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Sechstes Kapitel.
Das Drama in den Marschen

Es war inzwischen Oktober geworden und die letzte Hitzwelle war vorübergegangen. Martin Fogg hatte sich von seiner Tochter überreden lassen und sich endlich in einen Anzug geworfen, der besser den Anforderungen der Mode entsprach. Er saß in einer Ecke des Grill-rooms in einem großen kosmopolitischen Restaurant und sah in seinem sauberen grauen Anzug, mit einer schwarz-weiß karierten Halsbinde, die Catherine gewählt hatte und deren unpersönliche Note er geradezu haßte, durchaus unauffällig aus.

»Verrate mir mal,« bat Catherine, nachdem der Kaffee aufgetragen war, »weshalb du hier fünf aufeinanderfolgende Tage lunchen wolltest?«

»Weil das Essen hier gut ist«, antwortete ihr Vater.

»Es könnte besser sein«, bemerkte sie mit leichtem Achselzucken. »Weshalb hast du gerade dieses Restaurant ausgesucht und dem Kellner ein so reiches Trinkgeld gegeben, damit er dir diesen Platz reserviert?«

Martin Fogg hustete. Er beobachtete – und lauschte gleichzeitig dem Gespräch von zwei Männern sehr verschiedenen Aussehens, die einige Meter von ihm entfernt saßen. Der eine hatte ein hartes, eckiges Gesicht, schwarz leuchtende Augen und einen Mund, der an die grausame Eigenschaft einer eisernen Falle erinnerte. Der andere, der in seiner Art scharfsinnig sein mochte, grauhaarig, grauäugig, mit pergamentartiger Haut, war mit beruflicher Sorgfalt gekleidet.

»Ich habe natürlich meine Gründe, Catherine, weshalb ich hierherkomme,« gab Martin Fogg zu, »Gründe, die mit der Affäre Gilbert Channays zusammenhängen.«

»Sehr interessant, aber recht unklar!« bemerkte die junge Dame, während sie sich eine Zigarette anzündete. »Ich weiß, welche zwei Männer du meinst. Wer sind sie?«

Martin Fogg blickte einige Minuten verstohlen forschend nach ihnen hin. Dann lehnte er sich etwas vor und sprach mit gedämpfter Stimme zu seiner Tochter.

»Einer davon, dieser kräftig gebaute Mann, ist der gefährlichste Verbrecher, der jemals dem Scharfrichter entgangen ist. Er steht in wohl einem halben Dutzend Ländern auf der schwarzen Liste, hatte es jedoch immer verstanden, seine Überführung dadurch zu vereiteln, daß er stets ein Stück der Beweisführung auf irgendeine Weise unterschlagen konnte. Jedermann weiß zum Beispiel, daß er den Senator Haslam ermordet und jahrelang im größten Reichtum vom Ertrag dieses Verbrechens gelebt hat. Beweisen konnte es aber niemand!«

»Wie heißt er?« fragte Catherine.

»Unter seinem jetzigen Namen ist er hierzulande immer bekannt gewesen – Malcolm Drood«, erwiderte ihr Vater. »Er war einer von Channays Syndikatsmitgliedern. Keiner wußte was Rechtes über ihn, und doch spielte er in jenen Tagen eine Rolle in der City. Er ist einer der Männer, die sich einbilden, um sechshunderttausend Mark betrogen worden zu sein.«

»Ist er einer von denen, die das Dokument unterzeichnet haben, das Mr. Channay ins Gefängnis brachte, um ihn seines Goldes desto ungestörter berauben zu können?« fragte das Mädchen.

»Man nimmt sogar an, daß es seine und Lord Ishams Idee war.«

»Und der Mann bei ihm?«

»Ist ein anderer, der mit knapper Not den Klauen des Gesetzes entgeht. Man kennt ihn unter dem Namen ›Gauner-Anwalt‹, dreimal hat er schon vor der Anwaltskammer gestanden. Jedesmal brachte er die Leute dahin, daß sie von der Streichung seines Namens aus der Anwaltsliste Abstand nahmen. Er heißt Morrow – William Morrow.«

»Was die beiden jetzt wohl wieder vorhaben?« fragte das Mädchen nachdenklich.

» Noch weiß ich es nicht,« gab Martin Fogg zu, »hoffe es aber diesen Nachmittag zu erfahren. Ich möchte den Charakter des Dokumentes, das fortwährend von einem zum anderen geht, kennenlernen.«

»Das kann ich dir sagen«, erklärte Catherine. »Als der Anwalt das Dokument zusammenfaltete, sah ich auf der Außenseite in großen Buchstaben geschrieben: ›Letzter Wille und Testament des –‹«

»Konntest du den Namen erkennen?« fragte der Vater neugierig.

»Da stand kein Name,« erwiderte sie, »keinen wenigstens, den ich hätte entdecken können …«

»Letzter Wille und Testament!« Der Gedanke an dies Dokument fesselte Martin Fogg. Weder im Restaurant noch auf der Straße ließ er ihn mehr los, als er seine Tochter bis zur Ecke der Shaftesbury Avenue begleitete, wo sie in einen Omnibus stieg. Er selbst begab sich zu Fuß nach der City, wodurch er Zeit gewann, über Verschiedenes nachzudenken. Endlich faßte er einen Entschluß und schlug den Weg nach dem in einer stillen Straße in der Nähe Holborns gelegenen Bureau der Firma Morrow & Sinclair ein, wo er um eine Unterredung mit Mr. William Morrow nachsuchte. Etliche Minuten später wurde er von ihm empfangen.

»Mr. Martin Fogg«, fragte der Anwalt, während er die Besuchskarte las. »Womit kann ich Ihnen dienen? Wenn es sich um ein.« Abtretungsangelegenheit handelt, so müssen Sie sich an meinen Teilhaber wenden, der dieser Abteilung vorsteht.

»Mein Anliegen betrifft Ihre Abteilung, Mr. Morrow«, antwortete Martin Fogg, indem er den Stuhl nahm, auf den der Anwalt mit lässiger Handbewegung gedeutet hatte. »Erstens wünsche ich mein Testament zu machen.«

»Das gehört in Mr. Sinclairs Abteilung«, antwortete der Anwalt. »Ich werde einen Jungen mit Ihnen nach seinem im oberen Stockwerk gelegenen Zimmer schicken.«

Martin Fogg deutete nach einem länglichen Dokument, das auf einem Haufen anderer Papiere lag.

»Wohl irgendein ›Letzter Wille und Testament‹«, bemerkte er. »Sie erledigen solche Sachen zuweilen selbst?«

»Dies hier ist ein Ausnahmefall«, erwiderte der Anwalt hastig. »Man hat mir das Dokument heruntergeschickt, um meinen Rat wegen einer besonderen Klausel einzuholen.«

»Ich habe noch nie ein solches Dokument zu Gesicht bekommen«, vertraute Fogg ihm an. »Darf ich mir einmal den Wortlaut von einem solchen Schriftstück ansehen?«

Fogg hatte bei diesen Worten auch schon die Hand nach dem Papier ausgestreckt. Der Anwalt war ihm aber zuvorgekommen, indem er es schnell ausnahm und in die Seitenschublade seines Schreibtisches verschwinden ließ.

»Dieses Dokument ist bereits durch Unterschrift rechtskräftig geworden«, sagte er würdevoll abweisend. »Wir würden uns also unserem Klienten gegenüber einer Vertrauensverletzung schuldig machen, wenn wir Sie Einblick nehmen ließen. Wenn es sich also um eine Testamentssache handelt, so werden Sie sich bester gleich zu Mr. Sinclair begeben. Ich habe jetzt eine Verabredung mit einem anderen Klienten.«

Er wollte gerade auf den Klingelknopf drücken, als ihn Martin Fogg mit einer bedeutungsvollen Geste davon abhielt.

