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Drittes Kapitel.
Georg Baumgarten.

Der Hof des Königs Hieronymus in Kassel war viel besser als sein Ruf; wie der König selbst als Herrscher es mit seinen Unterthanen besser meinte als alle die legitimen Hessenfürsten, die nach ihm auf demselben Throne gesessen haben.

Jérôme war jung, leichtsinnig, wie Südländer es sind, er liebte die Pracht, liebte es, schöne Weiber um sich zu haben, zog Vergnügungen langen Conferenzen mit den Ministern und langweiligen Staatsrathssitzungen vor. Aber er hatte persönlichen Muth, er hatte eine gewisse Ritterlichkeit. Jedenfalls wünschte er keinem seiner Unterthanen etwas Böses und fügte ihnen solches absichtlich und frivol niemals zu, wie das von seinen Nachfolgern mit Herzenslust geschehen ist. Er wünschte vielmehr das Wohlergehen seiner ihm von des Bruders und Gottes Gnaden geschenkten Unterthanen und wünschte den Druck von Paris zu Gunsten seiner und seiner Unterthanen Freiheit zu lindern.

Seine französische Umgebung, zum Theil ihm gegeben von dem Bruder, zum Theil von ihm selbst schlecht gewählt, zum Theil sich ihm aufdringend, beinahe ohne Ausnahme nach Reichthum dürstend und Jérôme's Quellen als unerschöpflich ansehend, war die eigentliche Landplage.

Und doch war man nur in dem aufblühenden Kassel zufrieden, das übrige Land sehnte sich nach den alten gewohnten, wenn auch zum Theil schlechten Zuständen zurück, oder hing vielmehr mit Liebe an der angestammten Dynastie, wie die Lohnschriftsteller von 1814 und 1815 sagten.

Nun, die Liebe zu dem Landgrafen war nicht weit her, es gab nicht eine Bauerfamilie, die nicht in Amerika einen Sohn verloren oder von dort als Krüppel zurückbekommen hätte; allein die Gewöhnung war zu mächtig bei den verdummten niedern Ständen. Jedes Neue wurde als Uebel betrachtet, die allen Deutschen anklebende Schwerfälligkeit, sich in Neues hineinzugewöhnen, zeigte sich bei den zusammengewürfelten Stämmen vom Main bis an die Elbe. Und es wurde ihnen des Neuen auch sehr reichlich geboten, sodaß die Mehrzahl auch gegen solche Dinge verbittert war, die besser waren als das hessische, hannoverische, preußischhalber städtische, harzerische, eichsfeldische, osnabrückische Alte, gegen Dinge, welche die Principien von 1789 noch in sich trugen, die demokratischen, freiheitsdürstenden.

Als aber der Kurfürst zurückgekehrt war und sieben Jahre aus der Geschichte hinweggestrichen wurden, der Zopf wieder zu seinem Rechte kam, da waren es kurfürstliche Soldschriftsteller, die eine systematische Verleumdung des westfälische Hofes betrieben.

Aus einem einmal genommenen Bouillon- oder Rothweinbade machte man tägliche Bäder, alle Libertinagen einzelner Großen wurden in der Person Jérôme's centralisirt, alle Ausschweifungen, die man sich in der aufblühenden, reichen Stadt erlaubte, wurden dem Könige schuld gegeben. Man vergaß, daß es zum größten Theile deutsche Frauen und Jungfrauen waren, die um Jérôme's Gunst buhlten, daß deutsche Männer ihre Weiber, Väter und Mütter ihre Töchter für Aemter, Würden und Orden anboten, daß deutsche Adeliche, die den entthronten Dynastien für länger als Jahrhunderte von ihnen genossene Begünstigungen Dankbarkeit schuldeten, dem fremdländischen Herrscher zu Füßen schweifwedelten. Die Hoffeste Jérôme's unterschieden sich in der äußern Form nicht von Festen anderer deutschen Höfe, und über die kleinen Cirkel und Orgien, die man für Jérôme veranstaltete oder die er selbst heimlich befahl, drangen nur sehr unbestimmte und übertriebene Gerüchte ins Publikum. Der Hof war lebelustig, und es lebte sich leicht und angenehm in Kassel. Selbst die Gräfin Melusine, jetzt bald sechzig Jahre alt, erklärte, daß sie nie so vergnügt gelebt habe. Die Königin war sehr gutmüthig, leicht zu täuschen und zu regieren; der Dienst als Palastdame war angenehm bei ihr.

Sie liebte nicht, wie der Gemahl, die rauschendern Vergnügungen, die Maskenbälle und öffentlichen Bälle, die Petit-Soupers mit den Nachttrinkereien, obgleich sie gern gut aß und trank; aber doch waren der Vergnügungen, denen sie sich nicht entziehen konnte, mannichfache.

