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Fünftes Kapitel.
Die bremer Firma.

Johann Karl Junker war sehr alt geworden. Er hätte des Puders auf seinem spärlichen Haare kaum bedurft, aber seine Seitenlocken wären ohne Puder, Fett und andere künstliche Hülfe zusammengesunken, und sollten doch so accurat sitzen wie einst vor zwanzig Jahren. Der Friseur war auch beinahe die einzige Luxusausgabe, die sich der alte Herr gestattete. Aber welche schlimme Zeiten hatte er auch durchmachen müssen! Kaum war der harte Verlust der Bollmann'schen Tabacksspeculation überwunden, als die Franzosen Bremen besetzten und der Handel mit England und Amerika ganz aufhörte, alles lahmte und stockte.

Junker's Schwiegervater war gestorben und hatte seinem stillen Compagnon ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Der stille Compagnon hatte aber nicht für gut befunden, diesen Nachlaß des Vaters in die Gütergemeinschaft der Ehe einzubringen, er behielt es als Sondergut unter eigener Verwaltung, denn Johann Karl hatte seit dem Frieden von Amiens tausendmal von seiner Ehehälfte hören müssen, er sei ein alter unsinniger Speculant, der sich und seine Familie noch an den Bettelstab bringen würde, wenn sie nicht wäre. Die gute Frau war von Jahr zu Jahr geiziger geworden und sparte und knappte im Hause, als hoffe sie durch Ersparung jedes Groten die Dollars, die durch die Bollmann'sche Tabacksspeculation verloren gegangen, wieder in den Kasten zu schaffen. Zu dem Dünnbier, das sie ihrem Manne und den Leuten auf dem Comptoir vorsetzte, wurde noch mehr Wasser hinzugesetzt als früher. Sie hatte noch in später Ehe eine Tochter geboren, die jetzt etwa zehn Jahre alt war und nie ein Kleid von der Elle erhalten hatte, sondern die Kleidungsstücke der Großmutter, die sie bei dem Tode des Vaters ererbt, abtragen mußte. Die eigene Kleidung der Mutter würde dazu nicht tauglich gewesen sein, denn sie trug diese, solange etwas zu tragen war, und ließ Seide und Sammt nur bei dem Kirchgange an sich sehen.

Diese mehr als übertriebene Sparsamkeit hatte ihren wahren Grund aber nur in dem Wunsche, ihre Nachkommenschaft in Ehren zu sehen. Johann Karl junior mußte Senator werden, ihre Tochter Meta mindestens einen Senator heirathen, wenn nicht den Bürgermeister. Das waren die einzigen Gedanken, mit denen sie sich Tag und Nacht trug. Ihr Sohn hatte jetzt in Göttingen promovirt und machte eine Reise durch Deutschland, seine Rückkehr wurde bis zum Frühwinter erwartet. In frühern bremischen Zeiten hatte sie oft an diesen Zeitpunkt als einen solchen gedacht, wo Johann Karl vermöge seines Doctortitels bei Unter- und Obergericht als Advocat prakticiren könne, wo er die Leiter betreten, auf der man zum Senator und Bürgermeister stieg. Für eine reiche Partie aus dem Patricierstande würde die Mutter schon sorgen. Daß dazu Geld gehörte, wußte sie, aber sie hatte ja Geld, konnte sparen und noch mehr Geld zusammenbringen. Jetzt gab es keinen Senat und Bürgermeister mehr, kein Untergericht und kein Obergericht, wohl aber einen Maire, denn Bremen war zu einer kaiserlich französischen Stadt geworden.

Johann Karl Junker senior hatte gegen die Sparsamkeit seiner Frau angekämpft länger als dreißig Jahre, dennoch hatte er sie nicht besiegen können, er vielmehr war besiegt worden, widerwillig hatte er sich ergeben müssen. Seit dem Tode seines Schwiegervaters hatte er die Pröhlte im Rathskeller nicht besuchen dürfen, Wein kam nur Sonntags und an Festtagen auf seinen Tisch, das Leben im Hause ward ihm so unbehaglich gemacht, wie es unter einer geizigen Frau nur werden kann, er war menschenscheu geworden und selbst das alte Wort: »Alles für die Firma, nichts über die Firma«, kam nicht mehr so oft über seine Lippen wie sonst, denn er fürchtete und haßte seinen stillen Compagnon. Doch sollte es dem geknechteten Eheherrn nicht an einer gemütlichen Abwechselung fehlen.

Als Martha mit ihrer Tochter auf seine Veranlassung sich in der Neustadt Bremens niedergelassen, verschaffte er sich oft Gelegenheit, sie zu besuchen. Die Aenderungen in dem Geschäftsbetriebe brachten das mit sich. Aller Export hatte aufgehört, es brauchten keine Essigflaschen nach Südamerika mehr umsponnen zu werden, denn nichts wurde dahin ausgeführt. Zum Schmuggel über Helgoland und England lohnte der Artikel nicht.

Martha und Anna mußten sich zu neuen Arbeiten nach französischen Mustern bequemen und diese zu überbieten suchen, da Junker erklärte, es gäbe auf dem Continent keinen Weltmarkt mehr außer in Paris. Da griechische Muster sich noch immer in der Mode behaupteten, so brachte Junker aus der Bibliothek seines Schwiegervaters mehrere Bände mit Kupferstichen griechischer, etrurischer, römischer, ägyptischer und chinesischer Kunstwerke und Hausgeräthe. Anna, die viel natürlichen Geschmack, eine lebhafte Phantasie und Erfindungsgabe hatte, wurde durch diese Zeichnungen angeregt, weit über das Gebiet der bisher üblichen Korbflechtereien hinauszugehen und eine Menge von Nippes und Haushaltssachen, die man bisher nur in Gold, Silber, Bronze, Eisen oder Thon auszuführen pflegte, in Flechtwerk herzustellen. Sie fertigte allerliebste Blumen-, Putz- und andere Tische, ja sie vermaß sich gegen Junker, jede Art von Hausgeräth, das nicht bestimmt sei, Flüssigkeiten zu halten, in Korbflechterei herstellen zu können.

Die Waaren der kunstreichen Flechterin fanden bald in der Ferne, sogar in Paris Beifall, das Geschäft erweiterte sich, und außer einer Magd wurden noch zwei junge Mädchen aus der Nachbarschaft als Gehilfinnen angenommen und unterrichtet.

Martha wohnte eigentlich nicht in der Vorstadt selbst, sondern in der südlichen Vorstadt derselben, die sich länger als eine halbe Stunde an dem Heerwege nach Dreie hinaufzieht, an der Blumenthorsteinstraße.

Die Straße hat hier nur an Einer Seite Häuser, auf der andern nach Südwesten zu lag und liegt noch heute meist freies Feld. Die Häuser stehen hier auch nicht mehr dicht zusammen wie in der Neustadt selbst oder zunächst vor dem Buntenthore, sondern jedes Häuschen ist durch einen Garten von dem andern geschieden. Der Hintergrund des Gartens wurde durch den Weserdeich gebildet, der jede weitere Aussicht auf Weser und Altstadt abschnitt, von der Höhe des Deiches hatte man jedoch einen schönen Anblick auf das Kuhwerder und die am jenseitigen Ufer nordöstlich liegende Altstadt mit ihren hohen Thürmen, Basteien und den Windmühlen auf den Wällen.

Der Handelsherr fand es so heimisch bei Martha und ihrer Tochter, daß er öfter und öfter kam und auf den klugen Einfall gerieth, sich von seinem Hausarzt einen anderthalbstündigen Spaziergang im Freien jeden Morgen vor der Börse vorschreiben zu lassen.