»Bitte noch einen Augenblick«, sagte er. »Ich habe noch ein anderes Anliegen.«

»Also, bitte, welches«, sagte der Rechtsanwalt, indem er ungeduldig auf die Uhr sah. Foggs Erscheinung ließ wirklich nicht viel von ihm als einem künftigen Klienten erhoffen.

»Ich befinde mich in einer großen Notlage«, begann er leise.

Der Rechtsanwalt lauschte etwas aufmerksamer, denn meistens war aus Leuten, die sich in Not befanden, Geld herauszuholen.

»Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, bat er. »Wenn ich Ihnen helfen kann, stehe ich gern zu Ihrer Verfügung.«

Fogg zog nun seinen Stuhl etwas näher heran. Kaum hatte er zu sprechen angefangen, klopfte es an der Tür und ein Junge trat mit einer Besuchskarte ein.

»Lord Isham,« meldete er, »wird von Ihnen erwartet?«

Der Rechtsanwalt nickte. »Sagen Sie ihm, daß er sich noch drei Minuten gedulden möchte.«

Martin Fogg lehnte sich vor und packte den Anwalt beim Arm, als der Junge die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Mr. Morrow,« sagte er, »ich kann Ihnen meine Geschichte nicht in drei Minuten erzählen. Zehn werden mindestens draufgehen. Gehen Sie schnell und sprechen Sie mit dem Herrn. Sagen Sie ihm, daß Sie eine außerordentlich wichtige Angelegenheit zu bereden hätten, die keinen Aufschub verträgt, und wenn Sie wieder zurückkommen, werde ich Ihnen ein Geständnis machen.«

Der Rechtsanwalt zögerte etwas. Sein Klient befand sich offenbar in furchtbaren Gewissensnöten. Er wischte sich wiederholt die Stirne und blinzelte nervös. Seine Hände zitterten. Mr. Morrow stand auf.

»Gut, ich werde auf Ihren Vorschlag eingehen, aber unter der einen Bedingung, daß Sie sich dann ganz kurz fassen, wenn ich wieder zurückkomme. Ich kann Sie schließlich später immer noch mal sehen, wenn es die Notwendigkeit sein sollte. Dieser Klient ist nämlich außerordentlich wichtig für mich …«

Er verließ das Zimmer, ohne jedoch die Tür ganz zu schließen. Martin Fogg beugte sich über den Schreibtisch, öffnete die Schublade und entnahm ihr mit einem Griff das Dokument, sah zuerst auf die Unterschrift und las danach den Wortlaut. In weniger als zwanzig Sekunden hatte er die Urkunde sorgfältig wieder zurückgelegt und die Schublade geschlossen. Als der Rechtsanwalt zurückkehrte, saß er genau noch so da wie vorher, nur mit dem Unterschied, daß er jetzt das Gesicht in seine Hände vergraben hatte.

»Mein Klient versprach mir, sich noch zehn Minuten zu gedulden. Nun erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

Martin Fogg tischte ihm mit großer Anstrengung eine Geschichte auf, die teils eigenen Erfahrungen entlehnt, teils mit kitschigen Sensationsstückchen ausgeschmückt, ein wunderbares Gemisch von Wahrheit und Dichtung darstellte. Je länger Morrow diesen Verbrechergeständnissen lauschte, deren widerliche Düsterkeit sein Besuch so gut zu schildern wußte, desto mehr wuchs sein Erstaunen. Die Stimme seines Klienten zitterte, seine starke Gemütsbewegung mußte überzeugen. Als aber Fogg seinen Bericht beendet hatte, blickte ihn der Rechtsanwalt kalt an.

»Erwarten Sie vielleicht, daß ich all das, was Sie mir erzählt haben, auch glaube?«

»Es ist die reine Wahrheit«, stöhnte Fogg. »Ich breche unter der Last zusammen …«

Der Rechtsanwalt drückte auf den Klingelknopf.

»Der Zweck Ihres Besuches ist mir unverständlich«, bemerkte er trocken. »Das einzige, was ich daraus entnehmen kann, ist, daß Sie ein Geständnis zu machen haben. Wenn dem so ist, dann kommen Sie zurück, wenn Sie sich in einer ruhigeren Verfassung befinden … dann will ich Sie anhören … Bringen Sie den Herrn nach dem Fahrstuhl«, sagte er dem eintretenden Bureaujungen.

Martin Fogg nahm seinen Hut und grüßte kurz, wobei er geflissentlich vermied, den Rechtsanwalt anzusehen. Desgleichen vermied er den Blick des Jungen. Auf keinen Fall aber wollte er von Lord Isham gesehen werden. Er begab sich zu Fuß nach der Fleet Street und betrat das Wartezimmer einer großen Zeitung, wo Catherine auf ihn wartete, um mit ihm ein Teehaus zu besuchen.

»Eigentlich wollte ich morgen nach Blickley zurückkehren«, sagte er zu ihr, nachdem sie Platz genommen hatten.

»Weshalb?« fragte sie erstaunt. »Das Wetter hat sich geändert, und ich hatte gedacht, daß Blickley dir dann am wenigsten zusagt.«

»Ich muß Mr. Channay sehen, ich habe hier eine kleine Angelegenheit für ihn erledigt … Du willst also nicht mitkommen?«

Catherine wandte ihr Gesicht einem Fenster zu, von dem sie auf die vorübergehende Menschenmenge sehen konnte. Niemand hätte in diesem Augenblick ihre Gedanken ergründen können.

»Ich glaube nicht. Ich werde mal eine Zeitlang hierbleiben. Ich fühle mich in meinen Zimmern ganz wohl und habe auch vollauf zu tun.«

»Ich weiß nicht recht,« bemerkte ihr Vater fast zu sich selbst, »ob es nicht so besser ist …«

So gingen sie nach dem Tee an den Strand, wo Martin Fogg vor einem führenden Büchsenmachergeschäft stehenblieb.

»Ich will eine Flinte kaufen.«

»Eine was?« fragte Catherine erstaunt.

»Eine Flinte«, wiederholte er düster.

»Zum Entenschießen in den Marschen?« fragte sie interessiert. »Das müßte spaßig werden. Mr. Channay sagte, man könne bis nach Saltlash schießen.«

»So eine Flinte meinte ich nicht«, erwiderte ihr Vater gleichgültig. »Ich meinte eine von diesen – wie nennt man sie doch? – Hier nennt man sie Pistolen, in den Vereinigten Staaten Flinten.«

»Wozu willst du denn die überhaupt haben? Du selbst kennst doch deine Abneigung gegen Feuerwaffen. Du würdest sie doch nie gebrauchen.«

»Nein, sicher nicht«, gab er zu. »Ich muß aber so ein Ding auf alle Fälle haben.«

»Ich komme mit dir in den Laden«, sagte Catherine. »Dein Einkauf macht mir einen Heidenspaß.«

Der junge Mann, der sie bediente, schien der gleichen Meinung zu sein. Dennoch verkaufte er seinem Kunden eine Pistole letzter Konstruktion, deren Mechanismus er Catherine erklärte. Ihr Vater deutete nach den Glasschränken an der Wand.

»Ich möchte eine von diesen haben,« sagte er, »eine mit größerer Schußweite.«

Der junge Mann schnappte einen Augenblick nach Luft. »Wollen Sie eine Schrotflinte oder ein Sportgewehr?« fragte er.

»Zum Entenschießen mußt du nämlich eine Schrotflinte haben«, belehrte ihn Catherine.