Heloise hatte sich der Vorstellung bei Hofe nicht entziehen können, ebenso wenig den Einladungen zu den kleinen Cirkeln der Königin; den auf die Visiten folgenden Einladungen, namentlich denen bei den ungeliebten Schlottheims. Die alte Gräfin, die Frau des Majoratsherrn, hatte sie schon als Kind von dreizehn Jahren nicht leiden mögen, jetzt, wo dieselbe noch häßlicher geworden war, sich dagegen um so mehr mit modischem Schmuck umgeben hatte, war sie ihr widerwärtig. Die zweite Frau ihres Schwagers, Flora, überhäufte sie freilich mit Artigkeiten, Schmeicheleien, Freundschaftsversicherungen; aber die nach Art aller Parvenus zudringliche, leichtlebig-wienerische, nachgeahmt-pariserische Art und Weise Flora's war Heloisens Natur gerade zuwider, und sie wußte durch Zurückhaltung und Kälte dieselbe fern von sich zu halten, was sich um so mehr bewerkstelligen ließ, als Heloise alle öffentlichen Vergnügungen des Carnevals mied.

Dagegen war ihr ein Glück zutheil geworden, das sie bisher noch nicht gekannt hatte, sie hatte eine Freundin und einen Freund gefunden.

Eine Etage höher, in demselben Hause, wohnte ein Geheimrath von Kitzow mit seiner Tochter, der, unter dem Finanzminister von Bülow, dem westfälischen Forstwesen vorstand. Er hatte früher in Halberstadt seinen Wohnsitz gehabt und war im Frieden von Tilsit gleichsam mit den Wäldern abgetreten. Er stammte aus einem alten, aber verarmten märkischen Geschlechte. Herr von Bülow hatte ihn in den westfälischen Dienst herübergezogen, weil er seine strenge Rechtlichkeit, seine reichen Kenntnisse, seinen Fleiß und Ordnungssinn kannte. Herr von Kitzow wie sein Chef selbst waren im Herzen preußisch und deutsch gesinnt, sie glaubten ihre Gesinnungen aber nicht besser verwerthen zu können, als wenn sie ihre Kräfte der neuen Staatsbildung Westfalen nicht entzögen, vielmehr dahin wirkten, daß dieser Staat nicht ein bloßes Anhängsel Frankreichs würde, und daß der neue Staat trotz seiner französischen Sprache deutsch bliebe und auf deutsche Art verwaltet würde.

Herr von Kitzow hatte seine Frau früh verloren, die ihm nur eine Tochter, die jetzt achtzehnjährige Agnese, hinterlassen, ein schlankes, zartes, ätherisches Wesen mit blondem Haar und blauen Augen. Er konnte die Tochter nie von sich lassen und hatte ihr eine Gouvernante, später einen Hauslehrer gehalten, sie noch nicht in die Welt eingeführt, und wollte sie auch in die kasseler Welt nicht einführen.

Eine ältere Schwester seiner Frau, die bürgerlichen Standes gewesen, hielt ihm Haus und war bisher der einzige Umgang seiner Tochter Agnese gewesen.

Agnese faßte bei der ersten Visite eine so große Zuneigung zu Heloisen, daß sie sich sehr bald an diese mit aller Zärtlichkeit einer achtzehnjährigen einsamen weiblichen Seele anschloß. Da der Dienst der Gräfin öfter nicht nur am Tage, sondern auch häufig zur Nachtzeit ihre Anwesenheit in den Gemächern der Königin nothwendig machte, war Heloise beinahe ganz Herrin ihrer Zeit. Sie glaubte sich über die Zeit der Liebe hinweg; war ihr diese doch nie näher getreten, denn was sie in der Jugend für jenen schönen Jäger der Mutter gefühlt, war mehr ein Anstaunen männlicher Schönheit gewesen als ein geistiges Empfinden, als der Drang, nur mit diesem Manne ein vereinigtes Eheleben zu führen. Sie war in Hannover wie in Heustedt überhaupt wenig mit Männern zusammengetroffen. Wenn dies aber geschehen war, so hatte der früh ausgebildete Verstand immer kritisch gewirkt und bald diese, bald jene Unvollkommenheit entdeckt, sodaß das Gefühl nie zur Geltung gekommen war. Und Heloise war stolz darauf, kein Liebesbedürfniß je zu fühlen, denn Liebe, reflectirte sie, ist das Bewußtsein unserer Schwäche und Halbheit, die Kraft und Ergänzung bei dem sogenannten stärkern Geschlechte sucht.

Dagegen war Heloise um so geneigter, für eine liebebedürftige, schwache, weibliche Seele den Gegenstand der Liebe abzugeben; sie konnte Agnese umarmen und küssen, als wäre sie ihre Tochter, sie konnte sich von ihr alle kleinen Herzensgeheimnisse erzählen lassen, konnte trösten und ermuthigen. Und welches Mädchen von achtzehn Jahren hätte nicht ihr kleines Herzensgeheimniß! Agnese war kaum zwei Wochen lang die Freundin Heloisens, als sie ihr anvertraute, daß sie einen jungen Offizier, der mehrmals von ihrem Vater Briefe abgeholt oder gebracht habe, über alle maßen liebe, obgleich sie ihn nie gesprochen, nicht einmal seinen Namen kenne, denn sie wage nicht, den Vater nach dem Namen desselben zu fragen.

