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Vierte Vorlesung.
Isomerie und Konstitution

Konstitution – Die Salze – Elektrochemische Theorie – Allgemeines über Theorien – Die Spannungsreihe – Liebig und Wöhler – Polymorphie und Isomerie – Die Voraussetzung der Konstitutionsbestimmungen – Substitution – Kampf gegen den elektrochemischen Dualismus – Eigenschaften und Schicksale altgewordener Forscher – Übertreibung der unitarischen Auffassung – Laurents Kerntheorie – Gerhardts Typen – Mangel an Eindeutigkeit – Wertigkeit der Elemente – Strukturtheorie von Kekule – Ihre grundsätzlichen Voraussetzungen – Ungesättigte und Molekularverbindungen – Die Raumformeln – Nutzen der Stereochemie – Allgemeines Schicksal der Theorien – Die Waldensche Umwandlung – Die Frage nach der hypothesenfreien Darstellung des Konstitutionsproblems – Der Energieinhalt – Tautomerie – Die Existenzfunktion


Durch die allgemeine Auffassung der nicht elementaren Stoffe als Verbindungen der elementaren Atome, deren geschichtliche Entwicklung wir in den früheren Vorlesungen betrachtet haben, war eine Anzahl von Fragen entstanden, die zunächst noch kaum vorausgesehen waren, später aber in den Vordergrund der chemischen Forschung traten und den Hauptgegenstand der wissenschaftlichen Erörterungen in der Chemie der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gebildet haben. Es sind dies die Fragen nach der Art, wie die beteiligten Atome sich zur Verbindung zusammenschliessen, mit anderen Worten nach dem, was man gegenwärtig die Konstitution der chemischen Verbindungen nennt.

Solange die Chemie vorwiegend einfachere Verbindungen kannte, trat diese Frage kaum auf. Dalton selbst liebte seine Atome sich bildlich in Gestalt von schwarzen und weissen Kreisen zu veranschaulichen und hat alsbald bei der Veröffentlichung seiner Theorie eine Anzahl solcher Bilder für die ihm bekannten Verbindungen gegeben. Irgendwelche bestimmte Prinzipien sind hierbei kaum zu erkennen, wenn es nicht die Neigung zu möglichst symmetrischer Anordnung ist, welche sich seitdem als ein (meist unbewusster) Leitfaden für ähnliche Veranschaulichungen bis auf den heutigen Tag betätigt hat. In der Tat kann über die Art der Verbindung zweier Atome miteinander gar keine Verschiedenartigkeit der Auffassung entstehen: sie sind eben wechselseitig miteinander verbunden. Erst bei drei und mehr Atomen treten mehrere Möglichkeiten ein. So sehen wir auch, dass Konstitutionsfragen erst entstanden, nachdem eine grössere Anzahl mannigfaltig zusammengesetzter Verbindungen bekannt geworden war.

Geschichtlich bemerken wir das erste Auftreten von Konstitutionsfragen bei der Betrachtung der Sauerstoffsalze, solcher Salze, welche neben Metall ein nichtmetallisches (oder auch metallisches) Element und ausserdem Sauerstoff enthalten. Mit der ersten Entwicklung genauerer Kenntnisse über die chemischen Verbindungen waren ja die Salze ganz besonders in den Vordergrund getreten, und es konnte bereits mehrfach auf die entscheidende Rolle hingewiesen werden, welche ihre Theorie für die Entwicklung der allgemeinen Anschauungen spielte. So hatte denn auch das Studium der Salze zu der Kenntnis einer fundamentalen Tatsache bezüglich ihrer Konstitution geführt, die allerdings so offenkundig war, dass sie als »selbstverständlich« betrachtet wurde, d. h. dass sie kein weiteres Nachdenken zu erfordern schien.

Diese Tatsache war die binäre Natur der Salze. So gut wie die ganze Chemie vom Anfange des neunzehnten Jahrhunderts war eine Chemie der Salze und insbesondere die analytische Kennzeichnung der verschiedenen Elemente beruhte ganz vorwiegend auf dem Verhalten ihrer salzartigen Verbindungen. Nun ist es die erste allgemeine Tatsache, die sich bei der analytischen Chemie auf nassem Wege, welche wegen ihrer viel grösseren Schnelligkeit und Mannigfaltigkeit die aus der Probierkunst entstandene ältere Analyse auf trockenem Wege in der Schmelzhitze verdrängt hatte, dem Forscher darbietet, dass jedes Salz zwei charakteristische Reaktionen aufweist, eine für die Säure und die andere für die Base; jede dieser Reaktionen ist von dem anderen Teil unabhängig. So konnten die Salze gar nicht anders als binär aufgefasst werden, und jeder Versuch einer Theorie der chemischen Verbindungen musste diesen Umstand in erster Linie zum Ausdruck bringen.

So haben wir z. B. gesehen, dass Richter ohne weiteres die Salze als Verbindungen von Säuren und Basen auffasste, denn durch das Zusammenbringen dieser Stoffe, was fast immer in wässeriger Lösung geschah, entstanden die Salze ohne nachweisbare Nebenprodukte. Seit Lavoisier wurden beide Stoffarten als Oxyde angesehen und bis auf den heutigen Tag drückt der Name Sauerstoff diese theoretische Anschauung bezüglich der Säure aus, so genau wir uns inzwischen von ihrer Unrichtigkeit überzeugt haben.

Dieser Auffassung zuliebe wurde unter anderem auch das Chlor als ein Oxydationsprodukt der Salzsäure angesehen und oxydierte Salzsäure genannt, da es durch die Einwirkung oxydierender Stoffe auf Salzsäure erhalten wird. Nachdem die Salzsäure als Chlorwasserstoff erkannt worden war, sah man das Chlor als das Oxyd eines unbekannten Elements Murium an. Die alten, in den Apotheken noch am längsten erhalten gebliebenen Namen Kalium muriaticum und oxymuriaticum für Kaliumchlorid und -chlorat sind ähnliche sprachliche Fossilien untergegangener Theorien, wie der Name Sauerstoff eines ist.

Diese allgemein angenommene Salztheorie fand Berzelius vor, als er eine Theorie der chemischen Verbindungen für die Zwecke einer systematischen Bearbeitung des ganzen Gebietes seiner Wissenschaft in seinem Lehrbuche zu entwickeln unternahm und bestätigte sie sich durch die Ergebnisse seiner elektrolytischen Versuche, über welche alsbald berichtet werden soll. Es darf uns nicht wundernehmen, dass seine Theorie, deren Geburtszeit in den beiden ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts liegt, einen elektrochemischen Charakter erhielt. Denn bis vor einigen Dezennien ist die Chemie dazu verurteilt gewesen, jeden erheblichen Fortschritt, den die benachbarten Wissenschaften erzielten, in ihren eigenen Theorien abzuspiegeln. Als durch Galilei und seine Schüler die wissenschaftliche Mechanik aufblühte, war die Chemie mechanisch und die chemischen Reaktionen wurden durch Spitzen, Schneiden und Haken an den Atomen erklärt. Als dann Newton seine Verallgemeinerung des Schwerebegriffes ausgesprochen hatte und die Idee der allgemeinen Anziehung in den Vordergrund getreten war, führte man die chemische Verbindung auf Anziehung zwischen den Atomen zurück. So war es nahezu unvermeidlich, dass die grossen Entdeckungen Galvanis und Voltas alsbald im Lager der Chemiker die Frage auslösten, ob nicht vielleicht die chemischen Vorgänge auf elektrische Eigenschaften der Atome zurückgeführt werden könnten. Demgemäss sehen wir alsbald verschiedene elektrochemische Theorien entstehen, von denen die von Berzelius den grössten Einfluss und die längste Dauer gehabt hat.

Berzelius' Theorie beruhte wesentlich auf den Ergebnissen einer Jugendarbeit, die er im Verein mit Hisinger über das Verhalten der Salze unter dem Einflusse des elektrischen Stromes ausgeführt hatte. Hierbei stellte sich heraus, dass die Säuren sich am positiven Pole, die Basen oder Metalle am negativen ausschieden. Ob Metall oder Base erschien, war wesentlich davon abhängig, ob das Metall neben dem Wasser der Lösung bestehen konnte. War es der Fall, so erschien das Metall, anderenfalls erschien die Base und daneben gleichzeitig Wasserstoff, ebenso wie Sauerstoff neben der Säure zu erscheinen pflegte. Hier waren offenbar zwei verschiedene Auffassungen möglich: entweder wurde das Metall als das eigentliche Ausscheidungsprodukt angesehen, und der Wasserstoff, der neben der Base erschien, war das Produkt der Einwirkung des wasserzersetzenden Metalls auf das Lösungswasser. Oder die Base nebst Wasserstoff waren das primäre Ausscheidungsprodukt; dann entstanden sekundär solche Metalle, welche durch den naszierenden, Wasserstoff aus ihren Oxyden, den Basen reduziert werden. Berzelius entschied sich für die zweite Auffassung, offenbar weil die Herstellung der Salze aus Säure und Base eine noch häufigere und gewohntere Operation war, als die aus Säure und Metall unter Verdrängung des Wasserstoffs; wohl auch, weil bei den sauerstoffhaltigen Säuren der andere Anteil des Salzes, der neben dem Metall angenommen werden musste, überhaupt nicht für sich bekannt war. Bei den einfachst zusammengesetzten Salzen, den Halogenverbindungen, war dieser Bestandteil allerdings bekannt, er ist das elementare Halogen.

