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Vor dem Antlitze Buddhas.

»Kamakura!« rief der Schaffner laut und sah in mein Abteil hinein. Ich ging hinaus, erblickte einen kleinen, reinen Bahnhof, ein wenig Publikum, das den Zug nach Tokio erwartete und zwei »Akaba-San«, zwei Träger in ihren roten Mützen. Der kleine runde Platz vor dem Bahnhof war von leichten Kiosken mit leinwandbedeckten Veranden umgeben. Hier werden Postkarten mit Ansichten Kamakuras, historische Broschüren über seine Entstehung, Statuetten Buddhas und verschiedenartiger Krimskrams, von dortigen Meistern angefertigt, zum Kaufe angeboten. Eine breite Allee von hohen Kastanienbäumen führt vom Bahnhofsplatze nach zwei Richtungen und an den beiden Seiten des Weges sieht man hinter hohen Hecken von Azaleen, Fliederbäumen, Glyzinienranken und Myrtensträuchern Villen, nach europäischem Muster gebaut, stehen, auch große Schilder mit der Inschrift »Kahin-Hotel« machen sich breit, während hie und da einstöckige, käfigartige japanische Hütten hervorleuchten, wo man das Leben eines »Heimin«, eines Landbewohners von früh bis abends beobachten kann.

Kleine Tramwaywagen, einem Kinderspielzeug gleich, rutschten die Allee entlang, ein Auto sauste vorüber oder ein schnellfahrender Radfahrer, während ich Fußgänger kaum bemerkte. Lange folgte ich der Allee bis dahin, wo die Villen aufhörten.

Und nun erblickte ich plötzlich den Ozean, als sähe ich den türkisblauen Teppich eines ungeheuern Tempels, dessen Wände wie aus sonnendurchwirktem, weißem Nebel zu sein schienen, und den Himmel, der sich wie eine durchsichtige Kuppel aus leuchtendem, saphierblauem Glas darüber wölbte. Keinen Rauch eines schwimmenden Schiffes, kein Segel eines Fischerbootes bemerkte ich auf der ruhigen Meerestafel.

Die Bäume und Gebüsche liefen von den hohen Ufern bis zum Wasser hinab und sahen hier ihrem Spiegelbilde zu. Ich ließ die letzten Gebäude hinter mir.

Rechts vom Wege streckte sich ein Wald aus, üppig, dicht, voll warmen, brünstigen Dunstes, der die Stämme der Bäume und die Äste der Sträucher umfing.

An den Stellen, wo die Sonne durch die breiten Kronen der Buchen und Eichen hindurchschimmerte, wuchsen hohe, lanzenschlanke Sträucher, mit roten Blumen bestreut, die wie glühende Kohlen aussahen. Ihre langen, biegsamen Triebe streckten sich von Baum zu Baum, kletterten bis hinauf, rotleuchtend an der dunklen Rinde, diese mit dem Purpur ihrer Kelche übergießend. Gelbe Iris verbarg sich im üppigen Grase und auf offenen Wiesen leuchteten, weiß wie Schnee, wilde Narzissen.

Ich ging einen langen, schmalen Weg, der sich zwischen dem Gebüsch schlängelte, in hohem Gras dahin, ging Waldhügel hinauf und stieg in tiefe Schluchten hinab, wo rieselnde Bäche in eiligem Laufe dem Ozean zustrebten.

Manchmal erblickte ich Trümmer von Tempeln, Reste alter Brücken und Gebäude aus ungeheuer großen Steinen, im Dickicht der Gebüsche und Schlingpflanzen halb vergraben. Auf einer kleinen, schattigen Wiese stand eine alte buddhistische Kapelle, die, wie es schien, seit langem verlassen und vergessen war, doch als ich in das feuchtdunkle Innere eintrat, erblickte ich in einer Lotosblume eine Statue des klugen Sakya-Muni stehen und neben ihm einen Strauß gelber Irisblumen, frisch und noch feucht vom Tau.

Weiter an den Abhängen der Hügel, die in weite Ebenen hinabliefen, wo malachitfarbige Reisfelder grünten, sah ich immer mehr Ruinen von alten Häusern, von Festungsmauern, von befestigten Türmen und vernichteten Städten. Der fleißige japanische Landmann aber war Schritt für Schritt die Hügel hinauf gestiegen, hatte sie mit Reisfeldern bepflanzt, ließ frisches Quellwasser durch Bambusrohre fließen, stellte Stangen auf und legte elektrische Kabeln an.

In keiner andern Gegend habe ich so deutliche Spuren der Gegenwart gefunden, da überall sonst nur die Vergangenheit durch ihre Steinruinen und Holztrümmer mit ihrer leisen und doch eindringlichen Stimme spricht. Sie erzählt uns von alten Zeiten, vom Leben und Treiben und den Hoffnungen der Menschen, die hier gelebt und in tollstem Selbstbewußtsein ewige Denkmäler zu hinterlassen glaubten, während jetzt nur Schutt und verfaultes Holz allmählich in die Erde versinken. An den herumstehenden Bäumen ragten krumme Äste wie verzweifelte Hände zur Höhe empor und das traurige Säuseln des harten, zwischen den Ruinen wachsenden Grases begleitete das ewige Rauschen des Meeres: das Lied vom Leben im Reiche des Todes ...

