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IV.

In Hugo Neukamps Equipage war der Oberst mit seinen Töchtern um acht Uhr abends an der Villa vorgefahren, und schon am Fuß der Treppe, wie wenn es gegolten hätte, eine Königin zu empfangen, kam ihnen der Herr des Hauses entgegen.

»Herzlich willkommen!« rief er in anscheinend heiterster Stimmung, indem er dem alten Herrn zunickte und jeder der beiden jungen Damen einen Arm reichte, um sie in den Empfangssalon der Villa zu führen. »Aus der geplanten Soirée ist nun freilich, da alle Welt plötzlich an Schnupfen, verdorbenem Magen oder unerwartet eingetroffenen Tanten von außerhalb leidet, ein kleines Souper im allerengsten Familienkreise geworden; aber ich hoffe, dieser Umstand wird uns die gute Laune nicht verderben und uns den eigenen Wert um so höher schätzen lehren.«

Im Salon trafen die Ankömmlinge auf den Assessor Valentini, der zwar sehr pünktlich erschienen war, aber recht angegriffen aussah und ein merkwürdig unruhiges, zerfahrenes Wesen an den Tag legte.

Er hatte Kopfschmerzen, wie er Monika in den ersten fünf Minuten ihrer Unterhaltung mitteilte, aber er war trotz seiner Leiden gekommen, weil er dieser schwächlichen Gesellschaft von W. zeigen wollte, wie wenig sich ein rechter Mann vor einer Handvoll strikender Arbeiter fürchte und weil es außerdem hier einen Magneten gab, der ihn sicherlich auch tausendmal schlimmere Gefahren todesmutig hätte verachten lassen.

Was diese letztere Anspielung zu einer sehr verständlichen machte, war der schmachtende Blick, mit welchem er dabei Monikas Augen suchte. Die junge Lame aber, die gar nicht fröhlich und festlich aussah, schien trotzdem nicht begriffen zu haben, daß das bedeutsame Kompliment an ihre eigene Adresse gerichtet gewesen sei.

»Warum hätten Sie sich denn auch fürchten sollen?« fragte sie unbefangen. »Wir haben mit den strikenden Arbeitern nichts zu schaffen, und es fällt ihnen sicherlich nicht ein, uns etwas zuleid zu thun.«

Der Assessor machte ein geheimnisvoll ernstes Gesicht und zog die Schultern in die Höhe.

»Die Massen und die Instinkte, von denen sie geleitet worden, sind unberechenbar,« sagte er. »Es ist hier viel Zündstoff aufgehäuft, wie mir scheint; aber Sie dürfen trotzdem ganz unbesorgt sein, mein gnädiges Fräulein, denn in diesem Kreise giebt es jemanden, der sich eher in Stücke reißen lassen wird, ehe er zugiebt, daß man auch nur ein Haar auf Ihrem Haupte verletze.«

»Was für schrecklich ernsthafte Dinge sind es denn, von denen Sie da mit meiner Schwester sprechen?« fragte Editha, die nur einige kurze halblaute Worte mit Neukamp gewechselt hatte und die sich nun zu ihnen gesellte. »Die bleiche Furcht wird doch nicht etwa auch Sie ein wenig angesteckt haben, Herr Assessor! – Ist es nicht lustig, daß sich die ganze Stadt vor den Arbeitern meines Verlobten fürchtet und daß wir vier die einzigen Helden sind, die sich mitten hinein in die Löwenhöhle gewagt haben? Wir werden uns über diese Hasenfüße in Zukunft noch manchmal amüsieren – nicht wahr?«

Der Assessor drehte an den spärlichen Haaren seines Schnurrbärtchens und stieß ein forciertes Lachen aus.

»Natürlich werden wir das, mein gnädiges Fräulein! – Ist ja lächerlich, sich so ins Bockshorn jagen zu lassen – einfach lächerlich! – Als wenn nicht zwei entschlossene Männer im Notfall genug wären, um eine ganze Horde von Aufrührern in Schach zu halten!«

Um Edithas Lippen zuckte es wie in feinem Spott, während sie ihren Blick über die dürftige Gestalt des »entschlossenen Mannes« hingleiten ließ.