Aber es ist schon erwähnt worden, dass die Sauerstoffsäurentheorie zuliebe die Halogene selbst als sauerstoffhaltig angesehen wurden. Als dann, wesentlich durch die Forschungen Humphry Davys die elementare Natur der Halogene sich herausgestellt hatte, musste man allerdings jene Theorie aufgeben. Anstatt aber, wie Davy folgerichtig forderte, nun auch die gesamte Betrachtung der Salze auf den Typus der Halogenenverbindung zu beziehen und daher den durch Metalle vertretbaren Wasserstoff als den charakteristischen Bestandteil der Säuren anzusehen, zog man es vor, den nötigen Schritt nur halb zu tun. Die Halogensalze freilich musste man auffassen, wie man sie fand; die Gruppe der Sauerstoffsalze aber liess man unter der suggestiven Wirkung jenes alten Namens bestehen und begnügte sich mit der unerklärten Tatsache, dass beide Arten chemischer Verbindungen trotz ihrer wesentlich abweichenden Konstitution sich so auffallend übereinstimmend verhalten. Erst eine viel spätere Entwicklung, bei welcher auch die ganze elektrochemische Theorie zu Falle kam, hat diesen systematischen Widerspruch beseitigt.

Einstweilen zeigte sich Berzelius trotz dieses Fehlers als ein Meister der Systematik. Nach dem Vorbilde der Bildung der Salze aus einem positiven und einem negativen Bestandteile sah er alle chemischen Verbindungen in ähnlicher Weise als binär konstituiert an. Alle Elemente ordnete er entsprechend der von Volta für die elektromotorische Wirkung aufgestellten Spannungsreihe in eine chemische Spannungsreihe vom positivsten Elemente, dem Kalium, bis zum negativsten, dem Sauerstoff. Wenn daher irgend zwei Elemente sich zu einer binären Verbindung vereinigten, so ergab sich aus ihrer Stellung in der Spannungsreihe alsbald, welches der positive und welches der negative Bestandteil war. Verbindungen aus mehreren Elementen wurden als aus binären Verbindungen nach demselben Schema bestehend betrachtet, indem einer der zusammengesetzten Bestandteile der Verbindung wieder als positiv, der andere als negativ, entsprechend seiner Zusammensetzung, angesehen wurde. So wurde das basische Oxyd der Salze als positiv, das saure als negativ aufgefasst. Wenn zwei Salze, wie Kaliumsulfat und Aluminiumsulfat im Alaun, sich zu einem Doppelsalze verbinden, so ergibt sich aus der Kenntnis von der vorwiegend sauren Natur des Aluminiumsalzes wiederum, dass dieses die negative Rolle gegenüber dem positiven Kaliumsulfat spielt; nur werden die elektrochemischen Gegensätze naturgemäss um so geringfügiger, je zusammengesetzter die Bestandteile sind, weil ein um so grösserer Teil der ursprünglichen Polarität bereits erschöpft ist. Im gleichen Masse begannen gelegentlich Unsicherheiten über den positiven und negativen Charakter der angenommenen näheren Bestandteile verwickelterer Verbindungen aufzutreten.

Wie man sieht, ist der systematische Gedanke dieser Anordnung der chemischen Verbindungen von dem Verhalten der Salze in wässeriger Lösung hergenommen. Es ist daher kein Wunder, dass er sich nur so lange bewährte, als die Salze den Hauptteil der Chemie ausmachten. Es waren mit anderen Worten die Widersprüche und Unzulänglichkeiten dort zu erwarten, wo nicht salzartige Verbindungen vorwiegen, in der organischen Chemie.

Zunächst trat ein anderes Problem in den Vordergrund, dessen erster Fall noch in der Familie der Salze, aber allerdings auf dem Grenzgebiete zwischen anorganischen und organischen Verbindungen beobachtet wurde. Es handelte sich um eine Erweiterung der Beziehungen zwischen Zusammensetzung und Eigenschaften. Die allgemeine Auffassung, die sich aus der Erkenntnis des Verhältnisses zwischen Elementen und Verbindungen und aus der Entwicklung des Begriffes des chemischen Individuums ergeben hatte, war, dass ein jeder einzelne Stoff nicht minder durch seine Zusammensetzung gekennzeichnet ist, als durch seine Eigenschaften. Mit der Entstehung dieser Erkenntnis war auch die Entstehung der erfahrungsgemässen Meinung verbunden, dass dieser Zusammenhang eindeutig und wechselseitig ist, dass mit anderen Worten weder Stoffe von gleicher Zusammensetzung verschiedene Eigenschaften, noch Stoffe von gleichen Eigenschaften verschiedene Zusammensetzung haben können.

Von diesen beiden Sätzen hat sich nur der zweite dauernd bewährt: es ist bis auf den heutigen Tag noch kein Fall bekannt, dass zwei Stoffe gleiche Eigenschaften bei verschiedener Zusammensetzung zeigen können. Eines Beweises durch die Erfahrung bedurfte der Satz nur im physikalischen Sinne; denn gleiche chemische Eigenschaften auch gleiche Umwandlungsprodukte bei entsprechender Behandlung mit anderen Stoffen definitionsgemäss bedingen, so bedeutet Gleichheit der chemischen Eigenschaften von vornherein Gleichheit der Zusammensetzung.

Demgemäss erregte der folgende Umstand alsbald die Aufmerksamkeit der chemischen Kreise. Zwei noch wenig bekannte junge Forscher, Justus Liebig aus Giessen (1803 bis 1873) und Friedrich Wöhler aus Frankfurt (1800 bis 1882) hatten unabhängig voneinander auf ganz verschiedenen Gebieten gearbeitet. Liebig, der sich durch seine in der Dachkammer der Apotheke, in der er Lehrling war, ausgeführten Arbeiten über das Knallquecksilber glücklich aus der Apotheke heraus-, aber in die Aufmerksamkeit einflussreicher Personen hineinexplodiert hatte, war nach Paris gegangen und hatte dort in Gay-Lussacs Laboratorium diese Forschungen mit Erfolg fortgesetzt. Es war ihm unter der Leitung des Meisters sogar gelungen, den gefährlichen Stoff zu analysieren und er hatte ihn als das Quecksilbersalz einer Säure gekennzeichnet, deren Zusammensetzung (in moderner Schreibart) er zu HCNO bestimmte. Anderseits hatte Wöhler aus dem Blutlaugensalz das Kaliumcyanat, aus diesem die Cyansäure und andere Salze derselben hergestellt: eine Untersuchung, die ihn später zu der Entdeckung der ersten künstlichen Darstellung einer organischen Verbindung, des Harnstoffes, führte. Auch er hatte seinen Stoff analysiert und für die Cyansäure die Zusammensetzung HCNO gefunden. Beide hatten die Übereinstimmung ihrer Analysen nicht bemerkt, dem Scharfsinne von Berzelius entging aber diese merkwürdige Sache nicht. Gemäss der damals allgemeinen Überzeugung von dem eindeutigen Zusammenhange zwischen Eigenschaften und Zusammensetzung und angesichts der Tatsache, dass die Eigenschaften dieser anscheinend gleich zusammengesetzten Verbindungen durchaus verschieden waren, erörterte er zunächst die möglichen Irrtümer, welche dem einen oder anderen Forscher begangen sein könnten. Diese, von denen jeder sich der Richtigkeit seiner Analysen versichert hatten, waren natürlich geneigt, jeder dem anderen den Fehler zuzuschieben und es wäre beinahe zu einer Fehde zwischen ihnen gekommen. Glücklicherweise zogen sie es vor, in persönlicher Aussprache sich Klarheit über die Angelegenheit zu suchen. Das Ergebnis dieser Begegnung war eine lebenslängliche Freundschaft, welche in der Geschichte der Chemie ebenso gross und vorbildlich dasteht, wie die Freundschaft zwischen Goethe und Schiller in der Geschichte der schönen Literatur.

Sachlich überzeugten sie sich, dass keiner von ihnen einen Analysenfehler begangen hatte. Sie gaben darüber öffentlich Rechenschaft und die Chemikerwelt, vor allen ihr geistiger Führer Berzelius musste die Tatsache ins Auge fassen, dass es wirklich Stoffe geben kann, die bei gleicher Zusammensetzung verschiedene Eigenschaften aufweisen, und, was gleichzeitig zugefügt werden mag, keine einfache gegenseitige Umwandlung zeigen, wie etwa Eis und Wasser.

Berzelius fand sich mit dieser Entdeckung in gewohnter Meisterschaft ab. Seine Grösse bestand wesentlich darin, dass er die vereinzelten Tatsachen, die der Tag brachte, mit anderen, deren Ähnlichkeit bis dahin übersehen worden war, in Zusammenhang zu bringen und das grundsätzlich Allgemeine an ihnen in klarer und entwicklungsfähiger Form auszusprechen wusste. Diese Fähigkeit hat er im vorliegenden Falle wieder glänzend bewährt und die von ihm geschaffene Gedankenbildung hat bis auf den heutigen Tag gedauert; sogar die von ihm vorgeschlagenen Namen sind noch immer in Gebrauch und werden es für absehbare Zeit bleiben.

Allerdings hat Berzelius die Aufnahme dieser neuen Tatsachengruppe in den regelmässigen Bestand der Wissenschaft nicht auf einmal vollzogen. Nachdem alle Möglichkeiten ausgeschlossen waren, dass im vorliegenden Falle ein Versehen die Gleichheit der Zusammensetzung vortäuschen könnte, hat er, zunächst ausgesprochen, dass man den Satz aufgeben müsse, dass ohne Ausnahme gleicher quantitativer Zusammensetzung gleiche Eigenschaften entsprechen. Die Ursache der vorhandenen Unterschiede hat er alsbald als überzeugter Anhänger der Atomhypothese darauf zurückgeführt, dass die gleichen Atome solcher Verbindungen » auf verschiedene Weise zusammengelegt« seien. Derselbe Gedanke wurde alsbald von Dumas ausgesprochen, welcher auf die Allotropie der Elemente, z. B. die Verschiedenheiten zwischen Kohle, Graphit und Diamant, oder die Verschiedenheiten des roten und weissen Phosphors, sowie auf die schon einige Jahre vorher von Mitscherlich allgemein ausgesprochene Tatsache der Polymorphie hinwies, derzufolge nicht selten »derselbe« Stoff in verschiedenen Kristallformen vorkommt. Allerdings waren dies Fälle, in welchen die verschiedenen Formen einer gegenseitigen Umwandlung fähig sind, oder wo eine solche Fähigkeit wenigstens grundsätzlich vorausgesetzt wurde.

