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V.

Hugo Neukamp stand hoch aufgerichtet mitten im Zimmer, als Doktor Asmus auf der Schwelle erschien. Mit fest zusammengepreßten Lippen hatte er diesen Moment erwartet; nun ging er auf den Eintretenden zu und sagte, ohne ihm indessen seine Hand zu reichen:

»Sie haben mir die Notwendigkeit erspart, Herr Doktor, die Ruhestörer mit Waffengewalt von meinem Grund und Boden zu vertreiben. Um der Damen willen ist es mir lieb, daß es dieses äußersten nicht bedurfte, und ich sage Ihnen darum für Ihr Eingreifen meinen Dank.«

»Erlauben Sie mir, denselben abzulehnen,« war des Doktors kühle Erwiderung. »Ich habe es nicht gethan, um mir Ihren Dank zu verdienen.«

Hugo Neukamp grub die Zähne in die Unterlippe und trat schweigend zurück; der Oberst aber, welcher der seltsamen Begrüßung zwischen den Beiden mit unverhehltem Erstaunen zugesehen hatte, streckte dem jungen Arzt nunmehr mit fast demonstrativer Herzlichkeit beide Hände entgegen.

»Mir aber dürfen Sie es nicht verwehren, Ihnen zu danken, mein lieber, junger Freund!« rief er aus. »Ich glaube, Sie hätten wahrhaftig nicht viel später kommen dürfen, wenn das Unglück noch verhindert werden sollte. Die Geschichte hatte schon ein verdammt ernsthaftes Aussehen bekommen, und ich brauche ja jetzt nicht mehr zu verhehlen, daß ich mir in meinem Herzen die allerbittersten Vorwürfe machte, Ihrer freundschaftlichen Warnung nicht gefolgt zu sein. Noch einmal also: herzlichen Dank – und alle Achtung vor Ihrer Kourage! – Ich glaube nicht, daß es viele giebt, die Ihnen das nachthun werden.«

»Es bedurfte dazu für mich keines besonderen Mutes,« sagte Asmus einfach. »Seit zwei Jahren behandle ich alle diese Leute in ihren Krankheiten, und sie sind darum gewöhnt, mich als ihren guten Freund zu betrachten. Ich glaube nicht, daß einer von ihnen selbst in der höchsten Wut seine Hand gegen mich erheben würde.«

Niemand hatte bei diesen raschen Wechselreden auf das Aussehen und das Benehmen Edithas geachtet; denn sie war in den dunkleren Hintergrund des Gemaches zurückgetreten, und nur flüchtig hatte der Blick des Doktors sie gestreift, als er die Schwelle überschritt. Jetzt aber kam sie auf ihn zu und das volle Licht des Kronleuchters fiel auf ihr schönes, blasses, in der erzwungenen Ruhe eigentümlich starr erscheinendes Antlitz.

»Guten Abend, Herr Doktor!« sagte sie, ihm ihre Hand bietend. »Gestatten Sie auch mir, Ihnen zu danken.«

Nur flüchtig hatte er die schlanken, weißen Finger berührt; in seinem Gesicht zuckte es und sein Atem ging rascher; denn dies war ihr erstes Wiedersehen seit jener bedeutsamen Schlittenpartie nach Eberbach. Aber wie es auch während dieser Augenblicke in seinem Innern stürmen mochte bei der Erinnerung an das schimpfliche Spiel, das sie mit ihm getrieben, er bewahrte doch äußerlich durchaus seine mannhaft ruhige Haltung, und kein Uneingeweihter hätte aus dem Klange seiner Erwiderung erraten können, daß jemals etwas besonderes zwischen ihnen vorgefallen sei.

»Ich hoffe, die Damen werden die Nachwirkung des ausgestandenen Schreckens bald überwinden. Jedenfalls mußte Ihnen ja die Gefahr hier oben in Ihrer Gefangenschaft viel drohender und fürchterlicher erscheinen, als sie es in Wirklichkeit war. Aber wollen Sie nicht das Fenster verlassen, Fräulein Monika? – Wenn auch die Mehrzahl der Leute sich ruhig entfernt hat, könnte es doch immerhin sein, daß ein Betrunkener oder irgend ein halbwüchsiger Strolch Neigung verspürte, im Schutze der Dunkelheit noch einen letzten Stein gegen das Haus zu schleudern.«

Monika, die sich bis dahin nicht gerührt hatte, wenn auch ihre leuchtenden Augen unverwandt jeder Bewegung des Doktors gefolgt waren, wurde bei seiner Anrede dunkelrot, als ob sie auf einem strafbaren Unrecht ertappt, worden wäre.

