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Fünftes Kapitel.
Schreckenstage.

Frau Minna Hellung hatte den Beruf einer deutschen Frau wohl zu erfüllen gewußt, sie hatte ihrem Gatten zwei Knaben und ein Mädchen geboren, von denen der jüngste Knabe der Revolutionär genannt wurde, weil derselbe an dem Tage geboren ward, wo Hellung, das Parlamentsmitglied, zugleich zum Mitgliede des später so genannten Unverstandslandtages erwählt wurde und an welchem in Dresden ein Krawall stattgefunden hatte.

Minna spielte nicht mehr in Liebhabertheatern, sie tanzte und sprang nicht mehr, die Kleinen machten ihr vom Morgen bis zum Abend zu schaffen, aber sie liebte ihren »Wilden«, wie sie den Mann nannte, noch ebenso sehr als in Heustedt, nur war sie unzufrieden, daß er sich zu viel mit der garstigen Politik befaßte. Seit beinahe einem Jahre war er nun in Frankfurt gewesen, hatte Grundrechte gemacht und an der künftigen Republik gearbeitet, jetzt war er des Lebens dort satt, wo die Verräther, wie er sagte, und die Erbkaisermacher die Majorität hatten. Ihm hatte das Bündniß seiner Partei mit den Kaisermachern nicht zusagen wollen, er ging nach Dresden zurück und nahm seinen Platz in der Zweiten Kammer ein, seine Arbeiten in der Direction wieder beginnend. Er war ein stark beschäftigter Mann, Mitglied der Stadtverordneten sowie unzähliger Vereine, der seine Frau nicht mehr so oft in das Theater führen konnte wie früher, der sie und die Kinder nicht mehr so oft in die »Boomblut« mit den beiden niedlichen Ponies fuhr, wie er sonst gethan, der die Familie der Politik halber seit einem Jahre stark vernachlässigte.

Hellung hatte seine Wohnung in einem alten Palast, nicht dem Cosel'schen, in der Nähe des Zeughauses aufgeschlagen. In den untern Räumen arbeiteten Lehrlinge, Gesellen und Meister irgendeiner der zahlreichen Logen in Dresden an rohen und behauenen Steinen; die erste Etage hatte ein fremder Gesandter bewohnt, sie stand leer, die geräumigen Vorplätze der zweiten dienten den drei Kindern, außer einem kleinen Garten unten, zum Tummel- und Spielplatz. Hinter diesem Gärtchen zog sich der Botanische Garten vom Moritzdenkmal her weiter bis zum Pirnaischen Platze.

Der 1. Mai des Jahres 1849 war so schön ins Land gekommen, wie der unbescheidenste Sachse, wenn es solche überall gibt, es nur wünschen konnte. Die Sonne lachte vom wolkenlosen blauen Himmel, wie über der Arnostadt, rings um Dresden zog sich die Blütenpracht der Kirsch-, Birn- und Apfelbäume herum, die Vögel flöteten und zirpten lustig. in den Zwingeralleen lockten die Nachtigallen mit süßer Klage, am frühen Tage wie am Abend und in der Nacht.

Die Natur schien den Stadtmenschen zuzurufen: Kommt heraus! kommt zu uns! freut euch mit uns des Sonnenscheins und der Blütenpracht! Für wen es noch anderer Lockmittel bedurfte, den lockten die Reclamen des Tageblattes – in der Villa des Plauenschen Grundes gab es Feldschlößchen und Kulmbacher Bier nebst Käsekäulchen, in der Weintraube unter dem Spitzhäuschen gab es Kirschblüten und einen neuen Anstich von 1846er »Blanken« – im Großen Garten waren Concerte, in funfzig andern Gärten und Kaffeewirthschaften noch dies oder das.

Aber kein Lockmittel half heute, in der Stadt wollten die Menschen von Knospenspringen, Sonnenschein, Blütenpracht, Käsekäulchen, schäumenden Töpfchen, und was es sonst war, nichts wissen, sie saßen in den langen engen Bierstuben der Brüderstraße ohne Licht und Sonnenschein, oder bei Engel, oder im Italienischen Dörfchen und steckten die Köpfe zusammen, politisirten, lasen Zeitungen, disputirten und zankten. Es schwirrten außer den Enten, welche die Zeitungen brachten, noch eine ganze Menge Enten in der Luft: der Communalgardenoffizier hatte aus sicherer Quelle gehört, der König von Würtemberg sei erschossen, weil er die Reichsverfassung nicht habe annehmen wollen – der Advocat wußte, auch der König Ernst August sei bei einem Volksaufstande umgekommen. Daß Berlin in vollem Aufruhr sei, daß die Truppen, mit Ausnahme der Garden, zu dem Volke übergegangen seien, daß sich der König Friedrich Wilhelm bereit erklärt, die Kaiserkrone anzunehmen, das war schon etwas Altes, das wußte seit gestern Abend jedes Kind, obgleich die heutigen Zeitungen noch immer keine nähern Nachrichten brachten, die berliner Blätter sogar schwiegen. Kinder von acht bis zehn Jahren, Knaben und Mädchen, liefen in den Straßen umher und drückten jedem, der die Hand ausstreckte, ein Flugblatt in die Hand. Hellung, welcher sich eiligen Schritts nach dem Rathhause der Altstadt begab, wohin die Stadtverordneten zusammenberufen waren, um wegen einer Adresse zu berathen, warf kaum einen Blick auf das Blatt, welches ein kleines Mädchen ihm in die Hand steckte. Mit großer Schrift stand da: »Feuer! Feuer!« Dann folgte ein Aufruf zur Empörung gegen alle Fürsten, welche dem Volkswillen, der Reichsverfassung sich nicht fügen wollten.