Heloise versuchte, der Freundin klar zu machen, daß das keine Liebe sei, sondern ein reines Phantasiespiel, eine pure Mädchenthorheit, oder das, wofür Heinrich Heine in spätern Tagen einen kräftigern Namen gefunden.

»Wie kannst du, kleine Närrin, einen Mann lieben, von dem du nicht weißt, ob er deiner Liebe würdig ist?«

Was helfen aber solche Reden einem verliebten Mädchen gegenüber? Sie barg das Köpfchen an Heloisens Busen, vergoß heiße Thränen und sagte: »Was kann ich denn dazu thun, daß seine Gestalt mir immer vorschwebt? Ach, ich glaube, ich habe mich lediglich deshalb in ihn verliebt, weil er dir so ähnlich sieht wie ein Bruder. Wenn ich vor meinem Fenster sitze und sticke, und die alte Tante mir aus ihrer Heimat Harzmärchen erzählt, so schrecke ich auf und sehe den Geliebten leibhaftig vor mir, wenn am Authore die Wache aufmarschirt oder ich den Klang der Jägerhörner höre. Was soll ich thun, um diese Bilder los zu werden? Ich rufe sie nicht mit Absicht hervor, sie kommen von selbst, kommen wider meinen Willen, wie Träume. Ich habe dein Ebenbild jetzt seit vierzehn Tagen nicht gesehen, und das beunruhigt mich.«

»Liebe Agnese, du sollst eben am Tage nicht träumen; am Tage wenigstens soll deine Vernunft die Herrschaft führen über dich und deine Phantasien, du mußt mehr arbeiten. Wir wollen sofort eine Arbeit beginnen. Ich habe bemerkt, daß du sehr wenig englisch verstehst, da du nicht einmal die Beschreibung der Schlacht von Salamanca in der › Times‹ lesen konntest; ich will dir Unterricht geben, du sollst täglich deine funfzig Vocabeln lernen und mir hersagen, und die Vocabeln sollen dir das Bild meines Ebenbildes, wie du sagst, aus dem Kopfe bringen. Willst du, mein Kind?«

»Alles, was du willst, geliebte Freundin.«

Es war etwa die erste Woche des April, als die Mädchen sich also unterhielten. Der Frühling war in diesem Jahre zeitig gekommen; schon wurde der Rasen unten in der Aue grün, und der Flieder am Uferrande derselben, da wo ein Staket dieselbe von der Bellevuestraße trennte, breitete seine dicken Blätterknospen auseinander, Rosenbüsche trieben Blätter und Primeln und Schneeglöckchen blühten.

Heloise wie Agnese hatten von ihren Stuben eine Aussicht über die ganze Aue. Es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß sich von der Fuldabrücke bis zu der damaligen alten Kattenburg, und von da bis zum Frankfurter Thore das linke Fuldaufer immer steiler und steiler emporhebt, bis es am Frankfurter Thore noch hoch über die in den Felsen gehauene Chaussee, in jenen Felsen, der jetzt zu Bierkellern ausgebaut ist und auf dessen Plateaux die vielgerühmten Biergärten angelegt sind, nach Südwesten zu den Höhen von Wilhelmshöhe gleichsam ausmündet. Schon da, wo jetzt das schöne Auethor ist, liegt die Aue selbst, über hundert bis hundertfunfzig Fuß niedriger als der Friedrichsplatz und die Bellevuestraße, die von der Aue nur durch ein Staket getrennt war. So lag denn die Aue wahrhaft zu Füßen Heloisens, wenn sie aus ihrem Fenster sah, sie konnte dieselbe ihrem ganzen Umfange nach übersehen, und jetzt, da die Bäume noch kahl dastanden, konnte sie deutlich erkennen, wie die Fulda sich hinter der Aue weg dem Forste zuschlängelte. Hinter der Aue trat nach Nordost in ein bis einundeinhalb Stunden Entfernung der Niederkaufunger Wald hervor, weiter nach Südost über demselben der Meißner.

Die Morgensonne schien in Heloisens Schlafzimmer und sie pflegte die dichten Damastvorhänge zurückschlagen zu lassen, um zeitig durch die Sonne selbst geweckt zu werden. Ohne Hülfe der Kammerfrau oder ihres eigenen Zöfchens machte sie eine einfache Morgentoilette und erwartete die Freundin. Diese hatte sich im Frühling matt und krank gefühlt, der Arzt gab das der Frühlingsluft schuld, allein es war die unerwiderte Liebessehnsucht und der Kampf, den ihr Verstand unter Heloisens Führung über die Herzenswallungen kämpfte, der sie körperlich so angriff. Der Arzt hatte eine Milchcur empfohlen, und die beiden Freundinnen gingen jeden Morgen zur Meierei in die Aue und hatten zu diesem Zwecke vom Obergarteninspector den Schlüssel zu einer Thür empfangen, die ihrer Wohnung gegenüber durch das Staket in die Aue führte, sodaß sie den Umweg zum Auethore vermieden.