Mr. Martin Fogg ließ sich die Sache durch den Kopf gehen.

»Nehmen wir an, daß ich auf eine Entfernung von einhundert Meter jemand ganz zufälligerweise mit einer Schrotflinte treffen würde, würde es ihn verletzen?«

»Nicht besonders.«

»Und mit einer Sportsflinte?«

»Selbst bei einer größeren Entfernung als hundert Meter könnte der Schuß tödlich sein.«

»Dann entscheide ich mich für eine Sportflinte.«

Der junge Mann starrte ihn an.

»Darf ich vielleicht fragen, wozu Sie es brauchen?« sagte er. »Wir dürfen nämlich Feuerwaffen nicht an Kunden verkaufen, die wir nicht kennen.«

»Mein Vater ist übertrieben nervös«, erklärte ihm Catherine. »Wir leben nämlich in einem sehr einsamen Landstrich von Norfolk, und mein Vater will sich durch den bloßen Besitz von Feuerwaffen in Respekt setzen. Das ist alles.«

»Entschuldigen Sie, mein Fräulein,« wagte der Verkäufer einzuwerfen, »das ist ganz gleich. Eine Flinte ist nun mal für jeden, der mit Feuerwaffen nicht umzugehen versteht, eine gefährliche Sache. Warum nehmen Sie nicht lieber einen Doppelstutzen,« fuhr er fort, indem er sich zum Glasschrank wendete. »Dies ist ein gutes achtundzwanzigkalibriges Gewehr, das für Ihren Zweck durchaus genügen dürfte. Ich möchte dem Herrn schon lieber diese verkaufen als eine Flinte.«

Mr. Martin Fogg ging etwas zögernd auf diesen Vorschlag ein. Der Einkauf hatte ihn ein nettes Sümmchen gekostet. Sie bestiegen nun einen Taxameter. Catherine konnte ihre Neugierde nicht länger bemeistern und platzte auch gleich mit einer Frage heraus.

»Vielleicht erzählst du mir jetzt, was du mit deinem Einkauf bezweckst?«

»Es ist weiter nichts als ein Einfall«, erwiderte er ausweichend. »Liebe Catherine, ich bin vielleicht töricht. Du meinst immer, daß ich zuviel Sensationsromane und Amateur-Detektivgeschichten lese. Über Blickley hängt aber wieder eine dunkle Wolke. Da ist dieser Drood – ich denke wirklich nicht gern daran, aber dieser Kerl hat sicherlich schon manchen um die Ecke gebracht. Und dann gibt es außer ihm noch andere, die fast ebenso schlecht sind wie er.«

»Aber welchen Vorteil bringt es ihnen denn, wenn sie Mr. Channay töten?« fragte sie.

Martin Fogg beugte sich aus dem Wagenfenster und warf sehnsüchtige Blicke nach einem Schaufenster voller lustiger farbiger Halsbinden. Dann erinnerte er sich aber, daß seine Tochter bei ihm war und lehnte sich mit einem entsagenden Seufzer zurück.

»Ganz abgesehen davon, daß dieser Drood ein ganz gewissenloser Kerl ist, er ist auch gerissen und voller Ränke. Er ist ganz der Halunke, der Channay auf die Seite bringen und sich außerdem des Geldes bemächtigen könnte …«

»Wirst du mit dem Ford fahren?« fragte Catherine, deren Gedanken abgelenkt waren.

»Ja.«

»Ich werde mitkommen«, erklärte sie kurzerhand.

Martin Fogg sah zweifelnd drein.

»Wenn du, sagen wir, Mitte der nächsten Woche kommen würdest –«

»Wir brechen um neun Uhr auf und nehmen Sandwiches mit«, unterbrach sie ihn.

»Gut, mein Kind«, stimmte ihr Vater ergeben zu.

*

Eines Abends, kurz nach Einbruch der Dämmerung, klopfte Parsons an die Türe des Arbeitszimmers.

»Am Deichtor hält ein Wagen, Sir«, meldete er. »Meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher, doch es scheinen zwei Leute heranzukommen.«

Channay nickte und schlenderte hinaus. Im Halbdunkel erkannte er zwei Gestalten, einen Mann und ein Mädchen; beide kämpften schwerbeladen gegen den Sturm. Channay ging langsam auf die kleine Gruppe zu. Er empfand Freude bei ihrem Kommen. Es wäre aber lächerlich zu glauben, daß diese nur von Martin Fogg ausgelöst wurde.

»Was in aller Welt schleppt ihr denn da heran?« fragte er, sie begrüßend.

»Ein ganzes Arsenal«, gab Catherine atemlos zur Antwort. »Vater entwickelt nämlich ganz plötzlich großen Blutdurst.«

»Du lieber Gott«, rief Gilbert Channay aus, als er ihr das Gewehrfutteral abnahm. »Auch Patronen!«

»Ich dachte nämlich ein paar Enten zu schießen«, erklärte ihm Martin Fogg entschuldigend.

Channay führte die beiden in sein Arbeitszimmer und klingelte nach Tee.

»Legen Sie Ihren Hut ab, Miß Fogg, und setzen Sie sich gemütlich ans Feuer«, sagte Channay.

Sie folgte seiner Aufforderung und erlaubte ihm auch den Mantel anzunehmen. Sie sah im Stadtkleid schmäler und zarter aus. Auch war ihr Wesen etwas verändert; ihre Heftigkeit hatte sich gemildert. Sie schien sich mühelos in der Welt, in der sie wirklich zu Hause war, zurecht gefunden zu haben.

»Wie lange werden Sie noch hierbleiben, Mr. Channay?« fragte Martin Fogg, nachdem das Teegeschirr abgeräumt worden war.

Channay zuckte die Achseln: »Ich fange gerade an, es ein bißchen öde zu finden. Ich werde wohl noch bis nach Weihnachten warten … Die Zigaretten stehen neben Ihnen, Miß Fogg«, fuhr er fort. »Ich hoffe, daß Sie jetzt zum Diner bleiben … wie Fogg?«

»Mit Vergnügen.«

»Wir dürfen aber den Wagen nicht mitten auf dem Wege stehen lasten«, erinnerte Catherine ihren Vater.

»Ich werde ihn nach dem Gasthaus fahren und dann wieder zurückkommen«, schlug er vor. »Es kann sein, daß Briefe für mich da sind. Möchten Sie mich wohl bis zum Wagen begleiten, Mr. Channay?«

»Recht gern, ich kam nämlich heute kaum in die frische Luft …«

Nach kurzer Zeit verließen die beiden Männer das Haus. Die Nacht war leidlich ruhig, aber dunkel. Channay ließ eine Taschenlampe aufflammen. Fogg deckte aber schnell seine Hand darüber.