Er richtete es nun so ein, daß er jeden Morgen sein Frühstück – zu Hause erhielt er nur Cichorienkaffee mit Wecken – bei Martha einnahm. Diese, von Kindheit an gewöhnt, mit Vieh umzugehen, und der ein Leben ohne eigene Kuh beinahe undenkbar war, schaffte sich gleich nach ihrer Uebersiedelung nach Bremen wieder eine recht stattliche Milchkuh ostfriesischer Rasse, schwarz- und weißgefleckt, an. Der Unterhalt machte wenig Mühe; für den Sommer hatte sie den Weideraum gleich hinter ihrem Garten auf dem sogenannten Kuhwerder, und an Heu für den Winter fehlte es nie in jener fruchtbaren Grasgegend. Sie bereitete fast täglich frische Butter, und daß der alte Herr ein geröstetes Weizenbrot mit frischer Butter und von ihr selbst bereitetem Käse gern aß, hatte sie bald gemerkt. Junker selbst schickte in sein liebes Frühstückslocal eine Pinte Madeira und was sonst ein materielles Frühmahl würzen kann, je nach der Jahreszeit, Austern, Caviar, geräuchertes Rindfleisch oder Wurst, holländischen Käse und pommersche Gänsebrüste.

Da Martha die Zeit seiner Ankunft, welche auf die Minute geregelt war, kannte, so wurde im Winter die sogenannte Visitenstube geheizt, und Anna mußte dem Onkel – so ihn zu nennen hatte er sich ausgebeten – das eine Glas Madeira credenzen, aber durch eigenes Annippen.

Kein Wind und Wetter, kein Gebrumm des stillen Compagnons hielt den Chef der Firma Johann Karl Junker und Compagnie von seinen morgendlichen Spaziergängen, wie er sie nannte, ab. In der Stadt bekümmerte man sich wenig darum, weshalb der alte Kauz jeden Morgen um dieselbe Zeit, es mochte schneien oder regnen, die Sonne mochte brennen oder der Nordwest stürmen, über die Weserbrücke marschirte. Die Leute in der Neu- und Vorstadt, selbst die nächsten Nachbarn Martha's hatten zu viel zu thun, um auf Klatsch einzugehen, und Martha wie ihre Tochter galten in der ganzen Nachbarschaft als respectable, fleißige, fromme Personen.

So allein erklärt es sich, daß beinahe zwei Jahre vergangen waren, ohne daß der stille Compagnon, trotz seines Scharfsinns, auch nur eine Ahnung hatte, wo der Chef der Firma den Vormittag zubringe. Die Börse existirte kaum noch dem Namen nach, die Kaufherren gingen aus alter Gewohnheit dahin, weniger um Geschäfte zu machen, als gegenseitig über die Noth der Geschäftslosigkeit zu klagen. Die meisten versuchten zwar etwas im Schmuggel von Helgoland, allein darüber ward geschwiegen, selbst wenn man die glänzendsten Geschäfte gemacht hatte.

Da die Bücher, welche Junker für Anna mitgebracht hatte, in französischer Sprache geschrieben waren, und die Einquartierung fortwährend Veranlassung gab, französisch zu sprechen, hatte diese den Wunsch geäußert, französisch zu lernen, und Onkel Junker darüber nachgesonnen, wie das wol zu bewerkstelligen sei. Der Zufall half; Junker bekam einen auf dem Marsche nach Rußland erkrankten französischen Musiker als Einquartierung, der schon am zweiten Tage mit der Frau vom Hause im Streit lebte, weil er größere Anforderungen an Essen und Trinken machte, als diese zu bewilligen geneigt war. Dubois, so hieß der Mann, schien dem alten Herrn mehr als gewöhnliche Bildung zu haben, und nach Rücksprache mit Martha quartierte er denselben in deren Wohnung aus.

Da Dubois viel in frischer Luft sein sollte, und Martha's Garten vor Nord- und Ostwind durch den Deich geschützt war, so ordnete sich die Sache zur Befriedigung beider Theile, und die freundliche Aufnahme bei Martha wie die liebliche Erscheinung Anna's hatten den galanten Franzosen bald gänzlich umgestimmt. Er war artig und geschmeidig, er bat, wo er in Junker's Hause befohlen hatte, und bald empfing Anna von dem Hausgenossen nicht nur französischen, sondern auch Singunterricht. Die Guitarre war damals das Modeinstrument, und der Franzose, ein Künstler auf diesem Tonwerkzeuge, fühlte sich kaum etwas heimisch im Hause, als er den halben Tag den Korbflechterinnen etwas vorsang. Es war im Sommer und Herbst 1812, und Mutter, Tochter und die Gehülfinnen saßen, wenn es nicht regnete, vom frühen Morgen bis zum Abend im Garten, um hier zu arbeiten, Dubois immer unter ihnen, stets bereit zu Hülfsleistungen, immer artig und lustig, trotz der Schmerzen im Knie. Anna lernte auf beinahe spielende Weise französisch, und Dubois wurde ein geschickter Korbflechter.

Junker, wenn er kam, sein Frühstück einzunehmen, fühlte eine Art Eifersucht, denn trotz seiner sechsundsechzig Jahre war die Zuneigung, die er zu Anna fühlte, weit mehr zärtlicher als rein väterlicher Natur, wie er sie nannte. Er konnte ihre kleinen feinen Hände lange in seiner dürren Hand halten, ihr die Wangen streicheln, die langen schwarzen Haarflechten aufnisteln, und drückte ihr gar gern in Gegenwart der Mutter einen väterlichen Kuß auf die schöne Stirn.

Das junge Mädchen war noch kindlich und unbefangen, auch die Schmeicheleien des Franzosen verwirrten ihren Sinn nicht, und da Dubois sah, daß er Anna's Eroberung nie machen würde, wendete er sich zu einer der Gehülfinnen, bei der er mehr Glück und Erfolg hatte.

So war der Sommer rasch unter Arbeit und Lernen dahingegangen; ein Umstand hatte den Bewohnern des Hauses indeß viel Kopfzerbrechens gemacht. Seit Johannis hatte sich in dem Nebenhause ein alter Mann einquartiert, der eben nicht zu den angenehmen Erscheinungen gehörte und abenteuerlich genug aussah. Er trug einen langen grauen Schnurr- und Kinnbart, und sein rechtes Auge war durch eine schwarze Klappe verdeckt. Er hatte ein wildes Ansehen, denn sein Gesicht sah immer böse aus. Sein beständiger Begleiter war ein ebenso bös aussehender graugelber Wolfshund. Herr und Hund saßen ganze Tage lang auf dem Weserdeiche und schienen keine weitere Beschäftigung zu haben, als das Leben und Treiben in Martha's Garten zu beobachten.

Der Mann that niemand etwas zu Leide, der Hund war auch nicht so bös, wie er aussah, wenigstens konnte Martha's schwarzgraues Mieschen ganz ruhig über den Deich passiren, wenn sie sich einmal ansehen wollte, was Kühe und Rinder in den Außendeichsweiden machten; aber der Nachbar war eine unangenehme Erscheinung, und schon der Gedanke, von einem Fremden immer so scharf überwacht zu werden, war störend. Man hatte sich, wie gesagt, den Kopf darüber zerbrochen, wer der Mann sei, was er wolle, man hatte bei der Nachbarin geforscht, aber diese kannte nur den Namen und war zufrieden, prompt bezahlt zu werden. So gewöhnte man sich nach und nach an die Erscheinung und betrachtete sie als Landschaftsstaffage. Als Regentage, Wind und Kälte nöthigten, in das Haus zu ziehen, war Dubois in der Kunst des Flechtens weit vorgeschritten und wetteiferte mit Anna im Erfinden. Abends sang man, Anna hatte vom Onkel Junker eine Guitarre geschenkt bekommen und begleitete ihren Gesang mit großer Fertigkeit, oder Dubois declamirte, denn Lesen konnte man es nicht nennen, wenn er, nur Anna verständlich, eine Molière'sche Komödie mit dem hergebrachten Feuer und Pathos des Franzosen vortrug.

