Georges Ohnet
Doktor Rameau – Zweiter Band
Georges Ohnet

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Zwölftes Kapitel.

Talvanne, der seine eigne ärztliche Weisheit sonst immer so gering anschlug, hatte trotzdem eine bedeutende Probe derselben gegeben, als er seinen berühmten Kollegen erklärt, daß Adriennes Krankheit Sitz und Ursprung im Gemüt habe, und daß man mit mehr oder minder kräftigen Tränklein nichts gegen dieselbe vermöge. Von der Stunde an, als ihr Vater die Wache bei ihr übernommen, hatte Adrienne, die bis dahin der Krankheit gar keinen Widerstand entgegengesetzt zu haben schien, mit allen Fasern ihres Herzens sich ans Dasein geklammert, und nach wenigen Tagen war sie außer Gefahr. Wie ein farbloses, halb erfrorenes Pflänzchen im Sonnenschein sich aufrichtet, hatte sie unterm Blick des Vaters Leben und Kraft gewonnen. Jetzt, im Stadium der Genesung, war sie noch recht schwach, recht blaß, tüchtig mitgenommen vom Fiebersturm, aber doch voll wohligen Behagens und frohen Gefühls der Rückkehr ins Leben.

Solange das Kind in Gefahr gewesen, war Rameau nicht von ihrer Seite gewichen und hatte ihre Behandlung mit jenem genialen Seherblick geleitet, der ihm seinen Weltruf eingetragen. Schritt für Schritt der Krankheit nachspürend, hatte er sie gezähmt, hatte, das Eintreten eines neuen Anfalls immer richtig erratend, demselben gar nie Zeit gelassen, seine unheilvolle Macht zu üben, und es war ihm auf diese Weise gelungen, dem ganzen, tief erschütterten Organismus des jungen Mädchens wieder zu voller, regelrechter Gesundheit zu verhelfen, so daß er sie zu seiner höchsten Freude kräftiger, mehr entwickelt als zuvor, aus der gefährlichen Krisis hervorgehen sah.

Tag und Nacht hatte er im Verein mit Talvanne, Robert und Rosalie seine ganze Kraft eingesetzt und sich völlig geopfert, und dabei im stillen fortwährend das Zartgefühl seiner getreuen Helfer bewundert, die alle keine Ahnung von der Tragödie zu haben schienen, welche den Vater in den Grundfesten seines Daseins erschüttert und das des Kindes so grausam gefährdet hatte. Als aber Adrienne heiter und friedlich auf ihrer Chaiselongue am geöffneten Fenster lag und außer Ruhe und Erholung keiner Medizin mehr bedurfte, da war die Zeit gekommen, daß der Doktor wieder mit sich allein in seinen vier Wänden war, und nun der Wandlung, die sich in seinem Innern vollzogen, bis zu ihrem letzten Ursprung nachzuspüren sich bemühte.

Rameau war keine jener Alltagsnaturen, welche die fertige Thatsache gedankenlos hinnehmen und kein Bedürfnis in sich tragen, die Ursachen zu ergründen und die Tragweite des Geschehenen zu ermessen. In einem einzigen Augenblick hatte er seinen Willen schwankend, seine felsenfesten Entschlüsse hinfällig werden sehen und er fühlte es als Recht und Pflicht, die inneren Vorgänge, welche diesen Umschlag herbeigeführt, zu untersuchen und sich klar zu machen. Er schämte sich keineswegs seines Widerrufs, er bereute es nicht, daß er die Waffen gestreckt, nein, er freute sich dessen. Trotz der Gewißheit, daß sie nicht sein Kind war, hatte er den ganzen Reichtum an Liebe für Adrienne wiedergefunden, ja vielleicht hatte er sie nur noch lieber jetzt, da sie ihm nicht mehr durch Bande des Bluts, sondern kraft des seelischen Sieges, den sie selbst über ihn errungen, angehörte.