Auf geschlängelten Wegen eilten sie das steile Ufer herunter, fütterten bei dem ersten Teiche die Schwäne mit den »pariser Laiberchen«, die auf der Frankfurter Straße delicater als in Paris selbst gebacken wurden, und von denen der Bediente ein Körbchen voll frisch Gebackener jeden Morgen vor Heloisens Zimmer stellen mußte. War diese Fütterung vorbei, so wendeten sich die Freundinnen den unbesuchtern Alleen nach rechts zu, die an den hohen Ufern der Frankfurter Chaussee herführten. Hier mußte Agnese ihre funfzig englischen Vocabeln hersagen, erhielt Unterricht in der Aussprache des  th und  w u. s. w., es wurden dann die Vocabeln der frühern Tage repetirt, und wenn man in der Meierei ankam, mundete das Frühstück vortrefflich.

»Sobald die ersten Flieder blühen«, tröstete Heloise, »und wir im Freien sitzen können, werde ich dir englische Gedichte vorlesen, und wenn der Sommer kommt, lesen wir Shakspeare, und zwar ›Romeo und Julie‹, damit du lernst, was wirklich Liebe und was würdiger Liebesschmerz ist.«

Der väterliche Freund, den Heloise fand, war der französische Ministerresident, damals noch Baron von Reinhard, der mit seiner zweiten Frau, der Schwester der ersten, unmittelbar neben der Gräfin wohnte. Reinhard war und blieb bis an sein Lebensende auch als Pair von Frankreich ein guter Deutscher, und war noch im hohen Alter, als ich ihn zuerst und zuletzt sah, bei dem Jubiläum der Georgia Augusta im Jahre 1837, ein schöner Mann, der, wenn er mit Alexander von Humboldt auf dem Altane des Dietrich'schen Hauses, meiner Wohnung gegenüber, stand, meine Aufmerksamkeit mehr fesselte als die bunten Züge der Studirenden, die den beiden Greisen Vivat zurufend und die Fahnen schwenkend vorbeizogen. Reinhard war es, der die erste Liebe Bollmann's, das gebildetste Mädchens Deutschlands, wie dieser sie nannte, die Tochter von Reimarus heirathete, während er als Resident bei den Hansestädten accreditirt war, und zur Zeit, wo Bollmann in Amerika eine Heimat suchte, hatte er seine junge Frau als Gesandtin nach Florenz geführt. Allein das neidische Schicksal raffte sie bald von seiner Seite, wie er, auf kurze Zeit, Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Paris war. Die glühende Republikanerin fühlte den 18. Brumaire kommen und starb gern. Reinhard war einer der ausgezeichnetsten Männer seiner Zeit; den Beweis liefert, daß ihn, den vom Directorium Emporgehobenen, Napoleon nicht entbehren konnte, daß ihn später Ludwig XVIII. an sich zog und Ludwig Philipp ihn als Gesandten nach Dresden und an den Bundestag schickte. Er hatte zu der Zeit, als Heloise seine Bekanntschaft machte, einen sehr großen Theil der Welt schon gesehen; Gesandtschaftssecretär in London und Neapel, Gesandter in der Schweiz; dann gleichsam ins Exil, nämlich als Generalconsul und Resident nach Jassy geschickt, war er dort eben im Begriff, sich gemüthlich einzurichten, seine aus Wien angekommenen Bücherkisten zu öffnen, als die Russen kamen und ihn nebst Familie nach Kamondschuk schleppten. Es war das ein kleines Misverständniß gewesen, was ihn die Reise zum Dnjepr machen ließ; sobald Kaiser Alexander davon erfuhr, ward Reinhard freigelassen und hatte sich auf sein Schloß Falkenlust bei Brühl zurückgezogen, von wo Napoleon ihn zum Ministerresidenten am westfälischen Hofe in Kassel berief. Das war ein delicater Auftrag, alle Welt supponirte den Zweck, und Reinhard fühlte sich im hohen Grade genirt. Er selbst hat sich Goethe gegenüber in sehr viel späterer Zeit (am 4. Juni 1829) einmal dahin ausgesprochen: »In Kassel ging ich zwischen den feindlichen Brüdern durch meinen geraden Weg, die Weiber rechts, die Intriguen links lassend.«

Reinhard war von dem Leben im Hause Reimarus-Sieveking, das schon Bollmann so entzückt hatte, ein trauliches, gastfreies, geselliges Familienlieben mit geistreicher Unterhaltung über Leben und Kunst, Wissenschaft und Poesie gewohnt, wie er später denn als Gesandter beim Bundestage in Frankfurt über Vereinsamung an Geist und Gemüth klagte, da man wol drei- oder viermal die Woche in Assembleen müsse, wo hundert oder hundertundfunfzig Gesichter sich regelmäßig versammeln, um sich eine Stunde lang anzugaffen und dann zwei oder drei Stunden dem Boston, Whist oder L'Hombre zu widmen, wo man aber keinen Vereinigungspunkt finde, um über Literaturerzeugnisse oder Kunstgegenstände Gedanken auszutauschen.

