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Das unbekannte M.d.R.

Der erste Eindruck ist wahrscheinlich nicht immer der beste, sicherlich der bleibendste. Nachdem ich den Deutschen Reichstag lange Zeit nur von der Tribüne herab bewundert hatte, machte ich einmal ganz unvermutet – zu einer Zeit, als er noch interimistisch Nationalversammlung hieß – seine intimere Bekanntschaft. Ein freundlicher alter Deputierter zeigte mir in der Wandelhalle die großen Tiere, wie sie da gruppenweis diskutierten oder in Einzelexemplaren gedankenversunken flanierten. Und da mein liebenswürdiger Cicerone sah, wie ich mit der dankbaren Neugierde des echten Greenhorn das alles aufnahm, beschloß er, mir eine ganz besondere Freude zu bereiten. Er führte mich mit verschlagenem Lächeln in einen entlegenen Korridor. Und hätte ich mich plötzlich am Eingang des Hades befunden, ich wäre nicht entsetzter gewesen. Zu beiden Seiten eines langen, kahlen Ganges, in einer Beleuchtung von ungewisser Blaßheit, hatten es sich an die zwei Dutzend Abgeordnete, wie man so sagt, bequem gemacht. Da saßen, lagen, hingen sie, verschnaufend, verdauend, siestahaltend, in betont unrepräsentativer Haltung, Kragen und Krawatten lässig über die Stuhllehne gehängt, mit jovial geöffneten Westen, musisch gelockerten Schnürsenkeln, abwärts tendierenden Beinkleidern. So saßen, lagen, hingen sie da wie ein vorzeitig gestrandeter Herrenabend.

Zur selbigen Stunde kämpfte im Plenarsaal Erzberger mit Hugenberg. Man schrie, warf die Fäuste in die Luft. Vergeblich läutete der Präsident.

Aber hier spürte man nichts vom Wellenschlag der Leidenschaft. Hier gab es keine Parteien, sondern nur Angehörige eines Berufes, die der Zufall in konkurrierende Betriebe verschlagen. Was ging sie das Gebalge ihrer Chefs an?

Ich stand ziemlich entgeistert. Es war, als sähe ich vor mir Gruppen eines plötzlich erfrorenen Infernos. »Das ist die andere Seite«, meinte mein ehrwürdiger Begleiter lächelnd.

 

Heute weiß ich, daß unser Parlament im Negligé weniger Unheil anrichtet als im vollen Wichs. Inzwischen hat man jeden schlafenden Abgeordneten lieben gelernt. Der produziert keine langatmigen »kurzen Anfragen«, heckt keine Krisen aus und beteiligt sich nicht an inzwischen beliebt gewordenen Massenprügeleien. Gepriesen sei die stille Mauerblume jenes versteckten Ganges. Was in der schwülen tropischen Atmosphäre des Sitzungssaales gedeiht, präsentiert sich sicherlich in lebhafteren Farben, aber das Lokalkolorit am Königsplatz tut den Augen nicht immer gut.

Es sind nicht die großen Kanonen des Reichstags, denen diese wehmütige Abschiedsbetrachtung gilt, es sind die kleinkalibrigen, die unberühmten, die eine unerforschliche Schöpferlaune auf eine Liste gesetzt hat und die diese Laune mit Geduld ertragen. Auch der Parlamentarismus hat seinen Unbekannten Soldaten. Noch niemand hat ihm einen Denkstein gesetzt.

Er ist so, wie jeder andere Soldat auch. Er hat Disziplin im Leibe, kloppt Griffe, vertieft sich in die Mystik des Gleichschrittes, schleppt seinen Tornister im Schweiße des Angesichtes, freut sich, wenn es Löhnung gibt, und sieht in der Kantine seine eigentliche Heimat. Er ist alles in allem ein braver Kerl, der Gott und seinen Fraktionsführer walten läßt. Er liebt und haßt auf Befehl. Er redet nur, wenn er gefragt wird, und hat eine unklare Vision des Marschallstabes, wenn er zum Stubenältesten avanciert.