»Oh, mir wird nichts geschehen,« sagte sie leise, »die Leute wissen ja, daß Sie jetzt bei uns sind.«

»Gestatten Sie mir nur eine bescheidene Frage, Herr Doktor!« nahm jetzt Hugo Neukamp, der die Begrüßung zwischen Editha und Asmus voll eifersüchtiger Unruhe beobachtet hatte, in höflichem, doch merklich ironisch gefärbtem Tone wieder das Wort. »Sie waren so aufmerksam, die Angehörigen, meiner Braut schon im Verlauf dieses Tages vor dem Besuch meines Hauses zu warnen, und ich darf doch wohl annehmen, daß dies lediglich mit Rücksicht auf die von Ihnen vorausgesehenen Unruhen geschah. Wie aber, wenn es gestattet ist, sich danach zu erkundigen, konnten Sie zu dieser Voraussicht gelangen? Ich frage nicht aus Neugier oder weil ich etwa gar einen häßlichen Verdacht gegen Sie hätte, sondern lediglich, um gleich jetzt diejenigen Momente festzustellen, welche seiner Zeit bei der Bestrafung der Ruhestörer in Betracht kommen werden. Allem Anschein nach hat doch ein ganz bestimmter und wohl vorbereiteter Plan bestanden, von welchem Sie vermutlich durch irgend einen Zufall Kenntnis erhielten, und jede Mitteilung, die Sie nach dieser Richtung hin machen könnten, müßte für die Polizei und die Richter von höchstem Werte sein.«

Doktor Asmus hatte sich dem Fabrikbesitzer zugewendet und in seinen Augen war etwas wie ein Aufflammen des Zornes.

»Ich weiß natürlich von keinem Plane,« sagte er beinahe rauh, »und ich bezweifle sehr, daß ein solcher vorhanden gewesen ist. Wenn ich Herrn von Hasselrode gewarnt habe, so geschah es, weil ich bei einigen Krankenbesuchen, die ich heute Vormittag in den Arbeitshäusern Ihrer Fabrik zu machen hatte, mit Schrecken wahrnehmen mußte, in einer wie verzweifelten Stimmung sich die Leute befanden. Ich kümmere mich nicht um Ihre Angelegenheiten, und ich habe keine Veranlassung, Ihre Handlungsweise zu kritisieren; aber ich finde es vollkommen begreiflich, daß der bis aufs äußerste gesteigerte Jammer Leute von geringem Bildungsgrade und von geringer Selbstbeherrschung dahin bringen kann, gewaltthätige Handlungen gegen denjenigen zu begehen, den sie für den Urheber ihres Elends halten. Sie haben auf Grund eines Mietsvertrages, den ich wiederum nicht kritisieren will, eine Anzahl von Familien mitten im Winter auf die Straße werfen lassen, unbekümmert darum, daß sich Schwache und Kranke, hilflose Greise und Kinder darunter befanden, und daß diese Leute, die zum Teil schon seit mehreren Tagen die bitterste Not gelitten haben, nicht die Mittel besaßen, sich ein anderes Obdach zu verschaffen. Sie haben den meisten der aus ihren Wohnungen Ausgewiesenen obendrein ihre geringen Habseligkeiten einbehalten, weil sie Ihnen angeblich noch den letzen Mietszins schuldeten, und Sie haben den Bedauernswerten dadurch, daß Sie ihnen trotz vollständiger Unterwerfung die Wiedereinstellung in die Arbeit verweigerten, zugleich jede Möglichkeit abgeschnitten, sich aus ihrer schrecklichen Lage zu befreien. Ohne Zweifel haben Sie mit alledem nur gethan, wozu Sie nach dem Buchstaben des Gesetzes berechtigt waren, und vielleicht sogar sind Ihnen alle diese Maßregeln nur als ein Akt der Notwehr gegen den von den Arbeitern unzweifelhaft begangenen Kontraktbruch erschienen. Aber dadurch wird nichts an der Thatsache geändert, daß die sonst so ruhigen und friedliebenden Leute, die sich selbst in Zeiten allgemeiner Lohnbewegung ganz still verhalten hatten, durch Ihr unbarmherziges Vergehen in eine Stimmung verzweifelter Erbitterung versetzt wurden, die nur noch eines geringfügigen äußern Anstoßes bedurfte, um sich in irgend welchen gewaltthätigen Handlungen Luft zu machen. Ich vermag jetzt nicht mehr zu sagen, in welchen Worten die Leute mir gegenüber ihrer Stimmung Ausdruck gaben, und ich glaube nicht, daß in meinem Beisein überhaupt eine bestimmte Drohung ausgesprochen worden ist; aber es bedurfte keines besonderen Scharfsinns für die Erkenntnis, daß ihre Wut sich zuerst gegen Sie und Ihr Eigentum kehren würde, sobald die Schranken vernünftiger Ueberlegung und klarer Besinnung vor dem Ansturm der entfesselten Leidenschaften erst einmal gefallen waren. Als ich dann zufällig eine Stunde später davon hörte, daß der Herr Oberst mit seinen Damen den heutigen Abend bei Ihnen zuzubringen gedenke, hielt ich es selbst auf die Gefahr hin, als zudringlich zu erscheinen, für meine Pflicht, ihn auf die Lage der Dinge aufmerksam zu machen; aber meine Darlegung wird Sie, wie ich hoffe, hinlänglich überzeugt haben, daß ich Ihnen irgend welche Denunziantendienste nicht zu leisten vermag.«

