Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Von dem jungen Paare, dem die ausgezeichneten Pferde des Herrn Neukamp einen sehr beträchtlichen Vorsprung vor der ganzen übrigen Gesellschaft verschafft hatten, war während der ersten Minuten nichts zu sehen, und die Damen, welche sich oben in dem behaglich durchwärmten Tanzsaal des Wirtshauses von den diensteifrigen Kavalieren aus ihren wärmenden Umhüllungen schälen ließen, konnten nicht umhin, einige Bemerkungen darüber zu machen, die in der Form harmlosen Scherzes zumeist eine ganz hübsche Dosis Bosheit enthielten. Monika von Hasselrode war alsbald von einigen Freundinnen in Beschlag genommen worden, und Doktor Asmus, der seinen Pelz nicht erst abgelegt hatte, konnte darum, ohne sich einer Unhöflichkeit gegen sie schuldig zu machen, den Saal alsbald wieder verlassen.

Auf der Diele des Wirtshauses kamen ihm Neukamp und Editha entgegen. Die Tochter des Obersten hatte ihren Arm in denjenigen des Fabrikbesitzers gelegt, aber sobald sie des von oben Herabkommenden ansichtig wurde, machte sie sich los und ging ihm mit großer Lebhaftigkeit entgegen.

»Wollen Sie jetzt Ihren Krankenbesuch machen, Herr Doktor?« fragte sie mit einer Liebenswürdigkeit in Ton und Mienen, die Wohl auch den stärksten Groll hätte entwaffnen müssen. »Werden Sie mir erlauben, Sie auf demselben zu begleiten?«

Doktor Asmus betrachtete sie mit erstauntem, fragenden Blick wie jemand, der nicht ganz sicher ist, ob man ihn nicht vielleicht nur zum besten haben wolle.

»Sie, Fräulein von Hasselrode?« fragte er zögernd. »Seit wann werden Sie von derartigen Neigungen heimgesucht?«

»Ihre rührende Geschichte von dem heldenmütigen Mädchen, das sich schwere Brandwunden zuzog, als es einer armen Witwe die einzige Kuh aus dem brennenden Stalle retten wollte, hat mirs angethan. Ich war von vornherein entschlossen, dies seltene Geschöpf kennen zu lernen, und wenn Sie mich nicht mitnehmen wollen, werde ich den Weg zu ihr schon allein finden.«

»Wenn Sie im Ernst die Absicht haben, sich Ihre fröhliche Feststimmung durch einen solchen Besuch zu verderben, so will ich Sie gern bei den Leuten einführen. Aber ich mache Sie im vorhinein darauf aufmerksam, daß es nicht sehr angenehme Eindrücke sein werden, welche Sie dort erwarten.«

»In der That, mein gnädiges Fräulein,« mischte sich nun auch Hugo Neukamp, der mit höchst verblüfftem und etwas unwilligem Gesicht daneben gestanden hatte, ein, »ich möchte in Ihrem eigenen Interesse gegen die Ausführung eines derartigen Vorhabens protestieren. Solche Sachen sind nur romantisch und rührend, wenn man sie aus einiger Entfernung ansieht, und Sie werden sich nicht nur um ihre gute Laune, sondern auch um eine schöne Illusion bringen, falls Sie darauf bestehen sollten, in eine persönliche Berührung mit dieser Dorfheldin zu treten.«

»Lassen wir es einmal darauf ankommen,« erwiderte Editha etwas schnippisch. »Vielleicht findet sich da auch für mich Gelegenheit, ein gutes Werk zu thun, und das wäre doch wohl ein geopfertes Vergnügen wert.«

Sie wandte sich zum Gehen, ohne dabei die freudige Bewunderung zu übersehen, welche bei ihren letzten Worten in dem Antlitz des Doktor Asmus aufgeleuchtet war. Da er nicht zum Mitgehen aufgefordert wurde, mußte Herr Hugo Neukamp wohl oder übel zurückbleiben, und es war ihm vom Gesicht abzulesen, daß er Edithas frostiges »Auf Wiedersehen!« keineswegs als lindernden Balsam empfand für die Wunde, die seiner Eitelkeit durch ihr sonderbares Benehmen geschlagen worden war. Mit einem finsteren Blick sah er den beiden nach und trat dann, statt sich in den Tanzsaal hinauf zu begeben, in das unten gelegene »Herrenstübchen« des Gastlokals ein.

Doktor Asmus und Editha sprachen anfänglich nicht viel, während sie über den hartgefrorenen knarrenden Schnee der Dorfstraße schritten. Plötzlich aber legte die junge Dame ganz leicht ihre Hand auf den Arm des Begleiters und sagte in weichklingenden, schmeichelnden Lauten:

»Sie sind mir sehr böse, nicht wahr? – Ihre angeborene Ehrlichkeit macht es Ihnen ja doch unmöglich, es mir zu verbergen.«

»Ich verberge nichts,« erwiderte er ruhig, »aber es wäre sehr thöricht, wenn ich Ihnen böse sein wollte; denn Sie würden sich alsdann insgeheim doch ohne Zweifel nur lustig über mich machen.«

»So habe ich mich ganz und gar um Ihre gute Meinung gebracht, indem ich die Einladung des Herrn Neukamp annahm, obwohl ich Ihnen bereits eine halbe Zusage gemacht hatte? Ja, mein empfindlicher Herr Doktor, warum, wenn Sie das so sehr verdroß – haben Sie Ihr gutes Recht dann nicht besser verteidigt?«