»Aber diese Aufrührer existieren ja nur in der Einbildungskraft der Furchtsamen und derjenigen, die meinem Verlobten übel wollen,« sagte sie. »Mag es immerhin Lohnstreitigkeiten zwischen ihm und seinen Arbeitern geben, am Ende ist er doch kein grausamer Tyrann, dem seine Unterthanen nach dem Leben trachten könnten. Wissen Sie auch, Herr Assessor, daß wir noch vor einer halben Stunde allen Ernstes gewarnt worden sind, hierher zu fahren?«

»Ah!« machte der Gefragte, während sein Gesicht noch um eine kleine Schattierung blässer zu werden schien. Monika aber blickte verwundert zu ihrer ruhig lächelnden Schwester auf.

»Gewarnt?« wiederholte sie. »Und ohne, daß Ihr mir etwas davon mitgeteilt hättet?«

»Wir wissen ja zur Genüge, daß Du ein Häschen bist und Dich nicht hinausgewagt haben würdest, wenn wir Dichs hätten wissen lassen – zumal da die Person des Warners in Deinen Augen eine so besondere Bedeutung hat.«

»Es ist doch nicht Doktor Asmus gewesen, der –«

Mitten in der hastig begonnenen Frage hielt Monika inne, weil ihr das fröhliche Auflachen der Schwester verriet, daß sie eine Ungeschicklichkeit begangen habe. Eine purpurne Glut flammte in ihren Wangen auf, als die unbarmherzige Editha sagte:

»Du konntest also gar nicht erst auf einen anderen raten als auf ihn? – Wie schade, daß er augenscheinlich so wenig von der außerordentlichen Wertschätzung ahnt, deren er sich bei Dir erfreut! Er hätte seine Warnung sonst gewiß nicht an den Papa, sondern direkt an Dich gerichtet. Vielleicht würde er dann auch vor dem Verdacht bewahrt geblieben sein, daß nur sein Haß gegen Deinen künftigen Schwager ihn auf diesen sonderbaren Gedanken gebracht habe.«

»Du weißt, daß ich darüber nicht mit Dir streiten kann, Editha,« erwiderte Monika leise, indem sie mehr bittend als unwillig zu der schönen Schwester aufsah, »aber Du bist im Grunde Deines Herzens am Ende ebenso fest überzeugt wie ich selbst, daß Doktor Asmus niemals eine seiner Handlungen durch eine Regung niedrigen Hasses bestimmen lassen wird.«

Der Assessor Valentini machte bei dieser Unterhaltung ein etwas verblüfftes Gesicht, und es war ihm jedenfalls nicht unwillkommen, daß gerade jetzt der in einem gräflichen Hause dressierte Diener mit würdevoller Feierlichkeit die Meldung erstattete, »die Herrschaften seien serviert.« Er bot Monika den Arm und geleitete sie in das Speisezimmer, dessen drei Fenster ebenso wie alle übrigen des ersten Stockwerkes ihren hellen Lichtschimmer weit in den dunklen Winterabend hinauswarfen.

In dem Augenblick, da sie sich anschickten, ihre Plätze an der kleinen, mit Blumen geschmückten Tafel einzunehmen, drang ein verworrenes Geräusch wie von zahlreichen, laut durcheinander redenden Stimmen zu ihnen herauf – ein Geräusch, das erst noch aus einiger Entfernung zu kommen schien, sich dann aber rasch und unverkennbar dem Hause näherte. Der Assessor Valentini umklammerte mit merklich zitternden Händen die Lehne des Stuhles, hinter welchem er stand; der Oberst aber räusperte sich leicht und meinte:

»Was ist denn das, lieber Sohn? – Doktor Asmus wird doch nicht am Ende recht gehabt haben, als er uns warnte, heute abend hierher zu gehen.«

Hugo Neukamp lächelte verächtlich.