»Sie machen es zu arg«, sagte er, »es wird Zeit, daß die Verständigern sich ermannen, um dem Unverstande die Zügel aus den Händen zu reißen.«

»Wie kommt es«, dachte er, »daß die Leute, die noch vor wenig Tagen gegen die Reichsverfassung und das Erbkaiserthum in Reußner's Garten sich erklärten, heute das Banner der Reichsverfassung schwingen, sie, die nur rothe Republik, Umsturz und Anarchie wollten, um aus zerrütteten Verhältnissen herauszukommen?!«

Er, der nach Frankfurt als Republikaner gekommen war und der im Donnersberge den extremsten Meinungen Beifall zugerufen hatte, er war, seitdem er in der Kammer saß, mehr dem Centrum zugewendet. Die socialdemokratische Partei und die äußerste Linke ging ihm zu weit. Vielleicht mochte er nur die Führer nicht, die Wortmacher und sich überall Hervordrängenden. Vielleicht wirkte der hausbackene Verstand seiner Frau, vielleicht seine Pflicht als Mitdirector der Leipzig-Dresdener Bahn, seine Pflicht als Stadtverordneter, die Vaterstadt, das schöne Elbflorenz vor Schaden zu bewahren, ernüchternd.

Aber so gemäßigt er gegen die Vorgeschrittensten war, von dem Glauben an den Beruf und die Macht der Nationalversammlung, die Reichsverfassung einzig und allein, wie sie dieselbe geschaffen, auch ins Leben zu rufen, ließ er sich nicht abbringen. Er glaubte mit vielen Tausenden, daß die Stunde geschlagen habe, wo das Volk durch die That beweisen müsse, daß es ein einiges souveränes Volk sein wolle, und daß es die Pflicht der Hauptstadt sei, auf König Johann einen Druck auszuüben, daß er der Souveränetät des Reiches und deutschen Volkes einen Theil der eigenen opfere.

Er war daher für eine Adresse des Magistrats und der Stadtverordneten an den König, daß dieser die Reichsverfassung anerkenne. Aber er widersprach dem Antrage, daß die Communalgarde Urversammlungen ankündige, um sich über die Reichsverfassung auszusprechen und die Mittel für die sofortige Durchführung derselben in das Auge zu fassen, weil er in die Weisheit der Beschlüsse der Massen kein Vertrauen setzte und wußte, daß die extremsten Beschlüsse die beliebtesten zu sein pflegen.

Aus allen Gegenden Sachsens, aus Städten wie aus Dörfern, kamen stündlich neue sogenannte Landesdeputationen, um dem Könige die Anerkennung der Reichsverfassung anzuempfehlen, mit der Drohung, daß man für die Ruhe der Landestheile, aus denen man entsendet sei, sonst nicht einstehen könne. Das war die Form, die im vorigen Jahre Wunder gethan. Das neue Ministerium – Held war entlassen – Dr. Zschinsky, von Beust und Rabenhorst suchte zwar das Volk und seine Abgesendeten mit der Versicherung zu beruhigen, daß, sobald nur erst die Anerkennung der Reichsverfassung von Preußen selbst erfolgt sei, der König von Sachsen nicht zurückbleiben wolle; allein das beruhigte niemand.

Stadtrath und Stadtverordnete der Residenz stellten dann an die Majestät am 2. Mai den dringenden Antrag: »Anordnungen zu treffen, daß die Deutsche Reichsverfassung unverweilt und ungeändert als Gesetz verkündet werde.« Der König stellte sich der Deputation, welche ihm die Adresse überreichte, gegenüber auf den Standpunkt des Vereinbarungsprincips, das von der Nationalversammlung unbefugt beiseitegeschoben sei. »Die Reichsverfassung, wie sie vorliege, wie sie Oesterreich aus Deutschland verbanne, werde kein großes, mächtiges, sondern ein uneiniges, zerstückeltes Deutschland hervorrufen«, antwortete er.

So kam der 3. Mai; – ganz Dresden wogte wie ein Bienenschwarm, man hatte von seiten der städtischen Behörden einen Sicherheitsausschuß gewählt, denn schon drangen von vielen Orten der Umgegend Schwärme von Communalgarden, Turnern, Vaterlandsvereine, Volksvereine und wie die Vereine sonst sich nannten, in die Stadt. Der Sicherheitsausschuß deputirte Hellung und einige andere Mitglieder der Stadtverordneten und des Stadtraths noch einmal ins Schloß, eine Abordnung aus Leipzig und eine solche der Communalgarde schlossen sich an. Der König wiederholte sein gestriges Wort. Während die Deputationen noch im Schlosse waren, fiel draußen auf dem Schloßplatze ein Schuß – bald darauf stürzte die Volksmasse in den Schloßhof mit einem halbentkleideten Leichnam.

»Sie schießen auf die Bürger«, hieß es, »Waffen! Waffen! Nieder mit den Schwarz-Gelben!«

Als die Deputation nach dem Rathhause zurückeilte, fing man in der Schloß- und Scheffelstraße schon an das Pflaster aufzureißen und Barrikaden zu bauen. Auf dem Rathhause hatte sich die Scene geändert, eine provisorische Regierung hatte sich eingesetzt oder war eingesetzt, man wußte nicht recht wie, der Commandant der Communalgarde war entlassen, Oberstlieutenant Heinze zum unumschränkten Anführer derselben ernannt, Tzschirner spielte den Dictator, der den Stadträthen und Stadtverordneten Befehle ertheilte und ihre Permanenz anordnete. Aber man schickte sie in ein Nebengebäude.