Anna, nachdem ihr durch Dubois' Unterricht das Verständniß französischer Dramen geworden war, fühlte ein lebhaftes Bedürfniß, auch die eigenen vaterländischen Dichter kennen zu lernen, und hatte bei einem Trödler allerlei zusammengekauft, darunter Gutes, wie »Götz von Berlichingen«, »Nathan der Weise« und die »Minna von Barnhelm« von Lessing, Gedichte von Bürger und Schiller, aber auch mancherlei Schund. Wenn einmal der Bildungstrieb in einer jungen Mädchenseele erwacht ist, so dringt und treibt das unaufhörlich weiter.

Anna lernte Schiller'sche Romanzen und Balladen auswendig, sie freute sich, abends der Mutter und den Gehülfinnen, welche auch bei Licht arbeiteten, den »Götz« oder ein anderes Buch vorlesen zu können, und selbst Dubois verstand so viel deutsch, um daran seine Freude zu haben. Bei rührenden Stellen saß dann die ganze Familie und weinte. Der Selbstbildungstrieb fand aber erst recht seine Nahrung, nachdem Dubois die Aufmerksamkeit seiner artigen Schülerin auf das Institut der Leihbibliotheken gelenkt hatte, das ihr bis dahin unbekannt geblieben war. Nun wurden abends Romane vorgelesen, die wunderbarsten Sachen, alles durcheinander, sodaß es in Anna's Kopfe zu wirbeln begann, daß sie auch am Tage bei der Arbeit an ihre Romanhelden und Heldinnen dachte und im Bette sich selbst an die Stelle dieser oder jener Erhabenen setzte.

Indeß war der November mit seinen Stürmen gekommen und hatte den Dr. juris utriusque Johann Karl Junker junior in das älterliche Haus zurückgeführt.

Es war das aber keine günstige Zeit für einen angehenden Juristen. Handel und Wandel stockten ärger als je, damit auch die Processe, jene ausgenommen, bei denen es sich darum handelte, einen Zahlungsunfähigen seiner letzten Habe zu berauben. Auch Bürgermeister und Rath im alten Sinne existirten nicht mehr, an der Spitze der Verwaltung stand ein Maire und an die Stelle des alten deutschen Processes war der Code de procédure getreten. Die Studien des jungen Mannes in Heidelberg und Göttingen hatten sich aber nur auf das Gemeine Recht erstreckt. Als Bremer hatte er von den Machtverhältnissen der bremischen Republik eine so große Vorstellung, daß er immer geglaubt hatte, Bürgermeister und Rath würden eine Einverleibung in Frankreich zu hindern wissen; hatte ihm doch Onkel Breuer oft genug erzählt, wie geschickt Bürgermeister und Rath im Congreß zu Rastadt und später in Paris diplomatisirt hätten und wie man glücklich das hannoverische Mitregiment in Bremen 1803 los geworden sei.

Jetzt war Bremen ein Theil des kaiserlich französischen Weserdepartements, ein Präfect befehligte es und zwang die Frauen der frühern bremer Rathsherren und Aelterleute, bei seiner Maitresse Thee zu trinken und sie zu Gesellschaften einzuladen. Das war noch lange nicht das Gehässigste an dem von den fremden Gewaltherrschern auferlegten Joch.

In dieser Lage zeigte sich auch kein glückversprechender Anfang für den jungen Mann, und die ehrgeizigen Plane seiner Mutter, die ihn schon im Gedanken auf dem Bürgermeisterstuhle gesehen hatte, schienen in eitel Rauch aufgegangen zu sein. Aber er blieb ihr Liebling und Bevorzugter, für den allein sie die Schranken ihres Sparsystems fallen ließ, und das knappe Leben im Hause nahm nach seiner Rückkehr ein Ende. Vater und Sohn fanden mittags wieder ihr Glas Wein auf dem Tische, und neben dem Sonntagsbraten erschien auch zur Verwunderung der Commis in der Woche frisches Fleisch oder gar Braten. Der stille Compagnon drängte den Inhaber der Firma, abends den Sohn in die Pröhlte zu führen, damit er Bekanntschaften mache, denn dort fand sich der alte Stamm der bremer Kauf- und Rathsherren noch regelmäßig zusammen, unbelästigt von den Franzosen, welche entweder in Gesellschaft des schönen Geschlechts die kleinen Gemächer des Rathskellers vorzogen, oder in den großen gewölbten Räumen bei dem Klange von Siegeshymnen den Ruhm des Vaterlandes bejubelten.

Um diese Zeit kam ein Trupp französischer Schauspieler von Hamburg nach Bremen, auf Wunsch der Maitresse des Präfecten, und es wurde nun Mode, daß jedermann ins Schauspielhaus lief, mochte er französisch verstehen oder nicht. Sogar der stille Compagnon gewann es über sich, mit Gemahl und Sohn das Theater zu besuchen. Vater und Sohn verstanden wenigstens französisch, nicht so Frau Junker, sie musterte dafür die Leute im Parterre und Logen, bewunderte die stattliche Figur ihres Sohnes und sah sich um unter den Töchtern des Landes, bei jeder denkend: »Die gäbe Johann Karl auch keinen Korb.« Auch Junker senior guckte auffallend viel durch sein Glas, aber nach oben, nach der Galerie, sodaß der stille Compagnon ihn zuletzt am Rocke zupfte und ihm zuflüsterte, es schicke sich nicht, so lange das Paradies zu mustern.

Dadurch war denn Johann Karl junior neugierig geworden, er hatte den Kopf erhoben und musterte die Galerie ohne Glas, denn seine Augen waren noch scharf. Bald sah er einen reizenden Mädchenkopf an der Seite eines französischen Soldaten. Kopf und Gesicht kamen ihm bekannt vor, doch konnte er sich nicht mehr besinnen, wo er das schöne Gesicht gesehen. Seit der Zeit, da er mit den Körbchen einen Kuß hatte einhandeln wollen, waren drei Jahre verstrichen, und Anna hatte sich seitdem aus einem schönen Kinde zu einer reizenden Jungfrau mit stattlicher Büste verwandelt. Johann Karl hatte in Heidelberg wie in Göttingen noch manchmal an die hübsche Korbflechterin gedacht, aber sein Phantasiebild war hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben, er sah nur das schmächtige blasse Kind mit dem schwarzen Haar und den blauen Augen, die vollendet schöne Jungfrau da oben kannte er nicht wieder. Hätte die Mutter nicht auch ihm bald darauf zugeflüstert, er möge es doch sein lassen, nach dem Korbmachermädchen hinauf zu sehen, das passe sich nicht, das errege Aufmerksamkeit, so würde er vielleicht noch lange hin- und hergesonnen haben, wo er das schöne Mädchen gesehen.

Die Ermahnungen der Mutter halfen freilich nicht, sie hatten nur die einzige Wirkung, daß Johann Karl sich bei dem nächsten Aufzuge in den Hintergrund der Loge setzte, um unbeobachtet von der Mutter nach der Galerie hinaufstarren zu können. Er wurde eifersüchtig auf Dubois, der sich mit französischer Lebhaftigkeit mit Anna unterhielt.

Als man nach dem Theater im Hause beisammensaß, suchte Johann Karl das Gespräch auf die schöne Korbmacherin zu bringen, allein der Vater schwieg und die Mutter fing an zu zanken, es sei unpassend sich um solches herumtreiberisches Zigeunerpack zu kümmern, schlimm genug, daß der Chef des Hauses noch immer mit solchem Pöbelvolke verkehre.