»Der Herr Doktor scheint gute Verbindungen mit diesen Kreisen zu unterhalten,« sagte er spöttisch. »Wir aber haben keinen Grund, uns durch seine zärtliche Besorgnis um unsere Sicherheit den Appetit verderben zu lassen. Ich habe die Polizei benachrichtigt, und wenn die Leute sich wirklich zu irgend welchen unvernünftigen Kundgebungen hinreißen lassen sollten, so wird man sie mit blutigen Köpfen heimschicken, ohne daß wir uns weiter darum zu kümmern hätten. – Also bitte zu Tische, meine Herrschaften – ich heiße Sie noch einmal unter meinem Dache willkommen und wünsche Ihnen eine gesegnete Mahlzeit.«

Man leistete seiner Aufforderung Folge, wenn auch Editha die einzige war, deren lächelnde Ruhe ganz ungekünstelt schien. Das Stimmengeschwirr vor dem Hause war innerhalb weniger Minuten zu einem dumpfen Brausen angeschwollen, welches den Speisenden um so unheimlicher in die Ohren klingen mußte, als es hier und da von lautem Johlen oder von einzelnen schrillen Pfiffen übertönt wurde. Es war kein Zweifel, daß die Menschenmenge, welche sich da draußen angesammelt hatte, eine sehr zahlreiche sein mußte, und unter den obwaltenden Verhältnissen konnte niemand von der kleinen Gesellschaft im Ungewissen sein, daß sie von nichts weniger als freundlichen Absichten für den Hausherrn und seine Gäste beseelt war. Aber nach Hugo Neukamps Vorbilde gab man sich noch immer den Anschein, als ob man dadurch nicht im geringsten beunruhigt wurde, Der Assessor Valentini erzählte mit farblosen Lippen die lustigsten Anekdoten aus seinem unerschöpflichen Vorrat und belohnte sich selber jedesmal, wenn ihre Pointe heraus war, mit fast überlautem Gelächter. Herr von Hasselrode aber leerte hastig ein Glas nach dem anderen, und es war zweifelhaft, ob die hohe Röte auf seinem Gesicht mehr der Wirkung des Weines oder der gewaltsam unterdrückten inneren Erregung zugeschrieben werden mußte.

Da trat plötzlich für einen Moment draußen Stille ein und man vernahm deutlich den Klang einer tiefen, befehlenden Stimme, welche irgend eine Aufforderung an die Menge zu richten schien. Auch an dem Tische im Speisezimmer verstummte die bis dahin so mühsam fortgeführte Unterhaltung und niemand bemühte sich mehr zu verbergen, daß seine ganze Aufmerksamkeit nur den Vorgängen außerhalb des Hauses gehöre.

Es schien, als ob die befehlende Stimme wirklich einigen Eindruck auf die Tumultierenden hervorgebracht habe; denn ein gedämpftes Murren war an die Stelle des vorigen Lärms getreten und Editha sah, wie der Assessor, der ihr gegenüber saß, bei dieser Wahrnehmung tief aufatmete, gleich einem, dem eine Bergeslast von der Brust gewälzt worden ist.

Aber die trügerische Ruhe währte kaum zwei Minuten lang. Ein Ruf, dessen Wortlaut man hier oben nicht verstehen konnte, dessen bloßer Klang jedoch Monika in neuer Furcht zusammenschrecken ließ, tönte über das dumpfe Brausen aller anderen Stimmen hinweg, und als ob es nur dieses einzigen Zurufs bedurft hätte, um einen Sturm der wildesten Leidenschaften zu entfesseln, brach auch in demselben Moment ein wüstes Toben und Schreien los, gegen das alles Vorhergegangene nur ein Kinderspiel gewesen war.

Der Diener, welcher eben auf einen Wink des Hausherrn Edithas geleertes Champagnerglas füllte, zitterte so, daß ein Teil der perlenden Flüssigkeit das Tischtuch netzte und daß Hugo Neukamp ihm mit einem zornigen Blick die Flasche aus der Hand nehmen mußte.

»Mir scheint, das wird doch ernsthaft,« sagte der Oberst, indem er sich mit der Serviette leicht über die erhitzte Stirn hinfuhr. »Vielleicht wäre es zweckmäßig, lieber Sohn, wenn Sie selbst zu den Leuten sprächen und Ihren Einfluß in besänftigendem Sinne geltend zu machen suchten.«

Ein Wutgebrüll, das kaum noch aus menschlichen Kehlen zu kommen schien, begleitete von draußen diese Mahnung des alten Soldaten; einige gellende Weherufe schrillten dazwischen, und selbst der Assessor Valentini bemühte sich setzt nicht länger, in Haltung und Mienen den Helden zu spielen.