Und das Meer rauschte mir Sagen zu von großen Menschen, die längst zu Asche geworden, vom einem Nobunaga, Hidejoschi und Jejas, vom ersten Mikado Dschimmu-Tenna, dem Nachkommen des göttlichen Paares Susan und Amaterasu, vom prachtvollen Schogun Joritoma, dem das Land der aufgehenden Sonne das goldene Zeitalter zu verdanken hatte.

Den ganzen Tag schweifte ich an der Stätte des Todes umher, wo die Spuren der großen Gedanken und tapferen Taten als Trümmer- und Schutthaufen dalagen, und erst, als die Sonne über dem Fudschiyama zu sinken begann, machte ich mich wieder auf den Weg. Da begegnete ich einem alten Bettler, der an seinem weißen Gewande einen schwarzen Hieroglyphen trug, das Abzeichen seiner Wallfahrt auf den heiligen Berg.

Er streckte mir seine schwarze, durchfurchte Hand entgegen und, nachdem er ein Almosen empfangen hatte, nickte er mit seinem Kopfe und fragte:

»Vielleicht möchtest du, mein Sohn, in das heilige Antlitz Buddhas schauen?«

Ich sagte zu und folgte dem Bettler. Der Weg war lang. Endlich zeigte er mir einen Hain von dunklen Bäumen und flüsterte leise:

»Hier ...,« dann verschwand er.

Ich folgte einem mit großen, hellen Sandsteinen bepflasterten Steig bis an ein kleines Tor, warf in die Sparbüchse einige Sen, hörte das sakramentale »Arigato« (Danke) eines weißen Bonzen und trat unter den Schatten der Bäume, die schon in der Dämmerung eingewoben waren. Hinter den Bäumen lag eine kleine Wiese und dort erblickte ich das Standbild dessen, der die Gedanken aller Buddhisten in ganz Asien beherrscht und die Sehnsucht der Europäer wachruft, die des unbarmherzigen Hastens nach der Illusion des Glückes müde, sich die Ruhe eines Buddha wünschen.

Auf einer Erhöhung, zwischen Rauchgefäßen und Vasen mit Opferblumen, saß er in einem Lotos, der Riese aus Bronze, er, Sakya-Muni, der Weise vom Ganges, der göttliche Buddha Gautama.

Ein in feine Falten gelegtes Gewand hüllte in ewige Ruhe den unbeweglichen Körper und ließ seine breite, fast frauenhafte Brust erblicken.

Auf dem gewaltigen, schönen Halse hob sich das Haupt des großen Lehrers vom rotschimmernden Abendhimmel ab. Dieses ruhige, milde Antlitz mit seinen gesenkten Lidern und seinem weich lächelnden Munde, der vor Jahrhunderten die tiefsten Worte der Verzeihung gesprochen hatte, schien lebend zu sein. Auf dem Kopfe wanden sich kunstvoll in Bronze gegossene Schnecken, die einmal barmherzig an einem glühendheißen Tage ihre kalten Körper auf die Stirne des Weisen gelegt hatten, um ihn vor den Feuerstrahlen der Sonne zu schützen. Die Schnecken sahen auf der göttlichen Stirne wie auf ewig zu Tode erstarrt aus, während das Gesicht des Bildes um so lebendiger zu sein schien. Ich konnte mich des Eindruckes und des Gefühles nicht erwehren, daß dieser weiche Mund erzittern, die schweren Lider sich heben und die hellen, ruhigen, allesverstehenden Augen zum Leben erwachen könnten.

Ich setzte mich auf eine Steinbank nieder und sah lange in das Antlitz dessen, der in den wilden, geheimnisvollen Tälern des Himalaja auf einen Felsen die großen, stolzen, trostreichen Worte geschrieben hat:

»Du kannst Dich, o Mensch, über den Gott Indra erheben, Du kannst aber auch tiefer fallen, einem Wurme gleich, der sich am morastigen Boden krümmt!«

Als ich mich an diese zuversichtlichen Worte des weisen Gautama aus dem fürstlichen Geschlechte der Sakya erinnerte, glaubte ich zu sehen, wie das milde Lächeln auf dem alten Götterantlitz ausdrücklicher wurde. Indessen waren unsichtbare Wellen der Dämmerung geräuschlos von allen Seiten herangeschlichen, hüllten mich ein, bedeckten mit einem schwarzen Schleier die breitwachsenden Magnolien und verdunkelten auf einen Augenblick die gewaltige Erzgestalt. Der Gott kämpfte aber diese Dunkelheit nieder und kam aus ihr schwarz glänzend, noch größer und noch gewaltiger hervor ...