»Weil es nicht meine Gewohnheit ist, mich aufzudrängen, und weil ich überdies keine Berührung mit Herrn Neukamp zu haben wünsche, im freundlichen so wenig als im unfreundlichen Sinne.«

»Ah, Sie kennen ihn also genauer, als Sie es vorhin erraten ließen – und Sie kennen ihn von einer unvorteilhaften Seite?«

»Wir waren vor einer Reihe von Jahren Studiengenossen in der Hauptstadt; wir gehörten derselben Verbindung an und nannten uns sogar Freunde. Sie werden es begreiflich finden, wenn ich namentlich mit Rücksicht auf diesen letzterwähnten Umstand Ihre Frage unbeantwortet lasse.«

»Oh, ich bin nicht neugierig! Aber es muß wirklich etwas schreckliches zwischen Ihnen passiert sein, da Sie als ehemalige Freunde setzt so kalt und gleichgiltig wie Fremde neben einander hergehen können. Soll ich einmal versuchen, den Friedensengel zu spielen?«

»Nein, Fräulein Editha!« entgegnete er sehr ernst und mit großer Bestimmtheit. »Von einer Aussöhnung zwischen Hugo Neukamp und mir könnte niemals die Rede sein, und einer äußerlichen Annäherung bedarf es um so weniger, als unsere Lebenswege und Lebensinteressen ja inzwischen zu sehr verschiedenartigen geworden sind.«

»Aber Sie müssen es doch begreifen, daß es sehr peinlich für mich ist, zu sehen, wie sich zwei Freunde unseres Hauses in kaum verhehlter Feindschaft gegenüberstehen. Oder machen Sie es zur Bedingung für die Fortdauer Ihrer Freundschaft, daß wir mit Herrn Neukamp brechen?«

»Gewiß nicht! Bin ich doch sicher, daß Sie nicht daran denken würden, sie um diesen Preis zu erkaufen.«

Es war wieder eine fühlbare Herbheit in seiner sonst so ruhigen Stimme. Editha streifte ihn mit einem raschen Seitenblick; aber sie blieb ihm eine direkte Antwort schuldig und sagte statt dessen nach kurzem Schweigen mit noch freundlicherem und liebenswürdigerem Tone als zuvor:

»Uebrigens, wenn es so steht, muß ich wohl bekennen, daß ich mich heute noch einer anderen Unart gegen Sie schuldig gemacht. Sie könnten sonst glauben, daß Herr Neukamp, der ganz unschuldig daran war. Ihnen geflissentlich habe einen kleinen Verdruß bereiten wollen. Es geschah auf mein Verlangen, daß er Sie vorhin überholte und Ihrem wackeren Braunen die Ehre streitig machte, der Erste zu bleiben.«

»Es bedurfte dieses Bekenntnisses nicht erst, um mich davon zu überzeugen. Was bei Ihnen nur Unbedachtsamkeit und jugendlicher Uebermut war, wäre ja bei ihm ein frevelhaftes Spiel mit Menschenleben gewesen, das ich schon um Ihrer Schwester willen nicht hätte ungestraft lassen dürfen.«

Editha war in raschem Wechsel blaß und rot geworden. Um ihre Lippen zuckte es unwillig, und es kostete sie ersichtlich einige Selbstüberwindung, das unwillige Wort zurückzudrängen, das ihr wohl schon auf der Zunge lag. Fast zwei Minuten waren vergangen, ehe sie sagte:

»Es ist eine hübsche Zurechtweisung, welche Sie mir da zu teil werden lassen; aber ich will sie Ihnen nicht übel nehmen, denn nach den Begriffen unserer jetzigen Umgebung habe ich sie ja gewiß verdient. Ich vergesse eben leider noch viel zu oft, daß wir nicht mehr in Papas alter Garnison und unter einem Völkchen von Reiteroffizieren leben, denen persönliche Tapferkeit und fröhlicher Wagemut für etwas ganz Selbstverständliches galten. – Aber wir sind schon am Ende des Dorfes. Haben wir es denn noch weit?«

»Nein, mein gnädiges Fräulein – das Haus des Stellmachers liegt dort drüben – und wenn Sie wirklich dabei beharren –«

»Gewiß! – Wann hätte ich Ihnen Anlaß gegeben, mich für so wankelmütig zu halten? Das Elend wird doch wohl nicht ansteckend sein.«

Doktor Asmus antwortete nicht und sie gingen quer über die Dorfstraße dem armseligen, windschiefen Häuschen zu. Ein paar Räder und ein zerbrochener Pflug, die unter einem Bretterverschläge an der Hauswand lehnten, ließen erraten, welches Handwerk hier betrieben wurde. In der halboffenen Thür aber lehnte ein noch junger Mann von kräftigem Körperbau, der bei ihrer Annäherung die kurze Pfeife aus dem Munde nahm und grüßend an

»Guten Tag, Mehnert!« redete ihn der Arzt an. »Wie stehts mit Ihrer Schwester? – Hat sie gestern und heute noch über viele Schmerzen geklagt?«

»Sie klagt überhaupt nicht, Herr Doktor,« erwiderte der Gefragte, dessen blasses, eingefallenes Gesicht eine lange Geschichte von Sorgen und Entbehrungen zu erzählen schien. »Wenn wir sie nicht manchmal im Schlaf leise wimmern hörten, würden wir kaum wissen, daß ihr was fehlt, so stille und geduldig liegt sie da. Aber das ist eben von jeher so ihre Art gewesen.«

Während er sprach, hatte er einen verwunderten und, wie es Editha scheinen wollte, nicht gerade freundlichen Blick auf die elegante junge Dame in des Doktors Begleitung geworfen. Aber er that keine Frage und öffnete die zur Rechten der schmalen, Halbdunkeln Diele gelegene Thür, die in eine niedrige Werkstatt zu führen schien.