»In der That, Herr Neukamp,« sagte er, »es ist Ihre Pflicht, hinunter zu gehen und die Leute wenigstens so weit zur Vernunft zu bringen, daß wir – ich meine, daß die Damen ungefährdet den Heimweg antreten können.«

Aber der Hausherr griff mit einem geringschätzigen Achselzucken nach seinem Weinglase und erwiderte:

»Sie hören doch, daß die Polizei bereits an der Arbeit ist. Mein Wort darauf, daß wir in fünf Minuten Ruhe haben werden vor dem Gesindel.«

Gleichsam als Antwort auf diese zuversichtliche Erklärung gab es eine Sekunde später ein Klirren, Klingen und Krachen, daß alle fünf gleichzeitig von ihren Stühlen in die Höhe fuhren. Drei Scheiben in den Fenstern des Speisezimmers waren gleichzeitig in Trümmer gegangen, und zwischen den Glasscherben auf dem Smyrnateppich lagen die faustgroßen Feldsteine, mit denen das Zerstörungswerk vollbracht worden war. Ein eiskalter Luftstrom ging durch das Gemach und ließ die Kerzen in den Bronce-Girandolen ängstlich aufflackern. Monika hatte sich an die Seite ihres Vaters geflüchtet und der Assessor Valentini zog sich bis an die den Fenstern gegenüberliegende Wand zurück.

»Gehen Sie mit den Damen in das obere Stockwerk, Schwiegerpapa,« sagte Neukamp, dessen plötzliches Erbleichen mehr dem Zorn als dem Schrecken zuzuschreiben sein mochte. »Ich werde mit den Kerlen reden und werde ihnen, wenn sies denn so sehr danach gelüstet, ein paar Lot Blei zu kosten geben.«

»Das werden Sie nicht thun, Herr Neukamp,« protestierte der Assessor energisch. »Sie dürfen nicht vergessen, daß es unser aller Leben ist, welches Sie durch eine solche Herausforderung der Massen aufs Spiel setzen würden.«

Noch ehe ihm der Fabrikbesitzer eine Antwort geben konnte, stürzte der Diener, der im Augenblick der Katastrophe das Zimmer verlassen hatte, wieder herein und meldete ungefragt mit kreideweißem Gesicht:

»Es sieht sehr schlimm aus! – Das ganze Haus ist umzingelt und es sind ihrer wenigstens fünfhundert. Der Kutscher, der alles beobachtet hat, meint, es hätte erst den Anschein gehabt, als ob sie auf die Aufforderung der Gendarmen hin hätten auseinandergehen wollen. Dann aber wäre plötzlich alles auf die Polizisten losgegangen und die Paar Mann wären bald in die Flucht geschlagen worden, obwohl sie von ihren Waffen Gebrauch machten und auch wohl einige von den Aufrührern verwundeten. Nun wollen sie offenbar das Haus stürmen, der Kutscher und der Reitknecht haben die Thür verbarrikadiert; aber die Fensterladen im Erdgeschoß sind nicht sehr stark, und wenn die Polizei nicht bald mit genügender Verstärkung wieder da ist, werden sie aus diesem Wege sicherlich hereinkommen.«

»Und das ganze Haus, sagen Sie, sei umzingelt?« fragte der Assessor, der ein wahrhaft bemitleidenswertes Bild des Jammers darbot. »Es giebt nirgends einen Ausgang, durch den man ungefährdet entfliehen könnte?«

»Wir bedürfen eines solchen Ausganges auch gar nicht,« erklärte Neukamp, indem er den Furchtsamen mit einem Blick voll tiefster Verachtung streifte. »Geh hinunter, Friedrich, und sage den beiden andern, sie müßten unter allen Umständen verhindern, daß Jemand in das Haus gelange. Gieb ihnen ein paar Flinten aus meinem Gewehrschrank und bringe mir den neuen Doppelläufer, der vor ein Paar Tagen aus der Hauptstadt angekommen ist – auch die Schachtel mit den Patronen und den Revolver aus meinem Schlafzimmer. Der Erste, der durch Thür oder Fenster hereinkommt, wird niedergeschossen – hörst Du? Sage den anderen sie brauchten sich wegen der Folgen keine Sorge zu machen; denn ich übernehme alle Verantwortung, und wenn sie sich wacker halten, so wird es ihr Schaden nicht sein.«

Der Diener gehorchte, obgleich mans ihm wohl ansah, daß er freudig jede Belohnung im Stich gelassen hätte, wenn eine andere Möglichkeit vorhanden gewesen wäre, seine Haut zu sichern. Hugo Neukamp aber wandte sich, sobald er das Zimmer verlassen hatte, noch einmal an den Obersten und seine Töchter.