Am Morgen des 4. Mai brachte ein Communalgardist unserer Freundin einen Brief ihres Ehemannes: »Wir«, schrieb er, »die Stadträthe sowol als die Stadtverordneten, sind hier im Nebengebäude des Rathhauses gewissermaßen als Gefangene, die nur bei Dingen, wo die provisorische Regierung die mögliche Verantwortlichkeit von sich abwälzen oder sie auf eine größere Anzahl vertheilen will, gefragt werden. Aber es ist eine so tolle Wirthschaft hier, daß wir es für unsere Pflicht halten, freiwillig auszuharren, um größeres Unheil zu vermeiden. Man fertigt Pechkränze an, man schleppt trotz aller unserer Protestationen das Rathhaus voll Pulver, man spricht davon, das Schloß zu unterminiren und dergleichen.

»Auf Rath eines juristischen Freundes habe ich gestern für dich und Bruder Franz Ibrahim eine Generalvollmacht aufgesetzt, die dich ermächtigt, mein Grundeigenthum in Meißen zu verkaufen. Es ist für Nothfälle; der Stadtrath H. hat sie beglaubigt.

»Als ich gestern von dem Zeughaussturm hörte und die Schüsse von der Frauenkirche herüberschallten, habe ich Todesangst wegen deiner und der Kinder Sicherheit ausgestanden. Es ist unmöglich, daß du dort bleibst. Fliehe, sobald als möglich, nach Neustadt zu der Baronin von F., du bist dort sicherer als bei meinem Bruder, der zu abgelegen wohnt; auch ist die F. wegen ihrer Verbindungen am Hofe weniger den Plackereien der Soldaten ausgesetzt. Meine wenigen Amtspapiere in den Repositorien schaffe in den Keller; Wertpapiere, Gold- und Silbersachen schaffe über die Elbe, sie sind dort sicherer. Grüße die Baronin, küsse die Kinder und vor allem erhalte dich mir, schone dich, rege dich nicht auf, ich bin durch den Wahnsinn um mich herum zur Beruhigung gebracht.«

Minna folgte der Weisung ihres Mannes, aber schon war die Verbindung über die Elbbrücke gesperrt, und nur mit Mühe fand sie hinter der Synagoge eine Gondel, die sie mit Kindern, Wiegen und einigen Koffern mit den Werthsachen hinüber zur Neustadt führte.

Die Baronin nahm die Freundin und Kinder gern auf; sie war Aristokratin, ihre Familie am Hofe angesehen. Sie selbst war die kinderlose Witwe eines freisinnigen Oberappellationsraths und schwärmte für ein einiges Deutschland, wie es die Mehrzahl der gebildeten Frauen in Dresden that.

Ihre Wohnung lag hinter der Schlesischen Eisenbahn im Schutze des Bergrückens, der das Waldschlößchen trägt. Die Neustadt war voll sächsischer Truppen, Preußen wurden mit der Bahn von Berlin erwartet: um Sachsen vor dem Zwange des preußischen Erbkaiserthums durch das Volk zu schützen.

Die königliche Familie flüchtete am Morgen desselben Tages, an welchem Minna nach Neustadt übersiedelte, auf einem Dampfschiffe nach Königstein, was in der Stadt den übelsten Eindruck machte.

Das Volk, welches nach Einheit und Reichsverfassung schrie, wußte nicht, was es wollte; daß es dem Russen Bakunin, welcher Tzschirner bald die Zügel aus der Hand nahm, und seinen nähern Freunden um diese wenig zu thun war, darüber konnte niemand im Zweifel sein, der den Dingen nur einigermaßen näher stand, und das hatte Hellung denn auch bewogen, seine Frau und Kinder über die Elbe zu senden.

Wir sind im Besitz verschiedener Brieffragmente an die Schwester Auguste Dummeier in der Wüstenei, welche die Lage der jungen Frau besser zeichnen, als wir es zu thun im Stande sein würden, und aus denen wir mindestens einige Auszüge mittheilen wollen:

 

Dresden (Neustadt), Freitag, 4. Mai.

Geliebte Schwester!

Wenn dieser Brief überall zu Deinen Händen gelangt, so wirst Du durch die Zeitungen über die Anfänge des hiesigen Aufstandes das Nähere erfahren haben, sodaß ich Dich wie mich mit Politik verschonen kann. Ich will Dir nur das Schreckliche meiner persönlichen Lage schildern, sowie das, was Dich über mich selbst und die lieben Kleinen beruhigen kann. Ich weiß nicht, ob Du Dir aus Deinem vorjährigen Aufenthalte noch ein Bild von unserer Wohnung machen kannst, aber das wirst Du noch wissen, daß, wenn wir aus dem Fenster nach rechts sahen, wir über die Rampische Gasse das Zeughaus erblickten, und daß, wenn wir aus unserer Gasse nach der Terrasse wollten oder nach der Vogelwiese, wir an einem großen Gebäude vorbeikamen, das eigentlich in den Botanischen Garten eingebaut ist und Klinikum heißt. Dieses Gebäude, das von unserer Wohnung nur durch eine kleine Gasse getrennt ist, war gestern Nachmittag der Hauptsitz der Aufständischen, von wo aus der Zeughof beschossen und das Zeughaus erstürmt wurde. Die Turner hatten sich im Klinikum festgesetzt und hätten auch das von uns bewohnte Palais zu einer Festung gemacht, wenn nicht die Freimaurerdienerschaft und einige angesehene Freimaurer sie durch gute Worte und gute Riegel von dem Eindringen in die Wohnung abgehalten hätten. Die Furcht der Freimaurer, ihre Geheimnisse profanirt zu sehen, hat uns vor größerm Unglück bewahrt.