Was sollte Reinhard an dem jungen, leichten, lustigen, lustigen Hofe zu Kassel? Er that seine Schuldigkeit, er fand sich zu den Cirkeln, die nicht zu vermeiden waren, ein, er machte seine funfzig Bücklinge, erließ seine fünfzig Fragen nach Witterung oder Gesundheit, erzählte, wenn nöthig, eine Anekdote, und sowie die Rippenstöße begannen, sobald man sich zum Tanze schickte oder zum Spiele, floh er nach Hause.

Bei der Frau des russischen Gesandten, Prinzessin Repnin, allein traf man einen Kreis, gab es eine Ausnahme von der Regel des Tages in Kassel, bei ihr, der Freundin Goethe's, durch Reinhard's Vermittlung, gab es Abende, die in Goethe'scher Weise ausgefüllt wurden, vor einem kleinen Kreise, dem auch Johannes von Müller bis zu seinem baldigen Tode angehörte.

Hier hatte Heloise die Bekanntschaft des Ministerresidenten gemacht, sie hatte seiner Frau, sie hatte ihm selbst gefallen, man fühlte sich gegenseitig angezogen, und die unmittelbare Nachbarschaft der Wohnungen vermittelte auch hier einen ungenirten, freundlichen Umgang, in welchen Heloise auch ihre neue Freundin hineinzog.

In Reinhard's Hause oder bei der Prinzessin Repnin war es, wo Reinhard der Gesellschaft, namentlich den jungen Damen, praktischen Unterricht in deutscher Literaturgeschichte ertheilte. Reinhard kannte alle bedeutenden Mitlebenden persönlich, namentlich alle deutschen Dichter von einigem Rufe. Am liebsten redete er von Goethe und las aus seinen Schriften vor, weil er seine Bekanntschaft erst vor zwei Jahren in Karlsbad gemacht hatte. Die Damen mußten selbst ein Stück Farbentheorie mit hören und die Experimente, welche der Baron dazu machte, anschauen. Aber auch der andern Großen von Jena und Weimar, Wieland's, Herder's, des zu früh dahingeschiedenen Schiller wurde gedacht, und wenn die Prinzessin bat, las Reinhard auch »Don Carlos«, obwol ihm, der Napoleon ins Herz schaute und wußte, was Herrschsucht war, vieles als Phraseologie erschien, was die jungen Herzen mit Entzücken erfüllte.

Reinhards Gattin wußte vieles aus dem väterlichen Hause zu erzählen, wie aus dem der Schwester Sieveking. Dort waren Jacobi, Klopstock, die Grafen Stolberg, Voß, Claudius, von Voght, Dr. Unger, Bollmann, Perthes, Knigge und andere ein- und ausgegangen; von ihrer Kindheit waren ihr noch aus dem großväterlichen Hause Erinnerungen, wenn auch nicht persönliche, an Lessing geblieben, der von ihrem Vater höher gestellt wurde als alle die neuern Dichter. Sie stritt darüber mit ihrem Manne, der Goethe vergötterte, und behauptete, daß kein Goethe'sches Drama ihrem »Nathan« irgend gleichkomme; und Reinhard mußte zur Strafe, wenn er seine Meinung vertheidigte, »Nathan« vorlesen. Es war natürlich, wollten Heloise und Agnese nur den Gesprächen, wie sie bei Reinhards und in den Appartements der Prinzessin Repnin geführt wurden, nachfolgen, so mußten sie selbst die Schöpfungen eines Lessing, Herder lesen und verstehen lernen.

Aber nicht nur Literaturgespräche füllten die Abende der kleinen Kreise, Reinhard war noch interessanter, wenn er von seinem Leben in Neapel oder Paris erzählte. Er hatte als junger Mann mit romanhafter Schüchternheit zu derselben Zeit von 1793–95 in Neapel gelebt, in welcher die Wogen eines Lebens voll Jubel und Ausgelassenheit dort höher schlugen als jetzt im Schlosse an der Fulda und der Napoleonshöhe. Heloise konnte nicht genug von Neapel erzählen hören, sie hoffte in jeder Beschreibung von Personen und Zuständen Aufklärung über das Schicksal ihrer Schwester zu finden.

Hatte Sulpice Boisserée eins seiner Dombilder fertig, die wir heute in Stein zur Vollendung geführt anstaunen, so war Reinhard der erste, der die Abdrücke zugesendet bekam. Nach damaliger Sitte theilte Boisserée dem Freunde Reinhard die Briefe, welche er von Friedrich Schlegel und Dorothea Schlegel und andern berühmten Leuten erhielt, mit, und diese wurden dann an Theeabenden vorgelesen, und man gewann so Einsicht in Gemüthsstimmungen, Lebensanschauungen, innere und äußere Wandlungen bedeutender Menschen, die wieder Gelegenheit zu interessanten Unterhaltungen gaben.

Wenn die Mädchen die Gründe erörtern hörten, aus denen Schlegel zur katholischen Religion übergetreten war, so führte das auf ein Gebiet der ernstesten Widersprüche, denn Reinhard's Gattin war eine Feindin alles unklaren schwärmerischen Fühlens, während Reinhard selbst auch die Romantik in Schutz nahm, die er auf die Schelling'sche Philosophie zurückführte.