»Weg mit. Ich kann so sehr gut sehen.«

»Sie wollen mir etwas berichten?«

»Drood ist hier. Er sitzt mächtig im Dreck. Man erzählt sich in der City, daß er Geld aufzunehmen versucht. Ein Vertreter des New Yorker Polizeipräsidiums ist hier, um ihn zu beobachten. Scotland Yard scheint eine neue Spur ausgenommen zu haben. Unter uns, Mr. Channay, jetzt wird er wie ein Verzweifelter kämpfen.«

»Lassen Sie ihn nur herankommen«, erwiderte dieser zuversichtlich. »Ich werde ihn schon empfangen.«

Martin Fogg schüttelte bedenklich seinen Kopf. »Sie dürfen die gegenwärtige Lage nicht unterschätzen. Glauben Sie nicht, daß Drood es so wie die anderen anstellen wird: ein bißchen flennen, ein bißchen drohen und wenn das nicht anschlägt, irgendein Trick. Wenn der kommt, krempelt er gleich die Ärmel hoch. Er hat wieder die kleine Verbrecherbande – dieses Bermondsey-Gelichter – hinter sich. Angeblich gehen sie nie aus London heraus, – aber weiß man's denn? Zwei von ihnen sind jeder Gemeinheit fähig.«

»Aber mein lieber Freund,« wendete Channay ein, »sagen Sie doch selbst, was hätte Drood schon davon, wenn er mich umbrächte. So etwas macht er nicht. Der unternimmt nichts zwecklos. Er mag mich hasten, aber er wird nicht die Gefahren auf sich nehmen, die ein Mord mit sich bringt, wenn er sich nicht einen ganz sicheren Vorteil verspricht.«

»Stimmt schon«, gab sein Begleiter zu. »Jetzt hören Sie mal zu. Haben Sie vielleicht kürzlich Ihr Testament gemacht?«

»Mein Testament? Wie käme ich dazu? Ich habe nicht einen einzigen Verwandten in der Welt, aus dem ich mir nur einen Sechser machte!«

»So. Na, dann werden Sie mit Verwunderung hören, daß sich bei einem Londoner Rechtsanwalt ein von Ihnen unterzeichnetes Testament befindet, nach welchem Ihr ganzer Besitz auf die Mitglieder des Syndikates übergeht.«

Channay blieb wie angewurzelt stehen:

»Fogg, reden Sie doch keinen Unsinn!«

»Es hört sich so an«, gab dieser zu. »Was ich aber gesehen habe, habe ich gesehen.«

Sie hatten den Wagen, dessen Lichter noch brannten, fast erreicht, als plötzlich Fogg den anderen fest am Arm packte.

»Scht!« flüsterte er.

Beide lauschten. Die Nacht war fast windstill, nur eine leichte Brise kam von Westen, wo sich die Marsch in eine mit Flußläufen durchsetzte Wildnis verlor. Ein Seevogel strich mit einem klagenden Laut durch das unheimliche Dunkel. In der Ferne vernahm man den Wellenschlag der See. Irgendwo klatschte es in einem Tümpel, es konnte eine verspätete Ente oder ein durch die Ebbe zurückgelassener Fisch sein.

»Ich glaube Stimmen zu hören, oder bilde ich mir das nur ein?« fragte Fogg.

»Warum nicht? Hier gibt es genug Leute, die auf Entenjagd ausgehen. Jetzt lassen Sie aber weiter hören, Fogg. Ich brenne drauf mehr von Ihrer unglaublichen Geschichte zu hören.«

»Ich bin nämlich Drood wie ein Schatten gefolgt, bin daher über seine verzweifelte Lage gut unterrichtet. Ich habe ihn in einem Restaurant ganz in meiner Nähe dreimal während der Lunchzeit beobachten können. Er befand sich jedesmal in der Gesellschaft eines Rechtsanwaltes namens Morrow, einem der verworfensten Subjekte, der es immer wieder zu drehen weiß, daß er nicht aus der Anwaltsliste gestrichen wird. Als ich die beiden das letztemal sah, befingerten sie ein Dokument. Ich konnte nur die Außenseite davon sehen – ›Letzter Wille und Testament des –‹ irgend jemand. Das ließ mir natürlich keine Ruhe. Ich ging also zu Morrow, um ihn auszufragen und tat, als ob ich ein Gauner wäre, der in der Patsche sitzt und Rat braucht. Viel hatte ich damit nicht erreicht, als er mich aber auf ein paar Augenblicke allein ließ, stibitzte ich das Dokument und las wenigstens soviel, als ich lesen wollte. Es war tatsächlich ein Testament mit Ihrer Unterschrift – nicht schlecht nachgemacht –, mit der Bestimmung, daß das hinterlassene Geld dem Syndikat zurückerstattet würde – als eine Art Ehrenschuld?«

Channay pfiff leise vor sich hin.

»In diesem Falle würde es also doch lohnen, mich umzubringen.«

»Allerdings«, pflichtete ihm Martin Fogg eifrig bei.

Sie hatten nun das Tor erreicht. Fogg kletterte in den Wagen:

»In einer Stunde bin ich zurück. Jetzt habe ich Ihnen aber was zum Nachdenken gegeben, wie?«

»Nicht zu knapp«, war die ernste Antwort.

Channay kehrte um. Es war Ebbe. Die Bucht zu seiner Linken war leer. Er hielt auf halbem Wege an, nahm seine Taschenbatterie, drückte auf den elektrischen Knopf und befestigte sie an seinem Stockende. Dann kroch er die Böschung hinunter, die er ein paar Schritte entlang ging, während er das Licht über seinen Kopf hielt. Unweit des Tores hörte er ein Geschoß über sich hinpfeifen, dem ein Flintenknall folgt. Die Lampe war zertrümmert. Er lauschte hinter der Böschung verborgen und konnte deutlich Stimmen und herannahende Schritte vernehmen. Nun wagte er einen Sprung in die trockene Bucht, die er bis zum Landungssteg entlangeilte und erreichte von dort aus eine Hintertür seines Landhauses. Er schaute seine Flinte sehnsüchtig an. Dann besann er sich jedoch eines Besseren, indem er einer plötzlichen Eingebung folgte und sich ins Arbeitszimmer begab, wo Catherine – die neue Catherine – auf dem Sofa lag und eine Zigarette rauchte. Sie sah ihn bei seinem Eintreten besorgt an.

»Fiel nicht eben ein Flintenschuß?« fragte sie.

»Es ist jemand auf der Entenjagd: gehen wir morgen abend, wenn Sie Lust haben.«

Sie deutete auf die zerbrochene Taschenlampe in seiner Hand: »Wie haben Sie denn das angestellt?«

Channay zögerte mit der Antwort, dann faselte er irgendeine Erklärung. Sie ließ ihn aber nicht weit kommen, bedeutete ihm mit einer kurzen Handbewegung abzubrechen und sich einen Stuhl zu nehmen: »Setzen Sie sich zu mir. Ihr Versuch, mich von Ihrem Vertrauen auszuschließen, ist einfach lächerlich. Erzählen Sie mir lieber, was meinen Vater veranlaßt hat, mit dieser ulkigen Waffensammlung hierherzukommen.«

Channay überlegte und packte dann mit der ganzen Geschichte aus. Sie setzte sich aufrecht und hielt die Hände um die Knie gefaltet. Das anliegende Gewand und die Seidenstrümpfe hatten den Reiz ihrer Weiblichkeit erhöht und sie machte nun den Eindruck eines sehr anziehenden jungen Geschöpfes.

»Das ist ja schrecklich aufregend«, bemerkte sie. »Was denken Sie jetzt zu tun.«

»Heut abend ein anderes Testament machen – das wäre mal eins. Dann …«

Weiter kam er nicht. Sie blickten einander versteinert an. Die Vordertüre des Hauses besaß nämlich statt des üblichen Türklopfers oder der elektrischen Klingel eine Riesenschiffsglocke, die an einer rostigen Kette gezogen wurde. Die herrschende Stille wurde jäh unterbrochen durch ihren schweren Klang, der einen ungeduldigen Gast vermuten ließ.

»Was soll das bedeuten?« fragte Catherine atemlos.