»Da Ihre Sympathieen so augenfällig auf der Seite der Excedenten sind, darf ich Ihnen allerdings nicht weiter zumuten, an denselben zum Verräter zu werden,« lautete Neukamps höhnische Erwiderung. »Aber vielleicht hätten Sie sich doch noch größere Verdienste um diese Ihre Schützlinge erworben, wenn Sie denselben die schöne und eindrucksvolle Rede von heute Abend schon am Vormittag gehalten hätten. Es wäre dadurch Mancher dieser Wackeren vor dem Zuchthaus und dein Gefängnis bewahrt geblieben.«

»Laß uns nach Hause gehen, Papa!« sagte Monika rasch, als sie eine dunkle Röte in des Doktors Antlitz aufsteigen sah. »Nicht wahr, Herr Doktor, Sie werden die Güte haben, uns auf dem Heimwege Ihren Schutz zu gewähren?«

Doktor Asmus wandte sich von seinem Gegner ab und erwiderte nach einem tiefen Atemzuge:

»Sie dürfen über mich befehlen! – Aber ich bin allerdings gleich Ihnen der Meinung, daß es ratsam sein wird, diesen Weg bald anzutreten, ehe neue Ansammlungen in der Umgebung der Fabrik stattgefunden haben.«

»Es bedurfte dieses Appels an Ihre Ritterlichkeit wohl kaum,« sagte Neukamp, indem er nach dem Diener klingelte. »Ich werde die Herrschaften in meinem Wagen nach Hause geleiten, und den möchte ich sehen, der es wagen wollte, uns unterwegs anzugreifen.«

Die Zurückweisung kam nach dem Vorhergegangenen einer absichtlichen Beleidigung gleich und sie wurde unzweifelhaft von dem Doktor wie von allen anderen Anwesenden als eine solche gedeutet. Monika erblaßte, der Oberst runzelte unwillig die Stirn und Editha machte eine rasche Bewegung gegen ihren Verlobten, wie wenn sie ihn bestimmen wollte, durch ein freundliches, begütigendes Wort den Eindruck seiner fast gehässigen Aeußerung abzuschwächen. Alle aber blickten in ängstlicher Erwartung auf den jungen Arzt, der nach ihrem Empfinden vollauf berechtigt gewesen wäre, die kränkende Rede des anderen auf ebenso feindselige Art zu erwidern.

Aber diese Befürchtung erfüllte sich nicht. Doktor Asmus würdigte ihn weder eines Blickes noch einer Entgegnung; er verbeugte sich stumm gegen die Familie Hasselrode und wandte sich nach dem Ausgang des Zimmers. In dem Moment jedoch, da er seine Hand auf den Drücker legen wollte, wurde die Thür heftig von außen aufgestoßen, und der lange Assessor Valentini stürzte in einem höchst befremdlichen und jammervollen Aufzuge herein.