Johann Karl junior ging früh zu Bett, um ungestört über die süße Erscheinung zu phantasiren.

Die Beschäftigung des jungen Mannes bestand darin, jetzt nachzuholen, was er in Göttingen und Heidelberg versäumt hatte, sich mit dem in halb Europa geltenden französischen Rechte zu beschäftigen, um das Tribunal regelmäßig zu besuchen, um den Geschäftsgang und das Procedere aus der Praxis kennen zu lernen.

Am Morgen nach diesem Abend wollte aber der Code Napoléon nicht schmecken, Johann Karl junior hatte keine Ruhe in seinem Studirzimmer; unter dem Vorwande, ins Tribunal zu gehen, ging er gleich nach dem Frühstück von Hause und zog von Straße zu Straße, in der Hoffnung, die Wohnung der schönen Korbflechterin zu entdecken.

Johann Karl streifte vor den Läden der Wachtstraße, als er seinen Vater auf der andern Seite der Straße eilig einschreiten sah. Er trat in eine Hausflur, ließ den Vater vorübergehen und folgte ihm vorsichtig von weitem. Der alte Herr lief mehr als er ging, über die Weserbrücke in die Neustadt, dann zum Buntenthor hinaus. Der Sohn sah den Vater hier in ein Haus verschwinden und trat behutsam näher, um durch die Fenster einen Einblick in die Stuben zu gewinnen. In der ersten sah er den Vater am Ofen sitzen, im Gespräche mit einer altern Frau, mit schwarzem Haar und gelbem Teint und großen schwarzen Augen. Im andern Zimmer saß der Franzose, den er gestern im Theater gesehen, und flocht in Gesellschaft von zwei jungen Frauenzimmern Körbe oder dergleichen. Kein Zweifel: er hatte die Wohnung seiner Schönen gefunden, und überlegte nun, weiter gehend, nur noch, ob er sich dem Vater zeigen, jetzt schon unter irgendeinem Vorwande in das Haus treten, oder ob er sein Glück erst versuchen solle, wenn der Vater das Haus verlassen habe.

Ungeduldig, wie die Jugend ist, zog Johann Karl das erstere vor. Er war etwa tausend Schritt über die Wohnung Martha's hinaus, als er seinen Entschluß faßte und, sich keck umdrehend, das Lied zu singen begann:

Ein Bursch wie ich nimmt solche Freiheit sich heraus
Und führet, ohne viel zu fragen, die schönste Dirne mit nach Haus!

Als er Martha's Hause näher kam, fing ihm doch das Herz etwas zu schlagen an, er sang aber um so lauter in sich hinein, gleichsam um sich burschikosen Muth einzusingen. An der Nachbarthür von Martha's Hause sah er den unheimlichen Alten mit dem einen Auge und seinem Wolfshund stehen, der ihn anstarrte.

»Wohnt hier nebenan ein Korbmacher?« frug der Jüngling keck.

»Nein, aber eine Korbmacherin«, erwiderte der Mann und musterte ihn mistrauisch vom Kopf bis zu den Füßen.

Johann Karl trat in das Haus, das rechts und links eine Stube hatte, und klopfte an die Thür der Stube, in der er den Vater gesehen.

»Herein!«

»Entschuldigen Sie, Madame! Ah, cher papa! Demoiselle! Ich wollte nur fragen, wer der sonderbare Mann sei, der hierneben an der Thür steht, und nun finde ich meinen lieben Vater und noch dazu bei vortrefflicher Arbeit und in schöner Gesellschaft! – Lieber Papa, willst du mich nicht den Damen vorstellen? Hier die jüngste sollte mich freilich noch kennen, denn ich war der erste, der ihr hier in Bremen etwas abkaufte!«

Die Gesellschaft in der Stube war stumm und starr. Sie bestand aus Martha, die Butter, Brot und Wurst auf den Tisch vor den Chef der Firma gesetzt, und Anna, die aus einer weißen Caraffe ein Glas Madeira eingeschenkt hatte. Anna erröthete tief und sah zur Erde, Martha schaute den Jüngling erstaunt an, und dem alten Herrn war, wie wenn ihn der Schlag gerührt hätte. Da alles schwieg, fuhr Johann Karl junior fort: »Wie wird sich Mama freuen, die über deine Appetitlosigkeit so sehr klagt und sich ängstigt wegen der vom Doctor angeordneten Morgenspaziergänge, wenn ich ihr erzähle, bei welch schönem Frühstück ich dich hier getroffen. Aber da spüre ich, daß mir der Morgenspaziergang den eigenen Appetit angeregt hat. Madame, erlauben Sie, daß ich mich an der Seite meines lieben Papa niederlasse und mit zugreife, und Sie, Schönste der Schönen, haben Sie für einen verdursteten Doctor wol noch ein Glas?«

Der Chef des Hauses hatte das Glas Madeira, an dem er sonst nur zu nippen pflegte, in Einem Zuge geleert, gleichsam um sich Muth zu trinken, und sagte nun: »Hier min Jung', gah sitten, und Anna kann drei Gläser bringen, wie willt anstöten!« Junker senior pflegte immer platt zu sprechen, wenn er verlegen war.

Martha hatte indeß einen Teller, Messer und Gabel, Anna Weingläser gebracht und eingeschenkt. Der junge Doctor erhob das Glas: »Es lebe die Firma und alles, was daran hängt und bummelt, nichts über die Firma, alles für die Firma von Johann Karl Junker und Compagnie.«

Man aß und trank, als wären lauter alte Bekannte versammelt, der Doctor ruhte in seinem burschikosen Humor nicht, bis auch die Frauen jede drei Gläser geleert hatten, weil aller guten Dinge drei seien – Weib, Wein und Gesang, während er selbst mindestens das Doppelte trank. Der alte Herr fühlte sich nach und nach leichter, und selbst Martha fing an gesprächig zu werden und lobte den Chef der Firma für alles, was er an ihr und dem Kinde, der Anna, gethan habe.

Anna selbst saß neben Karl dem Jüngern, schweigend, mit niedergeschlagenen Augen, denn die Augen des jungen Doctors waren allzu kühn, wie er in seinen ganzen Manieren eine liebenswürdige Zudringlichkeit an den Tag legte, die den jungen Mädchen, wenn sie auch spröde thun, im ganzen besser gefällt als Duckmäuserei. Der Papa hatte viel Rühmens gemacht von Anna's Geschicklichkeit und wie ihre Arbeiten sämmtlich nach Paris gingen und dort sehr gesucht wären. Der Sohn ergriff die Gelegenheit und belohnte die beiden wirklich schönen kunstfertigen Hände mit einem Kuß. Dann zog er Anna mit ihrem Begleiter in der gestrigen Vorstellung in seiner Weise auf und wurde von der sich verteidigenden Jungfrau über die Stellung, die Dubois im Hause einnahm, belehrt, vor allem aber davon unterrichtet, daß Dubois mit einer Gehülfin verlobt sei, und, sobald er als Invalide verabschiedet wäre, was er täglich erwarte, mit derselben nach Paris ziehen und sich dort etabliren werde.

Anna hatte den Doctor dann selbst in die gegenüberliegende Stube, die eigentliche Werkstatt, geführt und ihn dem Freunde Dubois als Sohn der Firma Junker und Compagnie vorgestellt. Als man von dort zurückkehrte, versuchte der Doctor, die schöne Korbmacherin um die Taille zu fassen und ihr den Kuß zu rauben, den er von dem Korbkaufe noch zugute habe; allein Anna entwand sich ihm nicht nur, sondern hielt ihm auch eine Strafrede. Sie war ernstlich erzürnt, denn sie fühlte, daß dieses burschikose Benehmen stark nach der Studentenkneipe schmecke und daß der Herr Doctor sie wie eine Kellnerin in der Hirschgasse behandle. Daß sie es ernst meine, bewies die flammende Röthe ihres Gesichts und ihr zorniges Auge.