»Nichts Schlimmes«, antwortete er ruhig. »Das ist die Glocke an der Vordertür.«

»Ich habe sie aber noch nie gehört.«

»Weil sie nie benutzt wird!«

Man hörte Parsons draußen sprechen. Eine Sekunde später trat er schüchtern ins Zimmer! »Da draußen ist ein Mann, der sagt, er habe – seinen Weg in den Marschen verloren. Er fragte auch über Jagdbestimmungen – ich konnte ihm aber nichts Zuverlässiges sagen.«

Channay entschuldigte sich bei Catherine und folgte Parsons. In der Vorhalle stand ein Mann, der für einen typischen Sportsmann aus den Marschen gelten konnte; derb, jung, in Stulpenstiefeln und verdrecktem Tweedanzug. Seine gelbliche Hautfarbe ließ jedoch nicht auf ein Leben in freier Luft schließen. Nach den vollen, roten Lippen und schwarzen Augen zu urteilen, konnte er Jude sein. Man hätte ihn für einen Fischhändler aus Norwich oder für einen Krämer aus Lynn halten können, der gelegentlich der Weidmannsfährte folgt.

»Bedauere die Störung«, sagte er, als Channay zu ihm trat. »Wir haben uns aber irgendwie verlaufen. Die Blickley Freeman's Association hat uns nämlich die Erlaubnis erteilt, in den Marschen zu schießen. Man hatte uns allerdings darauf aufmerksam gemacht, daß das seewärts gelegene Gebiet nicht mehr dazu gehöre. Nun können wir aber keine Grenzen sehen und nun möchten wir um keinen Preis der Welt eine Gebietsübertretung begehen; daher wollten wir höflichst fragen, wo Ihr Grenzstein steht.«

Channays Interesse war geweckt und er betrachtete sich den jungen Mann sehr genau: »Sie sind wirklich sehr gewissenhaft. Die anderen, die sich in dies Gebiet verlaufen, pflegen es in der Regel weniger genau zu nehmen.«

»Wir wollen nämlich keine Strafe aufgebrummt kriegen, und schließlich ist ein Anstand so gut wie der andere.«

»Wieviel sind Sie denn?«

»Fünf.«

Channay schaute flüchtig auf die Uhr: »Der Frühschuß ist jetzt vorüber.«

Der junge Mann grinste. »Wir haben nicht alle Tage Ferien. Wir haben ein Fäßchen Likör mit uns und belegte Brote, denn wir gedenken bis Mitternacht draußen zu sein.«

»Sie können gehen, wohin es Ihnen beliebt«, sagte Channay einladend. »Sollte ich später oder morgen abend herauskommen, so werde ich meinen Anstand schon so wählen, daß keiner den anderen stört. Wir haben's ja hier nicht mit einer Fasanenjagd zu tun.«

Der junge Mann nahm seine Flinte wieder an sich, die er auf den Tisch gelegt hatte. »Verbindlichsten Dank für Ihr außerordentliches Entgegenkommen.«

Beim Hinausgehen ließ er noch einmal seinen Blick durch die ganze Halle gleiten, schlug seinen Kragen hoch und zog los. Gilbert Channay blieb auf der Türschwelle stehen und sah ihn ins Dunkel verschwinden. Parsons drängte ihn leise, aber bestimmt weg und schloß die Türe etwas eilig.

»Sie verzeihen wohl«, entschuldigte er sich.

»Warum so heftig?« fragte sein Herr.

Parsons zögerte mit der Antwort.

»Nachdem, was ich von der letzten Sorte von Entenjägern gesehen habe,« sagte er, »halte ich es für geratener, nachts drin und tags draußen zu sein. Weiter nichts …«

Channay begab sich in sein Arbeitszimmer zurück, wo er Catherine eifrig beschäftigt fand, den Mechanismus der Pistole zu untersuchen, welche sie offenbar für ein Spielzeug hielt.

»Ist der Einbrecher wieder weg?« fragte sie.

»Haben Sie ihn denn gesehen?«

»Versteht sich, durch die Türspalte. Haben Sie nicht seine Augen beobachtet? Die gingen was herum! Ich gehe jede Wette ein, daß der Mann genau zeichnen könnte, was er gesehen hat.« Channay begab sich zum Büfett.

»Ich werde uns jetzt einen Cocktail mischen, der wird die Gespenster vertreiben.«

Catherine nahm die Pistole wieder in die Hand, die sie bei Channays Eintreten auf den Tisch gelegt hatte.

»Die Philosophen haben schon recht,« sprach sie versonnen, »daß man das Menschenleben lächerlich hoch einschätzt.«

Channay zuckre die Schultern und schob ihr die Zigaretten hin. »Eins tut mir leid: wenn mir ein Unfall zustoßen sollte, so habe ich nicht mehr den Genuß, Drood und seine Mitverschworenen bei der Auffindung des Testamentes zu beobachten, wie ich es jetzt aufzusetzen gedenke.«

Ihr schauderte etwas.

»Sie haben wohl keine Nerven …?« bemerkte sie.

»Gefängnisleben«, erwiderte er.

*

Man dinierte sofort nach Martin Foggs Rückkehr. Channay fand die Gegenwart des Mädchens anregend und ließ die im Hintergrund lauernde Ungewißheit und Angst, welche das Gespräch manchmal zum Stocken zu bringen drohte, nicht aufkommen. Als der Mond aufgegangen war, machten sich Vater und Tochter auf den Heimweg. Catherine zögerte.

»Ich meine, wir sollten bleiben«, schlug sie halb im Ernst vor. Channay schüttelte aber den Kopf.

»Für das Abenteuer genügt eine Person«, bemerkte er. »Wer weiß, ob diese Nacht mir nicht gar ein mark- und beinerschütterndes Erlebnis bringt …«

Die Nacht verging jedoch ruhig, desgleichen der folgende Tag. Martin Fogg und Catherine kamen beim Abenddämmern an. Fogg brannte darauf, sein neues Spielzeug zu probieren. Sie begaben sich alle nach den Marschen. Schon hatte leichter Frost sie weiß gefärbt. Channays bevorzugter Standort befand sich hinter einer hohen Deichböschung. Bei einbrechender Dunkelheit schoß er zwei der Enten, nachdem sie der Weidmannskunst Martin Foggs glücklich entronnen waren. Leichter Schneefall mahnte sie schließlich zur Heimkehr. Ein oder zweimal lauschten sie gespannt, doch war kein Laut zu vernehmen – eine unheimliche Stille brütete in der Natur. Selbst das Meer war – ungeachtet der Hochflut – von einer bleiernen Ruhe. Catherine fröstelte leicht.

»Ich mag diese Stille nicht«, bemerkte sie.

»Entweder liegen unsere Entenjäger im Anschlag oder es war nur ein falscher Alarm, und diese Kerle sind wirklich das, was sie zu sein vorgeben«, sagte Channay, der sich gerade eine Pfeife anzünden wollte.

Plötzlich ließ sich in nächster Nähe der Laut einer vorbeisausenden Kugel vernehmen; ihr folgte ein Knall von der anderen Seite des Deiches. Channay legte seine Flinte hin, nahm seine Pistole zur Hand und lief ein paar Schritte nach der Richtung hin, aus welcher der Schuß gekommen war. Die Entenjäger aber waren schlauer, als er gedacht hatte. Zwischen ihm und der Stelle, von wo der Schuß abgefeuert worden war, lag ein großer Morast, den man nicht durchwaten konnte. Ein seichter See bildete die Grenze auf der anderen Seite. Channay zuckte die Schultern und kam wieder zurück.

»Der erste Versuch mißlang,« bemerkte er, »aber sie haben einen Scharfschützen bei sich.«

Catherine machte aus ihrer Angst keinen Hehl. Sie packte Channay beim Arm und drängte ihn zur Eile. Martin Fogg, bloßhäuptig, stapfte hinterher. Seine blinzelnden Augen spähten verdächtige Bewegungen zu entdecken.