Seine elegante Gesellschaftstoilette, deren modischer Schnitt und tadelloser Sitz stets seinen ganz besonderen Stolz ausmachte, war kaum noch wieder zu erkennen. Sie war von oben bis unten mit Staub und Spinngeweben bedeckt; die großen weißen Flecken auf den Rückenteilen des Fracks gaben Kunde davon, daß der Träger des letzteren sich irgendwo sehr innig an eine abfärbende Wand geschmiegt haben müsse, und der rechte Aermel war überdies in seiner ganzen Ausdehnung aufgerissen.

Wie schwer auch noch immer der furchtbare Ernst der eben durchlebten Stunde auf allen Gesichtern lasten mochte, die überwältigende Komik dieses unerwarteten Anblicks konnte doch nicht ganz ohne Wirkung bleiben. – Edithas Lippen kräuselten sich zu einem flüchtigen Lächeln, Hugo Neukamp aber und der Oberst brachen in ein lautes Gelächter aus.

»In des Teufels Namen, Herr, wo kommen Sie denn her?« rief der letztere dem noch immer kreidebleichen und mit allen Gliedern schlotternden Juristen zu. »Sie haben es doch nicht etwa mit Hilfe Ihrer glücklichen Magerkeit fertig gebracht, wirklich in ein Mauseloch zu kriechen?«

Unter der Nachwirkung der ausgestandenen Todesangst hatte der Assessor augenscheinlich alle Empfindlichkeit verloren, so daß ihn der gutmütige Spott dieser Frage nicht im mindesten verletzte.

»Woher ich komme?« wiederholte er. »Nun, vom Boden natürlich! Wo sollte man sich denn sonst verbergen, da doch alle Ausgänge von diesen nichtswürdigen Aufrührern besetzt waren! – Im zweiten Stock schien es mir nicht viel sicherer als hier unten und so stieg ich denn noch höher hinauf, bis ich nicht mehr weiter konnte. Aber es war, beim Zeus! nicht sehr angenehm unter dem schmutzigen alten Gerümpel da oben, und Sie müssen schon entschuldigen, meine Damen, wenn ich mich Ihnen in einem nicht mehr ganz salonfähigen Anzuge präsentiere. Man konnte in dem abscheulichen Verschlage nicht die Hand vor den Augen sehen; überall gab es heimtückische Nägel, an denen man sich die Kleider oder die Haut zerreißen konnte, und dabei herrschte da oben eine Kälte, die einem das Herz im Leibe ersticken ließ. – Seien Sie versichert, meine Herrschaften, daß ich an dies intime, kleine Souper gedenken werde bis an das Ende meines Lebens.«

»Nun, Sie haben uns an dem heutigen Abend doch immerhin einen interessanten Beweis geliefert, welcher Heldenthaten ein entschlossener Mann in gefährlichen Augenblicken fähig ist,« höhnte Neukamp. »Sicherlich gehörte kein geringer Mut dazu, sich an einem Orte zu verbergen, an dem Sie rettungslos und elend hätten umkommen müssen, wenn es den Excedenten etwa eingefallen wäre, das Haus in Brand zu stecken.«

Valentini erschauerte in nachträglichem Entsetzen über diese furchtbare Möglichkeit.

»Ach, machen Sie doch keinen schlechten Witze!« stieß er mit einem verzerrten Lächeln hervor. »Wir sind ja am Ende nicht in Afrika oder in einem Indianerkriege. Aber ich leugne allerdings nicht, daß ich mich keineswegs sehr behaglich unter Ihrem Dache fühle, und daß ich Ihr gastliches Haus je eher desto lieber verlassen möchte. Ich würde Sie in meinem derangierten Zustande gar nicht erst noch einmal belästigt haben, wenn im ganzen Hause nur ein einziges lebendes Wesen aufzutreiben gewesen wäre, bei dem ich mich hätte unterrichten können, ob jetzt wirklich die Luft rein ist. Es ist alles wie ausgestorben – weiß der Himmel, wohin diese Feiglinge sich geflüchtet haben!«

Der Oberst lachte von neuem, Hugo Neukamp aber machte ein ärgerliches Gesicht und wiederholte ungestüm das Klingelzeichen, das bis jetzt ohne Erfolg geblieben war. Auch diesmal wartete er vergebens auf das Erscheinen seines Dieners, und es blieb in der That nur die Annahme übrig, daß sich die Domestiken in der Furcht vor einer Wiederholung der Tumulte an irgend einem anderen Orte in Sicherheit gebracht hatten, sobald sie eine Möglichkeit dazu gesehen.