Nun denke Dich in meine Lage! Mein Mann war auf dem Rathhause, ich war mit den Kindern und Dienstboten ganz allein in der großen zweiten Etage, die erste Etage steht leer, und nun begann das Geheul der Sturmglocken, das Wirbeln der Trommeln, Hörnersignale, ein unbeschreiblicher Menschenlärm von der vom Gewandhause und dem Altmarkt durch unsere Schießgasse ziehenden Menge. Dazu kam sehr bald das Knattern der Gewehrsalven, das Krachen von Kartätschenschüssen, das Geschrei der Männer, das Gepolter beim Aufrichten von Barrikaden. Bald war in unserer Etage keine Sicherheit mehr, Flintenkugeln schlugen durch die Fenster, zertrümmerten Möbeln, Spiegel, Vasen, Bilder. Durch das Bild des Vaters meines Mannes, das seine beiden zuwanischen Frauen und den kleinen Ibrahim vor einem Springbrunnen darstellt, das Dich so sehr entzückte, hat eine Flintenkugel der Mirza beide Beine weggeschossen. Ich mußte mit den Kindern in die Mansardenzimmer flüchten, nachdem wir die Fenster unserer Wohnung, so gut es gehen wollte, mit Betten, Laken, Matratzen verstopft hatten. Und nun die Kinder! dieses Heulen und Schreien wegen des nicht endigen wollenden Schießens und Sturmläutens!

Als es Nacht wurde und das Feuer ruhte, die Kinder endlich in den sichern Bodenkammern zur Ruhe gebracht waren und schliefen, kam der gute Vetter Moritz; er stand bei der Turnerschar und hatte sich durch den Botanischen Garten in unser Haus eingeschlichen. Er berichtete, daß soeben die tharander Bürgerwehr eingezogen, ebenso zahlreiche Bewaffnete von Wilsdruff, aus dem Plauenschen Grunde und von Loschwitz angekommen seien, und half dann die Papiere meines Mannes ordnen und in den Keller schaffen, unsere Werthsachen und Werthpapiere in Koffer packen, die Fenster noch vorsichtiger gegen Kugeln verwahren.

Heute morgen erhielt ich ein Billet meines Mannes, der mir rieth, sobald wie möglich zu Frau von F. überzusiedeln, die in einem reizenden Versteck hinter dem Lincke'schen Bade und der Prießnitz östlich der Antonstadt wohnt. Du mußt Dich des freundlichen Landhauses noch erinnern, das wir eines Nachmittags besuchten, wo wir am Abend mit Vetter Moritz und andern Freunden ein Rendezvous auf dem Waldschlößchen uns zu geben versprochen hatten. Du erinnerst Dich gewiß der Scenerie, wenn Du Dir den großen Garten ins Gedächtniß zurückrufst, der von drei Seiten mit einer hohen Steinmauer eingefaßt war und nach vorn, nach der Zittauer Straße zu, eine eiserne Einfassung hatte. Weist Du noch, wir stiegen, nachdem wir durch eine Thür des Gartens in einen Weinberg gelangt waren, mehrere Terrassen hinan und ruhten oben auf einem von Kirschbäumen bekränzten Plateau, uns an den herrlichen Früchten und der reizenden Aussicht auf Neustadt, die Elbe, die Brühl'sche Terrasse, das Lincke'sche Bad und Siegels Restauration zu unsern Füßen zugleich labend.

Hier ist es so ruhig wie in einem Kloster, wenn aus Altstadt nicht Gewehr- oder Kartätschenfeuer herüberschallt; die Kinder spielen in den gelben Sandwegen, das jüngste, der Revolutionär, ist auf den Armen seiner Amme in der Fliederlaube eingeschlafen.

Ich sitze im Gartenpavillon, und da ich hier Schreibzeug gefunden, ist mir eingefallen, meine innere Unruhe dadurch zu bewältigen, daß ich an Dich schreibe.

Die gute Baronin ist heute, trotzdem daß seit Morgen das Schießen drüben nicht aufhört, zum zweiten mal nach meiner Wohnung gefahren, um für mich und die Kinder das Nöthigste an Kleidungsstücken und Wäsche, die wir bei der Eile vergessen, zu holen. Sie läßt ihren Wagen dann auf dem Lincke'schen Bade, fährt hinüber, nimmt bei Elisensruhe den Wagen des Wirths und fährt durch den Ziegelschlag in die Stadt, dann muß sie aber, da die übrigen Straßen durch Barrikaden versperrt sind, durch die Amaliengasse über den Pirnaischen Platz. in die Schießgasse gelangen, da dicht vor unserm Hause eine Barrikade gebaut ist, welche das Klinische Institut in Verlängerung der Gasse gegen das Zeughaus deckt.

Frau von F. ist glücklich von ihrer zweiten Expedition abends angekommen.

Tzschirner, Heubner, Todt bilden die provisorische Regierung; das ist für mich ein Trost, denn mein Mann war nie näher mit ihnen verbunden, er hielt sie für ehrgeizig und nicht uneigennützig. Uneigennützigkeit ist für ihn aber die erste Tugend eines Republikaners. Die Baronin brachte eine Proclamation der neuen Regierung mit herüber; es heißt darin: »Sachsen! steht auf wie Ein Mann! das Volk, das ganze Volk ist Eins. Es gilt nur, dem äußern Feinde gegenüberzutreten. An euch ist es, Deutschland einig und frei zu machen. Das Vaterland, die provisorische Regierung rechnen auf euch!«

Das ist ganz gut gesagt, wie sollen die guten Sachsen es aber anfangen, Deutschland einig und frei zu machen, wenn Oesterreich und Preußen nicht einig und frei sein wollen?

Seit nachmittags zwei Uhr dauert das Schießen unaufhörlich, die Soldaten versuchten, wie die Baronin drüben hörte, von der Terrasse her gegen Zeughaus und Neumarkt und auf dem rechten Flügel vom Zwinger und der Ostraallee gegen den Wilsdruffer Platz und den Altmarkt vorzudringen. Gelänge das, so käme mein armer Mann zwischen zwei Feuer.

 

Sonnabend, 5. Mai abends.