Aber auch ein Fall, wo bei gleicher Zusammensetzung eine gegenseitige Umwandlung nicht bekannt war, wurde bald entdeckt. In einer nach mehreren Seiten folgenreichen Untersuchung über die flüssigen Ausscheidungen in komprimiertem Leuchtgas (in welcher unter anderen Stoffen das Benzol zuerst beschrieben wurde) hat Michael Faraday einen Kohlenwasserstoff gekennzeichnet, welcher dieselbe Zusammensetzung besass, wie das lange bekannte ölbildende Gas, dagegen andere Eigenschaften und insbesondere eine doppelt so grosse Dichte in Gasform.

Endlich hatte Berzelius selbst einen Fall unter Händen, welcher ihn mehr als alle früheren davon überzeugte, dass hier in der Wissenschaft eine neue Begriffsbildung notwendig war. Bei der fabrikmässigen Darstellung der Weinsäure war gelegentlich eine Säure erhalten worden, welche mit der gewöhnlichen Weinsäure in der Zusammensetzung und der Salzbildung wesentlich übereinstimmte, aber gewisse abweichende Eigentümlichkeiten (Krystallwassergehalt, unlösliches Kalksalz usw.) zur Schau trug, welche auch beim Umkristallisieren, Umwandeln in Salze u. dergl. bestehen blieben. Berzelius verschaffte sich ausreichende Mengen dieser » Traubensäure« und überzeugte sich nicht nur davon, dass sie von der Weinsäure charakteristisch verschieden ist, sondern auch davon, dass sie und ihre Salze genau die gleiche Zusammensetzung wie die Weinsäure und ihre Salze haben. Dabei war die Ähnlichkeit beider Säuren so gross, dass auch der Faradaysche Fall, dass die eine Verbindung doppelt soviel Atome enthielt wie die andere, ausgeschlossen erschien; ein eindeutiger Nachweis hierfür war allerdings damals nicht zu erbringen und gegenwärtig wissen wir, dass wenigstens im festen Zustande die Weinsäure zur Traubensäure gerade in einem solchen Verhältnis vom einfachen zum doppelten steht.

So führte denn Berzelius Begriff und Namen der Isomerie für Stoffe von gleicher Zusammensetzung und verschiedenen Eigenschaften ein, und unterschied zwischen Metamerie und Polymerie, je nachdem die Formeln der beiden Verbindungen übereinstimmend sind oder im Verhältnis von Vielfachen zueinander stehen. Wie bekannt, benutzen wir noch heute sowohl Namen wie Begriff.

Als Ursache oder Erklärung der Verschiedenheit der Eigenschaften bei Gleichheit der Zusammensetzung sah Berzelius in Übereinstimmung mit seinen Zeitgenossen die Verschiedenheit der näheren Anordnung der Atome an. Auch hier war seine wissenschaftliche Vorsicht und Umsicht bewunderungswürdig, denn er setzt in seinem Jahresbericht weitläufig auseinander, dass die Produkte, die man als Spaltungsstücke von Verbindungen erhält, durchaus nicht notwendig als besondere Gruppen in dieser Verbindung bestehen müssen und benutzt eine Zeichnung, in welcher die sieben Atome der Magneteisensteins, Fe3O4 in Gestalt von Kreisen nebeneinander abgebildet sind, um daran die Möglichkeit verschiedener Zersetzungsarten bei gleicher Zusammensetzungsart der Verbindung zu erläutern. Indessen ist dieser vorsichtige Standpunkt später von ihm und den anderen Forschern verlassen worden, denn tatsächlich gibt es gar kein anderes Mittel, sich Anschauungen über diese (hypothetische) Frage zu verschaffen, als das Studium der chemischen Umwandlungen und die Beachtung der Gruppen, welche dabei dauerhafter zusammenbleiben. Es muss mit anderen Worten allgemein bei derartigen Untersuchungen die Voraussetzung gemacht werden, dass die Konstitution der Zersetzungs- und Umwandlungsprodukte eines gegebenen Stoffes mit der dieses Stoffes selbst übereinstimmt. Wenn dann zwischen den Ergebnissen verschiedenartiger Eingriffe in den gleichen Stoff Widersprüche entstehen, so pflegt diejenige Reaktion, welche sich der übrigen Systematik am besten anschliesst, als die normale angesehen zu werden, während man bei der anderen eine eintretende Konstitutionsänderung annimmt. Dass ein solches Verfahren einige Willkür enthält, ist nicht in Abrede zu stellen; auch tritt sie in den Ergebnissen deutlich hervor, da die ganze Geschichte der Chemie seit dieser Zeit mit Diskussionen erfüllt ist, welche von dem Mangel an Eindeutigkeit in den Prinzipien der Konstitutionsbestimmung herrühren.

Der Gedanke von dem engeren Zusammenhang gewisser Atomgruppen in der Molekel gewann zunächst Gestalt in der Theorie der Radikale. Diese war eine naturgemässe Entwicklung des elektrochemischen Dualismus, denn die von diesem als Bestandteile der Sauerstoffsalze angenommenen Oxyde stellten bereits die einfachsten Fälle solcher Radikale dar. Das Studium des Cyans und des Ammoniaks und ihrer Verbindungen zeigte die grosse Ähnlichkeit auf, welche gewisse zusammengesetzte Stoffe mit elementaren haben können: Cyan ist durchaus den Halogenen, Ammonium den Alkalimetallen vergleichbar.

Viel mannigfaltiger und gleichzeitig unbestimmter wurde der Begriff des Radikals durch die Entwicklung der organischen Chemie. Da in den hierhergehörigen, nicht salzartigen Verbindungen dem Dualismus der elektrochemischen Theorie zuliebe gleichfalls positive und negative Bestandteile näherer und fernerer Ordnung angenommen werden mussten, für welche das chemische Verhalten nur unbestimmte Anhaltspunkte gab, die vielfach in widersprechender Weise aufgefasst werden konnten, so entstand hier bereits ein ergiebiger Boden für chemische Streitigkeiten. Diese Unbestimmtheit war ein Zeichen, dass die elektrochemische Betrachtungsweise auf dem neuen Gebiete wenig zweckmässig war und bereitete somit einen Widerspruch gegen sie vor.

Aber bald wurden die Widersprüche noch schlimmer, nämlich bestimmter. Wasserstoff galt als ein positives, Chlor als ein negatives Element; es war also ausgeschlossen, dass Chlor in einer Verbindung dem Wasserstoff einer anderen entsprechen könne, wie sich z. B. Wasserstoff und Natrium in ihren Verbindungen z. B. dem Chlorwasserstoff und dem Chlornatrium, entsprechen. Und dennoch wurden zahlreiche organische Verbindungen entdeckt, welche zueinander in der Beziehung standen, dass sie im allgemeinen gleiche Zusammensetzung hatten, nur war in den einen an Stelle einer Anzahl Wasserstoffatome eine gleiche Zahl von Chloratomen vorhanden. Dies war kein äusserer Zufall, denn durch Behandeln mit Chlor konnte man die Wasserstoffverbindung in die Chlorverbindung verwandelt, wobei der allgemeine Charakter des Stoffes nicht erheblich verändert wurde. Später gelang es sogar, durch naszierenden Wasserstoff umgekehrt das Chlor auszutreiben und den früheren Stoff wieder herzustellen. Es konnten also zweifellos in diesen organischen Verbindungen Chlor und Wasserstoff sich gegenseitig vertreten oder substituieren.

Für die wissenschaftliche Verwertung dieser Entdeckung war es eine entscheidende Frage, wie sich Berzelius zu ihr stellen würde. Denn dieser grosse Chemiker nahm damals die Stellung eines Grossmeisters und Gewissensrates in der Wissenschaft, die ihm so viel verdankte, ein. In seinem Jahresberichte stellte er jahraus, jahrein nicht nur die wissenschaftlichen Leistungen der Zeit zusammen, sondern er stellte auch deren wissenschaftlichen Kurs fest und seinem Urteil pflegten sich die Zeitgenossen um so bereitwilliger zu unterwerfen, als er durch eine lange Reihe von Jahren dessen Sicherheit und Unparteilichkeit erwiesen hatte. Wissentlich hat Berzelius immer an den Grundsätzen festgehalten, die er bei früheren Gelegenheiten oft genug ausgesprochen hatte, dass nämlich alle Theorien nur dazu vorhanden seien, die Tatsachen zu ordnen und übersichtlich zu machen und dass somit jede Theorie zu verwerfen ist, die diesen Forderungen nicht genügt. Auch waren ihm die psychologischen Beschränkungen und Schwierigkeiten in der Anwendung dieser Grundsätze nicht unbekannt geblieben; äussert er doch gelegentlich selbst in einer Polemik, dass die Gewohnheit einer theoretischen Ansicht, die sich während langer Zeit bewährt hat, so tiefgewurzelt werden kann, dass man schliesslich ganz ausserstande ist, sie von den Tatsachen zu unterscheiden, zu deren Veranschaulichung sie erfunden worden ist. Jetzt kam es, dass Berzelius selbst ein Beispiel zu dieser psychologischen Wahrheit lieferte; er hatte durch seine ganze arbeitsreiche Laufbahn ein so gutes Auskommen mit seiner Theorie des elektrochemischen Dualismus gefunden, dass er sich nicht die Frage stellte, ob es nicht doch Teile der Wissenschaft geben könne, die durch die Theorie keinen angemessenen Ausdruck fanden, sondern dass er die Grenzen der elektrochemischen Theorie mit den Grenzen der Wissenschaft verwechselte und daher alles, was über diese Theorie hinauswies, als unwissenschaftlich bekämpfte.