»Ich konnte allerdings nicht ahnen, daß die Polizei dieser ausgezeichneten Stadt von einer so jämmerlichen Beschaffenheit sei. Die Situation kann niemandem peinlicher sein als mir; aber ich bin noch jetzt fest überzeugt, daß wir nicht das geringste zu fürchten haben. Die Damen werden freilich für eine kurze Zeit in meinem Schlafzimmer Zuflucht suchen müssen. Der Herr Assessor wird Sie gewiß sehr gern dahin begleiten.«

Eben ging wieder mit lautem Geklirr und unter dem Triumphgeschrei der draußen tobenden Menge eine Fensterscheibe in Stücke, während der als Wurfgeschoß benutzte Stein bis mitten in das Zimmer vor Monikas Füße rollte.

»Kommen Sie, meine Damen – kommen Sie schnell!« rief Valentini mit heiser klingender Stimme. »Wir sind hier ja keine Minute länger unseres Lebens sicher.«

All seine gewohnte Galanterie vergessend, stürzte er als der Erste zur Thür. Aber niemand folgte ihm, denn der Oberst, dessen Arm Monika mit beiden Händen erfaßt hatte, mochte einen Rückzug als mit seiner soldatischen Ehre unvereinbar ansehen, und Editha, die mit erhobenem Haupte und mit vollkommen ruhigem Gesicht an die Seite ihres Verlobten getreten war, erklärte in festem Tone:

»Wenn Du Dich in Gefahr befindest, so ist mein Platz bei Dir! Auch fühle ich bis jetzt nicht die geringste Furcht Was aber gedenkst Du zu thun?«

»Was ich thun werde? – Ich werde zu den Schuften reden, und wenn sie nicht im Guten zur Vernunft zu bringen sind –«

Er preßte die Zähne zusammen, daß sie hörbar knirschten, als er den Blick über die Waffen gleiten ließ, welche der Diener eben hereinbrachte.

»Sie machen in allem Ernst Anstalten, das Haus zu stürmen, Herr Neukamp! – Zum Glück sind sie noch nicht auf den Gedanken gekommen, die Fensterladen einzuschlagen, sondern versuchen sich bis jetzt nur an der Thür. Aber es sind welche darunter, die sich geradezu wie die wilden Tiere geberden.«

»Es ist gut! – Geh hinunter auf Deinen Posten und erinnere Dich an meine Weisung! – Dem Ersten, der den Kopf hereinsteckt, eine Kugel zwischen die Augen! – Verstanden? – Das Gesindel soll doch sehen, daß man mit mir nicht ungestraft Händel sucht.«

Er erfaßte die Doppelflinte, drängte Editha, die ihren Arm um seinen Nacken gelegt hatte, sanft zurück und trat an eines der Fenster, indem er den halb zertrümmerten Flügel vollends aufstieß.

»Da ist er! Da steht er ja!« – brauste es vielstimmig von unten herauf; aber aus den Lärm folgte nach Verlauf weniger Sekunden eine fast lautlose Stille. Der unerschrockene Mut, mit welchem der Fabrikherr da plötzlich sein Gesicht der tobenden Menge zukehrte und vielleicht auch ein Rest jenes Unterthanengefühls, von dem sie so lange ihm gegenüber beherrscht worden waren, machte selbst die wildesten Schreier für den Moment verstummen.

Klar und scharf klang Hugo Neukamps Stimme über die Köpfe der Leute dahin.