Ach, liebe Schwester, welch ein gräßlicher Tag! wie glücklich seid Ihr in Euerer von der Welt abgelegenen Wüstenei! Welche Seelenangst habe ich von früh an ausgestanden! Gestern Abend spät bekamen wir noch Einquartierung, das Füsilierbataillon des preußischen Garderegiments Alexander war eingetroffen und wurde in die Straßen diesseit des Neustädter Kirchhofs bis hinauf in das Waldschlößchen einquartiert.

Die Baronin erhielt einen Lieutenant und sechs Mann, anständige Menschen, aber ich hörte eine halbe Compagnie in die Radeberger Gasse hineinziehen, welche sangen: »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten!« und sehr betrunken zu sein schienen. Morgen sollen noch viel mehr Preußen kommen. Ach, mein Gott, welches Blut wird da fließen, wie viel unschuldiges! Könnte der König die Reichsverfassung nicht lieber annehmen? Wenn Friedrich Wilhelm die Kaiserkrone nicht annimmt, wird ja doch nichts daraus. Ueber wen kommt das vergossene Blut?!

Zum Glück behält die Baronin die volle Besinnung, die Kinder sind wohl, aber sie jammern bis auf das jüngste, das der Sprache noch nicht mächtig ist, nach dem Vater und rufen in mir die Sehnsucht nach ihm und die Sorge um ihn wach.

 

Sonntag, 6. Mai morgens sechs Uhr.

Seit morgens vier Uhr heulen die Sturmglocken, donnern die Kanonen. O es ist furchtbar! Es war nicht möglich, im Bett zu bleiben. Unsere Einquartierung sind wir los, aber die Communication mit der Altstadt hat gänzlich aufgehört. Die Dienstboten, der Gärtner, die Leute der Nachbarschaft bringen mit den nöthigen Lebensmitteln, die aber, was das Fleisch anbetrifft, schon sparsam zu werden anfangen, stündlich neue Nachrichten.

Frankreich soll Preußen den Krieg erklärt haben; eine Reichsarmee sei auf dem Marsche nach Dresden, dreitausend Hanauer seien schon in Tharand, unser alter König in Hannover sei erhängt, das Schloß sei durch Bergleute unterminirt und solle noch heute, spätestens in der Nacht, in die Luft gesprengt werden!

 

Um zehn Uhr morgens.

Ich komme mit der Baronin soeben von dem Kirschenwäldchen, seit sieben Uhr schlagen schwarze Dampfwolken und hohe Feuersäulen über das Schloß und die Schloßkirche empor. Nach dem, was wir durch Gläser oben ermitteln konnten, muß das Prinzenpalais, oder das alte Opernhaus oder ein Theil der Zwingerpavillons brennen. Das Schloß, soweit es der Elbe zugewendet ist, die Schloßkirche und das Theater sind es nicht, diese Gebäude konnten wir deutlich erkennen.

Es wird soeben eine Proclamation der Minister Beust und Rabenhorst, welche im Blockhause in Neustadt einquartiert sind, durch das Gartenthor geworfen, in welcher an den Bestand der Regierung des Königs erinnert wird und die Mitglieder der provisorischen Regierung als »Hochverräther« bezeichnet werden. Als wir die Terrasse schon verlassen wollten, sahen wir ein neu angekommenes preußisches Regiment mit fliegenden Fahnen über die Elbbrücke ziehen.

 

Montag, 7. Mai abends.

Das Schießen dauert fort, Tag und Nacht. Von Theodor noch immer keine Nachricht. Die Baronin hat sich vergeblich bemüht, im Blockhause Erkundigungen einzuziehen, die Minister wissen selbst nicht, wie es in den Stadttheilen jenseit der Brüderstraße aussieht. Das Opernhaus, das alte, ist abgebrannt, ein Pavillonzwinger brennt noch.

 

Dienstag, 8. Mai.

Der gräßlichste Tag heute! Meine Köchin, die aus Altstadt gebürtig und deren Vater unter der Communalgarde ist, während der Bruder unter dem Turnercorps steht, hatte sich heute Morgen bis zum Japanischen Palais hinabgewagt, um dort vielleicht etwas aus der Stadt zu vernehmen. Sie kam laut heulend zurück, die Dienstboten steckten die Köpfe zusammen, man flüsterte leise. Die Baronin, die noch keinen Augenblick die Ruhe verloren, kam mir ganz verändert vor, ich merkte, man suche mir etwas zu verheimlichen. War meinem Manne ein Unglück widerfahren?

Ich drang darauf, daß mir die Wahrheit mitgetheilt, daß mir das Schrecklichste nicht verhehlt werde. Die Baronin kam denn auch endlich damit heraus, daß die Köchin erzählt habe, von einer Bekannten, die es aus dem Garten des Brauhauses in der Neustadt selbst gesehen haben wollte, wie unser guter Herr, mein Theodor nämlich, auf dem neuerbauten Elbbrückenpfeiler von einem preußischen Soldaten mit dem Bajonnet erstochen und in die Elbe geschleudert sei.

Ich wußte, daß das nicht wahr sei; in der unendlichen Anspannung, in der sich alle meine Nerven befinden, hätte eine Ahnung mir gesagt, wenn Theodor ein Unglück begegnet wäre. Wie sollte er außerdem durch die Menge der Feinde auf die Elbbrücke kommen? Außerdem halte ich es für unmöglich, daß vom Garten des Brauhauses ab das schärfste Auge einen Menschen, der auf dem vor zwei Jahren neuerbauten Pfeiler steht, erkennen kann.

Die Baronin ist ein Engel, sie sorgt für mich und die Kleinen, als wäre ich ihr Kind.

 

Mittwoch, 9. Mai mittags.