Aber was den richtigen Soldaten erst ausmacht, das ist nicht die Tapferkeit, nicht die Fähigkeit, Strapazen zu ertragen, sondern das streng beherrschte Mienenspiel, das selbst die schwierigste Instruktionsstunde durchhält. Wer vor seinem Vorgesetzten sich das Augurenblinzeln nicht abgewöhnen kann, der ist untauglich zum Soldaten, und wäre er mutig wie Hektor.

Es ist eigentlich schön, daß die Fraktionen so restlos jene militärischen Traditionen aufgenommen haben, die das alte Preußen groß gemacht haben.

Kein Zweifel, der unbekannte Parlamentarier hat manches Widerwärtige auf sich zu nehmen. Dafür aber wird ihm auch sehr viel abgenommen, was andere Sterbliche drückt. Er hat vor allem keinerlei Verantwortung. Der Führerstab denkt für ihn und gibt ihm stets eine wohlgesetzte Begründung, die er nur nachzusprechen braucht. Wenn er dafür einen eigenen Brustton findet, schadet es seinem Fortkommen nicht, das ist eine rein stimmliche Angelegenheit. Wenn er dagegen versucht, aus seinem eigenen Gedankenvorrat etwas hinzuzufügen, wird das nicht gern gesehen. Denn da gibt es zu leicht Widersprüche. Am besten ist es schon, sich strikt an die Vorschriften halten. Das Exerzierreglement eignet sich nun einmal nicht zum Kommentieren.

Es gibt natürlich auch innerhalb der scharf gezogenen Grenzen genug Möglichkeiten, sich individuell, durchaus der Sonderbegabung gemäß, zu betätigen. Ein »Hört, Hört!«, an richtiger Stelle gerufen, kann bewirken, daß alle das hören, was kein Mensch gesagt hat, ein erstauntes »Aha!« eine dunkle Situation aufhellen, ein grimmiges Murren die Standhaftigkeit eines Gegners erschüttern, ein silberhelles Lachen die Geister des Frohsinns noch gerade rechtzeitig herbeilocken. Die Bemerkung in der Zeitung »Grunzen links!« ist der schönste Lohn für den, der zuerst gegrunzt.

So verliert die Politik immer mehr den unbequemen persönlichen Charakter. Die Abgeordneten gehen in der Atmosphäre auf, in einer parenthetischen Notiz sind gleich Dutzende enthalten. Das M. d. R. ist ein völlig neutralisierter Begriff, eine anonyme Angelegenheit, ein Teilchen am parlamentarischen Mechanismus, kein unersetzliches! Es lebt und stirbt wie der Soldat ... namenlos. Aber es lebt und stirbt zu einem höheren Zweck. Das ist auch die bescheidene Genugtuung des Unbekannten Soldaten.

Wir bringen hier eine Reihe von Bildern, die von einem der scharfsinnigsten Kenner der Physiognomie unserer Politik herrühren. Deutlicher als die durchgeistigten Führerköpfe lassen diese treuen und anspruchslosen Rekrutengesichter ahnen, warum unser Parlamentarismus so ist, wie er eben ist. Manche von denen, die am 4. Mai noch munter ins Gefecht marschierten, sind inzwischen von ihren Musterungsbehörden garnisondienstfähig geschrieben. Sie dürfen nicht mehr in den Graben und sind als sturmerprobte Krieger sicherlich sehr unglücklich darüber. Dafür wird Ersatz da sein. Soldaten sehen immer gleich aus.

Der eine oder andere wird vielleicht mit einiger Emphase ablehnen, zu den »black horses« gezählt zu werden. Da ist z. B. Herr Laverrenz. Ach ja, es gibt keine trostlosere Charge als die des Offiziersstellvertreters. Mit den Unteroffizieren zu verkehren ist unter der Würde, und die Offiziere ...? Armer Herr Laverrenz ...

(Das Tage-Buch, 29. November 1924)


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