»Seid ihr denn von Sinnen, daß ihr euch hier wie eine Horde von wilden Bestien aufführt? Jeder von euch macht sich an diesem Abend reif für das Zuchthaus und keinem wird seine Strafe geschenkt werden – darauf mögt ihr euch heilig verlassen. Wer aber ein Verlangen danach fühlt, mir in meinem Hause einen Besuch abzustatten, der mag nur versuchen, hereinzukommen. Hier drinnen sind vier entschlossene, mit Gewehren bewaffnete Männer,« – und er selber hob bei diesen Worten seine Doppelflinte empor, so daß sie all den Untenstehenden sichtbar wurde – »der Erste, der sich jetzt noch an meinem Eigentum vergreift, hat auch eine Kugel zwischen den Rippen.«

»Er ist wahnsinnig, sie so zu reizen, während er ihnen doch freundlich zureden sollte,« jammerte der Assessor, der noch immer mit schlotternden Knieen in der halb geöffneten Thüre stand. Auch der Oberst mochte trotz all seines soldatischen Mutes etwas ähnliches denken; denn er kniff die Lippen zusammen und warf einen etwas unmutigen Blick auf seinen künftigen Schwiegersohn. Diejenigen aber, an welche die nachdrückliche Ansprache gerichtet gewesen war, schienen durch den energischen Ton derselben in Wahrheit viel mehr eingeschüchtert als gereizt worden zu sein.

»Wir wollen keine fremden Arbeiter! – Wir wollen uns nicht auf die Straße werfen lassen!« tönten vereinzelte Rufe aus der Menge. Aber sie hatten einen ziemlich schüchternen Klang, und dann wurde eine tiefe Stimme vernehmlich:

»Wir wollen die Arbeit wieder aufnehmen und ruhig nach Hause gehen, wenn nachher alles beim alten bleibt!«

»Versprich es ihnen!« bat Editha, indem sie, unbekümmert um die Gefahr, der sie sich selber aussetzte, neben Neukamp trat; doch wenn der Fabrikbesitzer wirklich geneigt war, ihrer Bitte zu willfahren, so blieb ihm doch nicht mehr die Zeit, seiner Willfährigkeit Ausdruck zu geben. Einer aus dem unschlüssig gewordenen Haufen kam ihm zuvor, indem er – bei der augenblicklich herrschenden Ruhe allen verständlich – schrie:

»Feiglinge und Dummköpfe seid ihr alle miteinander! Habt ihr nicht gehört, daß er euch ins Gefängnis bringen will – schlagt den Hund tot! – Was Schlimmeres als Zuchthaus können wir dafür auch nicht kriegen, und dann wird er wenigstens keinen mehr ins Unglück stürzen.«

»Schlagt den Hund tot!« brüllte es aus den heiseren Kehlen einiger Betrunkener nach, und in ungestümer Bewegung riß Hugo Neukamp Editha mit sich vom Fenster hinweg in demselben Augenblick, als eine Anzahl großer Steine, ihr eigentliches Ziel verfehlend, mit dumpfem Gepolter auf den Teppich aufschlug.

»Geh hinauf, mein Kind!« knirschte der Fabrikbesitzer, totenbleich vor Wut, indem er zugleich seine Waffe erhob. »Jetzt gehts denen da unten ans Leben, und es ist besser, wenn du nichts davon siehst!«

Ohne Zweifel hätte er seine Drohung ausgeführt und aufs Geradewohl in die empörte Menge gefeuert, wenn ihn nicht der Oberst davon zurückgehalten hätte, indem er mit festem Griff die Flinte niederdrückte.

»Nicht doch!« sagte er. »Bis dahin sind wir noch nicht – es ist genug, wenn wir uns dieses Mittels für den Fall der äußersten Not bedienen.«

Der Schall schwerer, dumpfer Schläge und gleich darauf ein Krachen und Splittern von brechendem Holzwerk drang von unten herauf; dann wieder vielstimmiges Triumphgeschrei und unmittelbar nachher ein Schuß. Der Assessor Valentini war plötzlich verschwunden; Monika barg ihr Gesicht an der Brust des Vaters und selbst ihre mutige Schwester stützte sich mit beiden Händen auf den Rand des Tisches, als fürchte sie, einer Anwandlung von Schwäche zu unterliegen.

