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5. Kapitel
Kunstwertung

Wer kennt das taoistische Märchen von der Bezwingung der Harfe?

In grauer Vorzeit, im Engpaß von Lung-men Die Drachenschlucht von Ho-nan., stand einst ein Kiribaum, ein wahrhafter König des Waldes. Sein Haupt hob er zu den Sternen, um mit ihnen Zwiesprache zu halten; seine Wurzeln aber senkte er tief in die Erde und umklammerte mit ihren Bronzeschlingen den silbernen Drachen, der in der Tiefe schlummerte. Und es geschah, daß ein mächtiger Zauberer aus diesem Baume eine Wunderharfe schuf, deren unbändiger Geist nur von dem größten aller Musiker bezwungen werden sollte. Lange Zeit hindurch ward das Instrument vom Kaiser von China in seiner Schatzkammer gehütet, vergeblich aber war die Mühe derer, die nacheinander Melodie aus seinen Saiten zu wecken suchten. Als Antwort auf ihr heißes Mühen kamen aus der Harfe nur rauhe Töne der Verachtung, die mit den Liedern, die sie gerne singen wollten, nur übel zusammenstimmten. Die Harfe weigerte sich, ihren Meister anzuerkennen.

Als letzter kam Peh Ya, der Fürst der Harfner. Mit zarter Hand liebkoste er die Harfe, wie man ein unbändiges Pferd zur Ruhe zu bringen sucht, und rührte leise an die Saiten. Er sang von der Natur und von den Jahreszeiten, von hohen Bergen und strömenden Wassern. Und alle Erinnerungen des Baumes wurden wach. Noch einmal spielte der süße Hauch des Frühlings durch seine Zweige. Die jungen Wasserfälle lachten in ihrem Tanze die Schlucht hinab den knospenden Blumen zu. Dann wurden die schläfrigen Stimmen des Sommers laut, das sanfte Rieseln des Regens, das Klagelied des Kuckucks. Horch! Das Gebrüll eines Tigers -- das Tal gibt Antwort. Der Herbst ist da; der Mond funkelt schwertscharf auf das bereifte Gras in der nächtlichen Öde. Jetzt wieder herrscht der Winter, und durch die schneeerfüllte Luft tummeln sich Scharen wilder Schwäne, und prasselnde Hagelkörner klatschen in wilder Lust herab auf kahle Zweige.

Und Peh Ya wechselte die Tonart. Er sang von Liebe. Der Wald neigte sich wie ein liebeglühender Schäfer, versunken in die Tiefe seiner Gedanken. Oben aber, eine stolze Jungfrau, fegte eine lichte, schöne Wolke dahin; sie geht vorüber, und lange Schatten schleifen am Boden, düster wie die Verzweiflung. Und wieder wechselte die Stimmung. Peh Ya sang vom Kriege, von klirrendem Stahl und stampfenden Rossen. In der Harfe aber erhob sich das Ungewitter von Lungmen; der Drachen fuhr auf dem Blitz daher, die donnernden Lawinen dröhnten durch das Tal. Verzückt begehrte der Kaiser des Himmels zu wissen, worin das Geheimnis von Peh Yas Sieg zu finden sei. »Herr,« lautete die Antwort, »die anderen scheiterten, weil sie nur von sich selber sangen. Ich überließ es der Harfe, frei ihr eigenes Lied zu wählen, und wußte in Wahrheit nicht, ob die Harfe Peh Ya oder Peh Ya die Harfe sei.«

Diese Erzählung beleuchtet vortrefflich das Geheimnis der Kunstwertung. Meisterwerke sind Symphonien, gespielt auf unseren feinsten Empfindungen. Die echte Kunst ist Peiwoh, und wir sind die Harfe von Lungmen. Berührt uns die Zauberhand des Schönen, so werden die geheimsten Saiten unseres Wesens wach, wir zittern und beben als Antwort auf den Ruf an uns. Geist spricht zu Geist. Wir lauschen dem Unausgesprochenen, wir sehen das Unsichtbare. Der Meister weckt Töne, von deren Dasein wir nichts ahnten. Lang vergessene Erinnerungen kehren neuen Sinns zu uns zurück. Von Furcht erstickte Hoffnungen, Sehnsüchte, die wir nicht zu erkennen wagten, stellen sich in jungem Glänze dar. Unsere Seele ist die Leinwand, auf die der Künstler seine Farben aufträgt. Seine Tönung sind unsere Gefühle; sein Halbdunkel lichte Freude, düstere Trauer. Das Meisterwerk ist wir und wir sind das Meisterwerk.