Der Doctor bat um Verzeihung und wurde still. Der Papa Junker hatte sich indeß schon zum Aufbruch gerüstet, die Chenille mit den vielen Kragen umgethan, die Seitenlocken und Backen durch ein Tuch geschützt; der Sohn faßte den Vater unter, und so ging man zur Stadt.

Auf diesem Rückwege schüttete der Senior gegen den Sohn sein Herz aus über den zunehmenden Geiz der Mutter und erklärte, wie er dazu gekommen sei, sich ein Asyl bei Martha und ihrer Tochter zu suchen. Der Sohn behielt den alten burschikosen Ton gegen den Vater bei und sagte: »Wir schließen einen gemeinsamen Pact gegen den Hausdrachen, unter der Bedingung, daß ich zweimal die Woche an deinem Frühstücke theilnehmen darf.«

So kam man überein und so geschah es.

Die Besuche des jungen Mannes blieben aber auf diese Frühstückszeit nicht beschränkt. Da er überall in den Stuben herumsuchte, alles und jedes in die Hand nahm und untersuchte, hatte er auch die schmuzigen Leihbibliotheksbücher entdeckt und erfahren, zu welchem Zwecke sie dienten. Er stellte sich daher eines Abends zur Lesestunde ein, brachte von seinen eigenen Büchern einige Stücke von Schiller's Theater mit und las selbst vor.

Von dieser Zeit an kam mindestens etwas Methode in das Selbstudium Anna's.

Es war indeß der Winter gekommen und hatte nicht nur die Verabschiedung Dubois' aus Paris gebracht, sondern auch das 29. Bulletin der großen Armee, der gewesenen. Dubois machte Hochzeit und reiste in seine Heimat, der Doctor hielt es für Pflicht, seine Abwesenheit zu ersetzen, er war beinah jeden Abend in Martha's Wohnung.

Der Junior des Hauses Junker war verliebt, stark verliebt in Anna, aber – und das war das Eigenthümliche – an das Romanziel des Verliebtseins, an das Heirathen wagte er nicht zu denken, so oft auch Anna's Bild vor seiner Seele schwebte. Immer nämlich, wenn er über eine Zukunft an der Geliebten Seite zu grübeln begann, drängte sich das Gesicht seiner Mutter dazwischen, wie an jenem Tage, wo er das Mädchen zum ersten mal sah. Er wußte, daß seine Mutter eine Verbindung mit der Korbmacherin, der unehelich geborenen Fillers-Enkelin, nie zugeben und daß ein Conflict mit ihr unvermeidlich sein würde, sowie daß dieser Conflict nicht so tragisch wie der in Schiller's »Cabale und Liebe« enden würde, sondern sehr stark prosaisch und bürgerlich. Aber er war leichtlebig, ja leichtsinnig. Wozu an die Zukunft denken, wenn eine schöne Gegenwart lächelte? Da es mit der burschikosen Eroberung nicht hatte gehen wollen, so wurde der junge Jurist ein deutscher sentimentaler Liebhaber, der die Korbmacherin in zarten Sonetten besang, ihr »Werther's Leiden« und sentimentale Romane von Lafontaine vorlas, der seufzte und das junge Mädchen stundenlang verliebt ansah.

Das war nun nicht der rechte Weg, um Anna's Herz zu erobern; sie fühlte sich, wie jedes Mädchen, von dem ersten Courmacher geschmeichelt, allein sie liebte Johann Karl nicht, sie war zu prosaisch für seine Sentimentalität, zu bürgerlich einfach für ein Liebesverhältniß ohne den festen Hintergrund der Ehe. Wäre er vor sie hingetreten und hätte um ihre Hand gebeten, sie würde ihn, hätte auch die Hochzeit noch so lange verschoben werden müssen, lieben gelernt haben; aber dieses Seufzen, dieses von Liebe Sprechen, diese liebeglühenden Sonette ohne ein Wort von Heirath dazu, behagten ihr gar nicht.

Es war indeß Frühling geworden, die Tage länger, die Abendarbeiten und das Lesen hörten auf. Martha, Anna und die Gehülfinnen arbeiteten an warmen Tagen schon wieder im Grünen des Gartens, unter blühenden Apfel- und Birnbäumen. Der junge Bremer aber hatte sich ein schmales Boot zum Selbstrudern angeschafft, mit dem er ein paarmal wöchentlich die Weser hinauffuhr, unter dem Weidengebüsche des Kuhwerders vor Martha's Hause landete und dann bei der Korbmacherfamilie eine Stunde im Garten verbrachte. Das war aber längst nicht so traulich und schön wie die Abende im Zimmer, die Sonne ist keine Freundin sentimentaler Liebe, und die Gegenwart von Martha und den Gehülfinnen genirte ihn, noch mehr aber der graubärtige Alte, der wieder auf seinem Deiche saß und alles, was in Martha's Garten vorfiel, zu beobachten schien.

Johann Karl wußte Anna eines Nachmittags zu bereden, daß sie sich ein Viertelstündchen die Weser hinaufrudern lasse. Als beide über den Kuhwerder kamen, um zum Schiffe zu gelangen, verließ der Graubart seinen Wächterposten auf dem Deiche und ging, von seinem Wolfshunde gefolgt, am Fuße desselben stromauf. Er wußte, daß weiterhin der Strom eine Krümmung machte, wo alles Außendeichsland aufhörte und die Weser eine Zeit lang unmittelbar unter dem Fuße des Deichs vorbeiströmte, wogegen im Strome sich eine Insel gebildet hatte. Hier war der Deich, was heute nicht mehr erlaubt sein würde, an der ganzen Außenseite dicht mit Weidengebüsch bestanden, hinter welchem man sich verbergen konnte, und da der rasche Fußgänger schneller an diesen Punkt gelangte als der gegen den Strom rudernde junge Mann, so hatte sich der Graubart mit seinem Wolfshunde hier in dem Weidenbusch bereits verborgen, als der Kahn au ihm vorüberkam. Er wollte offenbar erlauschen, was das Pärchen treibe. Das Liebesfieber des Jünglings war auf die höchste Spitze getrieben, dadurch, daß er nun schon wochenlang mit Anna keinen Augenblick allein gewesen war. Er hatte sich entschlossen, ihr auf dem Wasser eine Erklärung zu machen. Einsam genug war es dort, denn noch weniger als auf der Unterweser existirte auf der Oberweser irgendeine Schiffahrt. Ob der junge Mann während der bisherigen Fahrt schon von seiner Liebe gesprochen hatte, konnte der Alte nicht wissen; daß er hier, wo er jetzt dicht unter dem Weidengebüsch hinfuhr, nicht von Liebe sprechen konnte, sah er. Der Kahn trieb hier in das Fahrwasser, das sich eine ganze Strecke dicht am Deiche hielt. Um es nach der Stadt hinüberzuwerfen, waren eine Reihe sogenannter Haken in die Weser gebaut, die jedoch, da es oben stark geregnet hatte und der Strom angeschwollen war, nicht sichtbar waren. Der Ruderer strebte mit allen Kräften gegen die mächtige Strömung an, allein er war nicht im Stande, den Kahn stromaufwärts zu bringen, er gab den Versuch auf, legte die Ruder nieder und ließ sich stromabwärts treiben. Der Graubart hinter dem Busche hatte das längst vorausgesehen, denn er schlich schon mit seinem Hunde hinter dem Gebüsch stromabwärts.