Kurz dieser Umgang bildete unsere Freundinnen in einem halben Jahre mehr, als ihre Selbstbildung in Jahren vermocht hatte.

Auch noch einen andern alten Bekannten fand Heloise in Kassel, das war der Staatsrath von Berlepsch. Man hatte ihn herangezogen und hofirte ihm wegen seiner Feindschaft gegen die Welfen und das nach England geflüchtete hannoverische Adelsthum; allein er war nicht mehr der Held Heloisens, und da ihre Mutter den alten Haß nicht vergaß, so waren gesellige Beziehungen zu ihm nicht angeknüpft, und man traf sich blos bei dritten Personen.

Dieses befriedigende Leben, das ein kleiner Kreis unter dem Geräusche des kasseler Carnevals führte, sollte, ehe noch der Frühling ins Land trat, auf eine tragische Weise gestört werden. Es bedarf aber eines Blickes auf die Lage Deutschlands und den Zustand des jungen Königreichs, um die Möglichkeit dieses Ereignisses erklärlich zu finden.

Schon seit 1808 ging ein revolutionärer Geist durch Deutschland, angefacht theils von den entthronten Fürsten, theils von den Patrioten, Denkern und Autodidakten.

Wissenschaftlich gipfelte sich das, was im deutschen Volke vorging, in Fichte's »Reden an die deutsche Nation« und Arndt's »Geist der Zeit«; die Praxis brachte es mit Hülfe der Freimaurerei zu dem Tugendbunde. Selbst in Oesterreich war ein neuer Geist erwacht, die Gebrüder Stadion machten den Versuch, im josephinischen Geiste unter einem Franz II. zu regieren, was mehr heißen wollte, als liberal-constitutionell mit dem Concordat zu regieren, wie heute Beust.

England war es, das unaufhörlich zu neuen Kriegen gegen Napoleon trieb, obgleich der Krieg in Spanien ihm ungeheuere Ausgaben verursachte.

Die Fürsten, welche sich gegen die Napoleonische Weltherrschaft auflehnten, hatten sämmtlich Sonderinteressen, und jeder wünschte sich die Ziele des Friedens anders. Graf Münster, wenn er überhaupt schon zu dieser Zeit an eine Abwerfung des Napoleonischen Joches glaubte und an Befreiung Deutschlands von der Fremdherrschaft, hatte für die Welfen nicht blos die Wiederherstellung des kleinen Kurfürstenthums im Sinne, sondern dachte an ein Welfenreich von der Elbe bis an den Rhein und darüber hinaus. Er war aber überall thätig, Oesterreich zu neuem Kriege zu entflammen, Preußen hineinzuziehen und das übrige Deutschland zur Erhebung zu bringen. Der verbannte Stein in Prag, der Kurfürst von. Hessen daselbst, der die Gelder für bie an England verkauften Unterthanen gerettet und Rothschild in Verwahrsam gegeben hatte, der entsetzte Herzog von Braunschweig-Oels daselbst, sie alle hielten es an der Zeit loszuschlagen. Die Blücher, Gneisenau, Scharnhorst drängten Friedrich Wilhelm III., gemeinsam mit Oesterreich vorzugehen. Schon die Abwesenheit Napoleon's aus Paris – er suchte den für seinen Bruder in Spanien errichteten Thron zu stützen – gab Muth. Oesterreich hatte ohne Reserve und Landwehr ein Heer von 400000 Mann auf die Beine gebracht, es reizte die Tiroler zum Aufstande, es versprach sogar, ein Armeecorps den Main herabzusenden, um einer Insurrection in Westfalen die Hand zu bieten. Graf Münster und Wallmoden wollten eine englische Flotte in der Weser und Elbe landen lassen, um das ganze Land bis zum Harze und zu den Quellen der Leine an einem Tage zu insurgiren. Der Geist der Insurrection wurde hauptsächlich in den Forstleuten wach erhalten. Die Fäden liefen auch nach Alt-Hessen herüber; hier war es ein von Dörnberg, verheirathet mit einer Tochter des Grafen Georg von Münster-Meinhövel, also verwandt mit Wallmoden, Stein, Münster, der dieselben in der Hand hatte. Er war kein Jüngling mehr, sondern ein Mann von einundvierzig Jahren, und wie er von dem Landgrafen zurückgesetzt war, wurde er von Jérôme hervorgezogen, nach dem er, im Blücher'schen Corps in Lübeck in französische Gefangenschaft gerathen, aus dieser befreit und in westfälische Dienste gepreßt war, da seine Güter in Hessen lagen. Jérôme hatte ihn 1808 zum Obersten und Commandeur des in Marburg errichteten Elitebataillons der Jäger-Carabiniers ernannt. In dieses Bataillon wurden nur solche junge Leute aufgenommen, welche im Forstfache eine Anstellung suchten oder deren Väter dieser Branche angehörten. Er fand hier schon den ältesten Sohn des Oberförsters Oskar Baumgarten, Georg, als Unteroffizier, und da er die Brauchbarkeit desselben gewahrte, wurde derselbe durch Dörnberg's Vermittlung zum Offizier befördert. Das Corps war mit französischen Eindringlingen nicht untermischt, die Väter dieser Söhne waren mit wenig Ausnahmen ihren angestammten Herrschern mit Leib und Seele ergeben. Dörnberg wußte sich bald die Liebe seiner Leute im hohen Grade zu erwerben und einen patriotischen Geist unter ihnen anzusagen. Das Beispiel der Spanier wurde als Muster aufgestellt, der Franzosenhaß auf alle Art gepflegt. Georg Baumgarten wurde bald Dörnberg's Vertrauter, er beförderte die Verbindungen mit Scharnhorst und Gneisenau, die durch die Hand Kitzow's gingen, ohne daß dieser selbst von dem Inhalte der Briefschaften wußte, die unter dem Dienstsiegel von Magdeburg kamen und dahin zurückgingen.