Der zur Kunstwertung erforderliche verständnisinnige Verkehr der Seelen muß sich auf gegenseitiges Entgegenkommen gründen. Der Beschauer muß in sich die Stimmung pflegen, um das Gegebene zu empfangen, der Künstler muß das Gegebene mitzuteilen wissen. Der Teemeister Kobori Enshu, der selbst ein Daimyo war, hat uns die folgenden denkwürdigen Worte hinterlassen: »Einem großen Gemälde sollst du nahen wie einem großen Fürsten.« Um ein Meisterwerk zu verstehen, mußt du dich zu seinen Füßen niederwerfen und mit verhaltenem Atem auch der geringsten seiner Äußerungen lauschen. Ein großer Sung-Kritiker machte einst folgendes reizende Geständnis: »In jungen Jahren«, sagte er, »lobte ich die Meister, deren Bilder ich liebte; wie aber mein Urteil reifte, lobte ich mich selbst dafür, daß ich liebte, was mich die Meister zu lieben ausersehen hatten.« Es ist bedauerlich, daß so wenige unter uns in Wahrheit sich bemühen, die Stimmungen der Meister zu ergründen. In hartnäckiger Unwissenheit weigern wir uns, ihnen gegenüber dies schlichte Gebot der Höflichkeit zu erfüllen und versäumen so nur gar zu oft das reiche Mahl von Schönheit, das vor uns aufgetischt steht. Ein Meister hat uns stets etwas anzubieten, und unser Hunger bleibt nur darum ungestillt, weil wir es nicht zu werten verstehen.

Dem Mitfühlenden wird ein Meisterwerk zu einer lebendigen Wirklichkeit, zu der er sich durch Bande einer gewissen Kameradschaft hingezogen fühlt. Die Meister sind unsterblich, denn ihre Liebe und ihre Furcht leben wieder und wieder in uns auf. In erster Linie ist es die Seele und nicht die Hand, der Mensch und nicht die Technik, die zu uns spricht -- je menschlicher der Appell, um so tiefer unsere Antwort Dank diesem geheimen Einverständnis zwischen dem Meister und uns spüren wir die Leiden und Freuden mit von Held und Heldin in Poesie oder Prosa. Chikamatsu, unser japanischer Shakespeare, hat es als eines der vornehmsten und wichtigsten Prinzipien dramatischer Kunst bezeichnet, das Publikum in die Geheimnisse des Autors einzuweihen. Verschiedene seiner Schüler legten Stücke von sich seinem Urteil vor, aber nur eines von ihnen fand seine Zustimmung. Es war ein Stück, das in mancher Beziehung an die Komödie der Irrungen erinnerte, in dem ein Zwillingsbruderpaar durch dauernde Verwechslung zu leiden hat. »Diesem Stück«, meinte Chikamatsu, »wohnt der wahre Geist des Dramas inne, denn es berücksichtigt auch die Hörerschaft. Man läßt das Publikum mehr wissen als die Schauspieler. Sie wissen, wo der Fehler liegt, und schenken den armen Gestalten auf den Brettern, die unschuldig ihrem Schicksal entgegeneilen, ihr Mitleid.«

Die großen Meister, sowohl des Ostens wie des Westens, haben niemals den Wert der Suggestion als Mittel, den Zuschauer ins Vertrauen zu ziehen, außer acht gelassen. Wer vermöchte ein Meisterwerk zu betrachten, ohne Ehrfurcht zu empfinden vor der ungeheuren Weite der Gedanken, die sich auf tut? Wie lieb und vertraut sind sie uns alle; wie kalt im Gegensatz dazu die Mittelmäßigkeiten der Neuzeit! Vor einem alten Meisterwerk spüren wir den warmen Erguß eines Menschenherzens; bei der neuen Kunst nichts als einen kalten förmlichen Gruß. Von seiner eigenen Technik befangen, erhebt sich der moderne Künstler nur selten über sich selbst. Wie die Harfner, die vergeblich die Harfe von Lung-men zu erwecken trachteten, singt er nur von sich selbst. Seine Werke stehen der Wissenschaft vielleicht näher, haben sich dafür aber von der Menschlichkeit um so weiter entfernt. Wir haben in Japan ein altes Sprichwort, daß eine Frau den Mann nicht lieben kann, der in Wahrheit eitel ist, denn in seinem Herzen sei keine Lücke, in welche die Liebe eingehen könnte, um sie auszufüllen. In der Kunst ist die Eitelkeit für das verständnisvolle Mitgefühl nicht minder verhängnisvoll, gleichgültig ob sie auf Seiten des Künstlers oder des Publikums liegt.