Das Ergebnis war ein langer und heftiger Kampf zwischen Berzelius und den jüngeren Forschem in den neuen Wissenschaftsgebieten. Als zuerst französische Chemiker, namentlich Dumas und Laurent, auf die Vertretbarkeit des Wasserstoffs organischer Verbindungen durch Chlor hingewiesen hatten, entstand zunächst unter den in Berzelius' Anschauungskreise aufgewachsenen anderen Chemikern ein so grosser Sturm des Widerspruches, dass Dumas sich beeilte zu erklären, er habe die Sache nur formal gemeint, während Laurent an der wirklichen Substitution des Chlors für Wasserstoff festhielt. Liebig veröffentlichte in seinen Annalen einen scherzhaften Privatbrief Wöhlers an Berzelius, in welchem dieser die Substitutionstheorie lächerlich machte und Berzelius schien den Sieg behalten zu sollen. Aber die oberste Instanz, die auch für Berzelius massgebend war, die Erfahrung, entschied zugunsten der Neuerer. Immer mehr Tatsachen sprachen dafür, dass bei diesen Vertretungen von Wasserstoff durch Chlor Stoffe entstehen, die mit den Ausgangsstoffen eine übereinstimmende Konstitution haben und so bekehrte sich ein Gegner nach dem anderen. Wenn sie auch nicht Dumas unbedingt folgten, der »mit der ihm eigenen Hastigkeit im Schliessen« ( Berzelius) alsbald wieder behauptet hatte, dass für die Eigenschaften der chemischen Verbindungen die »Stellung« alles, die Natur des chemischen Elements, das diese Stellung einnahm, gar nichts zu bedeuten habe, so konnte doch nicht in Abrede gestellt werden, dass unter Umständen die sonst gewohnten Beeinflussungen der Verbindungen durch die Natur ihrer Elemente unerwartet weit zurücktraten.

Berzelius freilich gab nicht nach, aber seine Truppen verliessen ihn. Liebig, der anfangs zu den glühendsten Bewunderern des grossen Schweden gehört hatte, der dessen Herz bei persönlicher Begegnung im Sturme gewonnen hatte, wurde durch diesen Streit mehr und mehr in einen Gegensatz zu dem verehrten Altmeister gedrängt, der diesen zu bitteren und ungerechten Angriffen veranlasste, bis schliesslich ein offener Bruch nicht mehr zu vermeiden war. Die wissenschaftlichen Deutungen, durch welche Berzelius die elektrochemische Theorie mit den täglich neu entdeckten Tatsachen der organischen Chemie in Einklang zu bringen versuchte, wurden immer gezwungener und ungenügender, und schliesslich sah sich der Mann, der durch ein Menschenalter das wissenschaftliche Denken in seinem Gebiete bestimmt und geführt hatte, fast von allen Mitarbeitern im neuen Gebiete verlassen.

Berzelius erlebte hier ein Schicksal, dass fast keinem Führer in der Wissenschaft erspart bleibt, ausser er stirbt früh oder gibt rechtzeitig die Führerstellung auf. Die grossen Gestalten in der Geschichte der Menschheit pflegen dem Beschauer in unveränderlicher Herrlichkeit zu erscheinen, weil ihm wie das Nachbild bei einem Blick in die Sonne ihre Persönlichkeit so im Gedächtnis ist, wie sie zu ihrer glänzendsten Zeit war. Aber bei jedem Manne, der da seine Zeit in irgendeiner Weise entscheidend beeinflusst hat, lassen sich drei Perioden unterscheiden. Zuerst ist er allen Zeitgenossen weit voraus und hat darunter zu leiden, dass diese ihn nicht verstehen und ihm daher nicht folgen wollen; hierzu kommt noch die natürliche Wirkung des Trägheitsgesetzes, unter dessen Einfluss jede erhebliche Änderung unserer Anschauungen, die ein Verlassen gewohnter Gedankenbahnen verlangt, abgelehnt wird. Dann gelingt es, die neuen Gedanken durchzusetzen; die empfängliche Jugend, bei welcher jenes Trägheitsgesetz am wenigsten zur Wirkung gelangt, einmal weil die Bahnen noch nicht ganz und gar zur Gewohnheit geworden sind, und sodann, weil bei ihr noch reichliche Energievorräte zu neuer Arbeit vorhanden sind, schliesst sich dem Führer an und durch eine grosse Bewegung werden die neuen Gedanken in die Wissenschaft eingeführt. Dann aber kommt die weitere Betätigung eben dieser Jugend zur Geltung. Der Führer hatte seinerzeit seine ganze Energie darauf wenden müssen, nur eben erst Bahn zu brechen und die grössten Hindernisse zu beseitigen. Seine Jünger finden gebahnten Weg bis zu dem Punkte, den der Führer unter Erschöpfung seiner besten Kräfte erreicht hatte und können ihrerseits mit geschonten Kräften von hier aus weiter arbeiten. So gewinnt das, was zuerst als die persönliche Schöpfung jenes Bahnbrechers erschien, sein eigenes Leben und seine eigene Entwicklung und je besser und fruchtbarer die neuen Gedanken waren, um so kräftiger tritt deren weitere Ausgestaltung ein. So muss es schliesslich unvermeidlich dazu kommen, dass dem Führer der Atem ausgeht, während die Wissenschaft ihren Weg unaufhaltsam fortsetzt. Hat der Führer in seinen jungen Jahren unter Aufbietung aller seiner Kräfte den Wagen der Wissenschaft in Bewegung gesetzt, so nimmt dieser unter der Beteiligung der jungen Mitarbeiter in jener zweiten Periode immer grössere Geschwindigkeiten an. Einige Zeit kann der Führer noch an der Spitze bleiben, zumal ihm die Arbeit des Ziehens von den anderen abgenommen wird und er nur noch den Weg zu zeigen hat. Aber gerade dadurch gelangt er ausser Gefühl mit den treibenden Kräften; unwillkürlich versucht er die alte Richtung beizubehalten, wenn auch die Notwendigkeiten der neuen Bedingungen eine andere als zweckmässiger erscheinen lassen. Und ehe er es sich versieht, geht der Wagen einen anderen Weg, als er ihn weist.

Dann beginnt eine dritte Periode, in der es nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten gibt. Die eine ist: er tritt zur Seite und lässt den Wagen seinen Weg unbehindert fortsetzen, wenn er auch persönlich der Meinung ist, dass dieser Weg falsch ist. So hat beispielsweise Volta gehandelt. Während er bis zur Erfindung seiner Säule eine ganz ausserordentliche wissenschaftliche Tätigkeit entfaltet hatte, schweigt er hernach fast vollständig, obwohl ihm noch ein langer Lebensabend beschieden war: er hat seine grosse Entdeckung um ein Vierteljahrhundert überlebt und hat den Umschwung beobachten können, den sie in der Chemie hervorgebracht hat. Aber die chemische Seite der Galvanischen Elektrizität war gerade die, für welche er am wenigsten Interesse hatte, und so erscheint es erklärlich, dass es ihn nicht lockte, der Wissenschaft auf diesen Weg zu folgen, den er für einen Seitenweg hielt.

Die andere Möglichkeit ist, dass man sich für verpflichtet erachtet, der Wissenschaft nach bester Einsicht solange zu dienen, als die Kräfte nur reichen wollen. Dann ist ein Gegensatz unvermeidlich. Die entstandene Bewegung lässt sich um so weniger aufhalten, je mächtiger der Impuls gewesen war. Aller Widerstand ist vergeblich und so wälzt sich die Entwicklung über den Widerstrebenden hinweg. In vergeblichem Kampfe gegen das Neue, das er weniger und weniger zu verstehen und zu schätzen vermag, verzehren sich die letzten Kräfte und der Mann, dem die Menschheit zu ewigem Danke verpflichtet ist, stirbt verbittert und vergrämt, weil er das Werk, das er selbst errichtet hat, seiner ehrlichsten Überzeugung nach zugrunde gehen sieht. Dieses Schicksal ist gerade den gewissenhaftesten und pflichttreuesten Arbeitern vorbehalten, weil sie ihre Stimme um so mehr zur Geltung zu bringen sich verpflichtet fühlen, je weiter die neuen Wege von denen abführen, die sie während ihrer langen und erfolgreichen Laufbahn als die richtigen erkannt haben. Das Tragische an dieser Entwicklung liegt aber in ihrer Notwendigkeit, an dem unausgleichbaren Widerspruch zwischen der nach Jahrtausenden bemessenen Entwicklungsweise der Wissenschaft und dem in eine kurze Spanne Zeit zusammengedrängten Leben des einzelnen.