Georg Baumgarten war der Ueberbringer der Briefe, er der Unbekannte, in welchen sich Agnese verliebt hatte.

Dörnberg hatte den abenteuerlich scheinenden, aber wohl ausführbaren Plan entworfen, den König in Kassel selbst aufzuheben und auf eins der Harzschlösser zu bringen und eine allgemeine Erhebung des hessischen Volkes zu veranlassen, den man indeß in Berlin nicht billigte. Zu seinem Unglück stieß er in seinen Bestrebungen, die einen allgemeinen deutschen Charakter trugen, mit denen eines Hessenbundes zusammen, der in bürgerlichen Kreisen gebildet und, aus alten Militärs und Offizieren ergänzt, nur die Restauration des Kurfürstenthums im Auge hatte, als wenn diese ohne gänzliche Befreiung Deutschlands möglich gewesen wäre.

Ein Friedensrichter Martin in einem kleinen Dorfe bei der kleinen Stadt Homberg, und der Sousinspector Berner in Kassel standen an der Spitze der sich angestammt fühlenden Hessen, die sich unter gänzlicher Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse einbildeten, durch einen Aufstand die Franzosen vertreiben und die Herrschaft Wilhelm's IX. oder vielmehr seit dem Frieden von Luneville des Kurfürsten Wilhelm I. wiederherstellen zu können.

Die Landgrafen von Hessen hatten den Menschenhandel an England bis 1796 fortgesetzt, wo noch 14000 Mann hessischer Truppen für England in den Niederlanden fochten, und der Kurfürst hoffte, daß die Zeiten noch wiederkehren würden, wo sich damit leicht Geld verdienen lasse, denn seine Angestammten hatten sich daran gewöhnt; er hatte bis 1806 ein unverhältnißmäßig starkes Heer auf den Beinen. Statt aber den Preußen sich anzuschließen, wozu ihn Herzensneigung trieb, schloß er in Mainz schnell einen Neutralitätsvertrag und ließ dann sein Land mit Neutralitätspfählen umgeben, die ihn nach der Schlacht von Jena-Auerstädt jedoch vor der Ungnade des Imperators nicht schützten. Die Franzosen besetzten Hessen in einer Nacht von Holland und von Fulda her, der Kurfürst floh am 1. November, und die hessische Armee wurde aufgelöst. Eine Menge Offiziere und Soldaten, die nichts gelernt hatten außer dem Kriegshandwerke und die doch zu viel Gefühl des Hessenthums und Angestammtseins in sich trugen, um sich in französische Regimenter aufnehmen zu lassen, waren überall im Lande zerstreut und an dem mit Stolz getragenen Zopf und den weißgepuderten Löckchen leicht zu erkennen.

An Invaliden, seit der Zeit des amerikanischen Krieges bis zum Baseler Frieden, fehlte es nicht. Alte unbrauchbare abgesetzte kurfürstliche Beamte und Bedienstete waren überall vorhanden, und den Bauern misfiel die Conscription und alles Neue. Diese Elemente, angestachelt von den Gerüchten von österreichischen Rüstungen, von den Uebertreibungen über den großen in Preußen gegründeten Tugendbund, der dem Gerüchte nach schon viel mehr Mitglieder, als Preußen zur Zeit Einwohner hatte, zählen sollte, von Gerüchten englischer Landungen und von der Bereitwilligkeit der Marschbewohner an Elbe und Weser, loszuschlagen, hatten sich im Winter 1808 näher verbunden und fanden im Stifte von Homberg, das nur von drei Stiftsdamen, die für eine Erhebung gegen das Franzosenthum über alle maßen schwärmten, besetzt war, einen Vereinigungsort.

Martin, ein phantastischer Kopf, fieberhaft nervös, ein wahrhaftiger Kirchthurmspolitiker, überschätzte sich, seine Partei und die Hülfe, die etwa der Kurfürst in Prag gewähren würde. Bei diesem hatte schon Dörnberg durch einen seiner Brüder, Fritz, anklopfen lassen, die Truhe aber verschlossen gefunden. So groß die Sehnsucht des Kurfürsten nach seinem Kassel, nach der Karlsaue und dem Weißen Stein war, so wenig gern trennte er sich doch von seinem Mammon und mochte eines ungewissen Erfolges wegen kein Opfer bringen. Er nahm es zwar dankbar an, daß Dörnberg und seine Verbündeten Leben und Eigenthum für ihn in die Schanze schlagen wollten, aber Geld? – Doch fand er sich endlich bewogen, eine Anweisung auf Rothschild über 30000 Thaler zu geben – aber erst zahlbar, »wenn die Plane gelungen sind«. Rothschild war ein vorsichtiger Mann, auf diese Anweisung zahlte er nicht 1000 Thaler im voraus.