Es gibt nichts Erhebenderes als die Gemeinschaft verwandter Seelen in der Kunst. Im Augenblick der Begegnung erhebt der Kunstliebhaber sich über sich selbst hinaus. Er ist und ist nicht zur gleichen Zeit. Er wirft einen Blick in die Unendlichkeit; Worte aber können sein Entzücken nicht ausdrücken, denn das Auge hat ja keine Zunge. Befreit von den Fesseln der Materie, schwingt sein Geist mit im Rhythmus der Dinge. So geschieht es, daß die Kunst der Religion verwandt wird und die Menschheit veredelt. So kommt es, daß ein Meisterwerk zur heiligen Sache wird. In den alten Zeiten war die Verehrung, die in Japan dem großen Künstler gezollt wurde, sehr groß. Die Teemeister hüteten ihre Schätze mit religiöser Heimlichkeit, und oft mußte man eine ganze Reihe von Schachteln, eine in der anderen, aufschließen, ehe man an das Sanktuarium selbst gelangte -- die seidenen Hüllen, in deren weichen Falten das Allerheiligste verborgen war. Selten wurde der Gegenstand selbst gezeigt, und auch dann nur den Eingeweihten.

Zur Zeit, da der Teeismus im Aufsteigen begriffen war, waren die Generäle des Taiko, wenn man ihnen als Siegespreis ein großes Kunstwerk überreichte, mehr zufrieden als mit der Belehnung großer Ländereien. Viele unserer beliebtesten Theaterstücke handeln vom Verlust und Wiederfinden berühmter Kunstwerke. So fängt zum Beispiel in einem Stück der Palast des Fürsten Hosokawa, in dem das berühmte Bild Dharmas von Sesson aufbewahrt wurde, durch die Achtlosigkeit des als Hüter bestellten Samurai Feuer. Entschlossen, das kostbare Bild unter allen Umständen zu retten, stürzt er sich in das brennende Gebäude und ergreift das Kakemono. Allein er entdeckt, daß ihm alle Ausgänge durch die Flammen abgeschnitten sind. Er denkt einzig an das Bild, schlitzt sich mit seinem Schwert den Leib auf, wickelt seinen zerrissenen Ärmel um den Sesson und taucht ihn in die klaffende Wunde. Endlich ist das Feuer gelöscht. Unter dem rauchenden Schutt wird eine halbverkohlte Leiche gefunden, in deren Inneren das vom Feuer unversehrte Kunstwerk ruht. So furchtbar derartige Geschichten auch sein mögen, die Hingebung des betrauten Samurai ist doch ein Beispiel dafür, welch großen Wert wir einem Meisterwerk beimessen.

Wir dürfen indes nicht vergessen, daß die Kunst nur insoweit von Wert ist, als sie zu uns spricht. Die Kunst könnte eine Weltsprache sein, wären wir selbst in unseren Gefühlen universell. Die Grenzen unserer Natur, die Macht der Überlieferung und der Sitte wie unsere ererbten Instinkte setzen unserer Fähigkeit zum Kunstgenuß eine Schranke. Ja, gerade unsere Individualität ist es, die in gewissem Sinne unserem Verständnis sein Ziel steckt; unsere ästhetische Persönlichkeit sucht ihre Wahlverwandten in den Kunstwerken der Vergangenheit. Wohl ist es wahr, daß mit zunehmender Kultur auch unser Sinn für die Kunst sich erweitert, und wir instand gesetzt werden, manche bisher unverstandenen Schönheitsformen zu begreifen. Letzten Endes aber sehen wir überall in der Welt doch nur unser eigenes Bild -- unsere besonderen Eigentümlichkeiten schreiben uns die Art unserer Wahrnehmungen vor. Auch die Teemeister sammelten nur solche Gegenstände, die streng in den Rahmen ihrer individuellen Kunstwertung hineinpaßten.