Gottlob, der Kampf ist vorbei! Von zwei Uhr nachts begann das Schießen. Die Preußen haben die große Barrikade vor der Wilsdruffer Gasse und den Eingang zum Wilsdruffer Platze erobert, die Barrikadenkämpfer, Bergleute, Turner, die aus andern Orten Zugezogenen, haben sich durch den Freiberger Schlag und auf der Straße nach Chemnitz zurückgezogen. Es sollen unerhörte Grausamkeiten vorgekommen sein, namentlich in Stadt Rom und Hôtel-de-Saxe am Neumarkte. Eine Proclamation des neuen Ministers von Friesen, die soeben vertheilt wird, sagt: »Die ganze Altstadt ist in der Gewalt der Truppen, die Rebellen fliehen nach allen Seiten.«

Die Baronin will den Versuch wagen, nachmittags in die Altstadt zu dringen, um sich nach Theodor's Schicksal zu erkundigen.

 

Donnerstag, 10. Mai.

Mein Mann lebt, aber als Gefangener. Wessen man ihn beschuldigt, weiß man wol selbst noch nicht. Auch Dr. Minckwitz, Professor Richter, Stadtverordnetenvorstand Advocat Blöde und andere, die bis zur Uebergabe des Rathhauses in diesem blieben, sind mitverhaftet. Ibrahim brachte noch gestern Abend die Nachricht. Er hat den Bruder selbst gesprochen und dieser hat ihm gesagt: »Hätte ich ein böses Gewissen, wäre ich mir einer Schuld bewußt, so hätte ich auf demselben Wege wie die Mitglieder der provisorischen Regierung und andere fliehen können.« Ich bin beruhigt. Gute Nacht!

 

Sonnabend, 12. Mai.

Gestern war ich in Altstadt. Welche Verwüstungen! Das alte Opernhaus, zwei Zwingerpavillons, drei Häuser der Zwingerstraße sind gänzlich niedergebrannt. Leerstehende Fensterlöcher, Mauern von Hunderten von Flintenkugeln und Kartätschenkugeln durchlöchert, herausgeschossene Quadern, zerschossene Fenstersäulen, zerschossene Dächer, die Straßen voll Dachziegel, zersplitterte Läden und Magazine, aufgerissenes Pflaster, gefällte Bäume, Reste von Barrikaden, das sind Anblicke, die sich überall darbieten, wo der Kampf wüthete. Auch unsere Wohnung ist stark beschossen und beinahe kein Fenster heil geblieben. Bisher ist es Ibrahim noch nicht möglich gewesen, einen Glaser und andere Arbeiter zur Herstellung aufzutreiben. Sobald reparirt ist, ziehe ich in meine Wohnung zurück, um meinem Manne näher zu sein.

Die Juristen miströsten mich, wenn ich mir Hoffnung mache auf Freilassung nach einigen Tagen, – er ist wegen Hochverraths in Untersuchung, und da alles festzustellen, dazu gehörten Wochen und Monate, sagen sie. Morgen soll die Bahn nach Leipzig wieder ihre täglichen Dienste thun, da will ich diesen Brief abschicken, den Du der Mutter mit herzlichen Grüßen nach Eckernhausen überbringen willst. Grüße Deinen braven Hans vielmals und küsse die Kinder in meinem Namen.

Deine Dich liebende Schwester

Minna Hellung.

 

Theodor's Hoffnung, bald entlassen zu werden, verwirklichte sich nicht. Ein Riesenproceß im alten Inquisitionsverfahren wurde angestrengt, und da man der Hauptschuldigen nicht habhaft geworden, sollten die Minderschuldigen büßen. Theodor hatte keine Waffen getragen, er hatte auf keiner Barrikade gestanden, er hatte das Volk nicht zum Kampfe aufgefordert, aber nicht bei einer, sondern bei vielen Gelegenheiten sprach er sehr unvorsichtig, er verhehlte nie, daß die Republik sein Ideal sei; liebte es, auf Tyrannen- und Fürstenknechte zu schimpfen und die Kleinstaaterei zum Teufel zu wünschen. Die Erklärung der sechsundfunfzig Deputirten vom 30. April gegen das Ministerium Held war von seiner Hand unterschrieben. Was aber viel schlimmer war oder schlimmer ausgelegt werden konnte, er war in den Sicherheitsausschuß, der freilich ohne Resultat blieb, gewählt, und hatte die provisorische Regierung wenn nicht wählen helfen, doch geschehen lassen, daß sie gewählt wurde und sich einsetzte. Was er Gutes gewirkt: im Hindern von Brandstiftungen, im Protestiren gegen Sprengung des Schlosses, zur Erhaltung des Rathhauses mit seinem Archiv, Werthpapieren und Acten, davon schwieg man. Genug, die Art und Weise, wie man zu inquiriren anfing, ihm über Reden, die er in den Märztagen des vorigen Jahres gehalten, Rechenschaft abforderte, bewies ihm bald, daß es darauf abgesehen war, ihn als gefährlichen Staatshochverräther darzustellen.

Ein Glück für ihn und die Seinen, daß Minna und die Kinder ihn allwöchentlich besuchen durften.

So war der Herbst gekommen und die Sache schien sich noch immer im Stadium der Voruntersuchung zu befinden. Unser Freund, an Thätigkeit gewöhnt und im Freien zu wirthschaften, zu reisen, zu inspiciren,. wurde im Gefängnisse schwermüthig und krank. Minna bemerkte die Veränderung in dem ganzen Wesen ihres Gatten. Pflegte er sie bei frühern Besuchen, wenn auch mit erzwungenem Humor, zu begrüßen, mit den Kindern auf die alte Weise zu scherzen, den kleinen Revolutionär auf den Arm zu nehmen und zu sagen: »Der da soll noch einmal der Präsident der deutschen Republik werden«, so ließ er jetzt den Kopf hängen, klagte über Augenschmerzen und Langeweile. Zeitungen mochte er nicht lesen, die Siege, welche die Reaction überall feierte, nicht beschreiben hören.