Bei Berzelius trafen die Verhältnisse derart zusammen, dass er die ganze Härte des unabwendbaren Schicksals der grossen Männer erfahren musste. Dieselbe Allgemeinheit der Interessen und Gewissenhaftigkeit im einzelnen, welche bewirkt hatten, dass ihm von der ganzen Kulturwelt die chemische Hegemonie während eines Menschenalters unbestritten zugebilligt worden war, verhinderte ihn nun, das allmählich eintretende Missverhältnis zwischen seinen eigenen Kräften und denen der jungen Wissenschaft gelten zu lassen, ja zu bemerken. Je mehr diese ihre eigenen Wege ging, um so mehr fühlte er sich verpflichtet, das was sein ganzes Leben erfüllt hatte, vor Entstellung und Missleitung zu bewahren. So waren es die höchsten Interessen neben den niederen, unbewusst wirksamen, die in gleicher Weise ihn zwangen, den Kampf nicht aufzugeben, sondern ihn bis zum letzten Atemzuge durchzuführen. Wie sehr die von ihm selbst früher beschriebene Verwechslung zwischen Theorie und Tatsachen eingetreten war, geht aus dem bei ihm in dieser Periode nicht selten auftretenden Argument hervor, dass die Ansichten seiner Gegner schon deshalb nicht richtig sein könnten, weil sie mit der elektrochemischen Theorie unvereinbar wären. Doch nicht Tadel oder gar Spott gebührt dem grossen Manne, sondern der ehrfürchtige Schmerz soll unser Urteil leiten, der uns erfüllt, wenn wir auch an unseren Grössten die Begrenztheit der menschlichen Natur erkennen müssen, über die wir uns wegen des Dankes, den wir ihnen schulden, so gern hinwegtäuschen möchten. –

Die nächste Folge des scharfen Gegensatzes zwischen der älteren und neueren Theorie war, dass die Unterscheidungspunkte so streng wie möglich betont wurden. Hierdurch wurden nicht nur die unhaltbaren Ansprüche des elektrochemischen Dualismus beseitigt, sondern auch die haltbaren. An Stelle der dualen Auffassung aller chemischen Verbindungen trat eine ebenso radikale wie unangemessene unitarische; ebenso wie die Abwesenheit einer ausgeprägt dualistischen Konstitution bei den organischen Verbindungen von Berzelius misskannt worden war, wurde der zweifellose Dualismus der Salze von der neuen Auffassung misskannt, und erst in den letzten Dezennien ist mit der Entwicklung der rationellen Elektrochemie eine gerechte Scheidung und Würdigung beider Standpunkte eingetreten.

Als wichtigster neuer Gesichtspunkt trat naturgemäss der der Substitution in den Vordergrund. Wenn sich zwei so verschiedene Elemente, wie Wasserstoff und Chlor ohne Änderung der Konstitution gegenseitig substituieren können, so muss dies bei ähnlicheren Elementen um so mehr der Fall sein. Somit müssen sich um eine gegebene Ausgangsverbindung Abkömmlinge in nahezu unbegrenzter Anzahl anordnen lassen, die alle aus jener Stammverbindung durch Substitution entstehen. Die Wasserstoffverbindung ergab sich hier als der natürliche Ausgangspunkt und die organische Chemie gruppierte ihre Stoffe demgemäss um die Stammkohlenwasserstoffe, indem deren Wasserstoffatome durch andere Elemente ersetzt wurden.

Dies war der Grundgedanke von Laurents Theorie der Kerne. Sie hat keine allgemeine Annahme gefunden, obwohl L. Gmelin sie wegen ihrer systematischen Durchsichtigkeit seinem Handbuch der Chemie zugrunde gelegt hatte.

Wie es immer, auch bei den scheinbar grundstürzendsten Umwälzungen geht, wurde ein reichlicher Anteil des alten Materials aus der bekämpften Theorie zum Aufbau der neuen verwendet. Dass gewisse Gruppen sich den Elementen insofern ähnlich verhalten, als sie ähnliche Verbindungen mit gleichen anderen Elementen bilden, ist eine Tatsache, die von allen Theorien unabhängig ist und die daher einen unvernichtbaren Bestandteil der Radikaltheorie bildete. So wurden die chemischen Radikale in die Substitutionstheorie derart aufgenommen, dass man grundsätzlich solche Radikale als Substituenten, entsprechend den Elementen, betrachtete.

Hierdurch ergab sich allerdings wieder alsbald eine unbegrenzte Freiheit der Kombinationen. Indem insbesondere Kohlenwasserstoffgruppen ihrerseits als Radikale aufgefasst wurden, konnte man zusammengesetztere Kohlenwasserstoffe als Substitutionsabkömmlinge einfacherer ansehen. Laurents Kerne verloren auf solche Weise einen grossen Teil ihrer systematischen Bedeutung, und an ihre Stelle traten die möglichen Mannigfaltigkeiten der Substitutionstypen.

Diesen Schritt tat Laurents Mitarbeiter Karl Gerhardt (1816 bis 1856). Er stellte die Typen Wasserstoff, HH, Chlorwasserstoff, HCl, Wasser . und Ammoniak . auf, aus denen durch Substitution mittelst elementarer oder zusammengesetzter Substituenten alle übrigen Verbindungen sich ableiten lassen.

Es fällt auf, dass Wasserstoff und Chlorwasserstoff als zwei verschiedene Typen eingeführt werden, da doch beide übereinstimmend aus je zwei Atomen bestehen. Sie sind demgemäss auch in der Folge nicht mehr als verschieden behandelt worden.

Vermöge ihrer grossen Einfachheit hat diese Auffassung sich sehr schnell Bahn gebrochen und während einiger Dezennien die formale Darstellung der Chemie beherrscht. Auch auf die Salze wurde diese Betrachtungsweise ausgedehnt, indem diese unter gleichzeitiger Durchsetzung der Theorie der Wasserstoffsäuren allgemein als Substitutionsprodukte angesehen wurden, in denen der Wasserstoff der Säuren durch Metall ersetzt worden war. Dass durch dieses Schema der zweifellos dualen Natur der Salze Gewalt angetan wurde, kam damals nicht zur Geltung, da das gesamte theoretische Interesse auf die organischen Verbindungen konzentriert war. Hier brachte jeder Tag neue Stoffe und neue Umwandlungen und es war eine höchst dringende Aufgabe, diesen überquellenden Reichtum einigermassen in Ordnung zu halten.

Allmählich begann sich aber ein Selbstzersetzungsprozess innerhalb der Typentheorie zu zeigen, der notwendig zu ihrer Zerstörung führen musste. Der Keim des Verderbens lag in dem Mangel an Eindeutigkeit ihres Schemas. Man konnte, wenn man wollte, jede etwas zusammengesetztere Verbindung innerhalb jedes beliebigen Typus unterbringen. Am deutlichsten tritt dies bei den Typen selbst hervor. Wasser kann als Substitutionsprodukt des Wasserstoffs angesehen werden, indem eines von dessen Wasserstoffatomen durch Hydroxyl ersetzt gedacht wird: .

Ebenso kann man beliebig das Ammoniak dem Wasserstoff- oder dem Wassertypus unterordnen: H(NH 2) und .

Somit enthielten die gewählten Typen trotz der Systematik, die sich in der regelmässig wachsenden Anzahl ihrer Wasserstoffatome zeigte, noch willkürliche Bestandteile, deren Beseitigung notwendig war, um ihre zwecklose Vieldeutigkeit abzuschaffen.

Der Weg hierzu ergab sich aus der Betrachtung von dem verschiedenartigen Substitutionswert der verschiedenen Elemente und Radikale. Wenn aus einer für sich existenzfähigen Verbindung ein Wasserstoffatom entfernt gedacht wurde, so war der Rest, als Radikal betrachtet, offenbar wieder fähig, sich mit einem Atom Wasserstoff zu verbinden. Ebenso war er fähig, ein Atom Wasserstoff in anderen Verbindungen zu ersetzen. Dies kam insbesondere an der Atomgruppe OH, die aus dem Wasser durch Verlust eines Wasserstoffatoms entstanden entsteht, zur Geltung. Sie drängte sich bereits bei den ersten Versuchen mit dem Substitutionsbegriff so unwiderstehlich vor, dass ihr häufigeres Auftreten im Verein mit ihrer Isomerie mit Wasserstoffsuperoxyd als Argument für die Unsinnigkeit der Substitutionstheorie benutzt wurde. Später ist, insbesondere durch Gerhardt dieser von den Bauleuten verworfene Stein zum Eckstein der Theorie geworden. Wurden ferner zwei Atome Wasserstoff aus einer existenzfähigen Verbindung entfernt, so entstand ein Rest oder Radikal, welches zwei Wasserstoffatomen in anderen Verbindungen gleichwertig war usw. In gleicher Weise konnte man aber nicht nur den Substitutionswert der zusammengesetzten Radikale messen, sondern auch den der Elemente, und so ergab sich der Sauerstoff als zwei-, der Stickstoff als dreiwertig.

Dies war der Weg, der von den Radikalen wieder zurück zu den Elementen führte und auf dem der Begriff von der verschiedenen Wertigkeit der Elemente sich entwickelt hat. Seinen eigentlichen Wert erhielt dieser Schritt aber erst, als diese Betrachtungsweise auf das Hauptelement der organischen Chemie, den Kohlenstoff selbst angewendet wurde. Hierbei stellte sich heraus, dass der Kohlenstoff als vierwertig angesehen werden muss, so dass das Sumpfgas CH4 als der allgemeinste Typ der organischen Verbindungen erscheint. Durch Substitution von Kohlenwasserstoffradikalen im Sumpfgase und unbegrenzte Wiederholung dieser Operation liessen sich zunächst alle Kohlenwasserstoffe ableiten; dass die übrigen Verbindungen sich von diesen ableiten lassen, hatte schon längst Laurent gezeigt.

Hierbei verschwanden die Typen Gerhardts in dem allgemeineren Begriff der Wertigkeit der Elemente. Zwei einwertige Elemente, wie Wasserstoff und Chlor, können sich nur zu dem ersten Typus verbinden, und ebenso sind die anderen Typen nichts als die einfachsten Verbindungen der mehrwertigen Elemente mit Wasserstoff. Eine gegebene Verbindung gehört demgemäss so vielen verschiedenen Typen an, als Wertigkeiten oder Valenzen von den in ihr enthaltenen Elementen betätigt werden, oder noch allgemeiner, sie gehört allen Typen aufwärts bis zu dem des höchstwertigen Elements an, das sie enthält.