Als mehrere Minuten verstrichen waren, ohne daß sich etwas im Hause regte, sagte der Oberst, welcher zu Asmus getreten war und ihn in leisem Gespräch festgehalten hatte, mit ziemlich entschiedener Betonung:

»Ihre Leute haben sich allem Anschein nach aus dem Staube gemacht, lieber Sohn, und auf das Anspannen Ihres Wagens würden wir unter solchen Umständen doch wohl allzulange warten müssen. Ich nehme für mich und meine Töchter die Begleitung des Doktor Asmus mit herzlicher Dankbarkeit an und ich denke, auch der Assessor wird sich uns bereitwillig anschließen.«

»Aber das ist doch keine Frage!« versicherte Valentini eifrig. »Herr Neukamp wird vielleicht die Freundlichkeit haben, uns mit einigen Waffen zu versehen!«

»Dessen bedarf es nicht!« erklärte der Doktor ruhig. »Ich übernehme die Bürgschaft dafür, daß Ihnen nichts geschieht, sofern Sie die Leute, die uns begegnen könnten, nicht etwa durch Ihr Benehmen zu neuen Gewaltthätigkeiten herausfordern.«

»Ich?! – Ach du lieber Gott!« jammerte der Assessor. »Mir ist wahrhaftig nicht sehr herausfordernd zumute.«

»Natürlich bleibst du unter meinem besonderen Schutz, Editha!« sagte Neukamp, indem er den Revolver vom Tisch nahm und ihn, nachdem er ihn prüfend betrachtet, in die Brusttasche seines Rockes steckte. »Es wird doch gut sein, wenn für den Notfall auch wirksamere Verteidigungsmittel da sind als schöne Worte.«

Monika legte ihre Hand auf Doktor Asmus' Arm und bat, indem sie mit ihren ausdrucksvollen grauen Augen flehend zu ihm aufsah:

»Kommen Sie – unsere Mäntel sind draußen, und es wird Zeit, daß wir uns zum Fortgehen rüsten.«

Rascher, als es wohl unter anderen Umständen der Fall gewesen wäre, hatte sich die kleine Gesellschaft in ihre winterlichen Ueberkleider gehüllt, und der einzige, dessen zitternde Hand durchaus nicht das linke Aermelloch seines Pelzes finden konnte, war der Assessor Valentini. Aber auch ihm hatte der Oberst endlich mit einem kräftigen Ruck zur Vollendung seiner Toilette geholfen, und nachdem Neukamp noch einmal vergeblich nach den Dienstboten gerufen, traten alle sechs schweigend in die Winternacht hinaus.

Rings um sie herrschte eine fast undurchdringliche Finsternis. Nur die weiße Decke des hartgefrorenen Schnees, der unter ihren Tritten knisterte und knarrte, verbreitete eine matte Helligkeit, welche wenigstens die in unmittelbarer Nähe befindlichen Gegenstände zu erkennen gestattete. Die nächste Umgebung der Villa war jetzt ganz menschenleer; aber bei den Fabrikgebäuden, an denen sie vorüber mußten, standen einige kleine Gruppen, in denen anscheinend sehr eifrig debattiert wurde.

Doktor Asmus, der mit Monika und dem Obersten voranging, lenkte seine Schritte so, daß sie hart an den Leuten vorüber kamen; der Assessor drängte sich so dicht als möglich an den jungen Arzt heran, Neukamp aber, der Editha am Arme führte, blieb absichtlich um mehrere Schritte zurück, damit es nicht etwa den Anschein gewänne, als wünsche auch er durch den Doktor gedeckt zu werden.

Die Arbeiter mochten nicht wenig erstaunt sein, als sie des kleinen Zuges ansichtig wurden; aber es wurde kein feindseliges Wort gegen die Vorübergehenden laut. Die lebhaften Gespräche verstummten vielmehr völlig, so lange sie sich in Hörweite befanden, und an einer Stelle, wo der Weg ziemlich enge war, traten die dort aufgestellten Männer schweigend beiseite, ohne daß es einer Aufforderung dazu bedurft hätte.