Minna wurde ernstlich besorgt. Nun brachte auch ein Bekannter die böse Nachricht, gegen den Vorstand der Stadtverordneten und frühern Abgeordneten zur Zweiten Kammer Blöde habe das Gericht zwölf Jahre Zuchthaus erkannt, während Professor Richter entlassen sei. Blöde befand sich mit Hellung etwa in gleichen Verhältnissen, er hatte vielleicht sogar noch mehr rechts gesessen, war bemüht gewesen, dem wüsten Treiben Bakunin's, Tzschirner's, Röckel's und anderer mit den Stadtrathsmitgliedern, die auf dem Rathhause aushielten, entgegenzutreten. Konnte gegen Blöde eine so harte Strafe erkannt werden, so durfte er kaum eine mildere erwarten; hätte er es aber in Waldheim auch nur ein Jahr, Wolle spinnend, ausgehalten? Blöde war entflohen, warum sollte Hellung nicht auch entfliehen? Bei seinem Geschick zu allem, seinen technischen Kenntnissen, konnte er in Amerika leicht ein Fortkommen finden, und hatte er ihr nicht oft von seinen lieben Freunden und Studiengenossen Grant und Baumgarten erzählt, die dort in glänzenden Verhältnissen lebten? Sie waren wohlhabend und konnten allenfalls von ihren Zinsen in dem freien Lande leben.

Minna entwarf in der Nacht einen Plan zur Flucht. Der Gefangenwärter, früher Unteroffizier, hatte sie und die Kinder, so oft sie den Mann im Gefängniß besuchte, so mitleidig angesehen, und ihr oft geklagt, daß Gefängniswärter zu sein etwas Erschreckliches wäre, und daß er lieber in Amerika Holz hacken wolle, als hier sein Leben lang Leute, vor denen er die größte Hochachtung habe, zu bewachen. War das nicht ein Wink?

Am andern Morgen hielt sie Rath mit dem Maler Franz Ibrahim und einem juristischen Freunde ihres Mannes, – sie verkaufte, wenn auch nur zum Schein, einem Dritten die Weinberge und Häuser ihres Mannes in Meißen. Der Käufer verpflichtete sich in einem Nebencontracte, solche in kürzester Zeit zum öffentlich meistbietenden Verkaufe zu bringen und das Geld nachzusenden.

Der Jurist vermittelte den Verkauf der Actien der Leipzig-Dresdener, der Köln-Mindener Bahn, wie den der Waldschlößchen-Actien, und es wurden dadurch so reiche Mittel geschafft, daß die Familie die Reise nach Amerika bestreiten und daselbst mehrere Jahre ohne Sorgen leben konnte. Der Gefangenwärter war gern bereit, Hellung's Entweichen zu befördern, wenn er nur selbst mit nach Amerika genommen würde. Die Befreiung gelang, unser Freund erreichte mit dem Gefangenwärter glücklich die schlesische Grenze. Man verfolgte beide in der entgegengesetzten Richtung, hielt Haussuchungen bei Franz Ibrahim, bei Minna, in den Winzerhäusern der Weinberge, sogar bei der Baronin von F. Erst als Minna von Breslau ab ein Packet erhielt, unter der Adresse des Castellans, welcher die Loge unten im Hause bewachte, athmete sie auf und wußte, daß Theodor in Sicherheit war. Das Packet enthielt den langen schwarzen Bart des Mannes, den dieser, um sich unkenntlich zu machen, abgeschnitten hatte; ein Brief enthielt die Schilderung der Flucht. Es war verabredet, daß Hellung über Berlin nach Brüssel reise und sich dort aufhalte, bis Minna mit den Kindern nachkomme.

In Dresden freute man sich allgemein der gelungenen Flucht, denn unser Freund Hellung war dort sehr beliebt.

So suchte abermals einer unserer Freunde Zuflucht im Westen, und er that wohl daran. – Das Zuchthaus zu Waldheim und die dortige Behandlung der Maigefangenen hat in Deutschland einen schlechten Klang und der Name Beust wird schwerlich einen guten bekommen. – –

Waren es denn aber nur einzelne wenige, welche so mit den wieder mächtig gewordenen Regierungen in Conflict geriethen über Principien, welche diese noch vor einem Jahre stillschweigend anerkannten, jetzt aber mit Festung und Zuchthaus bestraften? Nein, es waren Tausende aus allen Gegenden Deutschlands, jugendliche Schwärmer, die noch immer an die Omnipotenz des Frankfurter Parlaments glaubten, die noch immer wähnten, die einzelnen deutschen Fürsten, welche die Reichsverfassung nicht anerkennen wollten, die seien die Hochverräther, und das Volk sei berechtigt und verpflichtet, sie zu zwingen.

Tausende und aber Tausende, darunter anerkannt tüchtige Juristen, Richter wie Advocaten, Professoren und Studenten, stützten sich auf den Wortlaut des Bundesbeschlusses vom 30. März in Gemäßheit der Interpretation des Vorparlaments, daß das Parlament einzig und allein befugt sei, die Reichsverfassung zu Stande zu bringen.

Der Leibfuchs Bruno's aus dem Jahre 1837, der jüngste Sohn des vor kurzem zu seinen Vätern heimgegangenen Maschinenbauers Schulz, der Advocat Oskar Schulz, hatte die Advocatur nach dem Tode des Vaters an den Haken gehängt und war Mitredacteur der unter der Redaction des Dichters und Idealisten Theodor Althaus stehenden »Zeitung für Norddeutschland« geworden. Dieser hob in der Nummer vom 13. Mai den Beschluß der Nationalversammlung vom 10. Mai in den Himmel, einen Beschluß auf Antrag Reden's, des Hannoveraners, welche erklärte:

»1.) Die Reichsversammlung beschließt: dem schweren Bruche des Reichsfriedens, welchen die preußische Regierung durch unbefugtes Einschreiten im Königreiche Sachsen sich hat zu Schulden kommen lassen, ist durch alle zu Gebote stehenden Mittel entgegenzutreten.