Jetzt glaubte der künftige Senator die günstige Gelegenheit gekommen, Anna seine Liebe zu erklären. Er zog die Ruder in den Kahn und warf sich vor ihr auf die Knie, hatte aber noch kein Wort gesprochen, als eine kräftige Baßstimme aus dem Busche rief: »Herr Junker, lassen Sie das Kind in Ruhe!« und gleichzeitig der Hund ein wüthendes Geheul anstimmte.

Der feurige Liebhaber, der niemand sah, fuhr in die Höhe, in demselben Augenblicke stieß der Kahn aber auf einen in die Weser gebauten Haken und kenterte, beide Insassen in das Wasser absetzend. Der Alte drängte sich durch den Busch und rief: »Wolf!« Der Hund war aber schon von selbst in die Weser gesprungen und hatte Anna im Rücken der Taille gefaßt, sie dem Ufer und seinem Herrn zubringend. Während schwimmend Junker rang, den Kahn zu erfassen, aber von der Strömung immer mehr in die Mitte des Flusses, ja dem entgegengesetzten Stadtufer zugetrieben wurde, zog der Alte die bewußtlose Anna nicht ohne eigene Gefahr, mit der linken Hand sich an dem Busche haltend, mit der rechten zum Ufer. Die Arme hatte eine tüchtige Portion Weserwasser geschluckt und erholte sich erst, als sie dasselbe wieder von sich gegeben, nach kräftigen Manipulationen des Alten, die dieser kunstgewandt und mit Sorgfalt anwendete.

Der Einäugige trug die Gerettete, als sie wieder zu sich gekommen war, auf den Deich und dann ohne Anstrengung nach Haus, der Wolfshund umsprang beide mit freudigem Bellen.

Anna wurde ins Bett gebracht und war am andern Morgen frisch und munter.

Von diesem Tage an entspannen sich nähere Beziehungen der Nachbarn und zärtliche Freundschaft zwischen dem Wolfshund und Anna. Martha, die sich Geld erspart hatte, versuchte, dem Retter ihrer Tochter, den sie für bedürftig hielt, ein reiches Geschenk zu machen, das dieser mit Stolz und Entrüstung zurückwies, wogegen er, als Martha darüber zu weinen anfing, sich von ihr, solange er ihr Nachbar sei, jeden Morgen ein Quartier frische Milch ausbat. Dieser Milchtrank unterhielt dann den Verkehr der beiden Nachbarn, indem Martha selbst oder ihre Tochter dem Einäugigen die frischgemelkte Milch hinüberbrachte und für den Hund Wolf einen Knochen oder sonst Reste ihrer Mahlzeit. Es erging auch die Einladung an den alten Mann, daß er sich, statt auf dem Deiche zu rasten, des Nachmittags in ihren Garten setzen möge, wo es doch wenigstens an schattigen Plätzen nicht fehle.

Das nahm der Alte an und fehlte seitdem keinen Nachmittag, wo im Freien gearbeitet wurde, im Garten Martha's, allein zu den Kosten der Unterhaltung trug er nichts bei, er sprach nie ein anderes Wort als zu seinem Hunde.

Am Tage nach der verunglückten Wasserfahrt erhielt der stille Compagnon der Firma einen anonymen Brief folgenden Inhalts:

 

»Madame!

»Ihr Sohn liebelt mit der Tochter der Korbmacherin am Buntenthorsteinwege, der unehelichen Enkelin des frühern Scharfrichters und Fillers Ubbel in Heustedt. Machen Sie dem Dinge ein Ende, sonst passirt ein größeres Unglück, als die gestrige Wassertaufe bei dem Versuche einer Liebeserklärung.«

 

Und der stille Compagnon war dazu im Stande, dem Dinge ein Ende zu machen. Doch ehe wir darüber Bericht geben, müssen wir uns nach dem Sohne umsehen, den wir in den Fluten der Weser verließen. Er konnte glücklicherweise schwimmen; sobald er Anna gerettet sah, überließ er sich dem Strome, welcher ihn von selbst nach dem rechten Ufer der Weser trieb. Hier kannte er das Terrain genau genug, um an passender Stelle aus dem Fahrwasser sich an das Ufer und an den Deich zu retten. Die Vorstadt vor dem Osterthore war damals noch spärlich bebaut, und es gab kaum ein anderes Haus, in das er, der Doctor juris, einzutreten wagte, als die Windmühle vor dem Thore.

Ein Müllerknecht wurde von hier mit einem Briefe nach dem väterlichen Hause geschickt, um trockene Kleidung und Wäsche zu holen. Alles schien sich gut anzulassen. Mama hatte am Abend den Liebling gehätschelt und gepflegt, ihn mit dem Senior nach dem Rathskeller geschickt, damit er sich an einem guten Glase Rheinwein erquicke; der Kahn war durch Schiffer aufgefangen und geborgen. Der Junior hatte vortrefflich geschlafen, nicht eine Secunde von der Geliebten geträumt, war frisch und froh aufgestanden, von der Mama zum Kaffee neben dem Butter- und Weißbrote extra mit Scheibenhonig tractirt, vom Vater, den bisher eine gewisse Scheu von ihm zurückgehalten, einmal wieder väterlich, beinahe wie ein verlorener Sohn behandelt und selbst von der kleinen Schwester, die das sonst nicht kannte, geliebkost.

Nach genossenem Frühstück hatte er sich an seinen Code gesetzt und die Lehre von der Opposition studirt, die dem Gemeinen Rechte, das nur die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kannte, sowie ihm selbst völlig neu war. Dann war er, da weder Sitzung des Civiltribunals noch des Handelsgerichts stattfand, nach dem Friedensgerichte in Ost-Kantope gegangen, wo der vormalige Rathsherr Droste jetzt den Friedensrichter spielte, er aber sicher war, einige Collegen, sei es Dr. Ahasverus, oder Gildemeister, oder Schumacher, oder von Ramdohr, zu treffen.

Mit einigen von diesen war er dann zuerst zu der Restauration von Calinardi in der Osterthorstraße, und da man dort die gewohnten Genossen nicht fand, nach Caminada in der Katharinenstraße gegangen, denn diese Ausländer hatten die altbremischen Restaurationen von Bartels, Buschmann, Clausen, Mester, Wilkens und andern überflügelt. Man hatte gut gefrühstückt, sattsam getrunken und Junior kam in der heitersten Stimmung nach Hause. Aber welches Ungewitter brach da über ihn los!

Der stille Compagnon war zur Furie geworden, die den Doctor juris utriusque im Eßzimmer in Gegenwart des Vaters und zweier Comptoiristen mit der Drohung von Ohrfeigen und einer Flut der schmählichsten Redensarten empfing, die ihn um so mehr kränkten, als sie weniger gegen ihn denn gegen die Scharfrichters-Enkelin, das Zigeunermädchen, das Lumpenpack, das Pöbelzeug am Buntenthorsteinweg und wie die Ehrentitel sonst lauteten, gerichtet waren. Der Doctor konnte sich das alles nicht erklären, der Vater saß da wie eine Schlafmütze, und der einmal laut gewordene stille Compagnon redete sich immer mehr in den Zorn.

Der Hausdrache, wie der Junior seine Mutter im burschikosen Uebermuthe vor kurzem genannt hatte, offenbarte sich hier in der ordinärsten Niedrigkeit der Gesinnung und Rede, sodaß der Sohn endlich emporfuhr zu der Aeußerung. die Korbmacherin sei die Tochter eines Grafen, wenn auch eine uneheliche, und wenn auch ihr Großvater Scharfrichter sei, so stecke in ihr doch tausendmal mehr noble Gesinnung und hundertmal mehr Bildung als in mancher Patriciertochter und in mancher hochmüthigen Kaufmannsfrau.