Nur für eine verschwindend kurze Zeitspanne hatte der aus dem Innern des Hauses abgefeuerte Schuß verblüffend und lähmend auf die Anstürmenden gewirkt; dann erhob sich ein hundertstimmiges Wutgeschrei von nervenzerreißender Wildheit, und die ganze, von dem unsicheren, gespenstischen Flackerlicht einiger brennenden Holzscheite nur schwach beleuchtete Menschenmasse wälzte sich gleich einer einzigen, ungeheuren Woge gegen das Haus heran.

Niemand von denen, die sich hinter seinen Mauern befanden, konnte jetzt noch darüber im Zweifel sein, daß die Situation eine furchtbar ernsthafte geworden war, – daß diese auf das äußerste erregte Menge auch vor einem schweren Verbrechen nicht mehr zurückschrecken würde, und daß jeder Widerstand die verhängnisvolle Lage viel eher verschlimmern als günstiger gestalten müsse.

»Geht hinauf in den oberen Stock, Kinder!« drängte der Oberst mit leicht bebender Stimme. »Und geben Sie mir auch eine Waffe, Schwiegersohn! – Es ist ein schmachvoller Kampf, zu dem wir da durch Ihre Schuld gezwungen werden; aber wenn es denn kein Mittel mehr giebt, ihm auszuweichen, so müssen wir mit Gottes Hilfe versuchen unsern Mann zu stehen.«

Man hörte es ihm an, wie wenig Hoffnung er in einen glücklichen Ausgang dieses Kampfes setzte, und keines der beiden Mädchen folgte denn auch seinem Befehl, das Zimmer zu verlassen. Rechts und links an ihn geschmiegt blieben sie da, wie wenn sie mit ihrem eigenen Leibe sein teures Leben schützen wollten. Plötzlich aber machte sich Monika, augenscheinlich von einer raschen Eingebung beseelt, los und eilte mit dem Ausruf:

»Vielleicht kann ich zu ihnen reden!« an das Fenster.

Sicherlich wäre es ein fruchtloses Unterfangen geblieben, wenn sie versucht hätte, ihrer schwachen Frauenstimme in diesem wüsten Toben und Schreien Gehör zu verschaffen; aber sie kam nicht einmal zu dem Versuch: denn unten ereignete sich in dem nämlichen Augenblick etwas Unvorhergesehenes, Ueberraschendes, das wie durch ein Wunder der nächtlichen Szene einen völlig veränderten Charakter gab.

Auf dem Rande des kleinen, verschneiten Springbrunnens, der sich inmitten eines Rondels vor der Villa erhob, stand ein von dem roten Flammenschein der Fackel, welche einer der zunächst Befindlichen emporreckte, hell beleuchteter Mann mit blondem Vollbart und in der Kleidung der besseren Stände – ein Mann, den Monika wohl auch erkannt haben würde, wenn sie nur die Umrisse seiner Gestalt gesehen oder den Klang seiner Stimme vernommen hätte.

Und diese Stimme klang mächtig über den weiten, freien Raum dahin; anfänglich allerdings noch übertönt von dem Wüten und Toben der Rasenden, bald aber all den Lärm zum Schweigen bringend und den Tumult siegreich beherrschend. Und nicht die physische Kraft dieser metallreichen, durchdringenden Stimme allein war es, welche solche Wirkung that, sondern vielmehr die Wucht der flammenden Worte, welche den Lippen des Redners entströmtem Auch er hielt den Excedenten das Unsinnige und Verblendete ihres Beginnens vor – auch er machte sie auf die harten Strafen aufmerksam, welche sie durch ihr wahnwitziges Beginnen über sich heraufbeschworen, wie es vor ihm Hugo Neukamp gethan; aber es war ein gewaltiger Unterschied zwischen seiner Art und derjenigen des jungen Fabrikbesitzers. Sein strafender Ton war der eines Vaters, der zu seinen ungeberdigen Kindern spricht, und selbst der Zorn, der hier und da in seinen Worten bebte, war der Zorn eines Mannes, den ein tiefinniges Mitleid unmutig gemacht hat über die Thorheit der Unseligen, welche sich in heilloser Verwirrung ihr eigenes Verderben schmieden.