»Der Herr Doktor ist da, Vater!« rief er hinein. »Du wirst ihm besser als ich Auskunft zu geben wissen.«

Der Stellmacher Mehnert kam heraus, ein grauhaariger, schon etwas gebeugter Mann mit kränklichem, durchfurchtem Gesicht. Die Freude, welche er beim Anblick des Arztes empfand, war offenbar viel größer als diejenige seines Sohnes; denn er schüttelte dem Doktor in seiner treuherzig ländlichen Weise wiederholt die Hand und brachte mit übersprudelnder Geschwätzigkeit heraus, was er inbezug auf das Befinden seiner Tochter für mitteilenswert hielt. Asmus hörte ihm eine kleine Weile zu; dann schnitt er mit einer freundlichen Handbewegung den Redestrom des Alten ab.

»Ich danke Ihnen, Vater Mehnert – es ist also, wie ich aus alledem entnehme, nicht schlechter geworden, und im übrigen werde ich nun schon selber sehen, wie es steht. – Das gnädige Fräulein hier hat gehört, auf welche Weise die Agnes zu Schaden gekommen ist und möchte ihr gerne ein tröstliches Wort sagen. Ich werde wohl zuerst hineingehen müssen und währenddessen mögt Ihr Beide versuchen, die Dame zu unterhalten.«

Er klopfte behutsam an eine Thür zur Linken und trat, als von drinnen ein schwaches »Herein!« vernehmlich geworden war, über die Schwelle. Der alte Mehnert aber nötigte Editha, die noch immer draußen auf dem Schnee stand, mit einigen verlegenen Kratzfüßen in das Innere des Hauses.

»Ich kann dem gnädigen Fräulein allerdings nur einen Schemel in der Küche anbieten,« meinte er; »denn in der Werkstatt ist es doch wohl zu schmutzig für so feine Kleider. Aber hier draußen in der Kälte –«

»Nein, nein, beunruhigen Sie sich meinetwegen nicht!« wehrte Editha in einer zwar nicht unfreundlichen, doch immer etwas hochmütigen Weise ab. »Ich bin nicht empfindlich gegen die Kälte, und ich werde hier warten, bis Doktor Asmus mir gestattet, das Krankenzimmer zu betreten! – Ist die Agnes übrigens Ihre einzige Tochter?«

»Ja! – Ich habe nur noch den Paul und sie! – Aber ich hatte freilich noch eine andere Tochter – oh, gnädiges Fräulein – die Lene, das war ein Mädel! So schön wie Sie – wahrhaftig, so schön wie Sie! – Und das muß nun Alles unter der Erde vermodern, weil so ein Schuft sie in den Tod gejagt hat!«

»Vater!« mahnte der junge Mensch in rauhem, befehlendem Tone und mit finster gerunzelter Stirn. Wieder glaubte Editha einen feindlichen Blick aus seinen dunkel umschatteten Augen zu fühlen und gerade dies sonderbare Benehmen des ihr völlig Unbekannten reizte ihren hochmütigen Trotz. Indem sie dem Sohne völlig den Rücken zuwandte, fragte sie den Alten weiter:

»Sie haben also, wie es scheint, auch mit dieser zweiten Tochter Unglück gehabt? – Sie ist frühzeitig gestorben?«

Der Stellmacher suchte hinter dem Brustlatz seiner Arbeitsschürze nach dem blaugewürfelten Taschentuch und während er es mit einer Bewegung, die ihm bei diesem Thema vielleicht schon zur Gewohnheit geworden war, an die Augen führte, sagte er:

»Achtzehn Jahre alt war sie, als man ihre Leiche aus dem Wasser zog – achtzehn Jahre und zwei Monate, mein liebes, gnädiges Fräulein – ach, und noch in ihrem Tode war sie so schön, so schön wie ein Engel! – Es ist mein Trost, daß sie nicht so himmlisch ruhig ausgesehen haben könnte, wenn sie nicht vor Gottes Throne Vergebung gefunden hätte für ihre große Sünde.«

Seine dünne, schwindsüchtige Stimme zitterte, und es waren jetzt wirkliche Thränen, die er mit dem blauen Taschentuche fortwischte. Paul Mehnert, der fortwährend dicke Rauchwolken aus seiner kurzen Pfeife gepafft hatte, spuckte heftig aus, und sagte dann in einem so ingrimmigen Ton, daß Editha erschrocken zusammenfuhr:

»Sprich doch nicht immer wieder den alten Unsinn. Vater! Für Unsereinen giebt es was Gutes so wenig im Himmel als auf Erden! Und wozu erzählst Du dem vornehmen Fräulein die Geschichte? Für einen Roman ist sie viel zu gewöhnlich und für eine interessante Neuigkeit viel zu alt.«

Editha, die ihre Bestürzung rasch überwunden hatte, drehte mit einer langsamen, stolzen Bewegung ihr Gesicht dem Sprechenden wieder zu. Der erstaunte, hoheitsvolle Blick, der ihn aus ihren schönen Augen traf, brachte ihn offenbar ein wenig aus der Fassung und hinderte ihn, noch etwas weiteres hinzuzufügen.