Das hieß denn Oel ins Feuer gießen, jetzt kamen erst wirklich gemeine Benennungen für die Familie Martha's, und Junior schwang sich zu der Erklärung auf, er werde gerade trotzdem Anna heirathen. Damit stand er vom Tische auf und ging in seine Studirstube. Es schien, als habe er den besten Trumpf ausgespielt, als sei er Sieger geblieben, denn das Wort »und von uns wirst du enterbt«, welches die Mutter ihm nachrief, als er die Thür in der Hand hatte, hörte er kaum. Allein der Kampf zwischen einer Frau wie der stille Compagnon, die länger als dreißig Jahre gewohnt war zu herrschen, und einem Sohne, der, solange er lebte, beherrscht war und noch immer hatte nachgeben müssen, war zu ungleich.

Nach drei Tagen hatte der Sohn der Mutter in die Hand versprochen, die Korbmacherfamilie nicht mehr zu besuchen.

Es würde ihm das auch nicht viel geholfen haben, denn Anna hatte jetzt zwei Tugendwächter, die unbestechbar waren, den Wolfshund und seinen einäugigen Herrn.

Der Sommer ging vorüber, ein schwerer Sommer für Bremen, das mit Ablauf des Waffenstillstandes am 17. August von dem Platzcommandanten Pheillier in Belagerungszustand erklärt wurde. Eine der härtesten unter den vielen Plagen war die Conscription. Das Departement der Wesermündungen hatte 1027 Mann zu stellen, die dem 128. Regiment einverleibt werden sollten; allein die Hälfte entzog sich der Einstellung durch die Flucht, und der Präfect klagte: »Welche Maßregeln bleiben mir noch übrig? Ich habe den Ungehorsam schwer bezahlen, die Aeltern vieler Widerspenstigen einsperren, viele Häuser, die den Ungehorsamen als Zufluchtsort dienten, niederreißen lassen. Ich habe große Belohnungen für die Zurückführung jedes Flüchtigen ausgesetzt, ich habe 400 Mann Militär drei Monate lang zum Aufsuchen der Ausgetretenen im ganzen Departement umhermarschiren lassen, ich habe eine gleiche Zahl zu demselben Zwecke in entferntere Gegenden gesendet!«

Aber doch Ein Mittel erdachte er noch: einen Mann vom Ende des Depots und aus der Familie der Widerspenstigen zu nehmen, der den Flüchtling stellen oder selbst marschiren sollte, und den Communen, aus denen ein Conscribirter fehlte, so lange täglich eine bestimmte Summe Geldstrafe aufzuerlegen, bis der Ausreißer sich stellte.

Unter diesen Maßnahmen litt denn auch Johann Karl junior. Er war, obgleich älter als aus dem Geburtsjahre 1793, das durch die Conscription herangezogen wurde, zu jener Ehrengarde von 100 Cavaleristen gepreßt, welche der Municipalrath dem Kaiser freiwillig angeboten hatte, oder hatte anbieten müssen, um die schlimmern Maßnahmen, womit er bedroht war, abzuwenden. Ob dabei der stille Compagnon die Hände im Spiele gehabt, wissen wir nicht, indeß unwahrscheinlich ist das nicht, indem Frau Junker mit dem Maire Wichelhausen zu jener Zeit viel zu besprechen hatte. Mindestens hatte sie nicht zugeben wollen, daß die Kosten seiner Equipirung aus den »freiwilligen Beiträgen« bestritten würden, welche von reichen Leuten auf besondere schriftliche Aufforderung und mit der Drohung des Präfecten von Arnberg zusammengebracht waren, daß, wenn sie die Summen, zu denen man sie abtaxirt, binnen drei Tagen nicht bezahlt hätten, der General Receveur mittels Einlegung von je vier Garnisairs sie dazu anhalten werde.

Am 4. September hielt das Detachement von 78 Ehrengarden – mehr hatte man nicht erpressen können – Abschiedsrevue; der provisorische Commandant und frühere Kapitän Bürgel vom 9. Chevauxlegers führte dasselbe. Der Präfect richtete eine Anrede an die Gardisten, die den klarsten Beweis liefert, zu welchem Grade der Knechtschaft das arme Deutschland erniedrigt war. Diesen Gardisten, die man erpreßt hatte, um sie gegen die deutschen Völker als Kanonenfutter zu führen oder sie in Frankreich als Geiseln zurückzuhalten, sagte der Präfect:

»Meine Herren! Die Ehre ruft, der Ruhm erwartet Sie. Streben Sie, einen der durchschauenden Blicke des großen Napoleon auf sich zu ziehen. Werden Sie der Stolz Ihres Departements, so wie Sie schon die Auswahl desselben sind. Zollen Sie dem Vaterlande, welches Sie an Kindesstatt angenommen hat, einen gerechten Tribut, indem Sie demselben seine zahlreichen Feinde besiegen helfen. Nur darum sind sie unsere Feinde, weil sie unsern Ruhm beneiden und auf die Glückseligkeit eifersüchtig sind, welche zwanzig siegreiche Jahre unserm schönen Frankreich bereiten. Indem Sie so Ihr Streben mit denen vereinen, welche den Frieden erkämpfen wollen, begründen Sie auf das ehrenvollste den Bruderverein, welcher auf immer die neuern und ältern Franzosen verbindet! Ehre, Vaterland, Napoleon! Unauslöschlich müssen diese heiligen Namen in Ihren Herzen und fortan Ihr Losungswort für das Leben sein. Es lebe der Kaiser!«

Den Gardisten wurde nun am Ende des Steinwegs, da, wo sich dieser in zwei Arme theilt, ein »glänzendes Mahl« gegeben, viele bremische Bürger mit Frauen und Töchtern und Leute von Vegesack und Lehe hatten der Abschiedsrevue beigewohnt und den Ihrigen Lebewohl gesagt. Der stille Compagnon war unter ihnen, und reichliche Thränen flossen aus den Augen der liebevollen Mutter, die schon seit mehrern Tagen Reue darüber empfand, ihren Sohn, dessen Heilung sie nicht traute, an den Feind verrathen zu haben. Johann Karl's Auge war thränenleer, er winkte, als zum Aufbruche geblasen war, der Mutter einen kühlen Gruß zu, und unter Musik, Trompetenschall und Kanonendonner ging es auf dem Wege nach Brinkum weiter.

Das Detachement sollte über Syke, Asendorf, Nienburg nach Minden reiten, wo es weitere Marschordre erhalten würde. Karl war nicht ungern Soldat geworden, er hatte, seit ihm die Mutter das Versprechen abgerungen, Anna nie wiederzusehen, sich im väterlichen Hause unheimlich gefühlt, er haßte die Mutter, und der Vater dauerte ihn. Das Leben war ihm gleichgültig geworden, und hatte er schon vor seiner Einkleidung den festen Entschluß gefaßt, die erste Gelegenheit zu ergreifen, um zu entfliehen und zu den Lützow'schen Reitern, die zwischen Weser und Elbe streiften, überzugehen.