»Das war meine letzte Entenjagd«, erklärte Catherine bestimmt, als sie das Haus erreicht hatten.

»Bitte vergessen Sie nicht die Bedürfnisse meines Haushaltes«, mahnte Channay neckend.

»Ich kaufe im Städtchen für eine Mark und fünfzig so ein Tier«, belehrte sie ihn spöttisch. »Warum verlassen Sie nicht das Haus hier und kommen nach London zurück. Es wird jetzt mächtig kalt hier.«

»Warten wir noch einen Tag«, sagte er. »Möglich, daß ich mich dann für London entscheide. Ob es klug ist, weiß ich nicht, denn ich vermute, daß gerade in London ihr bestes Jagdgebiet ist.«

Die beabsichtigte Abfahrt nach London wurde jedoch durch einige Schwierigkeiten verzögert. Am nächsten Morgen fand man die Garage erbrochen. Alle vier Wagenreifen waren zerschnitten. Parsons berichtete dies Channay mit einer Leichenbittermiene, was diesen aber gar nicht rührte. Während er ihm zuhörte, glich er einem Schachspieler, der belustigt dem Schachzuge eines Anfängers folgt.

»Wenn Sie heute morgen ins Städtchen gehen, Parsons,« sagte er, »dann telephonieren Sie nach Norwich um neue Reifen. Die können mit dem Wagen geschickt werden, und der Mann, der sie aufmontiert, kann das Auto dann nach Jarvices Garage bringen. Dort lasten Sie es in einer verschließbaren Bor unterstellen und sich den Schlüssel dazu geben; und legen Sie den Leuten ans Herz, niemandem etwas darüber zu sagen.«

»Wird besorgt, Sir; werden wir hier bald ausziehen?«

»Sehr bald sogar. Aber weshalb fragen Sie? Sind Sie nervös?«

»Ich nicht, Sir, aber das gnädige Fräulein. Sie wachte die ganze Nacht, hörte immer Schritte um das Haus herumgehen und Ruderschläge in der Bucht … Wenn ich mir eine Bemerkung gestatten darf, so haben sie uns ganz nett eingekreist.«

»Dann ist aber bis jetzt nicht viel dabei herausgekommen. Solche Kerle sind noch immer Feiglinge gewesen. Sie versuchen immer nur Pläne auszuhecken, bei denen sie am wenigsten riskieren. Leicht werden sie es aber hier nicht haben.«

»Ich habe die Hintertüren mit Vorlegeschlössern versehen und die unteren Fenster mit schweren Möbeln verbarrikadiert. Bitte bleiben Sie doch nach der Abenddämmerung zu Hause.«

Channay versprach dem Rat zu folgen. Aber in der folgenden Nacht lockte ihn wieder die Abenteurerlust. Schwarze Wolkenmassen jagten am Nachthimmel dahin, zuweilen vom Sturm zerteilt; dann leuchtete der Mond hindurch. Channay nahm etwas Schrot für die Wildgänse, füllte seine Tasche mit Patronen, steckte die Pistole in die hintere Tasche seiner Sporthose und verließ das Haus in der Dunkelheit. Er ging die Bucht entlang, überquerte die Deichböschung, bis er zum Anstand kam. Dort legte er sich auf den Bauch und lauschte auf den Anflug der Enten. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Achtzig Schritt entfernt gewahrte er eine Gestalt und hörte gleichzeitig den Flügelschlag nahender Enten. Liegend hob er die Flinte in die Höhe und zielte aus eine, die sich bereits außer Schußweite befand. Im gleichen Augenblick sauste eine Kugel über ihn hinweg, in der Höhe, in der sein Kopf gewesen wäre, wenn er gestanden hätte. Er beantwortete den Angriff sofort mit einem Schuß aus seiner Flinte. Er verfehlte sein Ziel nicht. Die schwarze Gestalt taumelte und brach mit einem Schmerzensschrei zusammen. Channay erhob sich sofort, überquerte den Deich, erkletterte die Schindelböschung und ließ sich auf den Sand fallen. Er lauschte mit gespanntester Aufmerksamkeit. Eilige Schritte näherten sich der Stelle, wo er noch vor einigen Minuten gestanden hatte. Eine Sekunde später kletterte jemand auf die Böschung und blickte sich vorsichtig spähend um. Channay feuerte noch einmal und die Gestalt brach mit einem Fluch zusammen. Erzürnte Stimmen wurden laut. Da zögerte Channay nicht länger und rannte davon. Seine Verfolger tappten im Marschlande herum, ohne ihm jedoch den Rückzug abschneiden zu können. Er kam noch heil nach Hause und ließ sofort Türen und Fenster verriegeln.

»Ist jemand dagewesen, Parsons?« fragte er, ehe er in das Badezimmer ging.

»Mr. Fogg ließ durch einen Jungen vom Städtchen fragen, ob er und seine Tochter heute abend bei Ihnen speisen dürften, da sie morgen auf alle Fälle nach London gehen würden. Ich war so frei, ja zu sagen, da meine Frau stets auf mögliche Gäste vorbereitet ist.«

»Ganz recht.«

Channay begab sich nach dem Bade in sein Arbeitszimmer, mischte Cocktails, las alte Zeitungen und setzte sich in angenehmer Erwartung ans Feuer. Seine Gäste kamen eine halbe Stunde später als verabredet war. Mr. Martin Fogg hatte sein achtundzwanzigkalibriges Gewehr bei sich, das er vorsichtig auf den Dielentisch legte. Channay nahm noch schnell die zwei Patronen heraus.

»Gerade als wir aufbrachen, kamen die Entenjäger nach Hause«, erzählte Catherine. »Viel hatten sie nicht zu berichten, außer daß zwei von ihnen verwundet waren: nicht weiter gefährlich, meinte der Arzt. Aber einer wird ins Spital müssen.«

»Fein«, erklärte Channay. »Mein Kaliber wird ihm in Erinnerung bleiben.«

»Waren Sie denn in den Marschen?« fragte sie ihn vorwurfsvoll.

»Ich mußte«, sagte er, indem er ihr einen Cocktail reichte. »Denken Sie doch daran, daß man sich am besten verteidigt, wenn man die Offensive ergreift. Einen habe ich jetzt los. Bleiben nur noch drei übrig – stimmt's?«

»Jetzt sind es vier. Heute abend ist noch einer gekommen. Vater wird es Ihnen schon erzählen.«

»Drood selbst«, verkündete er todernst. »Hätten Sie nur unseren Rat befolgt und wären Sie gestern abgereist.«

»Aber, mein lieber Fogg, wie hätte ich das nur anstellen sollen? Der Wagen war nicht fertig, die Gummireifen sind erst heute nachmittag eingetroffen. Also fahren wir morgen, wenn's Ihnen recht ist. Wir essen dann in der Stadt und wollen mal sehen, ob diese Kerle auf eigenem Gebiet mehr Glück haben.«

Catherine überlief es eiskalt.

»Sie nehmen die ganze Sache viel zu leicht«, klagte sie. »Ich bin es müde. Warum vergleichen Sie sich nicht mit Drood?«

Channay lachte spöttisch: »Damit ich als elender Feigling durchs Leben gehe?«

»So ist's recht! Opfern Sie nur Ihr Leben für eine fixe Idee!« rief sie bitter aus.

»Immer haben die Besten ihr Leben einer Idee geopfert … Nach dieser abgedroschenen Redensart wollen wir nun zu Tisch gehen.«

Sie verweilten länger als sonst beim Mahle. Mrs. Parsons hatte sich in der Zusammenstellung des Speisezettels übertroffen, und Parsons öffnete aus eigenem Antrieb eine zweite Flasche Champagner. Während der Kaffee aufgetragen wurde, begab sich Martin Fogg ins Freie, um die Wetterverhältnisse zu studieren. Channay sprach mit Catherine über seine Plane.