»Wer sagt Ihnen, daß ich mich nur aus Neugier nach diesen Dingen erkundige?« fragte sie kühl abweisend, »Und ich denke, Ihr Vater wäre alt genug, um keines Vormundes mehr zu bedürfen.«

Paul Mehnert murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, rückte an seiner Mütze und ging in die Werkstatt, deren Thür er heftig hinter sich zuschlug.

»Seien Sie ihm nicht böse, mein Fräulein!« bat der Alte. »Er ist immer ein Hitzkopf gewesen, und seitdem er neuerdings nirgends Arbeit finden kann, ist kein Auskommen mehr mit ihm. Ich selber muß beide Augen zudrücken, wenn ich nicht alle Tage von neuem Streit und Unfrieden in meinem Hause haben will.«

»Und warum kann Ihr Sohn keine Arbeit finden? – Ist er so wenig geschickt?«

»Oh – im Gegenteil!« protestierte der Stellmacher mit unverkennbarem Stolz. »Man soll mir erst mal einen besseren Modelltischler zeigen, als er einer ist. Aber seitdem sie ihn aus einer Fabrik entlassen haben, weil er der Anstifter eines Ausstandes gewesen sein soll, seitdem wollen sie ihn nirgends mehr annehmen, und er liegt mir nun schon Wochen lang hier zur Last, obwohl ich, weiß Gott, kaum Brot genug für mich und die Agnes beschaffen kann.«

Editha dachte einen Augenblick nach; dann fragte sie:

»Glauben Sie, daß auch in der Hartogschen Fabrik zu W. Modelltischler beschäftigt werden?«

»Ei gewiß, mein liebes Fräulein! Aber sie haben ihn da ebenso kurz abgewiesen wie überall, wo er um Arbeit anfragte.«

»Nun, wenn er verspricht, sich für die Folge gut zu halten und etwas bessere Manieren anzunehmen, so werde ich Ihrem Sohne dort einen Platz verschaffen. Ich bin mit dem jetzigen Eigentümer der Fabrik bekannt und ich hoffe, meine Fürsprache wird etwas bei ihm gelten.«

Der alte Mehnert war fast außer sich vor Dankbarkeit und Freude über diese unverhoffte Aussicht. Editha aber unterbrach den Strom seiner Rede, indem sie abwehrend sagte:

»Ich möchte Ihrem Sohne nur den Beweis liefern, daß man sich auch aus besseren Gründen als aus bloßer Neugier um das Schicksal anderer kümmern kann. Uebrigens brauchen Sie dem Doktor Asmus nichts von meiner Absicht mitzuteilen. Und nun erzählen Sie mir doch auch, was für eine Bewandtnis es mit Ihrer verstorbenen Tochter hatte. Sie ist freiwillig aus dem Leben geschieden?«

Das blaugewürfelte Taschentuch geriet schon wieder in Bewegung.

»Ja – Gott sei es geklagt! – Aber es ist vielleicht wirklich nur eine ganz gewöhnliche Geschichte. Weil sie schon mit vierzehn Jahren klüger und anstelliger war als all die andern Mädel im Dorfe, hatte der Herr Pastor unsere Lene als Kindermädchen zu sich ins Haus genommen, und als er dann einmal Besuch hatte von seinem Bruder, der ein hochgestellter Herr in der Hauptstadt war, ließ er mich kommen und fragte, ob ich nicht meine Zustimmung dazu geben wollte, daß der Bruder sie zu ihrer besseren Ausbildung mit sich in die Hauptstadt nähme. Es wurde uns schwer, sie fortgehen zu lassen – denn damals war auch meine arme Frau noch am Leben – aber am Ende meinten wir doch, daß es zu ihrem Glücke sei und waren ihr darum nicht im Wege. Ein paar Jahre lang ging denn auch alles wunderschön. Die Lene war zur Krankenpflegerin ausgebildet worden und der Bruder unseres Herrn Pastors hatte ihr einen Platz bei sehr reichen und vornehmen Leuten verschafft, wo sie sehr gut gehalten wurde, und außerdem noch eine Menge Geld bekam. Wir alle waren herzlich zufrieden, bis wir eines Tages einen Brief von der Lene erhielten, daß sie ihre Stellung gekündigt habe, weil sie sich nächstens verloben und heiraten wolle. Ein braver junger Mann habe ihr seine Hand angetragen – er sei freilich ein armer Teufel, ein Schreiber bei einem Advokaten, aber am Ende könnte sie ja auch etwas verdienen, und da sie sich rechtschaffen lieb hätten, würden sie auch mit dem wenigen auskommen, das ihnen das Schicksal beschert habe. Nach ein paar Wochen, wenn er einmal auf zwei oder drei Tage aus seinem Bureau abkommen könnte, würde ihr Bräutigam zu uns kommen, sich unsere elterliche Einwilligung zu holen. Der Brief machte uns wenig Freude; aber wir wußten, daß da mit Vorstellungen und Warnungen nichts mehr auszurichten sein würde, denn die Lene hatte, immer ihren Kopf für sich gehabt, und was sie sich einmal vorgenommen, das setzte sie auch sicherlich durch. Wir warteten also auf den Bräutigam, dem ich gehörig auf den Zahn fühlen wollte; aber von einer Woche zur andern warteten wir umsonst. Er kam nicht, und als wir bei der Lene anfragten, wie das zuginge, blieb auch sie uns die Antwort schuldig. Statt dessen aber schrieb mir ihre Herrschaft einen Brief, ich möchte doch so schnell als möglich nach der Hauptstadt kommen, denn mit der Lene sei etwas nicht in Ordnung und sie fürchteten, daß ein Unglück geschehen könnte. Da kratzten wir denn alles zusammen, was wir hatten und setzten uns auf die Eisenbahn, mein armes Weib und ich. – Na, was soll ich Ihnen weiter sagen, mein liebes gnädiges Fräulein? – Wieder gesehen haben wir unsere Lene freilich, aber nicht, wie wirs erwartet hatten, bei ihrer Herrschaft, sondern in dem schrecklichen Leichenhause, dahin sie die Erhängten und die Ertrunkenen bringen. Da lag sie und –«