Trotzdem und obgleich seine Ansprache von jener kraftvollen Schlichtheit war, die großen Massen gegenüber stets besonders wirksam ist, würde er vielleicht dennoch einen nachhaltigen Eindruck auf seine erregten Zuhörer kaum erzielt haben, wenn diese von der Aufrichtigkeit seines Mitgefühls nicht auch andere Beweise gehabt hätten, als sie sich jetzt in seinen mahnenden und strafenden Worten offenbarten.

Nur einem Manne, von dem sie die feste Ueberzeugung hatten, daß er es ehrlich gut mit ihnen meine, konnten sie gestatten, so zu ihnen zu reden, und nur eines solchen Mannes Rede konnte ihnen so zu Herzen dringen, wie es hier geschah.

Ein paar Schreier waren allerdings da, die ihn wiederholt zu unterbrechen versuchten; aber gerade die energische und nachdrückliche Art, in welcher diese Störenfriede von den anderen alsbald zum Schweigen gezwungen wurden, bewies, daß es dem Sprechenden wirklich gelungen war, die Mehrheit der Anwesenden zur Besinnung zu bringen. Als er geendet hatte, ging eine lebhafte Bewegung durch die bis dahin fast ganz stumm gebliebene Menge. Der dicke, schwarze Knäuel begann sich in einzelne Gruppen aufzulösen, und dann ertönte wieder dieselbe tiefe Stimme, die vorhin dem Fabrikbesitzer einen friedlichen Ausgleich angeboten hatte, um die Aufforderung zum Nachhausegehen schlicht und eindrucksvoll zu wiederholen. Der Platz vor der Villa leerte sich nach und nach, und auch der Kreis, der sich um den Redner im blonden Vollbart gebildet hatte, ging nach Verlauf einiger Minuten, während dieser mit leiserer Stimme lebhaft und eindringlich zu ihnen gesprochen hatte, still auseinander.

Mit verklärtem Antlitz und leuchtenden Augen lehnte Monika von Hasselrode in dem Rahmen des zertrümmerten Fensters. Sie hatte nicht einen einzigen Moment den Blick von dem Manne gewendet, der so mutig und erfolgreich zu ihrem Schutze eingegriffen und gerade im Augenblick der höchsten Not das Schlimmste von ihnen abgewendet hatte. Die gefalteten Hände fest auf das klopfende Herz gepreßt, hatte sie seinen Worten gelauscht und sie schien darüber ihre nächste Umgebung ebenso vollständig vergessen zu haben wie die Gefahr, der sie sich möglicherweise noch immer aussetzte, indem sie auf ihrem Platze an dem offenen Fenster verblieb.

Sie, erschrak fast ein wenig, als sie gewahrte, daß der Oberst an ihre Seite getreten war und als sie ihn, weit über die Brüstung gelehnt, hinabrufen hörte:

»Guten Abend, Doktor Asmus! – Kommen Sie herauf zu uns! – Es giebt hier jemanden, der Ihnen einiges zu sagen wünscht.«

Der Angeredete kam um einige Schritte weiter auf das Haus zu und lüftete gegen die am Fenster Stehenden seinen Hut.

»Man wird meiner hier nicht mehr bedürfen, Herr Oberst,« antwortete er im Tone merklicher Unentschlossenheit, »und nur, wenn es wirklich zu Ihrer Beruhigung dienen könnte –«

»Gewiß! – Zu meiner Beruhigung bitte ich Sie, herauf zu kommen, wenn Sie es schon aus keinem anderen Grunde thun wollen. Es wäre doch schlimm, wenn man Ihnen an diesem Abend nicht einmal sollte die Hand drücken können.«

Man hörte den Doktor an die Hausthür klopfen; aber es verging eine geraume Zeit, ehe man ihm nach Wegschaffung der zur Sicherung des Eingangs dahinter aufgethürmten Gegenstände Zutritt verschaffen konnte, und während dessen wurde zwischen den vier Personen, die oben im Speisezimmer bei einander waren, nicht ein einziges Wort gesprochen, wie wenn alle instinktiv von der Empfindung erfüllt wären, daß ihnen jetzt vielleicht ein noch peinlicherer Augenblick bevorstand als alle die, welche sie an diesem verhängnisvollen Abend bereits hatten erleben müssen.


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