»Wenn die Angelegenheit Channay gegen Drood oder Drood gegen Channay geregelt ist,« vertraute er ihr an, »dann möchte ich gern nach Monte Carlo reisen. Glauben Sie, Miß Fogg, daß wir Ihren Vater überreden können, Sie auch dorthin zu bringen?«

»Ich weiß nicht recht, ob ich überhaupt möchte«, antwortete sie ruhig.

»Warum denn nicht? Was wollen Sie denn anfangen? Reisen, einen Beruf – oder ein Heim?«

Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und blickte ins Weite. Dann wandte sie sich wieder ihm zu und ihre klaren braunen Augen begegneten fest und ruhig seinen. Ihr Lächeln antwortete auf seine Frage, in der mehr als Neugierde, nämlich ein ehrliches Interesse lag.

»Sie fragen mehr, als ich antworten kann. Selbstanalyse macht leider zu selbstbewußt, sonst wäre es riesig unterhaltend, sich selbst besser kennenzulernen. Ich halte mich weder für eine schwache, noch dumme Frau, fühle mich aber irgendwie atomistisch veranlagt – wissen Sie, so in lauter kleine Teilchen zerlegt –, denn ich habe zu viele verschiedenartige Wünsche. Dazu kommt noch, daß mir der Mut fehlt. Ich sehne mich nach Taten, die ich nicht auszuführen wage. Ich will auf unbeschrittenen Wegen gehen und wäre entsetzt, wenn ich wirklich auf ihnen wandeln würde. Ich möchte Kenntnisse aus all diesen Dingen gewinnen … Hoffentlich ist Ihnen das alles klar«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Durchaus. Ich könnte nicht gerade sagen, was Sie wollen. Aber ich weiß, was Sie brauchen.«

Er lehnte sich etwas vor. Erst berührte seine Hand die ihre ganz zufällig. Ihre Augen, die sich in die Ferne verloren hatten, blitzten plötzlich auf. Keiner von ihnen verstand die ganze Bedeutung dieses Augenblicks, der übervoll war von Gefühl. Bei Catherine ruhte es noch unerlöst auf dem Grunde ihrer Seele. – Da kehrte Martin Fogg von seiner Wetterforschung zurück.

»Winter ist's«, schimpfte er, »und pechschwarz. Haft du unserem Gastgeber schon von unserem Vorhaben erzählt?«

»Daran habe ich nicht mehr gedacht!« rief sie aus und wandte sich an Channay. »Wissen Sie, weshalb ich ein Strickkostüm und keine Abendtoilette anhabe? Wir wollen nämlich die Nacht über hierbleiben. Dürfen wir?«

»Ich freue mich außerordentlich. Die Zimmer standen immer zu Ihrer Verfügung; nur habe ich das Gefühl, daß Sie von meiner Gastfreundschaft mehr meinet- als Ihretwegen Gebrauch machen.«

»Nicht die Spur!« versicherte sie. »Es ist nachts scheußlich kalt, und es wird herrlich sein, nicht aufbrechen zu müssen, wenn es am molligsten ist. Sie spielen uns richtige klassische Musik vor und ich gebe einige leichte Stücke zum besten. Vater schmökert in einem Band ganz neuer Detektivgeschichten und macht sich dann darüber luftig.«

»Dies alles«, stöhnte Channay behaglich, »verspricht einen vollkommen glücklichen Abend.«

*

Kurz vor zwölf Uhr sagten sie einander in der Halle, wo die altmodischen Silberleuchter für sie bereit standen, »gute Nacht«. Channay konnte noch nicht schlafen. Die Musik des Abends klang noch in seinem Ohr und verdrängte alle Rauheit des Lebens. Er lag lange wach und lauschte auf den Wind. Nach einem kurzen Schlaf wachte er gegen drei Uhr plötzlich auf, ohne jedoch ein besonders störendes Geräusch zu hören. Er lag still, lauschte gespannt, vernahm jedoch nichts Verdächtiges. Er konnte sich aber einer wachsenden Unruhe nicht erwehren, schlüpfte also in seine Hausschuhe, nahm die Pistole in die eine und seine Taschenlampe in die andere Hand und begab sich auf den Treppenabsatz. Totenstille herrschte im Haus. Nur der Regen klatschte gegen die Fenster und der Sturm heulte draußen. Channay ließ sich aber nicht täuschen. Er ging die Treppe hinunter und blieb auf der letzten Stufe plötzlich stehen. Ganz deutlich konnte er verstohlene Schritte in seinem Arbeitszimmer vernehmen. In der Erregung des Augenblicks vergaß er jede Vorsicht, überquerte die Halle auf den Zehenspitzen und öffnete die Tür seines Arbeitszimmers weit. Das Zimmer war vollkommen dunkel, er vermochte aber deutlich die Gestalt eines Mannes zu erkennen, der sich über den Schreibtisch beugte und den Inhalt der Schublade mit Hilfe einer Taschenlampe durchsuchte.

»Noch eine Bewegung und ich schieße«, sagte Channay kühl. »Bleiben Sie ganz ruhig, bis ich Sie mir gründlich angesehen habe.«

Die Gestalt rührte sich nicht. Channay hatte aber die unverzeihliche Unvorsichtigkeit begangen und sich nicht die Möglichkeit eines Rückzuges gesichert. Seine Arme wurden plötzlich von hinten ergriffen, während ein anderer ihm einen Knebel zwischen die Zähne preßte. Ein dritter legte ihm Handschellen an und eine triumphierende Stimme flüsterte an seinem Ohr: »Den haben wir!«

»Festhalten, bis ich Licht gemacht habe«, bestimmte ein anderer, der sich in der Mitte des Zimmers befand.

Channay rührte sich nicht. Er sah ein, daß er vorerst noch keine Möglichkeit zu handeln hatte. Seine Tischlampe wurde angezündet und ließ nun die Gestalten von drei Eindringlingen deutlich erkennen. Einer von ihnen war Drood – knochig, kantig, massig, drohend. Unter den beiden, die ihn von hinten ergriffen hatten, erkannte er den jungen Mann, der vor einigen Tagen zu ihm gekommen war.

»Das war ein bißchen unüberlegt, Channay, was? Für jemand, der doch weiß, daß die Luft nicht ganz rein ist!« höhnte Drood. »Ach so, ich habe ja ganz vergessen, daß er nicht antworten kann. Setzt ihn dorthin.«

Die zwei Männer setzten ihn in seinen eigenen Klubsessel.

»Raus mit dem Knebel«, befahl Drood.

Es geschah.

»So, jetzt können Sie rufen und schreien nach Herzenslust«, sagte Drood. »Ihr Diener und sein Frauchen liegen hübsch gebunden in ihrem Kämmerlein. Sie müssen die Kehle schon mächtig anstrengen, um auf dem Festlande gehört zu werden – kommt noch der Wind dazu …«

»Ich rufen oder schreien? Wäre mir nie eingefallen! Wir könnten aber jetzt unsere Geschäfte besprechen. Irgendeine Erklärung dürfte doch angebracht sein.«

»Die Erklärung«, begann Drood, »ist natürlich höchst einfach. Ich will eine Million Mark haben. Das ist alles. Wenn ich die erhalte, dann können wir uns über die sichersten Maßnahmen und ob ich Sie leben lasse, unterhalten.«

»Und wenn ich Ihnen nichts gebe?« fragte Channay kaltblütig.