Seine zitternde Stimme versagte ihm völlig und ein schmerzliches Schluchzen erschütterte seinen gebrechlichen Körper. Editha wartete geduldig, bis er sich einigermaßen gefaßt hatte; dann fragte sie:

»Ihr Bräutigam hatte das Verlöbnis gelöst, nicht wahr? – Und aus Kummer darüber war sie in den Tod gegangen?«

Der Stellmacher schüttelte wehmütig den grauen Kopf.

»Es war schlimmer als das! – Der erbärmliche Kerl, dem sie ihr ganzes Vertrauen geschenkt hatte, war nichts anderes als ein gemeiner Betrüger. In einem Brief, den sie für uns zurückgelassen, teilte uns die Lene mit, wie sie durch einen Zufall erfahren habe, daß ihr Geliebter sich ihr gegenüber einen falschen Namen beigelegt habe und daß er gar kein Advokatenschreiber, sondern ein Student und der einzige Sohn steinreicher Leute sei, die natürlich niemals eingewilligt haben würden, daß er ihnen einen Dienstboten als Tochter zuführe. Aber er selber habe auch an eine solche Möglichkeit niemals gedacht, und er habe ihr das mit lachendem Munde rund heraus erklärt, als sie für seine ehrlose Handlungsweise Rechenschaft von ihm gefordert. Da wollte sie denn mit ihrer Schande nicht mehr länger leben und wollte uns lieber den kurzen Schmerz bereiten, sie zu verlieren, als daß wir unser Leben lang genötigt sein sollten, uns ihrer zu schämen. Das ist die ganze Geschichte, mein liebes, gnädiges Fräulein! Wir gaben unsere letzten Groschen hin, um ihr wenigstens ein anständiges Begräbnis zu verschaffen, und als ich mit meinem armen Weibe heimfuhr, da sah ichs ihr vom Gesicht ab, daß sies nicht lange überleben würde; denn es war gerade, als ob sie über Nacht um zwanzig Jahre älter geworden wäre. Und es hatte mich nicht betrogen, denn noch bevor ein Vierteljahr um war, legten wir auch sie in die Erde. Wenn nicht die Agnes dagewesen wäre, weiß Gott, ich hätts ihr am liebsten nachgethan; denn daß ich nun so allein auf der Welt herumlaufen sollte, das wollte mir gar nicht in den Sinn.«

»Und jener Mensch? – Er ist ganz ungestraft geblieben? – Sie haben ihn niemals zur Rechenschaft gezogen?«

»Was hätte ich ihm denn thun können, mein liebes Fräulein? – Und außerdem, wo hätte ich ihn finden sollen? – Ich wußte ja nicht einmal seinen richtigen Namen; denn die Lene hatte uns in ihrer Großmut nicht geschrieben, wie er hieß. Mein Junge hat freilich später, als er ein paar Monate lang in der Hauptstadt arbeitete, Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um ihn herauszukriegen, aber er hat nichts erfahren können, und es war gut so; denn der Paul ist ein Hitzkopf, und es hätte gewiß nur ein neues Unglück gegeben, wenn er an den Betrüger geraten wäre. Mag ihn der da oben bestrafen für das, was er an meinem armen Kinde gethan. Ich meine immer, sein Gewissen könnte ihm ohnedies schon hier auf Erden keine ruhige Stunde mehr lassen.«

Editha machte ihm ein Zeichen zu schweigen; denn in diesem Augenblick öffnete sich die Thür des Krankenzimmers und Doktor Asmus winkte die junge Dame heran.

»Sprechen Sie ein paar freundliche Worte zu ihr,« mahnte er leise, »aber machen Sie es kurz; denn es geht ihr noch gar nicht so gut, als ichs wohl wünschen möchte.«

In einer Kammer, die wenigstens hell und luftig war, wenn auch die Einrichtung an Armut und Dürftigkeit kaum noch übertroffen werden konnte, lag das kranke Mädchen mit verbundenem Kopfe auf dem niedrigen Bette. Von ihrem Gesicht ließen die weißen Tücher des Verbandes nur wenig sehen, aber die braunen Augen, die sanft und geduldig darunter hervorblickten, gaben ihr das rührende Aeußere einer demütig in ihr schweres Schicksal ergebenen Dulderin. Editha von Hasselrode würde davon sicherlich noch mehr ergriffen worden sein, wenn ihr nicht der abscheuliche Jodoformgeruch, der die Kammer erfüllte, gar so empfindlich aus die verwöhnten Nerven gefallen wäre. So aber hätte es der Mahnung des Doktors kaum bedurft, um sie zu thunlichster Abkürzung ihres Samariterbesuches zu bestimmen. Sie trat an das Lager heran, reichte der Kranken die Hand und richtete einige freundliche Worte an sie, die freilich aus ihrem Munde von wahrhaft bezauberndem, herzgewinnendem Klange waren. Mit schwacher Stimme gab die Verwundete Antwort, und als Editha schließlich sagte:

»Ich hoffe, daß Sie sich keine Sorge wegen Ihres Zustandes machen, meine Liebe – Sie sind ja in den besten Händen, und Doktor Asmus wird Ihnen sicherlich wieder zu voller Gesundheit verhelfen –da leuchtete es in den braunen Augen der armen Märtyrerin glücklich auf und ein Lächeln kindlich hingebenden Vertrauens umspielte ihre farblosen Lippen. Editha fühlte, daß der junge Arzt für dies unglückliche, einsame Wesen etwas wie ein rettender Engel, wie ein überirdischer Helfer war, und trotz des Jodoformgeruchs, der ihr mit jedem Augenblick unerträglicher schien, fühlte sie sich für einen Moment von jener tiefen Bewegung ergriffen, die nie ohne eine gewisse erhebende und veredelnde Wirkung ist.