Und dennoch befand er sich in innerem Zwiespalt und geriet mit seinen Theorieen und Erfahrungen über den Naturtrieb völlig in die Brüche. Der Materialist in ihm hatte sich mit der Thatsache abzufinden, daß eine unbekannte, unerklärliche und dabei doch unbesiegbare Gewalt ihn aufs innigste mit einem Kinde verband, das nicht sein Fleisch und Blut war, und das er als greifbares Zeugnis seines Unglücks und seiner Schande zu hassen berechtigt gewesen wäre. Ob die Gewohnheit des Liebens, die seit der Stunde ihrer Geburt fortgesetzte Beschäftigung mit ihr solch mächtige Wirkung übte? Dann wäre es eigentlich die eigne Güte, die er in ihr liebte und anerkannte, ein Gefühl des Danks für die Sorgfalt, die er selbst auf sie verwendete. Ob aber eine auf so niedrigen Motiven beruhende Zuneigung, ein so alltägliches Gefühl stark genug gewesen wäre, dem Entsetzen, womit die furchtbare Entdeckung ihn erfüllt, der Wut, mit der ihn dieselbe durch bebt, standzuhalten? Nein!

Das Rätsel einer Liebe, zu der sein Herz durch eine unbekannte Macht, gegen die er sich nicht aufzulehnen vermochte, gezwungen war, er vermochte es nicht zu lösen, und es schuf ihm tiefe Gedankenarbeit und innere Beunruhigung. Das Gebäude all seiner Ueberzeugungen und Anschauungen schien in seinen Grundmauern zu erbeben und aus den Fugen gehen zu wollen. Er war im Begriff, des Lebens Abhang hinabzusteigen, er hatte sich im Bewußtsein der unerschütterlichen Festigkeit seines Glaubens von jedem Kampf zurückgezogen, sich im Besitz der vollkommensten, zwiespaltfreien, geistigen Sicherheit gewähnt. Im ganzen Bereich des Menschen war er sicher, alles erprobt, alles geprüft, alles beurteilt zu haben, und glaubte nun still stehen zu können und wie der Wanderer, der mühsam die Höhe erklommen, Umschau hält über Thal und Seen, einen Blick rückwärts werfen zu können, und dann friedliche, ungestörte Rast zu halten.

Und nun wichen mit einem Schlag die Grenzen des durchwanderten Gebietes zurück, dehnten sich in unbestimmte Form, die Horizontlinie verlief sich ins Unabsehbare und Rameau erblickte mit Bestürzung eine Fläche vor sich, die der, welche er erforscht, an Ausdehnung weit überlegen war. Oder vielmehr, der Raum, der sich vor seinen Augen dehnte, der wie aus plötzlich hinweggezogenen Verhüllungen hervortrat, er war ihm nicht ganz fremd, hatte sein Vorhandensein immer geahnt, aber er hatte geflissentlich die Blicke davon abgewendet, er hatte nicht sehen wollen. Das Arbeitsfeld des Materialismus, das war sein Eigentum, das war das Ziel seiner Eroberungs- und Herrscherlust gewesen, und nun, da er dies Ziel erreicht, erblickte er plötzlich, wie Moses vom Berge Nebo, ein neues unbekanntes Reich, das gelobte Land, das er geleugnet und bestritten hatte, und das sich jetzt als die Welt des Idealen vor ihm aufthat, tausendfach fruchtbarer und mehr verheißend als alles, was ihm bis hierher das Höchste gewesen.

Erbebend nahm er die unerwartete Offenbarung entgegen; erhaben und leuchtend stellte sich ihm das kaum Geahnte dar. Hier war es, das Land, in dem die Schönheit keusch, die Tugend süß, die Liebe rein war, das Reich des Idealen, wo das Glück ewig währt und wo im ruhigen Lichtglanz der Zweifel schwindet wie Morgenwölkchen vor dem Strahl der Sonne. Geblendet von der Klarheit, die ihn umflutete, wollte Rameau sich ihrem Flammenschein entziehen; die Augen gingen ihm über und er wollte fliehen, zurück in den Schatten, zurück in das Dunkel. Die Unendlichkeit, durch die er sich hingetragen fühlte, beklemmte ihm die Brust; er strebte nach der Erde. Mit gewaltiger Anstrengung stellte er sich wieder auf den Boden der sinnlichen Erscheinungen: er gewann seine Ruhe wieder, sammelte sich, und nachdem er sich vergewissert, daß er nicht das Opfer eines Zauberspuks gewesen und seine klare Vernunft ihm noch zu Diensten sei, versuchte er es, die große Frage kaltblütig zu erörtern.