Diese Strukturtheorie wurde gleichzeitig und unabhängig von Kekulé, Couper und Butlerow um das Jahr 1858 entwickelt. Sie gewann einen schnellen und glänzenden Erfolg, der in erster Linie durch das von Kekulé herausgegebene Lehrbuch bewirkt worden ist, in welchem die Anwendbarkeit der neuen Betrachtungsweise an dem gesamten Umfange der damals bekannten organischen Verbindungen aufgezeigt werden sollte. Das Buch ist indessen keineswegs konsequent im Sinne dieser eben dargelegten einfachen Auffassung abgefasst; man kann vielmehr leicht erkennen, wie während der systematischen Bearbeitung des Materials dem Verfasser die allgemeinen Grundlagen immer klarer wurden. Gerade durch diesen Umstand vermittelte es den Übergang aus der früheren Auffassung in die neue um so wirksamer; fast jeder Chemiker ging dort mit dem Verfasser von seinen eigenen bisherigen Ansichten aus, um dann allmählich in die neuen hinein geführt zu werden. Diese innere Entwicklung, wozu dann noch in dem zweiten Teile des Werkes ein neuer systematischer Gedanke von grösster Tragweite, die Schaffung des hexagonalen Benzolsymbols kam, hat auf den Verfasser so überwältigend gewirkt, dass er die Geister, die er gerufen hatte, nicht mehr bändigen konnte und sein bahnbrechendes Buch niemals vollendet hat.

Der Wert der Strukturtheorie lag in zwei Punkten. Einerseits ermöglichte sie eine bessere und eindeutigere Systematik der organischen Verbindungen als die alte Typenlehre es tat. Dann aber gab sie ein überraschend zutreffendes Bild von den damals bekannten und den inzwischen entdeckten Isomerieverhältnissen. Wie bereits betont worden ist, erforderte gerade die Tatsache, dass es Stoffe von gleicher Zusammensetzung aber verschiedenen Eigenschaften gibt, einer Systematisierung (oder sogenannte Erklärung) auf Grund irgendeines angemessenen methodischen Prinzipes. Die Radikaltheorie hatte hierfür bereits Fingerzeige gegeben; so hatte Berzelius betont, dass das Stannosulfat die gleiche Zusammensetzung haben würde wie ein basisches Stannisulfit, falls ein solches hergestellt werden könnte. Hier war der Unterschied im Sauerstoffgehalte der beiden Basen durch einen entgegengesetzten Unterschied in den Säuren kompensiert, so dass die Brutto-Zusammensetzung die gleiche blieb. In ähnlicher Weise gab es eine ziemlich unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten, wie die Atome irgendeiner Verbindung auf Radikale verteilt werden können.

Dieses Schema war natürlich viel zu locker, als dass es zu einer Beurteilung der Anzahl möglicher Isomeren bei einer gegebenen Zusammensetzung hätte führen können; in der Tat ist es nie für derartige Zwecke angewendet worden. Auch für die Typentheorie gelten ähnliche Bemerkungen; man war auch dort nie sicher, ob zwei verschiedene Anordnungen derselben Elemente nach verschiedenen Typen eine wirkliche Verschiedenheit entsprechender Verbindungen ausdrückte oder nicht. Erst durch die Strukturformeln kam einige Schärfe in diesen Zusammenhang zwischen Formel und Stoff: solchen Formeln, die nicht auf das gleiche Schema gegenseitiger Atombindungen gebracht werden konnten, mussten verschiedene Stoffe entsprechen; wo umgekehrt die Strukturformel keine Verschiedenheit ergab, waren auch nicht verschiedene Stoffe zu erwarten.

So erregte es seinerzeit ein nicht geringes Interesse, als aus den Angaben der Literatur hervorzugehen schien, dass es zwei verschiedene Verbindungen CH3Cl gibt. Am vierwertigen Kohlenstoffatome können sich drei einwertige Wasserstoffatome und ein einwertiges Chloratom nicht verschieden anordnen, und somit konnte es nach der Strukturchemie auch nur ein Chlormethyl geben. Eine Untersuchung, welche A. von Baeyer als Student unter Bunsens Leitung ausführte, schien die Verschiedenheit jener beiden Chlormethyle (aus Kakodylsäure und aus Methylalkohol) zu bestätigen und wurde auch im Sinne der Radikaltheorie gegen die Strukturtheorie verwertet; später stellte sich jedoch heraus, dass die beobachtete Verschiedenheit nur scheinbar war; sie beruhte auf der damals noch sehr grossen Schwierigkeit, diesen unter gewöhnlichen Umständen gasförmigen Stoff im reinen Zustande herzustellen.

Derartiger Triumphe hat die Strukturtheorie mehrere gefeiert; sie erwies sich als sehr geeignet, nicht nur vorhandene Isomerien zu erklären und noch unbekannte vorauszusagen, sondern auch die Wege anzugeben, um zu ihnen zu gelangen.

Wenn von den Staaten behauptet wird, dass sie durch dieselben Mittel erhalten werden, durch welche sie begründet worden sind, so darf von den chemischen Theorien eher das Entgegengesetzte behauptet werden: sie werden durch dieselben Probleme in ihrer Existenz bedroht, durch welche sie ihrerzeit zum Siege gelangt waren. Um das Isomerieproblem haben sich in der Tat weiterhin alle Entwicklungen und Kämpfe bewegt, die auf dem Boden der Konstitutionschemie erwachsen sind, welche zunächst eine Erweiterung der Strukturanschauungen erfordert haben und die gegenwärtig ihren ganzen Bestand zu untergraben beginnen.

Betrachten wir zunächst die Voraussetzungen der Strukturtheorie. Damit durch die Lehre von der gegenseitigen Bindung oder Sättigung der Valenzen der Elementaratome ein eindeutiges Bild der Wirklichkeit (oder wenigstens ein eindeutiges Schema derselben) zustande kommt, müssen diese Valenzen als ganz bestimmte, unveränderliche Grössen betrachtet werden. Kekulé war sich über diese Notwendigkeit auch ganz klar und er hat stets die Lehre aufrecht gehalten, dass die Valenz eine unveränderliche Eigenschaft der Elementaratome ist. Diese Voraussetzung stimmt aber nach beiden Richtungen nicht mit der Erfahrung; einerseits gibt es Verbindungen, deren Strukturformel weniger Bindestriche für gewisse Elemente aufweist, als auf Grund jener Voraussetzung gezogen werden dürfen, und anderseits gibt es Verbindungen, deren Strukturformel nicht ohne Ansetzung einer grösseren Anzahl solcher Striche aufgestellt werden kann.

Beide Fälle waren Kekulé bekannt; er hat sie daher, wenigstens formal, durch die Aufstellung zweier ergänzender Begriffe erledigt, mittelst deren jene Unregelmässigkeiten ausgedrückt wurden. Stoffe der ersten Art nannte er ungesättigte, indem er erklärte, dass unter Umständen vorhandene Valenzen nicht zur Absättigung kämen, obwohl sie an den fraglichen Elementen anwesend seien. Stoffe der anderen Art nannte er Molekularverbindungen, indem er ihr Zustandekommen anderen Kräften zuschrieb, als denen, die die eigentlichen chemischen Verbindungen bilden. Die Willkürlichkeit dieses letzteren Begriffes wurde durch den Satz vermindert, dass Molekularverbindungen nicht im Gaszustande sollten existieren können; als später dennoch die Existenz derartiger Dämpfe beobachtet wurde, haben die Anhänger der Lehre von der konstanten Valenz Abhandlungen darüber geschrieben, dass auch Molekularverbindungen in Dampfgestalt bestehen können. Es blieb also nur die Definition übrig, dass solche Verbindungen wahre chemische sind, die dem Gesetz der konstanten Valenz genügen, während alle anderen unter die Molekularverbindungen zu bringen sind.

Wie man sieht, wird durch diese ergänzenden Begriffe der wesentlichste Vorzug der Strukturtheorie, die eindeutige Beziehung zwischen Formel und Stoff, wieder aufgehoben. Wenn trotzdem diese Theorie sich ein halbes Jahrhundert hindurch im wesentlichen behauptet hat, so muss geschlossen werden, dass ihre anderen Vorzüge so gross sind, dass diese Nachteile gern übersehen werden. Und dies ist in der Tat der Fall. Die Theorie deckt in recht befriedigender Weise gerade die wichtigsten Stoffe, die zusammengesetzteren organischen Verbindungen, und zeigt die Ausnahmen bei einigen einfachen Stoffen, wo man sich die Abweichungen leicht gedächtnismässig merken kann. So erfüllt sie ihren systematischen und heuristischen Zweck ganz ausreichend und wird deshalb trotz der vorhandenen Lücken beibehalten.

In der ersten Zeit hatte man ganz naiv die Strukturzeichnungen, wie sie sich auf dem Papier herstellen liessen, als ausreichende Bilder für die möglichen gegenseitigen Beziehungen und Isomerien angesehen. Der gelegentliche Hinweis, dass doch eigentlich erst räumliche Darstellungen erschöpfend sein könnten, blieb wirkungslos, solange nicht einerseits der Unterschied zwischen der ebenen und der räumlichen Darstellung zur Anschauung gebracht und anderseits gezeigt worden war, dass durch die Einführung dieser neuen graphischen Mannigfaltigkeit eine besondere Mannigfaltigkeit der chemische Verbindungen veranschaulicht wurde. Erst als beides durch die Theorie van 't Hoffs vom tetraedrischen Kohlenstoff (1877) geschah, begann eine langsame Beachtung dieses Gesichtspunktes. Durch einige glänzende Voraussagungen und Bestätigungen wurde dann die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf diese Erweiterung des Strukturbildes gelenkt und gegenwärtig beansprucht die Anwendung desselben, die Stereochemie, eine gewichtige Stellung in der chemischen Systematik.