Dörnberg wartete auf die Kriegserklärung Oesterreichs, ihm war die Zusage gemacht, daß man das Corps des Erzherzogs Ferdinand durch Sachsen und Franken an den Niederrhein senden wolle, daß England in Holland und an den Mündungen der Elbe 40000 Mann landen lassen werde, Schill und Katt wollten das schwach besetzte Magdeburg nehmen. Indeß drang Napoleon darauf, daß sein Bruder eine Division Westfalen nach Spanien sende, und auch Dörnberg's Elitecorps war dazu bestimmt. Viele Soldaten, welche den Marsch nach jenseit der Pyrenäen fürchteten und dort ihr Grab zu finden glaubten, desertirten, und es herrschte eine ziemlich große Unzufriedenheit mindestens unter den Gemeinen aller Regimenter. Das veranlaßte Martin, den Ausbruch des Aufstandes trotz aller Abmahnungen Dörnberg's schon auf den 15. Februar festzusetzen, weil er hoffte, die ganze nach Spanien bestimmte Division würde sich dem Aufstande anschließen. Der Ausbruch am 15. Februar wurde indeß noch in der Nacht abbestellt, die Truppen fingen an zu marschiren, man mußte das Unternehmen für jetzt aufgeben.

Dörnberg war mit seinem Corps erst bis Mainz gekommen, als er zurückgerufen und zum Commandeur des Garde-Jägerbataillons in Kassel ernannt wurde. Er wußte nun bei dem Könige die Nachtheile geltend zu machen, welche dem Lande durch Entziehung aller jungen Forstleute entstehen würden, und bewirkte die Zurückberufung des Jäger-Carabinierbataillons nach Kassel, wo es in die erste Division, die im Lande blieb, eingereiht wurde. Da verkündete endlich der Armeebefehl des Erzherzogs Karl vom 6. April: »Die Freiheit Europas hat sich unter unsere Fahnen geflüchtet, unsere Siege werden ihre Fesseln lösen«, und am 10. April war schon ein Abdruck in Dörnberg's Händen und circulirte bald durch Vermittlung Georg Baumgarten's in Hunderten von Abschriften unter den Vertrauten in den verschiedenen Bataillonen.

Aus Preußen kam die Nachricht, nach dem ersten Siege der Oesterreicher werde die Armee sich erheben und den König auch gegen seinen Willen mit sich reißen.

Martin wollte aus Böhmen die Nachricht haben, daß der Kurfürst an der Spitze eines Heeres, begleitet vom Herzoge von Braunschweig-Oels, heranziehe.

Schill und Katt waren, wie aus Magdeburg ankommende Briefe meldeten, zum Losschlagen jeden Augenblick bereit.

Daß Jérôme Befehl erhielt, sein Hülfscorps statt nach Spanien nach Sachsen zu schicken, beförderte die Plane der Verschworenen, deren Anzahl seit Ausbruch des Kriegs sich in den verschiedenen Truppencorps verstärkt hatte. Man glaubte, außer auf die Jäger-Carabiniers auch auf das Garde-Jägercorps und die Kürassiere unter Oberst von Marschalk, die in Melsungen, Rotenburg, Homberg in Quartier lagen, sicher rechnen zu können, und Martin hatte eine Landsturmcolonne von mindestens 20000 Bauern, von alten Offizieren und Förstern angeführt, in Aussicht gestellt. Es wurde der 24. April zum Losschlagen bestimmt, die Verbreitung, welche die Sache durch Martin namentlich an der Schwalm gefunden hatte, wo alle Gemeinden in den Erhebungsplan eingeweiht waren, ließ kaum eine längere Verschiebung zu. Nachdem Dörnberg vergeblich einen weitern Aufschub beantragt hatte, wurde der 22. April zur Ausführung bestimmt. Aber die Hast des Treibers Martin hatte schon am 21. abends und in der Nacht die Gegend von Ziegenhain, Treysa, Wolfhagen, Zierenberg durch Sturmglocken in Alarm gesetzt; an der Schwalm waren schon früh morgens Bauernhaufen im Marsche auf Homberg, tobende freilich, aber undisciplinirte, im Herzen muthlose. Die beiden Schwadronen des ersten Kürassierregiments, die am 22. auf dem Marktplatze zu Homfeld aufgeritten waren, schienen so unschlüssig, daß der commandirende Rittmeister von Weißen den Leuten, die sich an das Volksheer nicht anschließen wollten, wenigstens das Versprechen abnahm, in den nächsten Tagen nichts Feindliches gegen dasselbe zu unternehmen. Die Mehrzahl versprach das und ritt davon.


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