Als sie sich noch einmal über die Kranke herabbeugte, um Abschied von ihr zu nehmen, ließ sie sacht einige Goldstücke in ihre unverletzte linke Hand gleiten und sagte leise:

»Eine kleine Belohnung für Ihre mutige That, mein Kind! – Sorgen Sie dafür, daß sie nur zu Ihrer Pflege verwendet werde.«

Dann ging sie hastig hinaus, als wolle sie sich allen Danksagungen entziehen und eine Minute später folgte ihr Doktor Asmus nach. Es war ungewiß, ob er den kleinen Vorgang bemerkt hatte, denn er erwähnte desselben mit keinem Wort; aber alle frühere Unfreundlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden und seine Stimme hatte einen weichen, fast zärtlichen Klang, da er sagte:

»Sie haben einen so großen Teil Ihres Vergnügens diesen armen Leuten zum Opfer gebracht, Fräulein Editha, daß ich mir Vorwürfe mache, dabei mitgewirkt zu haben.«

Sie schüttelte den Kopf und sah zu ihm auf mit einem Lächeln Und einem Blick, die ihm alles Blut zum Herzen strömen ließen.

»Bedauern Sie es nicht, Doktor Asmus!« erwiderte sie leise. »Ich würde mich freuen, wenn ich dadurch in Ihren Augen zu einem kleinen Teil wieder gut gemacht hätte, was ich heute gefehlt.«

»Oh, Fräulein Editha –« rief er mit hervorbrechender Wärme; aber er wurde gehindert, völlig auszusprechen, was ihm auf den Lippen geschwebt hatte; denn eben kam der alte Stellmacher wieder aus seiner Werkstatt, um sich mit vielen Dankesworten von dem Doktor und seiner vornehmen jungen Begleiterin zu verabschieden – ein Vorhaben, dessen Ausführung bei seiner Redseligkeit eine ziemlich lange Zeit in Anspruch nahm.

Als sie beide endlich auf die Dorfstraße hinaustraten, schien die Stimmung jenes glücklichen Augenblicks schon wieder verflogen; denn Editha sprach in ziemlich leichtem Tone von recht gleichgiltigen Dingen, während Doktor Asmus still und nachdenklich vor sich hinschaute.

Sie waren noch nicht hundert Schritte weit gegangen, als plötzlich wie aus der Erde gewachsen Hugo Neukamps mächtige Gestalt vor ihnen stand. Er mußte sie, hinter einem der dicken Lindenbäume verborgen, erwartet haben, da sie ja bis zu diesem Moment nichts von seiner Nähe wahrgenommen hatten. Unwillig zog Doktor Asmus die Brauen zusammen und warf einen erwartungsvollen Blick auf Editha, als hoffe er, daß sie den lästigen Gesellschafter, mit dem sie ja vorhin so wenig Umstände gemacht, durch ein unzweideutig entmutigendes Wort verscheuchen werde. Aber die junge Dame lächelte statt dessen dem Fabrikbesitzer freundlich zu und sagte in einem neckenden Tone, der viel eher schelmisch herausfordernd als kühl abweisend klang:

»Suchen Sie die Einsamkeit, Herr Neukamp – oder war es etwa gar Ihre Absicht, hier ganz insgeheim auf Abenteuer auszugehen?«

In dem stark geröteten Antlitz des Gefragten zitterte unverkennbar eine nur mühsam unterdrückte Erregung. Er gab sich gar keine Mühe, aus den von ihr vorgeschlagenen launigen Gesprächston einzugehen, sondern sagte

»Keines von beiden, Fräulein Editha! – Ich suchte nur Sie; denn ich war nahe daran zu fürchten, daß Sie Haus für Haus allen Kranken und Elenden dieses armseligen Nestes Ihren Besuch abzustatten wünschten.«

»Oh nein,« gab sie lachend zurück. »Ich habe an den Bekanntschaften, die ich bei der ersten Visite gemacht habe, für heute vollauf genug. Uebrigens freue ich mich sehr, Ihnen hier zu begegnen; denn ich habe eine Bitte an Sie, eine Bitte, die Sie mir in blanco gewähren müssen, noch ehe Sie ihren Inhalt kennen. Haben Sie Mut genug, mir das zu versprechen?«

Das war derselbe einschmeichelnde Ton, derselbe bezaubernde Aufschlag der schönen Augen, welche den Doktor noch vor wenig Minuten berauscht hatten – und Hugo Neukamps rasche, fast leidenschaftliche Antwort verriet, daß sie auch diesmal nicht geringere Wirkung thaten.