Noch ein Paar hundert Schritte weiter und jede Gefahr war überwunden, denn schon schimmerten aus verhältnismäßig geringer Entfernung die Lichter der Stadt herüber, die so friedlich dalag, als ob zu ihren Bewohnern nicht einmal eine dunkle Kunde von den stürmischen Auftritten bei der Hartogschen Fabrik gedrungen wäre.

Da glaubte Doktor Asmus, der mit schärfster Aufmerksamkeit umherspähte, zu seiner Linken etwas wie den Schatten einer menschlichen Gestalt wahrzunehmen, die mit lautlosen Schritten über den Schnee dahinhuschte.

»Wer da?« rief er stehen bleibend mit lauter Stimme in die Dunkelheit hinein. Aber es kam keine Antwort zurück, und auch das schärfste Auge vermochte nichts von den Umrissen oder den Bewegungen eines lebenden Wesens wahrzunehmen.

»Glauben Sie, daß man uns verfolgt?« flüsterte zähneklappernd und kaum vernehmlich der Assessor. »Vielleicht wäre es gut, wenn wir im Laufschritt die Stadt zu erreichen suchten.«

»Niemand hindert Sie daran, Herr!« rief der Oberst, den die schlotternde Aengstlichkeit des jungen Menschen nun endlich nervös machte, ärgerlich zurück. »In Zukunft aber werden Sie sicherlich gut thun, bei solchen Gelegenheiten hübsch daheim hinter dem Ofen zu bleiben.«

Neukamp hatte das kurze Verweilen der Vorhut benutzt, um mit langen Schritten an ihnen vorüberzugehen und die Spitze zu nehmen.

»Wollen Sie Jagd machen auf Gespenster, lieber Schwiegerpapa?« fragte er über die Schulter zurück. »Hier giebt es jetzt nichts Gefährliches mehr als vielleicht einige Hasen.«

Sie gingen weiter und hatten nach Verlauf von zehn Minuten das erste Gebäude der Stadt, ein niedriges Gärtnerhäuschen erreicht. Wenn bis dahin die Spannung, die auf allen lastete, das Zustandekommen einer eigentlichen Unterhaltung verhindert hatte, so schien ihnen jetzt das Gefühl, sich endlich in vollkommener Sicherheit zu befinden, die Sprache wieder zu geben. Monika wenigstens brach das Schweigen, indem sie, zu ihrem Begleiter gewendet, sagte:

»Sie haben sich seit langer Zeit fern von uns gehalten, Herr Doktor – hatten Sie denn einen Grund, uns böse zu sein?«

»Nein, Fräulein Monika!« erwiderte er, indem er ihre Hand, die auf seinem Arme ruhte, ein klein wenig an sich drückte. »Ihnen wenigstens könnte ich niemals böse sein, – Sie werden mir immer der Inbegriff alles Guten und Edelmütigen bleiben.«

»Nicht doch!« mahnte sie mit gesenktem Köpfchen. »Aber wenn Sie uns nicht zürnten, warum kamen Sie nicht wie sonst gelegentlich wenigstens zu einem flüchtigen Besuch herauf? Der Papa hat so oft nach Ihnen gefragt, und auch Editha –«

»Editha?« Der Ton, in welchem er diesen Namen wiederholte, mußte ihr wohl mehr verraten haben als eine lange Erklärung. Wenigstens fragte sie nicht weiter, obwohl er ihr ja die eigentliche Antwort noch immer schuldig geblieben war und sagte statt dessen hastig:

»Ihre Patientin in Eberbach ist inzwischen hoffentlich ganz wiederhergestellt worden. Und es sind keine üblen Folgen von ihren Verletzungen zurückgeblieben – nicht wahr?«

»Sie wird durch die Narben der Brandwunden auf Stirn und Wangen dauernd entstellt bleiben, und ein wohlhabender Bursche des Dorfes, der ihr in den Tagen ihrer Schönheit versprochen hatte, sie zu heiraten, ist infolgedessen bereits von dem heimlichen Verlöbnis zurückgetreten. Der alte Mehnert hat eben Unglück mit seinen Kindern.«

»Wie abscheulich ist das!« rief Monika in aufrichtiger Entrüstung. »Also nur ihr Gesicht war es, das er geliebt hatte?«

