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Ein Bürgermeister aus Tomsk.

In Rußland begegnen sich immer und überall der Osten mit dem Westen, Zivilisation und ursprüngliches Nomadentum, die Kirche und die alten Götter, die Romantik und das Verbrechen.

Als Beispiel ein Bild: Ein Dorf eröffnet eine Filiale der Volks-Universität. Die Spitzen der Behörden überbieten an Zahl das spärlich erschienene Auditorium.

Wo sind sie, die Bauern, für die man diese Schule geschaffen?

Auf dem Eise des Flusses sind sie, wo eben ein traditioneller Kampf der Fäuste ausgetragen wird, und was will da der Geist, wenn der rohen Kraft ein Vergnügen gemacht wird.

Zwei Dörfer wetteifern miteinander im Kampfe um die Kraft der Faust, um die Ausdauer der Schädel, der Kiefer und der Zähne. Das ist Tradition, ein ritterliches Spiel, eine mittelalterliche Romantik.

Ich sah mir einmal einen solchen Kampf in Tomsk in Sibirien an.

Die Gegner hatten sich in zwei gleiche Lager geteilt. Der Kampf wurde durch kleine Jungen begonnen, die sich unbarmherzig ihre Nasen zerschlugen. Als dann in den Kampf junge Burschen eintraten, da flogen nur so die Fetzen der Kleider.

So ein Kampf dauert lange, setzt erbittert ein und endigt nicht selten mit Verstümmelung, ja manchmal sogar mit dem Tode des Gegners, denn es kommt vor, daß ein Bauer ein Stück Blei oder Eisen in seiner großen Faust verbirgt und damit den Schädel seines Rivalen einschlägt. Diese Kämpfe auf dem Eise geben die Möglichkeit, die Fähigkeiten der Ringer, die ungewöhnliche Kraft der Faust, den Mut, die Ausdauer und die strategischen Talente dieser Menschen zur Schau zu bringen.

Vergegenwärtigen wir uns die Geschichte Rußlands, so sehen wir zum Beispiel, daß in den Freistädten Pskow und Nowgorod bis in die Zeiten Iwan des Grausamen die Bevölkerung alle ihre politischen Streitigkeiten mit der Faust ausgefochten hat.

Das verblieb so im kleinen weiter bis auf den heutigen Tag.

Diese Kämpfe sind nicht immer romantischer Natur gewesen, sie arteten auch zum Kampfe um das Dasein aus.

Die bodenständigen Einwohner, Tataren und Russen, wie auch die von der Regierung Deportierten, die neuen orthodoxen Kolonisten und die Sektierer, sie alle schlichten ihre persönlichen, religiösen und Rassenzwistigkeiten heute noch mit Hilfe des Faustkampfes.

Ein anderes Überbleibsel alter Zeiten oder, genauer gesagt, des Nomadenlebens ist der sogenannte »Bauernbund«, die »Jamschtschina«. Es ist dies eine große Organisation freiheitlicher Bauern sibirischer Herkunft. Sie bilden während des Winters riesenhafte Schlittenkarawanen, mit welchen sie oft tausend Kilometer lange Strecken befahren, die Frachten transportierend. Vor zirka 20 Jahren gingen solche Karawanen von Kiachta an der mongolischen Grenze bis nach Kasan und Moskau. Jetzt machen sie einen kürzeren Weg von der mongolischen Grenze nur bis zu den größeren Stationen der sibirischen Bahn oder von Altaj bis zur Eisenbahnstrecke. Dieser Bauernbund, der sich »Organisation« nannte, ist jetzt im Schwinden begriffen, vor ein paar Jahren aber war er noch sehr lebensfähig und besaß sein eigenes, ungeschriebenes Sittenrecht.

Das war damals kein leichtes Unternehmen, nur die stärksten, gesündesten und zähesten Bauern waren den Strapazen und Gefahren gewachsen.

Es war keine leichte Aufgabe, eine schwere Ladung von teuren Waren, wie Tee, Pelze, Porzellan, Chinaseide, während des langen, strengen sibirischen Winters bis nach Moskau zu führen, sich dem Frost, dem Hunger, den Stürmen und der Erschöpfung auszusetzen und die Ladung und die Pferde vor Überfällen zu schützen. Ganze Banden von Flüchtlingen aus den sibirischen Kriminalgefängnissen lauerten darauf, von diesen Karawanen Kisten mit Tee und Ballen mit Seide zu rauben, nachdem sie die Fuhrleute überwältigt. Aus eben diesen sibirischen bäuerlichen Fuhrleuten sind später tüchtige und reiche Unternehmer geworden, wie zum Beispiel die Kuchtierin, die Koroliew und andere, die später nach dem Bau der sibirischen Bahn zum eigenen Gebrauch Dampfschiffe, Lastwagen gekauft haben und so die größten Transportfirmen errichteten.

Die Jamschtschiki-Organisation hat starke Charaktere hervorgebracht, denn sie hat den halbwilden Bauern im ewigen Kampfe gegen Elemente und Verbrecher Gleichgültigkeit gegen das Menschenleben gelehrt.

In Sibirien, in Tomsk, lebt einer von den letzten der Jamschtschiken, der sich noch an die alte, vogelfreie Zeit erinnerte, an dieses Heldenepos, diesen Kampf um Leben und Geld im Zwielicht der verschneiten, vereisten, sibirischen Wüste.

Er heißt Innozenz Kuchtierin.