»Ob ich Mut genug dazu habe?« rief er. »Fordern Sie alles, was ich besitze – fordern Sie ein Stück von meinem Leben – und ich will ein Schuft sein, wenn ich mich auch nur einen Augenblick bedenke, es Ihnen zu Füßen zu legen.«

»Sie werden die Freundlichkeit haben, mich zu entschuldigen, Fräulein von Hasselrode,« sagte Doktor Asmus hastig, noch ehe Editha Zeit gefunden hatte, zu antworten. »Es giebt, wie ich gehört habe, noch ein paar kranke Kinder hier im Dorfe, und die Eltern werden es mir, wie ich denke, nicht übel nehmen, wenn ich unaufgefordert nach den kleinen Geschöpfen sehe.«

Er grüßte sie und wandte sich, ohne Hugo Neukamp eines Blickes zu würdigen, rasch nach einem hinter ihnen liegenden Gehöft zurück. –

Erst eine halbe Stunde später trat der junge Arzt wieder in den Thorweg des Wirtshauses ein. Von oben herab tönten ihm die Klänge eines arg verstimmten Klaviers und das durch eine Anzahl tanzender Paare verursachte scharrende Geräusch entgegen. Nur mit einem gewissen Widerstreben schien Doktor Asmus sich zu entschließen, die Treppe empor zu steigen, und als er oben angelangt war, blieb er in der offenen Thür des Saales stehen, ohne daß sein Kommen von der anscheinend aus dem Gipfel allgemeiner Fröhlichkeit angelangten Gesellschaft bemerkt oder beachtet worden wäre.

.

Man tanzte eben einen Walzer, und alles, was noch über gelenkige Glieder verfügte, drehte sich nach den verführerischen Klängen. Aus den ersten Blick hatte Doktor Asmus Edithas herrliche, schlanke Gestalt in dem Gewühl herausgefunden, um zu sehen, daß es Hugo Neukamp war, an dessen Brust sie sich schmiegte. Eine zugleich zornige und schmerzliche Empfindung, die heiß in ihm emporstieg, wollte ihn bestimmen, sich sogleich wieder abzuwenden; aber eine geheimnisvolle Gewalt, welche stärker war als jenes bittere Gefühl, hielt ihn an seinem Platze fest und nötigte ihn, zu seiner eigenen Qual allen Bewegungen des tanzenden Paares mit gespanntester Aufmerksamkeit zu folgen.

Er sah, daß Neukamp beständig leise auf Editha einsprach, daß er sein Haupt dabei in einer auffallend vertraulichen Weise zu dem ihrigen herabneigte und daß sie ihm mit einem süßen Lächeln zuhörte, welches wahrlich nicht auf eine Mißbilligung seines Benehmens schließen lassen konnte.

Ein paarmal streiften sie so nahe an der offenen Thür vorüber, daß Editha den Doktor notwendig hätte wahrnehmen müssen, wenn sie nur ein klein wenig Aufmerksamkeit für ihre Umgebung gehabt hätte. Aber sie war entweder völlig durch die mit heißem Atem geflüsterten Worte ihres Tänzers in Anspruch genommen, oder sie wollte es geflissentlich vermeiden, dem ernst beobachtenden vorwurfsvollen Blick des Doktor Asmus zu begegnen. Beharrlich glitten ihre Augen über ihn hinweg, wie wenn da, wo er stand, nur leere Luft gewesen wäre, und einmal schien es dem Arzte sogar, als schmiege sie sich gerade in dem Moment, da sie an ihm vorüberkamen, noch inniger und zärtlicher in ihres Tänzers Arm.

Da endlich riß er sich gewaltsam los und wandte dem heißen, stauberfüllten Saal mit all seiner lärmenden Fröhlichkeit den Rücken. Schon hatte er ein paar Schritte nach der Treppe hin gethan, als er hinter sich von einer sanften Stimme halblaut seinen Namen rufen hörte und, sich umwendend, in Monikas hübsches, von der leichten Erregung des Tanzes etwas höher gefärbtes Antlitz sah.

»Sie wollen doch nicht schon wieder fort, Herr Doktor?« fragte sie. »Ich habe mich schon so oft vergebens nach Ihnen umgesehen. Macht es Ihnen denn gar kein Vergnügen, an unserer Unterhaltung teilzunehmen? Oder haben Sie etwa gar das Tanzen verschworen?«

»Oh nein, Fräulein Monika,« erwiderte er mit dem Bemühen, seine tiefe Verstimmung hinter einem freundlichen Lächeln zu verbergen. »Für heute aber muß ich allerdings um Entschuldigung bitten; denn ich habe in W. noch einige Kranke zu besuchen. In dem Schlitten Ihres Herrn Vaters war, wie ich gesehen habe, noch ein Platz frei. Werden Sie mir böse, wenn ich Sie bitte, diesen auf der Rückfahrt zu benutzen und mir im Interesse meiner Patienten großmütig Urlaub zu geben?«

»Wie könnte ich Ihnen darum böse sein!« sagte sie, und es war wirklich nicht Verdruß, sondern nur ein leiser Schatten von Traurigkeit, der sich dabei über ihr Antlitz legte. »Aber es thut mir leid, daß Ihre ärztlichen Pflichten Sie so ganz in Anspruch nehmen. Die kleine Erholung hätte Ihnen gewiß sehr wohl gethan.«

Es war so viel warme Teilnahme in ihren Worten, und Asmus fühlte so deutlich, wie wenig er dieselbe durch sein heutiges Benehmen im Grunde um sie verdient habe, daß ihn fast etwas wie Beschämung über seine Notlüge befiel und er einen Augenblick ernstlich schwankte, ob er nicht dennoch bleiben solle. Aber seine Unentschlossenheit war nur von kurzer Dauer; denn in diesem Moment glaubte er in der Nähe der Thür Hugo Neukamps Stimme zu vernehmen, und der Klang derselben dünkte ihm so widerwärtig, daß er sich seinem Bereich selbst auf die Gefahr hin, unartig zu erscheinen, so rasch als möglich zu entziehen strebte. Es war ihm sehr willkommen, daß eben jetzt der dürre Assessor Valentini auf Monika zutrat und sie zum Tanze aufforderte. Mit einem bittenden Blick, dessen Bedeutung er eigentlich nicht recht verstand, reichte sie ihm zum Abschied die Hand, und er fühlte deutlich einen leisen Druck ihrer warmen, schlanken Finger, als er ihr viel Vergnügen und eine fröhliche Heimfahrt wünschte.