»Dann werden Sie einfach umgebracht«, war die unzweideutige Antwort. »Eine gewisse Gefahr mag ja damit verbunden sein, aber sie ist unbedeutend. Man wird Sie mit Ihrem Gewehr in einem der Sumpflöcher finden, in das Sie zufällig gerutscht sind.«

»Aber der Diener und seine Frau?«

»Mit denen werden wir schon auf unsere Weise fertig,« antwortete Drood, »wohl bedauerlich, aber notwendig.«

»Und welchen Gewinn versprechen Sie sich von meinem Tode?«

Drood lächelte ein gemeines, brutales Lächeln: »Dieser ist ja der Sinn unseres großen Planes, zu dem ich mich am meisten beglückwünsche. Ihnen ist vielleicht selbst ganz unbekannt, daß Sie ein Testament unterzeichnet haben, das sich bei meinem Freunde Mr. Morrow befindet, und wonach Sie Ihren ganzen Besitz den Mitgliedern des Channay-Syndikates vermachen.«

»Sicher«, bemerkte Channay ruhig, »ist das ein vorzüglicher Plan, leider ist jedoch dies Testament nicht einmal das Papier wert, auf das es geschrieben ist.«

Drood wandte sich ihm plötzlich zu. Sein Gesicht verfinsterte sich bedenklich, Mißtrauen war deutlich zu lesen.

»Weshalb nicht?« knurrte er.

»Weil ich innerhalb der letzten zwei Tage mein eigenes Testament gemacht habe. Es ist seit gestern bei meinem Rechtsanwalt in Lincolns Inn gut aufbewahrt«, war die spöttische Antwort.

Drood beugte sich über seinen Gefangenen: »Channay! Wenn das wahr ist –«

»Ist schon wahr«, versicherte dieser. »Übrigens, könnten Sie mir nicht die Fesseln abnehmen? Außerdem haben Sie noch meine Pistole.«

Drood überhörte das. Sein Gesicht war wutverzerrt. Er wußte genug.

»Wie haben Sie das erfahren«, fragte er.

»Sie meinen vielleicht, daß ich den Mut eines Narren habe«, erwiderte Channay. »Aber glauben Sie doch nicht, daß ich allein mit Ihnen kämpfe. Mir stehen Freunde zur Seite, selbst in diesem Augenblick, und wollte Gott – – –«

Channay brach ab. Drood lauschte angestrengt. Die beiden Männer, die sich inzwischen Whisky mit Soda bereiteten, hoben ihre Köpfe. Drood wollte ans Fenster treten, blieb aber plötzlich wie vom Schlage gerührt stehen. Ehe er sich recht bewußt wurde, was eigentlich vorging, krachte es, und wie ein Clown durch einen papierbespannten Reifen, stieg Martin Fogg durch eine Masse von Holz- und Glassplittern in das Zimmer. Seine Erscheinung war komisch genug anzusehen. In seinem blau- und rosagestreiftem Pyjama, seinem feuerroten Haar und dem wilden Glanz in seinen Augen, in der Hand sein neuestes Spielzeug, das achtundzwanzigkalibrige Gewehr, wäre er die Augenweide jedes Karikaturisten gewesen. Er fackelte nicht lange und schoß nach jeder Richtung. Drood faßte sich erst am Bein, gleich darauf am anderen, und er sank fluchend auf den Boden. Bevor die beiden Männer Zeit hatten sich auf Fogg zu stürzen, ließ sich eine Frauenstimme vernehmen. Die Tür öffnete sich und Catherine stand auf der Schwelle.

»Hände hoch! Wenn ich schieße, seid ihr des Todes!«

Sie rührten sich nicht. Martin Fogg war gerade beschäftigt, neu zu laden. Nichts konnte die Eindringlinge mehr einschüchtern, als Catherines Pistole, die sie auf sie gerichtet hielt. Martin Fogg ließ wieder die Kugeln fliegen. Vier Hände wirbelten in der Luft herum und die beiden Männer stürzten zu Boden. Drood lag auf der Seite und krümmte sich stöhnend. Gilbert Channay, der bei dem ersten Schuß aus Martin Foggs Flinte hinter einem breiten Lehnstuhl Schutz gesucht hatte, erhob sich nun plötzlich.

»Halte sie in Schach! Catherine!« rief er ihr zu. Es war das erstemal, daß er sie bei ihrem Vornamen rief. Er schritt auf die am Boden liegenden Kerle zu: »Einer von euch soll mir die Fesseln abnehmen!«

Er hielt ihnen seine Hände hin. Der nächstliegende gehorchte und redete dabei. »Wir haben's nicht so bös gemeint, wollten Sie nur ein bißchen erschrecken. So hatte sich unser Herr ausgedrückt. Sie können unsere Flinten behalten. Ich habe schon ein halbes Dutzend Kugeln im Leib.«

Die Handschellen rasselten zu Boden. Gilbert Channay nahm die ihm angebotenen Flinten an sich. Drood spuckte nach ihm aus.

»Macht, daß ihr aus dem Haus kommt, aber fix!« rief ihnen Channay zu. »Diesen Weg!«

Er ging rückwärts vor ihnen her und brachte sie in die Halle, wo er die Haustür öffnete. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen, ohne das Arbeitszimmer aus dem Auge zu lassen: »Vergeßt nicht, daß ihr erst in London in Sicherheit seid. Ich werde die Behörden gleich benachrichtigen.«

Sie verschwanden eilig im Dunkel der Nacht.

Catherine wußte sich vor Erstaunen nicht zu fassen: »Ich glaube gar. Sie lachten, als Sie hinter dem Stuhl hervorkrochen – ja sogar jetzt lachen Sie noch.«

Channay deutete auf ihren Vater, der immer noch mit seinem Gewehr spielte und noch immer auf den hingestreckten fluchenden Drood blickte.

»Meine liebe Catherine,« gab er zurück, »Sie kaufen so geschmackvolle Halsbinden für Ihren Vater. Wie wäre es, wenn Sie auch seine Pyjamas aussuchten?«

*

Der Einbruchsversuch wurde natürlich in der ganzen Nachbarschaft lebhaft besprochen. Gilbert Channay besuchte Drood im Norwich-Krankenhaus.

»Channay,« sagte dieser, nachdem er ihn mürrisch begrüßt hatte, »Sie können mich als einen geschlagenen Mann betrachten. Ich habe meinen Meister gefunden. Ich bin unten durch.«

»Sie hatten nicht mit Mr. Martin Fogg gerechnet«, bemerkte Gilbert Channay sanft.

Drood grinste humorvoll. Auch während er sich im Bett aufsetzte und die Augen wischte: »Ich habe so was noch nicht gesehen. Wenn irgendein anderer mit einer Pistole hereingestiegen wäre, dem würde ich es gleich besorgt haben. Ich gelte nicht mit Unrecht als ein guter Schütze. Als ich ihn aber in diesem Pyjama, seinem feuerfarbenen Haar und diesem lächerlichen Spielzeug von einem Gewehr stehen sah, da verging mir buchstäblich Hören und Sehen … ich konnte mich einfach nicht mehr rühren … Dieser Ausflug wird mir sechs Monate eintragen. Helfen Sie mir doch etwas auf die Beine, wenn ich wieder herauskomme. Ich wäre Ihnen so dankbar. Verstehen Sie mich recht, mit Drohungen bin ich fertig.«

»Ich gebe Ihnen zehntausend jeden Monat«, versprach ihm Channay.

»Herr Gott, dann können's mir auch ein Jahr aufbrummen«, waren Droods Abschiedsworte, als die Pflegerin hereinkam, um den Schluß der Besuchszeit anzumelden.


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