Die Gelegenheit traf sich günstig. Einer der Ehrengardisten, der Sohn eines wohlhabenden Landmannes aus dem alten Amte Syke, wurde Johann Karl's Nebenmann und mußte schon am ersten Tage, als das Hauptdetachement bis Syke weiter zog, in Brinkum liegen bleiben. Hier im Nachtquartier tauschten beide die Gesinnungen aus, zu den Lützowern überzugehen, und als beide, zum Nachtrabe gehörend, am andern Tage, da der Commandirende befürchtet hatte, in Asendorf nicht Stallung genug zu finden, auf einer einsamen Wassermühle zum Heiligenberge einquartiert wurden, zogen sie von da in der Nacht, Hoya zur Rechten lassend, nach Dörverden, wo sich eine Fähre über die Weser befand. In diesem Dorfe hatte Junker's Kamerad eine Schwester verheiratet; der Schwager versah beide Flüchtlinge mit Bauerntracht und auch den Pferden wurde alles militärische Geschirr abgenommen; dafür wurden sie nach hoyaischer Bauernart aufgeschirrt, um im Hofe zu bleiben, während die beiden Deserteure zu Fuß weiter wandelten. So kamen diese glücklich an die Elbe zu der Armee Tettenborn's, während die übrigen bremischen Ehrengardisten nach Frankreich beordert wurden, wo man ihnen die Pferde abnahm und bis zum ersten Pariser Frieden sie selbst als Kriegsgefangene behandelte.

In Bremen selbst hatten sich indeß immer mehr unheimliche Gerüchte über die misliche Lage der Franzosen in Sachsen verbreitet; der Belagerungszustand wurde mit scharfer Strenge aufrecht erhalten, das Zusammenstehen auf den Straßen galt schon als Ruhestörung, Reden zu halten war mit dem Tode bedroht, alle öffentlichen Locale mußten abends neun Uhr geschlossen sein, und nach dieser Zeit durfte niemand ohne Laterne auf den Straßen sich blicken lassen. Wer auf den Ruf » Qui vive!« nicht mit » Ami!« antwortete, wurde verhaftet.

Die unter dem 14. August der Stadt auferlegten Naturallieferungen zur Verproviantirung der Festungen Magdeburg und Wittenberg wurden mit Strenge beigetrieben, eine Ergänzungssteuer folgte der andern.

Wer von diesen Dingen am wenigsten fühlte, waren die Bewohner des Steinwegs außerhalb des Buntenthors; wenn sie ihre Ergänzungs- und andern Steuern richtig bezahlten, spürten sie weder vom Druck der Einquartierung noch von andern Belästigungen das Geringste; selbst als zu Anfang October 1200 Schweizer in Bremen einzogen, war Martha und ihre Nachbarschaft zu weit entfernt von der Stadt und daher von jeder Einquartierung ausgeschlossen. Sie erfuhren auch von den Weltereignissen sehr wenig, denn seit den ersten Septembertagen war der alte Junker als Frühstücksgast ausgeblieben, während Junker junior schon seit der Weserfahrt nicht in Sicht gekommen war.

Da wurden eines Morgens früh, es war am 13. October, auch die Bewohner des Steinwegs durch einen Kanonenschuß aufgeschreckt, dem eine Kleingewehrsalve und wiederholte Schüsse folgten. Alles eilte auf den Deich, von wo man sah, daß von Hastede aus auf das Osterthor in Bremen ein Angriff gemacht wurde. Man erblickte überall auf dem jenseitigen Ufer Kosackenschwärme und sah auch, wie zwei Kosacken die Tollkühnheit hatten, sich mit ihren Pferden vom unbedeichten Ufer in die Weser zu stürzen und diese zu durchschwimmen. Als dieselben auf dem Kuhwerder landeten, flohen die Zuschauer vom Deiche. Das Unglück wollte es, daß die Kosacken, die den nächsten Weg zum Deiche einschlugen und die weidenden Kühe in wilder Flucht auseinandertrieben, gerade vor Martha's Garten auf der Höhe des Deichs erschienen, abstiegen, ihre Pferde herunterführten, an den ersten Baum banden und dann in Martha's Haus drangen. Die Gehülfinnen Martha's flüchteten der Neustadt zu, diese selbst trat den in Schafspelze gehüllten bestialisch aussehenden Kosacken entgegen und versuchte sich mit ihnen verständlich zu machen. Allein sie verstand kein Wort von allem, was jene welschten. Die Pantomime, daß sie zu trinken begehrten, war aber ganz deutlich, und da Martha sehr wohl wußte, daß die Kosacken weder Wasser noch Milch verlangten, ging sie in die sogenannte Visitenstube, wo die vollgefüllte weiße Caraffe mit Madeira im Wandschranke schon seit länger als vier Wochen auf den Senior der Firma wartete. Die brachte sie dem draußen wartenden Kosacken und fühlte sich beruhigt, als sie in der Hofthür den alten Einäugigen stehen sah, der den Wolfshund am Halsbande hielt, da das Thier nicht übel Lust zu haben schien, auf die ungebetenen Gäste einzuspringen.

Der Kosack, dem sie die Caraffe gereicht, that einen mächtigen Zug, schnalzte mit der Zunge, hielt das Gefäß gegen die Octobersonne, um die Farbe zu betrachten, setzte wieder an und ab, und hatte im dritten Tempo die Flasche geleert.

Er gab sie zurück, mit der Pantomime, daß sie von neuem zu füllen sei. Martha eilte in den Keller. Während des Trinkens war der zweite Kosack, der weniger Durst, aber mehr Raublust zu haben schien, in das Visitenzimmer eingedrungen und hatte sich, da er den Wandschrank offen fand, der silbernen Löffel, eines silbernen Bechers mit dem Namen J. K. Junker und anderer leicht greifbaren Dinge im Zimmer bemächtigt. Wie er damit zur Hofthür hinaus wollte, suchte ihm der Einäugige den Ausgang zu versperren. Aber der Trinker trat hinzu und hieb mit der Karbatsche den Einäugigen über den Kopf. Wolf fing ein wüthendes Geheul an und wollte sich von seinem Herrn losreißen. Dieser aber hielt ihn fest und zog ihn mit sich in den Nachbargarten, an dem des leichtern Verkehrs wegen eine Pforte angebracht war.

Anna, die sich in die Arbeitsstube zurückgezogen hatte, kam auf das Geheul Wolf's heraus und ging, da sie weder Mutter, noch Wolf, noch den einäugigen Nachbar sah, in das Visitenzimmer. Dahin folgte ihr der erste Kosack und schien von Madeira und Liebesglühen entflammt, denn er bedeutete ihr sofort, sein schmuziges, häßliches, bebartetes Gesicht zu küssen.

Indeß hatte der zweite Kosack seinen Raub in einem Sacke am Sattel seines Pferdes geborgen, und in demselben Augenblicke kam Martha mit einer frischen Caraffe Madeira aus dem Keller. Im Umsehen hatte sie der Plünderer ihr aus der Hand gerissen und leerte sie noch rascher als der erste.

Da gellte Anna's Schrei aus der Visitenstube, die Mutter eilte der mit dem Kosacken ringenden Tochter zu Hülfe, aber der zweite Kosack folgte und befreite seinen Kameraden von der Alten, indem er sie zu Boden riß.

Thierische Gewaltthat wäre hier geschehen, wenn nicht in demselben Augenblicke der Einäugige und sein Wolf im Zimmer erschienen wären. Wolf warf sich sofort mit unbändiger Wuth auf den Kosacken, der mit seinem Liebling Anna rang; der Einäugige aber trug ein breites kurzes Schwert, das er jetzt mit beiden Händen faßte, und schlug dem auf Martha knienden Kosacken kunstgerecht mit Einem Hiebe den Kopf vom Rumpfe, daß die entsetzte Frau am ganzen Körper mit Blut überspritzt wurde.

Wolf hatte inzwischen auch den andern Kosacken erst in den Nacken, dann, als er zur Erde gefallen war, in die Kehle gebissen und kalt gemacht.

Anna wie Martha waren in Ohnmacht gesunken, der Einäugige trug beide nacheinander ins Wohnzimmer und ließ den Hund als Wache bei den Leichen.

Dann holte er Wasser, reinigte die Martha vom Blute, riß sich selbst die schwarze Binde von dem Auge und rief: »Martha! Martha! Erwache, kennst du deinen Vater nicht mehr?«


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