»2) Neben Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit sind diejenigen Bestrebungen des Volks und seiner Vertreter, welche zur Durchführung der endgültig beschlossenen Reichsverfassung geschehen, gegen jeden Zwang und Unterdrückung in Schutz zu nehmen.

»Die provisorische Centralgewalt ist zur Ausführung dieser Beschlüsse aufzufordern.«

Althaus drang nun darauf, daß auch in Hannover ein Landesausschuß für Vertheidigung und Durchführung der Reichsverfassung eingesetzt werde. Er führte den Gedanken der frankfurter Linken: Bildung eines Vollziehungsausschusses, Schaffung eines Parlamentsheeres, Krieg gegen die rebellischen Fürsten, mit glänzenden, dichterischen Farbentönen in mächtig ergreifender Weise aus. Althaus schien keine Ahnung davon zu haben, daß die Centralgewalt nur dem Namen nach bestehe, daß sie und die Reichscommissare überall, wo sie mit Höfen verhandelt, mutlos gewesen und unverrichteter Sache von Wien wie von Berlin zurückgekommen; er bedachte nicht, obgleich Schiller das schon König Karl VII. in den Mund gelegt hatte, daß weder Erzherzog Johann, noch Heinrich von Gagern und das ganze Parlament mit ihm ein Heer aus der Erde stampfen konnten, daß sich aber überall, wo es Aufstände für die Reichsverfassung zu unterdrücken galt, in Dresden, in Westfalen, am Rhein wie in der Pfalz, preußische Regimenter einstellten.

Althaus wurde schon am 14. Mai verhaftet; Stüve fürchtete einen Volksaufstand. Jetzt führte Oskar die Redaction; die Verhaftung seines Freundes hatte ihn außer sich gebracht, er klagte sie an als eine Ungerechtigkeit, als einen Hohn gegen das Volk, er rief das hannoverische Volk zu den Waffen. Am folgenden Tage saß auch er hinter Schloß und Riegel des Cleverthorgefängnisses mit der Aussicht auf den Marstall und die Linden vor demselben, als Untersuchungsgefangener, des Hochverraths angeklagt.

Er fühlte sich als Märtyrer und er litt sehr, denn ihm war sein erstes Lebensbedürfniß entzogen; er erhielt an den ersten Tagen weder Feder, Papier und Tinte noch Journale und Zeitungen. Vergeblich jammerte er, daß ihm wenigstens die officielle Hannoverische Zeitung, die er oft für das nichtswürdigste aller deutschen Blätter erklärt hatte, in die Koje gebracht werde.

Millionen Deutscher hatten geschworen, für die Reichsverfassung Gut und Blut zu opfern; war er selbst nicht wenige Tage vor seiner Verhaftung noch Zeuge gewesen, daß sechstausend Hannoveraner aus allen Landestheilen in Eystrup bei Heustedt unter freiem Himmel diesen Schwur gethan? Sollte in keinem deutschen Lande das reichsverfassungstreue Volk der Soldateska Herr werden? Konnte nicht Baden, konnte nicht die Pfalz Ausgangspunkt für einen solchen Sieg sein?! Oskar's Träume führten ihm Barrikaden, Trommeln, Fahnen, Revolutionsrufe, Flintengeknatter und Siege des Volks vor seiner Phantasie vorüber. Hätte er, der noch keine Barrikade gesehen, nur eine Stunde die Schrecken eines solchen Kampfes, wie sie vor der Barrikade an der Wilsdrufferstraßenecke in Dresden stattfanden, sehen und dabei kämpfen sollen, er würde ernüchtert sein, er würde gefühlt haben, welcher Verantwortung er sich aussetzte, als er die Jugend Hannovers, die Arbeiter in den Blusen und die Idealisten mit der Feder auf die Barrikade rief.

Jetzt reflectirte er nur über einen Leiter, den er schreiben wollte, wenn ihm zuerst wieder Tinte und Feder gegeben werde, und der die Gedanken behandeln sollte: Hat nicht der Nationalwille die Reichsverfassung beschlossen? Hat der Nationalwille nicht eine höhere Geltung als alle Verträge, welche deutsche Fürsten 1815 mit Fremden abgeschlossen, um Deutschland eine Gestaltung zu geben, in der es verkrüppeln und zum Spotte des Auslandes werden mußte? Wer gab dem Grafen Münster und dem englischen Ministerium das Recht, diese althannoverischen Provinzen mit neuen Grafschaften, Fürstenthümern, Absplissen und Flicken zu einem Königreiche zusammenzuwerfen? Was kann uns hindern, deutsch zu sein, zwingen, uns welfisch und den Welfen angestammt zu fühlen?

Der Gefangene wurde nach und nach ruhiger. Er gab die anfangs gehegte Hoffnung auf, daß sein Bruder mit hundert seiner Maschinenbauer eines Nachts kommen würde, um seine Kerkerthür zu öffnen; er gab die Hoffnung auf, daß das Volk aufstehen würde, um Ernst August den Weg nach England zu zeigen, womit er im vorigen Jahre den Ständen gedroht hatte. Er fuhr nicht mehr in die Höhe, wenn einige Trainwagen über die Marstallsbrücke fuhren, er schrak nicht mehr aus dem Schlafe auf, wenn nachts eine Patrouille die Cleverthorwache visitirte.

Nachdem die Voruntersuchung nach dem ersten Verhöre geschlossen war – Oskar hatte sich als Verfasser des incriminirten Aufsatzes bekannt, Complicen hatte er nicht – wurden ihm Bücher, Zeitungen, Papier und Feder bewilligt, er durfte in Begleitung des Wärters auf den Wällen Spaziergänge machen, half die Zeitung redigiren und wartete sein Urtheil ab.


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