Ohne noch einen Blick in den Saal zurückzuwerfen, eilte Doktor Asmus dann die Stiege hinab. Eine qualvolle Ungeduld peinigte ihn den sonst so ruhigen Mann, als der Hausknecht, dem er den Befehl erteilt hatte, seinen Braunen wieder einzuspannen, dieser Weisung verschiedener anderer Verrichtungen wegen nicht sogleich nachkommen konnte, und er gab sehr zerstreute und einsilbige Antworten, als der Prediger des Dorfes, der unten im Herrenstübchen einen Nachmittagsschoppen getrunken hatte, sich zu ihm gesellte, um ein wenig mit ihm zu plaudern.

Sie standen auf den in den Hof hinabführenden Stufen vor der hinteren Thür des Hauses, und verschiedene Versuche des Doktors, loszukommen, waren bei der Hartnäckigkeit des etwas redseligen geistlichen Herrn ohne jeden Erfolg. Da plötzlich vernahm der junge Arzt in seiner unmittelbaren Nähe eine Stimme, deren Klang er unter tausend anderen erkannt haben würde, weil es nach seiner Ueberzeugung keinen süßeren und bestrickenderen Wohllaut gab als diesen. Editha von Hasselrode mußte sich nur um wenige Schritte von ihm entfernt befinden; aber sie hatte von dieser Thatsache, wie davon, daß sie überhaupt belauscht werden könne, sicherlich keine Ahnung, da sie sonst schwerlich so laut und ungeniert ein Gespräch von unverkennbar vertraulichem Charakter geführt haben würde.

»Du bist ein Närrchen!« sagte sie mit übermütig klingendem Lachen. »Warum in aller Welt sollte ich denn nicht glücklich mit ihm werden? – Er ist ein hübscher, galanter Mann, und er kann mir vermöge seines Reichtums und seiner gesellschaftlichen Stellung ein Dasein bereiten, wie ich es mir wünsche. Darf ein Mädchen heutzutage denn noch größere Ansprüche stellen als diese?«

Den Wortlaut der Erwiderung, welche ihr zuteil wurde, konnte Doktor Asmus nicht verstehen. Er vernahm nur, daß es Monikas sanfte Stimme war, welche da sprach, und vielleicht der gedämpftere Klang derselben, vielleicht aber auch das Sausen des Blutes in seinen Ohren machte es ihm unmöglich, den Sinn ihrer Rede zu erfassen. Noch einmal machte er einen verzweifelten Versuch, dem mitteilsamen Seelsorger zu entrinnen und damit den Lauscherposten zu verlassen, auf dem ihm eine so vernichtende Enthüllung zuteil geworden war; aber der Prediger, der gerade noch etwas sehr Wichtiges und Tiefsinniges zu sagen hatte, faßte ihn am Rockärmel und nötigte den Doktor, der nicht mehr die geringste Aufmerksamkeit für ihn hatte, wider seinen Willen Stand zu halten.

Wie ein Glutstrom schoß es dem Gepeinigten nach Kopf und Herzen, als er wieder Edithas fröhliche, von einem Ausdruck triumphierender Freude belebte Stimme sagen hörte:

»Gewiß werde ich ihn lieb haben, wenn auch meine Auffassung von dem Wesen der Liebe vielleicht eine etwas weniger schwärmerische und überschwängliche ist als die Deinige. In der Ehe ist die Gewöhnung doch wohl die Hauptsache, und ich sehe nicht ein, warum ich mich nicht sollte an ihn gewöhnen können. Uebrigens leugne ich gar nicht, daß mir selber seine Erklärung vorhin etwas überraschend gekommen ist. Ich hatte ihn ein wenig eifersüchtig machen wollen dadurch, daß ich mit dem Doktor Asmus, auf den er einen nicht geringen Haß zu haben scheint, jenen schauderhaften Krankenbesuch machte –«

»Hochwürden werden mich entschuldigen; aber mein Pferd ist eingespannt und ich darf in Wahrheit keine Minute mehr verlieren.«

In hastigen, abgebrochenen Worten, deren sonderbarer Klang den Geistlichen erstaunt aufblicken ließ, hatte Doktor Asmus aus solche Art den Redestrom des wackeren Herrn gerade an seiner schönsten Stelle unterbrochen und war dann in den Hof hinabgeeilt, wie wenn ein Verfolger hinter ihm wäre.

Wenige Minuten später sauste der kleine Schlitten wieder aus der Landstraße nach W. dahin, und der behäbige Braune schien wiederholt durch unwilliges Kopfschütteln seiner Entrüstung über die ganz ungewohnte Art, in welcher sein Herr ihn heute zu raschem Laufe anfeuerte, einen lebhaften Ausdruck zu geben.


 << zurück weiter >>