Auch hier war es ein Isomerieproblem, welches die Erweiterung erforderlich gemacht hat. Als Abkömmlinge der Äpfelsäure waren lange zwei isomere Säuren bekannt, die Malein- und die Fumarsäure, denen man auf keine haltbare Weise verschiedene chemische Konstitution im Sinne der ebenen Struktur zuzuschreiben wusste. Es ist lehrreich zu beobachten, obwohl zu lang, um es hier zu schildern, wie zuerst alle möglichen Wendungen versucht wurden, um eine Strukturverschiedenheit der beiden Stoffe plausibel zu machen, jedoch stets mit dem Ergebnis, dass es so nicht ging. Andere ähnliche Paare, wie die Krotonsäuren, wurden gleichfalls bekannt und so pflegte in den Lehrbüchern der siebziger Jahre, die wegen Anspruches auf Vollständigkeit diese widerspenstigen Dinge nicht unberücksichtigt lassen konnten, eine Art Armsündereckchen eingerichtet zu werden, in das sie verbannt wurden.

Van 't Hoff und gleichzeitig und unabhängig Le Bel zeigte nun, dass die räumlich konstruierten Strukturformeln gerade in diesen Fällen Isomerien erwarten lassen, in welchen die ebenen keinen Unterschied, oder wenigstens keinen, der für wesentlich gehalten worden war, ergeben hatten. Je nachdem man nämlich die vier Bindungseinheiten des Kohlenstoffs entweder eben in einem Quadrat angeordnet oder räumlich an den Ecken eines Tetraeders untergebracht denkt, erhält man verschiedenartige Mannigfaltigkeiten. Beispielsweise kann man zwei verschiedene Paare A, A und B, B am Quadrat auf zwei verschiedene Weisen unterbringen, nämlich abwechselnd: ABAB oder paarweise: AABB, während am Tetraeder alle möglichen Anordnungen miteinander zur Deckung gebracht werden können, also gleichwertig sind. Die Erfahrung ergab nun, dass gerade die Mannigfaltigkeitsverhältnisse des Tetraeders der Anzahl nach mit den beobachteten Isomeriemannigfaltigkeiten des Kohlenstoffs übereinstimmen und erwies dadurch das räumliche Schema als das angemessenere.

Die zweite Übereinstimmung, durch welche van 't Hoff seiner Ansicht zum Siege verhalf, war eine Isomerie besonderer Art. Dieselbe Traubensäure, welche am Anfange dieser Entwicklung für Berzelius so entscheidend gewesen war, gab von neuem den Anlass zu einer wichtigen Gedankenbildung, nachdem Pasteur im Jahre 1848 gezeigt hatte, dass man sie auf verschiedene Weise in zwei Bestandteile zerlegen kann, von denen der eine die gewöhnliche, optisch rechtsdrehende Weinsäure ist, während der andere eine Weinsäure ist, die in jeder chemischen und physikalischen Eigenschaft mit der rechten übereinstimmt, nur dass sie die Polarisationsebene des Lichtes um ebensoviel nach links, wie diese nach rechts dreht. Van 't Hoff zeigte, dass seine Raumformeln gerade bei der Weinsäure auf zwei Fälle führen, die miteinander bezüglich der gegenseitigen räumlichen Beziehung der Atome ganz übereinstimmen, was Längen und Winkel anlangt. Nur sind die ganzen Raumgebilde nicht kongruent, sondern verhalten sich wie Spiegelbilder, die sich nicht überdecken lassen, wie der rechte Handschuh zum linken. Es gelang weiterhin der Nachweis, dass in allen Fällen, wo die räumliche Formel diese Art der Verschiedenheit voraussehen lässt, auch die gleiche optische Verschiedenheit auftritt, während bei solchen Formeln, die sich nicht in spiegelbildlich verschiedene Formen ordnen lassen, auch die entsprechenden Stoffe keinen Einfluss auf die Lage der Polarisationsebene ausüben.

Nachdem es gelungen war, einige Widersprüche als auf experimentellen Fehlern beruhend zu beseitigen, fand die Stereochemie eine warme Aufnahme und lebhafte Pflege. Sie hat sich im grossen und ganzen bisher so gut und allgemein bewährt, dass gar kein Zweifel darüber bestehen kann, dass die Mannigfaltigkeit der chemischen Erscheinungen wirklich mit sehr grosser Annäherung durch diese Formeln dargestellt wird. Nach beiden Richtungen, in denen eine fruchtbare Hypothese nützlich ist, in der Systematisierung der vorhandenen Beobachtungen, wie in der Anregung neuer Untersuchungen, deren Ergebnisse sie mehr oder weniger genau voraussehen lässt, hat sich die Hypothese vom tetraedrischen Kohlenstoffatom als höchst ausgiebig erwiesen. So ist es ganz natürlich, dass sie gegenwärtig als gesicherter Bestandteil der Wissenschaft gilt und in den elementaren Unterricht der organischen Chemie einbezogen wird.

Verfolgt man indessen die Schicksale der bisherigen chemischen Theorien, so zeigt sich folgende regelmässige Erscheinung. Zunächst wird eine Theorie entwickelt, um durch die Mannigfaltigkeit des gewählten Schemas die Mannigfaltigkeit der bekannten Verbindungen darzustellen. Man wählt natürlich kein Schema, dem sich die letztere Mannigfaltigkeit nicht zuordnen lässt, und daher drückt jede Theorie den Wissensbestand ihrer Zeit mehr oder weniger vollkommen aus. Dieser Wissensbestand ist aber einer unaufhörlichen Vermehrung und auch Veränderung unterworfen; so tritt dann notwendig früher oder später ein Zeitpunkt ein, wo die beiden Mannigfaltigkeiten: die tatsächliche der Erfahrung und die schematische der Theorie, nicht mehr zueinander passen. Meist versucht man zunächst, die Tatsachen zu beugen, wenn die Theorie, deren Möglichkeiten sich leichter übersehen lassen, nichts mehr ausgeben will. Tatsachen sind aber auf die Dauer widerstandsfähiger, als alle Theorien oder vielmehr als ihre konservativen Vertreter, und so entsteht die Notwendigkeit, die alte Theorie entweder passend zu erweitern, oder durch eine neue, angemessenere zu ersetzen. Die neue Zuordnung, die den bereits bekannten Tatsachen besser angepasst ist, ermöglicht aus eben diesem Grunde auch alsbald die Voraussicht anderer, noch nicht bekannter, aber im Lichte der neuen Theorie analoger Tatsachen und findet daher regelmässig eine »überraschende Bestätigung«. Dieser Zustand dauert länger oder kürzer, je nachdem die Anpassung der neuen Theorie mehr oder weniger glücklich war, aber schliesslich pflegt doch wieder der Fall einzutreten, dass irgendwelche neuen Tatsachen sich mit der Theorie nicht recht vertragen wollen. Dann beginnt die krampfhafte Bemühung um gegenseitige Anpassung der beiden von neuem, die durch die Gewaltsamkeit der erforderlichen Ergänzungshypothesen gekennzeichnet ist, und noch Erkenntnis des Misserfolges aller derartigen Verbesserungsversuche ist wieder eine radikale Sanierung erforderlich.

Diese zweite Periode scheint auch für die zur Stereochemie erweiterte Strukturchemie sich langsam zu nähern. Und zwar nehmen die Nichtübereinstimmungen zweierlei Form an. Einmal sind Isomeriefälle entdeckt worden, welche zahlreicher auftreten, als sie sich nach den ebenen und räumlichen Strukturformeln voraussehen lassen. Sodann aber sind auf dem Boden des grössten Triumphes der Stereochemie, bezüglich der optisch-aktiven Verbindungen, Erscheinungen aufgetreten, die einen um so gefährlicheren Eindruck machen, als sie einen verhältnismässig einfachen Fall betreffen.

Es handelt sich um die Überführung optischaktiver Stoffe in andere und die Rückverwandlung dieser Produkte in Stoffe von der ursprünglichen Zusammensetzung. Hierbei sollte man erwarten, dass man einen Stoff von der ursprünglichen Drehungsrichtung gewinnt, wenn man eben nur ein Atom gegen ein anderes ausgetauscht und diesen Austausch hernach wieder rückgängig macht. Allerdings sind Fälle bekannt, in denen sich die optische Aktivität bei solchen Eingriffen ganz verliert. Dies rührt aber daher, dass ein Gemisch oder eine Verbindung aus den beiden entgegengesetzten Stoffen von allen möglichen Formen die beständigste ist und daher entstehen muss, wenn derartige Umwandlungen (etwa durch katalytisch wirkende Stoffe) überhaupt eintreten. Aber die unmittelbare und vollständige Umwandlung eines aktiven Stoffes in den entgegengesetzten ist nie beobachtet worden und stände auch im Widerspruche mit den Gesetzen der Energetik.

Nun hat P. Walden beobachtet, dass man bei der Umwandlung der Äpfelsäure in Halogenbernsteinsäure durch Einwirkung von Halogenphosphor unter entsprechenden Vorsichtsmassregeln zwar regelmässige Resultate findet, indem aus der linksdrehenden Äpfelsäure stets rechtsdrehende Halogenbernsteinsäure entsteht, und umgekehrt; bei der Rückverwandlung der Halogenbernsteinsäure in Äpfelsäure durch die Einwirkung von Basen aber kann man je nach der Base, die man verwendet, entweder die ursprüngliche Äpfelsäure oder die entgegengesetzte herstellen. Ebenso kann man aus aktiver Asparaginsäure je nach den benutzten Reaktionen die eine oder die andere aktive Äpfelsäure erlangen. Es ist also möglich, unter vollständiger Erhaltung der Aktivität von einem und demselben Stoffe aus zu entgegengesetzten Konfigurationen zu gelangen, ohne das Zwischenstadium der razemischen Verbindung zu passieren.