Der weiße Bonze suchte mich auf, durch mein längeres Verweilen unruhig geworden; als ich ihm aber zwei Münzen in die Hand drückte, verbeugte er sich höflich und sagte:

»Hier wird das Tor nie zugemacht ... Niemals.«

»Jorosi,« – Gut! – antwortete ich.

Er verbeugte sich noch einmal und verschwand. Dann blieben wir auf der kleinen Wiese wieder allein, der große, unbewegliche Buddha, die dunklen, träumenden Magnolien und ich, der Fremde, mit meiner wogenden Seele. Doch da war noch jemand leise herangeschwommen ... der aufgehende Mond war es ... Er warf ein Bündel blasser, bläulicher Strahlen herab, schaute in die Einsamkeit herein und glitt weiter, dem ewigen Gesetz seiner Bestimmung nach ... Die kleine Wiese wurde hell, ein leichter, warmer Wind strich über sie hin und erweckte die müden, traumgefangenen Magnolien. Und plötzlich bemerkte ich, daß Wunderdinge geschehen waren: Leicht bewegliche, durchsichtige Schatten und ein kaum wahrnehmbarer matter Schein drangen auf einen Augenblick in das Erz des Bildes, sickerten durch die Blätter der Bäume, die, wie um den Gott vor den Strahlen des nächtlichen Himmelsfahrers zu schützen, ringsherum standen, und belebten die Züge des Buddha Gautama. Es schien mir, als ob sich sein Antlitz verändert hätte, jeden Eindruck und jede Pein der Erde wiederspiegelnd. Seine Milde und sein tiefes Sinnen, sein Verzeihen und seine Barmherzigkeit waren daraus verschwunden und machten der Empörung und dem Ärger, der Strenge und dem Grauen Platz. Die schweren Lider hoben sich und die schönen, abgrundtiefen Augen blitzten auf in unseligem Gemahnen. Das glückliche Lächeln auf den Lippen war erstorben, während sein Mund sich in einem furchtbaren Zorn verzerrte ...

Ich saß zusammengekrümmt da, entsetzt durch das Spiel der Schatten und das seltsame Blitzen auf dem abgedunkelten Götterbilde, und schaute, die Augen mit der Hand gegen die Mondstrahlen beschattend, unentwegt in das geheimnisvolle Gesicht des Weisen vom Ganges.

Und nun sah ich wieder den Mund Buddhas erzittern und sich öffnen ... War es der Wind, der mit den Blättern der Magnolie spielte, oder waren es Worte, die ich wie einen Geisterhauch aus der Weltferne vernahm?

»Wehe, wehe euch, ihr Erdenwürmer! Ihr kriechendes Geschmeiß! Eure Augen habt ihr auf die Erde gerichtet und besitzet nicht den Mut, um hinauf zu schauen ...!« Er schwieg und sein Antlitz sah noch finsterer aus. Zitternd hörte ich wieder das leise Flüstern.

»Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr zur Macht des Indra gelangen wollt, so wird es nicht durch die Kraft eurer Hände, und durch die Gedanken eures Hirnes geschehen! Ein Windhauch, eine Meereswoge, ein feuriger Lavastrom, ein Stoß in der dunklen Erde, ein unbekannter Zerstörer, der groß und mächtig, unbewußt, den Ausspruch der Karma vollbringt, genügen, um euren Stolz, die Arbeit eurer Hände und eures Geistes, und euer Leben selbst zu vernichten, wie es das Wehen des Taifun an einem Opferlichte tut ... Wehe euch!«

»Was tun, o Lehrer der Welt?« fragte ich bebend und erwartete mit einer leidenschaftlichen Hoffnung die göttliche Antwort.

»Opferfreudig und rein sollt ihr sein! Rein an Geist und rein an Körper!« –

Die heißen, befehlenden Worte drangen auf mich ein, wie auf den Wellen des Mondlichtes getragen und starben dahin im Schatten der dunklen Bäume ... Der Mond schien in seinem vollen Glanze. Alles ringsherum schimmerte weiß und leuchtete in wundervollem Lichte. Wie aus flüssigem Silber stand Buddha vor mir, die Augen mit den schweren Lidern bedeckt, das jahrhundertelang erstarrte Lächeln auf den schönen, frauenhaften Lippen ... Die Hände lagen regungslos in ungetrübtem Schweigen auf seinen Knieen und die barmherzigen Schnecken umschlangen kühl die weise Stirne.

Der Gott Buddha ruhte, groß und unbeweglich.

Die Zikaden waren verstummt. Eine duftende Stille senkte sich nieder.

Und dann schlug irgendwo eine Uhr Mitternacht. In langem Sinnen schaute ich nochmals in das Antlitz des Gottes und nahm Abschied von ihm, vielleicht auf immer ...


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