Sache; der Soldat, wenn er Rache an seinen saubern Pflegeältern nehmen will, so mag er zusehen, wie er diese auffindet. Ich denke, der junge Mensch wird auch kein Mittel unbenutzt vorübergehen lassen, welches dazu dienen kann, den Wohnort dieser Familie ausfindig zu machen.

Bei diesen Worten legte der Officier eine gefüllte Geldbörse auf den Tisch und entfernte sich darauf, nachdem er angedeutet hatte, den morgenden Tag, um dieselbe Zeit, noch einmal einzusprechen.

Obgleich die Familie über die seltene Freigebigkeit des fremden Officiers erfreut war, so schwebte man doch insgesammt in Angst und Sorge vor einer möglichen Entdeckung.

Was wird unser für ein Loos warten, jammerte der Landrath und rang sich die Hände fast wund, wenn Friedrich, der gewiß Alles aufstellt, um seine Rache zu befriedigen, unsere Wohnung, die ihm fast jedes Kind zeigen kann, auffindet. Hätte ich Thor, nur gleich dem menschenfreundlichen Officier mich entdeckt und um seinen Schutz gefleht; vielleicht hätte derselbe auch in diesem Falle sich unserer angenommen. Gott, wie wird es uns ergehen, wenn der Officier erfährt, daß ich ihn hintergangen habe! Kommt er morgen, ich werfe mich ihm zu Füßen und entdecke ihm meinen wahren Stand und meine Verhältnisse zu dem racheschnaubenden Friedrich; Adolf, Antonie und Du Frau helft mir bitten, daß wir das Herz des gutmüthig scheinenden Officiers erweichen, daß wir seine Verzeihung erhalten und seines Schutzes uns versichern.

So jammerte der arme Mann und quälte sich mit seiner Familie den ganzen Tag hindurch, unter ängstlichen Besorgnissen, ab. Auch die Nacht wurde schlaflos verbracht und mit Zittern die entscheidende Stunde erwartet, wo der Officier wiederkommen wollte.

Diese rückte heran und der junge Kriegsmann erschien. Betroffen trat derselbe einen Schritt zurück, als bei seinem Eintritt Vater, Sohn und Tochter zu seinen Füßen stürzten und die kranke Mutter bittend die Arme ihm entgegenstreckte.

Was soll das? rief der junge Mann sichtlich gerührt, indem eine Thräne, die er unmöglich zurückhalten konnte, ihm über die gebräunte Wange rollte; stehen Sie auf!

Nein, nicht eher, bis Sie, edler Mann, uns verziehen haben; ich habe Sie gestern zu täuschen gesucht, denn ich, ich bin der unglückliche Landrath, der den armen Friedrich, den Sohn meines Freundes, so schändlich behandelte. Ach, Gott hat mich so schwer für diese That gezüchtigt! ich bin ein Bettler und der Rache des jungen Mannes ausgesetzt. Ach, Gott, was habe ich und meine arme Familie schon gelitten; nehmen Sie uns in Schutz wider meinen Pflegesohn, und verzeihen Sie einem schwergeprüften und gedemüthigten Manne! Ach, bekomme ich meinen Pflegesohn wieder zu sehen, zu Füßen will ich ihm fallen, mein Unrecht eingestehen und seine Verzeihung erstehen!

Das haben Sie bereits gethan. Nein, zu viel! Stehen Sie auf, Herr Landrath, Ihnen ist verziehen. Ich, ich – die Stimme des Officiers stockte unter hervorbrechendem Thränenquell – ich bin der Friedrich selbst.

Wie ein Donnerschlag wirkte diese Erklärung auf die geängstigte Familie, und Friedrich, denn dieser war der Officier, hatte alle Mühe, die so sehr gedemüthigten Leute zu beruhigen. Seine Unerschrockenheit in Gefahren, sein Muth und seine Tapferkeit, die in vielen Schlachten rühmlichst anerkannt wurde, hatte ihn von Stufe zu Stufe bis zu dem Range eines General-Lieutenants steigen lassen, und sein weltbekannter Name wird nicht nur in der allgemeinen Weltgeschichte rühmlichst gedacht, sondern wurde auch von Napoleon hoch verehrt.

Edel war die Rache, die Friedrich an seinen Pflegeältern nahm, und daß er diesen gänzlich verziehen hatte, bewies er dadurch, daß er des Landraths Tochter, die liebenswürdige Antonie, mit der er, allein ausgenommen, im Knabenalter sich so gut vertragen hatte, zu seiner Gemahlin erhob. Daß der Landrath gern seinen Segen zu dieser Verbindung ertheilte, kann man sich denken.

Die einzige Schwester, die Friedrich hatte, war schon seit einem Jahre an den Gerichts-Assessor L. in dieser Stadt verheirathet, und man kann sich die Freude der Geschwister vorstellen, die, vom Kindesalter an getrennt, so unverhofft und verändert sich wiedersahen.

Friedrich war einer von den Generälen, die dem großen Welteroberer bis zum letzten entscheidenden Schlage getreu blieben. Als aber der Kaiser zum zweitenmal auf ein entfernt liegendes Eiland verbannt war, zog sich Friedrich vom Schauplatze des Krieges zurück und lebte als angesehener Privatmann in Frankreichs Hauptstadt. Der Landrath und dessen Frau erfreuten sich, bis zu ihrem Tode, seines Schutzes und seiner edlen Fürsorge.

 

Langhoffsche Buchdruckerei.


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