Diese Tatsache scheint mir in einem Widerspruche mit den Grundsätzen der Stereochemie zu stehen, den ich für einen prinzipiellen ansehen muss. Denn das sonst so bereitwillige Hilfsmittel der Umlagerung versagt hier, weil die Umlagerung grundsätzlich immer nur eine razemische Verbindung ergeben kann, nicht aber die entgegengesetzt aktive. Man darf natürlich nicht behaupten, dass es überhaupt keinen Ausweg aus dieser Schwierigkeit gibt; wohl aber dürfte jeder ernsthafte Ausweg die bisherigen Grundlagen der stereochemischen Anschauungen erheblich erschüttern oder verändern. –

In der ganzen Darstellung dieser Vorlesung habe ich mich ohne Rückhalt der atomistischen und molekularen Ausdrucksweise bedient, da es eine andere für die hier behandelten Verhältnisse nicht gibt, und ich daher unverständlich geblieben wäre, wenn ich versucht hätte, eine solche einzuführen und anzuwenden. Aber bei meinem bisherigen Bestreben, aus der hypothetischen Hülle die tatsächlichen Verhältnisse in Gestalt gesetzlicher Beziehungen zwischen messbaren und aufweisbaren Grössen herauszuschälen, entsteht naturgemäss auch die Frage, ob eine solche Operation mit dem Konstitutionsbegriff der organischen Chemie gleichfalls ausführbar ist. Wenn ich in Gesprächen mit wissenschaftlichen Freunden auf die Entbehrlichkeit des Atombegriffes für die Darstellung und das Verständnis der chemischen Grundtatsachen hinwies, so wurde mir fast regelmässig die Antwort: aber die Verhältnisse der organischen Verbindungen können nicht ohne die Hilfe der Atomtheorie dargestellt werden, und dadurch ist deren Notwendigkeit bewiesen.

Ich will sofort erklären, dass mir eine Darstellung dieser Verhältnisse ohne die Hilfe der Atomtheorie nicht bekannt ist, und dass ich jetzt eine solche auch nicht einmal zur Probe an einigen Beispielen vorlegen kann. Während fast eines Jahrhunderts ist die Gesamtheit der wissenschaftlichen Ergebnisse auf diesem Gebiete ausschliesslich in den Formen der Atomtheorie dargestellt und mitgeteilt worden, und die entsprechenden Formen sind so ausgebildet, ja die ganze Forschung ist unwillkürlich solche Wege gegangen, dass eine gegenseitige Anpassung unserer Kenntnisse und jener Anschauungsweise eine Notwendigkeit ist. Aber ich muss nichtsdestoweniger meine Überzeugung ausdrücken, dass in einer vielleicht nicht zu fernen Zukunft auch hier eine hypothesenfreie Darstellung der Tatsachen möglich sein wird, und zwar auf Grund der nachstehenden Überlegungen.

Die chemischen Verbindungen mit ihren genetischen und Isomerieverhältnissen stellen eine bestimmte gesetzmässige Mannigfaltigkeit dar. Wären die Gesetze dieser Mannigfaltigkeit in abstrakt-mathematischer Gestalt bekannt, so würden sie eine vollständige Systematik der bekannten und unbekannten Verbindungen bilden, und ebenso würden sie die genetischen Beziehungen zwischen diesen allgemein darstellen. Hierzu wäre nur erforderlich, dass man die Eigenschaften aller Stoffe als Funktionen bestimmter Veränderlicher kennte. Die Zusammensetzung gehört jedenfalls zu dieser Gruppe massgebender veränderlicher Grössen; dass sie aber nicht ausreichend ist, ergibt sich aus der Tatsache der Existenz isomerer Stoffe. Wir müssen uns also nach einer weiteren massgebenden Veränderlichen umschauen, welche nicht hypothetisch ist und die Eigenschaft der Messbarkeit besitzt.

Eine solche finden wir in dem Energieinhalt der Stoffe. Isomere Stoffe sind unter allen Umständen dadurch gekennzeichnet, dass sie unter gleichen Umständen verschiedene Energiemengen besitzen und die Definition, dass isomere Stoffe solche von gleicher Zusammensetzung und verschiedener Energie sind, ist von allen vorhandenen Definitionen die sachgemässeste, weil sie frei von unbewiesenen Hypothesen ist und dabei das bestimmteste Unterscheidungsmerkmal angibt. Diese Energieverschiedenheit bedingt, dass im allgemeinen unter gegebenen Umständen nur eine einzige Form beständig ist. Im Falle des festen Zustandes kann dies ein reiner Stoff sein, wenn nämlich die verschiedenen Isomeren keine feste Lösung miteinander bilden. Liegt dagegen eine Flüssigkeit oder ein Gas vor, so ist die stabile Form stets eine Lösung aus allen möglichen Isomeren, deren Verhältnis von Druck und Temperatur abhängt.

Nun haben die Isomeren im organischen Gebiete allerdings meist eine grosse Beständigkeit, d. h. sie wandeln sich so langsam in die stabile Form um, dass man gewöhnlich diesen Umwandlungsvorgang gar nicht zu beobachten Gelegenheit hat. Auch richtete sich naturgemäss bisher das Interesse des präparierenden Organikers viel mehr auf die Herstellung von Umständen, unter denen möglichst einheitliche Produkte erhalten wurden, als auf derartige Gleichgewichtszustände. So ist die organische Chemie zu einem sehr grossen Teile eine Chemie umwandlungsfähiger Zwischenformen, und zum Verständnis der hier vorhandenen Möglichkeiten reichen die bisher bekannten Gesetze der chemischen Mechanik noch nicht aus, die sich im allgemeinen auf die stabilen Formen beziehen.

Fassen wir diese Betrachtungen zusammen, so kommen wir zu dem Ergebnis, dass die Systematik der organischen Verbindungen ihre hypothesenfreie Darstellung dadurch wird finden können, dass man auf Grund der Zusammensetzung und des Energieinhaltes zunächst den Mannigfaltigkeitscharakter der stabilen Formen festzustellen haben wird. Hierdurch würde aber nur ein verhältnismässig kleiner Teil der vorhandenen Mannigfaltigkeiten gedeckt werden können; denn ausserdem kommt noch die erst zu schaffende Lehre von den instabilen Zwischenformen in Betracht, durch welche erst eine vollständige Übersicht der bekannten und möglichen Stoffe gewonnen werden würde. Diese instabilen Zwischenformen haben folgende merkwürdige Beschaffenheit. Für verhältnismässig geschwinde Vorgänge verhalten sie sich wie bestimmte Stoffe von bestimmten spezifischen Eigenschaften. Je langsamer aber die Vorgänge werden (oder je kürzer die zur gegenseitigen Umwandlung erforderliche Zeit z. B. durch Katalysatoren etwa gemacht wird), um so mehr verwischt sich die Selbständigkeit der einzelnen Formen und schliesslich besteht nur eine einzige, deren Eigenschaften gemeinsam durch die jener Einzelstoffe bestimmt werden. Es sind einige organische Verbindungen, meist von einfacher Zusammensetzung und daher nach einer allgemeinen Regel von grosser Reaktionsgeschwindigkeit bekannt, bei denen diese gegenseitigen Umwandlungen so schnell erfolgen, dass man die Einzelstoffe gar nicht hat isolieren können. Diese Stoffe reagieren wegen dieser Beschaffenheit den Formeln ihrer beiden isomeren Bestandteile gemäss, und es haben über ihre Natur vielfache Erörterungen stattgefunden, bis man sie unter dem Namen der tautomeren Stoffe zu systematisieren gelernt hatte.

Ferner besteht die Eigentümlichkeit, dass die Tautomerie an den flüssigen Zustand geknüpft ist, während feste Stoffe bestimmten Formen entsprechen. Dies rührt daher, dass gegenseitige Lösungen aus zwei oder mehreren isomeren Stoffen (als welche die tautomeren aufgefasst werden müssen), nur im flüssigen Zustande vorkommen, nicht aber im festen. Hieraus ergibt sich das für die gewöhnlichen Auffassungen höchst wunderliche Resultat, dass die Konstitution und Formel einer chemischen Verbindung davon abhängt, ob diese im festen oder flüssigen, bezw. gelösten Zustande vorliegt.

Diese Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Isomeren lassen erkennen, dass neben der absolut beständigsten Form noch relativ beständige Nebenformen möglich sind, auf deren Existenz und Darstellung die künftige allgemeine Theorie der organischen Verbindungen wird angemessene Rücksicht nehmen müssen. Die als Funktion der Zusammensetzung und des Energieinhaltes erscheinende »Existenzfunktion« der organischen Verbindungen wird somit eine ziemlich eigentümliche Beschaffenheit aufweisen, indem sie bei gegebener Zusammensetzung nicht beliebige Energiewerte einzuführen gestattet, sondern nur eine endliche Anzahl diskret liegender Einzelwerte. Mehr als diese allgemeinen Anhaltspunkte wüsste ich zurzeit über das vorliegende Problem nicht zu geben. Man ersieht hieraus, dass zunächst die organische Chemie schwerlich einen anderen Weg hat gehen können, als sie ihn tatsächlich gegangen ist, indem sie sich nämlich mit vorläufigen Schematisierungen auf Grund der beobachteten genetischen und Umwandlungsreaktionen begnügt hat. Dass diese Schematisierungen sich ausschliesslich an die Atomhypothese gehalten haben, ist allerdings ein geschichtlicher Zufall, dessen unbedingte Notwendigkeit man nicht anzunehmen oder zuzugeben braucht.


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