»Verurteilen Sie ihn nicht zu hart, Fräulein Monika!« mahnte Doktor Asmus bitter. »Welchen Ausdruck des Unwillens müßten Sie dann erst für diejenigen haben, für die es nicht einmal jenes wohlgebildeten Antlitzes bedarf, sondern die schon einer wohlgefüllten Brieftasche ihre Liebe –«

Er vollendete nicht, denn ein lauter Aufschrei aus dem Munde Edithas, die etwa um fünf Schritte vor ihnen ging, machte ihn in jähem Schrecken verstummen. Er sah ihre schlanke Gestalt wanken und dann in die Arme Neukamps sinken, der zugleich mit mächtiger, weithin schallender Stimme rief: »Zu Hilfe! – Haltet den Mörder!«

Aber an die Verfolgung des Mörders, von dem nirgends etwas zu erblicken war, dachte in diesem Augenblick niemand aus der kleinen Gesellschaft. Monika und der Oberst waren schon in der nächsten Sekunde an der Seite der anscheinend ohnmächtigen Editha, und Doktor Asmus entzündete mit fast unbegreiflicher Schnelligkeit die kleine Taschenlaterne, welche er immer bei sich trug.

Der erste Anblick, der bei ihrem Schein den zum Tode Erschrockenen zuteil wurde, war beängstigend genug; denn über Edithas marmorbleiches Antlitz rann aus einer klaffenden Wunde an der rechten Schläfe in purpurnem Strome das Blut.

»Sie haben mein Kind erschlagen – mein geliebtes Kind!« rief der Oberst, all' seine soldatische Selbstbeherrschung vergessend, in wildem Schmerz. »Und Sie mit Ihrer Hartherzigkeit und Ihrem verfluchten Starrsinn – Sie allein tragen die Schuld daran.«

Hugo Neukamp nahm die Unterlippe zwischen die, Zähne. Ein nichts weniger als freundschaftlicher Blick hatte den Obersten getroffen; aber er erwiderte nichts, und als Doktor Asmus mit eigentümlich rauh klingender Stimme sagte:

»Lassen Sie uns die Verletzte vorsichtig auf den Boden niederlegen!« – da gehorchte er der Weisung seines verhaßten Gegners, ohne zu widersprechen.

Mit dem Taschentuch, das ihm Monika gereicht hatte, suchte der Arzt zunächst die ziemlich heftige Blutung zu hemmen.

»Ich glaube nicht, daß es sich um eine ernstliche Verletzung handelt,« sagte er schon nach wenig Augenblicken. »Dieselbe ist durch einen Steinwurf herbeigeführt worden, nicht wahr?«

»Ja!« erwiderte Neukamp kurz. »In demselben Moment, da meine Braut aufschrie, fühlte ich einen Schlag gegen die Brust. Der Stein – wenn es derselbe war, der sie getroffen – kann sie also nur gestreift haben. Da liegt er.«

Er stieß mit dem Fuße gegen ein großes, scharfkantiges Quarzstück, das allerdings schwer genug war, um, von kräftiger Faust geschleudert, einen Menschen zu töten. Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, hob er es auf und steckte es in die Tasche.

»Es ist in der That nur eine Streifwunde,« sagte der Doktor, der die Verletzung inzwischen untersucht hatte, und man hörte es aus dem Ton seiner Worte, welche Erleichterung ihm selbst diese Gewißheit gewährte. »Der Schrecken hat an der Ohnmacht wohl den größten Anteil gehabt, und sie wird voraussichtlich rasch vorübergehen.«

»Es ist keine Gefahr?« fragte Neukamp. »So will

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ich versuchen, den Attentäter zu fassen, ehe der Schurke Zeit gewinnt, sich allzuweit zu entfernen. Ich spreche nachher bei Ihnen vor, um mich nach Edithas Befinden zu erkundigen. Sie ist ja, wie es scheint, jetzt in den besten Händen.«

Eine kaum noch zu bändigende Wut, die vielleicht nicht einmal in erster Linie dem Urheber des feigen Attentats galt, schien in ihm zu gähren. Er lüftete seinen Hut und kehrte der Gesellschaft den Rücken, um schon nach wenig Schritten in der Richtung nach dem Gärtnerhäuschen hin in der tiefen, nächtlichen Dunkelheit zu verschwinden.


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