Sobald er ein über der Materie stehendes Prinzip zugab, war er genötigt, anzuerkennen, was er bisher mit aller Kraft des Menschenstolzes geleugnet hatte: das Vorhandensein einer Seele. Er stieß ein bittres Gelächter aus. Eine Seele! Wo denn? In welchem Körperteil hatte sie ihren Wohnsitz? Von welchem Organ war sie die bewegende Triebkraft? Beherrschte sie das Gehirn? Setzte sie das Herz in Bewegung? Unsinn! Das alles war ja unmöglich! Seine Seele war seine Denkkraft, war die Zusammenfassung seiner durch Arbeit erworbenen und entwickelten Vorstellungen, die Vervollkommnung seiner physischen Triebe, welche er bis zu sittlichen Eigenschaften geläutert und erhoben hatte. Die Seele? Sie war sein zum Ausdruck kommendes Urteil, die Kundgebung seines Willens und nichts andres.

Nichts andres? Und doch erinnerte er sich sehr deutlich, daß es sein fester Wille gewesen, Adrienne zu hassen, daß, wenn er seinem Urteil hätte folgen können, er sich mit Abscheu von ihr abgewendet haben würde, daß aber eine Macht, die er sich nicht zu erklären vermochte und der er im Widerspruch mit sich selbst gehorcht hatte, ihn trotzdem an das Krankenbett des jener Schuld entsprungenen Kindes gedrängt. Daß jene Macht ihn zum Mitleid gezwungen und ihn schließlich bebenden Herzens, von Zärtlichkeit überfließend, zu den Füßen derer, die er hassen wollte und sollte, niedergeworfen hatte. Er wollte hassen und er liebte. Nicht die flüchtige Aufwallung eines unbewachten Augenblicks, nicht eine Rührung, die durch die Erregung der furchtbar gereizten Nerven herbeigeführt worden wäre, nein, ein tiefes, gewaltiges Erbarmen war aus seinem Innersten hervorgequollen und hatte sich wie ein Leben schaffender Strom ergossen und ausgebreitet. Er liebte Adrienne und er fühlte, daß er sie lieben werde, solange Leben in ihm.

Welche höhere Macht aber hatte den heiligen Quell erschlossen, der sein Denken und Empfinden erfrischte und verjüngte? An welche gebunden in ihm ruhende Kraft hatte diese höhere Macht sich gewendet? Wie man sie auch nennen möge, Seele oder Verstand, das Ding war da, sie glühte in ihm, göttlich und nicht menschlich wahrnehmbar, und weder der zufällige Zusammenfluß der Atome, noch die Wissenschaft des Menschen hatte sie geschaffen.

Abermals in höhere Regionen emporgetragen, verlangte es Rameau nicht mehr herabzusteigen. Eine ihm noch fremde Begeisterung erfüllte sein Wesen in überströmendem Maß, eine wonnige Trunkenheit durchbebte ihn. Er glaubte seine Stirne brennen zu fühlen, als ob seine Gedanken sich in heiliger Glut entzündeten und der ganze Mensch überirdischer Freude voll sei. All die alten Ueberzeugungen erkannte er als falsch, all seine Theorieen als eitel; wohin er blickte, nichts als unfruchtbare Trümmer, zerbröckelndes Gemäuer. Die Gewißheit, daß ein höheres Wesen, ein Urquell aller Größe und Güte und Liebe sei, erschien ihm in leuchtender Klarheit, und mit einem Jubelruf bekannte er, daß er blind gewesen, und willig öffnete er sein Auge dem neuen Licht.

* * *

Zwei Monate später, an einem schönen Sommertag Ende Juli, fand sich alles, was Paris an Gelehrten und Künstlern besaß, in der Kirche der heiligen Klotilde zusammen, um der Trauung des Fräuleins Adrienne Rameau mit Herrn Doktor Servant beizuwohnen. Die Menge, welche Haupt- und Seitenschiffe zum Erdrücken füllte, stand auch am Eingang und sogar auf der Straße dicht gedrängt; durch die offenstehende Hauptpforte gewann man den Einblick auf den lichterschimmernden Altar und vernahm die letzten Accorde des hochzeitlichen Marschs.