Bei dieser Gelegenheit sei einer Geschichte von Kobori Enshu gedacht. Seine Jünger beglückwünschten Enshu zu dem bewundernswerten Geschmack, mit dem er seine Sammlungen zusammengestellt hatte. Sie sagten: »Jedes einzelne Stück ist so, daß man nicht umhin kann, es zu bewundern. Das beweist, daß Ihr einen besseren Geschmack habt als Rikyu, denn seine Sammlungen vermochten nur von einem Beschauer unter Tausenden gewürdigt zu werden.« Enshu aber erwiderte traurig: »Das beweist nur, was für ein Durchschnittsmensch ich bin. Der große Rikyu wagte es, nur solche Gegenstände zu lieben, die ihm persönlich zusagten, während ich unbewußt dem Geschmack der Menge fröne. Wahrlich, Rikyu war einer unter tausend unter den Teemeistern.«

Es ist sehr bedauerlich, daß ein so großer Teil der scheinbaren Kunstbegeisterung unserer Tage auf keinem echten Gefühl aufgebaut ist. In diesem, unserem demokratischen Zeitalter verlangt man, ungeachtet des persönlichen Empfindens, nach dem, was ganz allgemein für das Beste gehalten wird. Jeder will das Kostbare, nicht das Feine, das Modische, nicht das Schöne. Dem Kunstgenuß der Massen bietet die Betrachtung illustrierter Zeitschriften, würdige Erzeugnisse ihres eigenen Industrialismus, eine verdaulichere Nahrung als die frühen Italiener oder die Ashikagameister, die sie zu bewundern vorgeben. Ihnen ist der Name des Künstlers wichtiger als die Qualität seiner Arbeit. Vor vielen Jahrhunderten klagte ein chinesischer Kritiker, daß das Volk ein Bild mit den Ohren kritisiere. Dieser Mangel an echtem Kunstverständnis ist auch verantwortlich zu machen für die pseudoklassischen Kunstgreuel, denen wir heutzutage an allen Ecken und Enden begegnen.

Ein weiterer, allgemein verbreiteter Fehler ist die Verquickung der Kunst mit der Archäologie. Die Verehrung von Altertumswerten gehört zu den besten Zügen des menschlichen Charakters, und nur allzu gern möchten wir sie in noch höherem Maße pflegen. Mit Recht sollen die alten Meister als Bahnbrecher des Weges zu künftiger Erkenntnis geehrt werden. Schon allein die Tatsache, daß sie durch eine Jahrhunderte alte Kritik unbeschadet hindurchgegangen und uns ruhmbedeckt überkommen sind, fordert unsere Achtung. Aber töricht wäre es in der Tat, wollten wir ihre Leistungen allein um ihres Alters willen werten. Dennoch lassen wir unser historisches Mitgefühl nur allzu oft über unser ästhetisches Urteil den Sieg davontragen. Wir bringen den Künstlern Blumen der Bewunderung erst dann dar, wenn sie sicher im Grabe ruhen. Das mit der Evolutionstheorie geschwängerte 19. Jahrhundert hat überdies in uns die Gewohnheit erweckt, über der Spezies das Individuum aus den Augen zu verlieren. Der Sammler ist eifrig bemüht, Beispiele einzelner Perioden oder Schulen zu erwerben und vergißt darüber, daß uns ein einziges Meisterwerk mehr zu lehren vermag als die größte Anzahl mittelmäßiger Erzeugnisse einer bestimmten Schule oder Periode. Wir klassifizieren zu viel und genießen zu wenig. Daß viele Museen die ästhetische Ausstellungsmethode der sogenannten wissenschaftlichen aufopferten, ist ihr Fluch geworden. Die Rechte der Kunst der Gegenwart dürfen in keinem daseinsfähigen Lebenssystem übersehen werden. Die Kunst von heute ist die Kunst, die in Wahrheit zu uns gehört: sie ist unser eigenes Spiegelbild. Verurteilen wir sie, dann verurteilen wir auch uns selbst. Es heißt, daß unsere Zeit keine Kunst hervorgebracht habe: wer ist dafür verantwortlich? Es ist in der Tat schändlich, daß wir trotz aller Schwärmerei für die Alten unseren eigenen Entwicklungsmöglichkeiten gar so wenig Aufmerksamkeit schenken. Ringenden Künstlern, müden Seelen, die im Schatten frostiger Mißachtung harren, welche Inspiration haben wir ihnen in unserem egozentrischen Zeitalter noch zu bieten? Wahrlich, die Vergangenheit hat recht, wenn sie voller Mitleid auf die Armut unserer Zivilisation blickt; die Zukunft wird lachen über die Unfruchtbarkeit unserer Kunst. Wir sind dabei, mit der Vernichtung des Schönen im Leben auch die Kunst zu zerstören. Möchte doch ein mächtiger Zauberer aus dem Stamme der Gesellschaft die gewaltige Harfe zimmern, deren Saiten unter der Hand des Genius erklingen können.


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