Einmal erzählte er im kleinen Bekanntenkreise folgendes:

»Ich habe seinerzeit an dreihundert Schlitten besessen, jedes Gefährt mit drei Pferden bespannt; meine Jamschtschiken waren alle tadellose Burschen. Jeder meiner Leute, wollte er aufgenommen sein, mußte erst auf seinen Rücken einen Sack von nicht weniger wie vierhundert Pfund werfen können und damit einen Kilometer des Weges gehen. So habe ich sie mir ausgeprobt. Es waren Burschen darunter, die bis an tausend Pfund zu tragen vermochten. Solche gibt es heute nicht mehr. Wir sind einmal mit einer Ladung Tee von Kiachta bis Kasan gefahren. Der Winter war streng. Ein Frost von 40 Grad Reaumur hielt den ganzen Monat an. Die Pferde und die Menschen in ihren nach außen gewendeten Schafpelzen sahen wie weiße Gespenster aus. Der Transport war eine Terminlieferung. Wir gingen Tag und Nacht, nur selten in den Dörfern etwas länger verweilend.

Nahe bei Kansk wanderten wir auf der Landstraße der Ursteppe. Die Bäume, weiß von Schnee, glitzerten im Mondscheinlicht. Der ganze Weg war wie mit Brillanten besät, die hundertfarbig leuchteten. Über unserer Karawane haben sich dichte Dunstwolken gebildet, denn Pferde und Menschen waren erhitzt und ermüdet. Da erblickte ich plötzlich auf dem Schnee durch den Dunst der Menschenleiber hindurch, ein paar Schritte von uns entfernt, etwas Verdächtiges. Eigentlich habe ich es eher gefühlt wie gesehen. Es war still ringsherum, nur die Pferde schnaubten und wieherten. Die Jamschtschiken begleiteten die Schlitten im Laufschritt und fuchtelten mit den Armen, um sich zu erwärmen.

Alles schien in bester Ordnung zu sein, doch konnte ich meine Augen von mehreren Dutzend großer Flecken, die ich auf dem Schnee erblickte, nicht abwenden. Sie schienen weiß zu sein, vielleicht etwas dunkler, vielleicht etwas heller wie der Schnee und hielten meinen Blick unausgesetzt gefangen. Ich rief zwei von den mir zunächst gehenden Burschen heran und wir gingen der Sache nach. Kaum, daß wir ein paar Schritte getan, fingen die Flecken an, sich heftig zu bewegen.

Ich begriff sofort, daß wir es mit einem Banditenüberfall zu tun bekamen. Es waren Banditen und Flüchtlinge aus den Gefängnissen von Sachalin, die in weiße Mäntel gehüllt, auf uns lauerten. Wären wir auf unseren Schlitten eingeschlafen, so hätten sich die Räuber unbemerkt an uns herangeschlichen, hätten die Schnüre, die die Ladungen zusammenhielten, durchgeschnitten und die Teekisten langsam ohne Geräusch in den tiefen Schnee heruntergleiten lassen.

Beim ersten Aufenthalt hätten wir erst den Schaden bemerkt, viel zu spät, denn der »Schpana«, so hieß man solche Banden, wäre es längst gelungen, unser Gut zu bergen und damit zu verschwinden.

Als sie aber bemerkten, daß sie entdeckt waren, gingen sie mutig zum Angriff über und gaben Schüsse ab. Zwei von meinen Burschen blieben tot liegen, fünf andere trugen Wunden davon und der Rest warf sich, meinem Beispiele folgend, auf unsere Gegner. Der Jamschtschik pflegt immer eine Waffe bei sich zu tragen, entweder ein langes Messer, das er im Stiefelschaft verbirgt, oder einen starken Riemen, an dessen Ende eine schwere Eisenkugel befestigt ist.«

Kuchtierin stieß einen schweren Seufzer aus und endete seine Erzählung:

»In dieser frostigen Nacht haben wir dreiundzwanzig Leute aus der Schpana getötet und die Häuptlinge der Bande auf die Äste der Tannenbäume gehängt.«

Ein seltener Mensch war dieser Kuchtierin, ein echter Jamschtschik aus alter, rauher, romantischer Zeit. Er liebte die Natur und kannte sie wie ein tausendmal durchgelesenes Buch. Die Gewohnheiten und die Stimmen einer jeden Vogelart waren ihm genau bekannt. Er wußte den Gesang einer Nachtigall und eines Rotkehlchens nachzuahmen, ebenso das Röhren eines Hirsches, das Brüllen eines in Wut versetzten Bären, das Heulen eines Rudels Wölfe. Bei einer seiner Wanderungen, als er noch ein ganz gewöhnlicher Jamschtschik, der Besitzer nur eines Gefährtes war, lernte er im Gasthause eines kleinen Städtchens die Frau des Gastwirtes kennen und verliebte sich sterblich in sie. Emsig sein Geld zusammensparend und wie ein Sklave schwer arbeitend, hatte er eine größere Summe zusammengebracht und damit die Frau vom Manne losgekauft. Sie war eine richtige russische Schönheit. Als er dann aus einem Jamschtschik zum Handelsrat und Bürgermeister von Tomsk avancierte, hüllte er seine Frau in Seidenkleider, die er aus Paris kommen ließ, umgab sie mit dem ungewöhnlichsten Luxus und liebte sie so, wie einst nur die wilden Nomaden zu lieben verstanden. War er besoffen, schlug er sie unbarmherzig, voll rasender Eifersucht, dann fiel er ihr aber gleich wieder zu Füßen, sie um Verzeihung, um Liebe und Glück anflehend.


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