Das festliche Brautgeleite war versammelt und nun erschien unter Vortritt von zwei Schweizern, die ihre Hellebarden klirrend auf den Steinfliesen aufprallen ließen, am Arm des Vaters die Braut und durchschritt unter einem Beifallsgemurmel, das sich durch alle Reihen fortpflanzte, das Schiff. Ihre rosige Farbe, das goldne Haar schimmerten leuchtend durch den duftigen Schleier; gesenkten Blickes, in ernster Sammlung ging sie voll Anmut und mit einer gewissen Würde dahin und vernahm keine Silbe von dem begeisterten Lob, das ihrer Schönheit hörbar genug gespendet wurde. Sehr bleich, aber mit einem Lächeln voll innerer Befriedigung, schien Rameau sie wie im Triumph dahin zu führen und er trug den schönen Kopf mit dem weißen Haar höher als sonst. Hinter ihm folgte Talvanne mit Robert und dann in langer Reihe Verwandte und Freunde, die ihren Bekannten unter den Zuschauern grüßend zunickten. Jetzt setzte die Orgel ein und ihre harmonischen Klänge, die Blumen, die ringsum ihre Düfte spendeten, und der Glanz der Kerzen, die das Dunkel blendend erhellten, alles vereinte sich, die Herzen froh zu stimmen und zu erheben.

Die Neuvermählten nahmen auf den ihnen angewiesenen Stühlen Platz und die kirchliche Zeremonie begann. Dem Chor gegenüber saßen sie, getrennt von den Ihrigen, auf vergoldeten Sesseln nebeneinander und waren eins in gemeinsamer Andacht.

Der Priester am Altar las die Gebete, und nur das aus der Entfernung hereindringende Geräusch vorüberfahrender Wagen und das Geflüster der draußen harrenden Menge unterbrachen hie und da das tiefe, andächtige Schweigen.

Talvanne, der wie ein Bruder an Rameaus Seite saß, betrachtete mit freudigem Stolz dies junge Paar und freute sich an der Schönheit der Braut und an der eleganten, männlichen Erscheinung des Gatten. Wenn er sich erinnerte, wie viel es gekostet hatte, diese beiden glücklich zu machen, so schwoll sein Herz von Dank für die Vorsehung, die ihre führende Hand so sichtlich kund gethan hatte; nach so wildem Sturm hatte man nun den sichern Port erreicht, und die Zukunft konnte nur Ruhe und ungetrübtes Glück bringen, denn sie alle hatten so viel gelitten, daß der Kelch der Schmerzen erschöpft sein mußte.

Jetzt stieg der Geistliche gemessenen Schrittes die Stufen vom Altar herab, um die Hände der jungen Gatten ineinander zu legen. Der zurückgeschlagene Schleier ließ Adriennes Gesichtchen im tiefen Ernst innigen Gebets erblicken. Auf die Frage: »Wollen Sie den hier u. s. w.« erklang ein helles, deutliches »Ja« von ihren Lippen, und mit einer leisen Wendung des Kopfes suchte ihr Blick den Vater, als ob sie das Glück, das sich ihr erschloß, ihm darbringen wollte.

So überreiche Kindesliebe lag in den blauen Augen, daß Rameaus Herz rascher schlug und ein unendliches Glücksgefühl ihn durchströmte. Im nämlichen Augenblick fiel ein voller Sonnenstrahl durch die gemalten Scheiben und umgab das blonde Köpfchen mit lichtem Schein, daß sie wie verklärt, wie die unter die Menschen getretene, von göttlichem Glanz umflossene Lichtgestalt einer Heiligen erschien. Und trotz der blauen Augen und des blonden Haares erblickte Rameau in ihr nicht mehr das Kind der Schuld, sondern einen ihm zum Trost in aller Qual gesandten Engel. Was noch von Bitterkeit und Schmerz in seiner Seele zurückgeblieben, das löste sich in wonnevollem Entzücken und voll einfältigen Dankgefühls neigte er in Demut sein Haupt, und der Freund, der an seiner Seite das Knie beugte, vernahm deutlich die leise und voll Inbrunst geflüsterten Worte: »Mein Gott! ... Mein Gott und »mein Herr!«

Der Atheist betete.

Ende.


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