Georges Ohnet
Doktor Rameau – Zweiter Band
Georges Ohnet

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Achtes Kapitel.

In Rameaus Arbeitszimmer saß Talvanne am Kamin und wärmte sich an dem Feuer, welches das ganze Jahr, im Frühjahr und Sommer bei weit geöffneten Fenstern, in demselben brannte. Der Doktor hatte seinen Freund mit einem Kopfnicken willkommen geheißen und war dann wieder in das Studium eines Fachberichts versunken, wobei er hin und wieder mit Bleistift Notizen auf den Rand schrieb. Nach einiger Zeit schob er das Papier zurück und warf, sich mit dem Stuhl drehend, einen Blick auf die Wanduhr.

»Schon zwölf!« rief er.

»Ja. Wieviel Kranke hast du da gehabt?«

»Ein Dutzend etwa. Ich muß mich vor dem Frühstück noch ankleiden, denn ich bin heute Examinator in der Schule. Sei so gut und klingle.«

Talvanne drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel, den er von seinem Platz bequem erreichen konnte, und wie wenn Rameaus sämtliche Bedürfnisse vorhergesehen und alles im voraus angeordnet wäre, trat gleich darauf Rosalie mit Rock, Weste und Krawatte herein. Der Doktor duldete um seine Person keine andre Bedienung als die der alten Frau, die sich vollständig in seine Gewohnheiten, Liebhabereien und kleinen Narrheiten eingelebt hatte und sogar wagen durfte, ihn in der Arbeit zu unterbrechen, um ihn daran zu erinnern, daß er zu bestimmter Stunde dies und jenes vorhabe und infolgedessen jetzt abbrechen müsse. Im übrigen versah sie ihren Dienst schweigsam, gab kurze, sachgemäße Antworten, und Rameau hatte sie gern um sich.

Sie breitete die Kleidungsstücke auf einem Lehnstuhl aus, öffnete ein büffettartiges Möbel, das den im Zimmer des Arztes unentbehrlichen Waschapparat verschloß, und legte, ohne ein Wort zu verlieren, alles zurecht, was ihr Gebieter nötig hatte. Dann nahm sie den weiten, schwarzen, kuttenartigen Rock, den er zu Hause trug, vom Sofa auf und ging hinaus.

Der Doktor trat in Hemdärmeln an seinen Waschtisch und fing an seine Hände mit Seife zu behandeln. Talvanne ging ans Fenster und blickte, auf die eiserne Brustwehr gelehnt, hinunter, Robert, der Adrienne nach Erledigung seiner Sekretärsdienste sofort aufgesucht hatte, ging mit ihr langsam in den schmalen Wegen zwischen den kurz gehaltenen englischen Rasenbeeten im Sonnenschein auf und ab, und beiden schien sehr vergnüglich zu Mute zu sein. Sie plauderten eifrig; man konnte die Worte nicht verstehen, aber nach ihren fröhlichen Mienen und freundlichen Blicken zu schließen, mußten sie etwas Heiteres verhandeln und wohl miteinander zufrieden sein. Die Zeit verstrich ihnen offenbar rasch und angenehm unter dem Gebüsch, das duftend in Blüte stand und in dessen rosig angehauchten Zweigen die Vögel ihren Frühlingsjubel in alle Welt hinausschmetterten. Talvannes Blicke ruhten liebevoll auf den beiden jugendlichen Gestalten, er fühlte mit, wie ihnen zu Mut sein mochte, und freute sich ihres Glückes in tiefster Seele. Er wandte den Kopf und sah, daß Rameau angekleidet war; er winkte ihn zu sich ans Fenster und zeigte ihm das auf und ab wandelnde Paar.

»Sieh hin,« sagte er, »sie passen zu einander, findest du nicht?«

Rameau schwieg. Vor seinem inneren Auge stand wie mit Zauberschlag ein andres Bild und nur der Rahmen war derselbe. In diesem nämlichen Garten, nur nicht in hellem Sonnenschein, sondern in der Abenddämmerung, die sich da und dort, wo die blühenden Bäume dichte Gruppen bildeten, schon zu nächtlichem Dunkel verdichtete, schritt mit nachlässigen Schritten, leise flüsternd, ein andres Paar auf und ab – der Mann war er selbst, und sie war Conchita! Wie waren sie der Gegenwart froh und der Zukunft sicher gewesen! Und doch verdüsterte sich ihr Geschick und hüllte sie in düstere Schatten, ohne daß sie je eine Ahnung beschlichen gehabt, welch ein Verhängnis ihrer harre.

Der Doktor stieß einen Seufzer aus – wird es mit diesen beiden Kindern, die heiter und sorglos da unten lustwandeln, ebenso ergehen? Würden ihr Glück und ihre Liebe sich die Wagschale halten, oder würden Kummer und Pein aus dieser Einigkeit hervorgehen? Seit lange schon hatte er sie in all seinen Gedanken vereint gesehen, und nun, da der entscheidende Moment herannahte, zögerte er, und eine Unruhe, eine innere Unsicherheit bemächtigte sich seiner, und wie das Vorgefühl schweren Unglücks lastete es auf ihm. Was konnte aber aus dieser Furcht Gutes kommen? Ein tieferes Leid für die beiden wäre es unstreitig, jetzt auseinander gerissen zu werden, als verbunden noch so Schweres auf sich nehmen zu müssen. Hatte er sie nicht in jener Herzenseinheit, der vollkommensten Gemeinschaft im Denken und Empfinden, welche Liebe schafft und für die Liebe vorbereitet, heranwachsen lassen? Diese schweigende Voraussetzung künftiger Zusammengehörigkeit war es ja gewesen, was ihrem Kindheits- und Jugendverkehr solche Innigkeit, solchen Reiz verliehen hatte, und wenn das Geschick ihnen Leid und Kummer vorbehalten hatte, so trug sich die Last doch zu zweien leichter als getrennt. War ihnen aber ein wolkenloses Glück beschieden, so konnten sie dessen nur im gegenseitigen Beglücken und gemeinsamen Genießen froh werden.

Schmerzlich ergriffen trat er von dem Fenster zurück und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Talvanne sah ihn erstaunt an, und die sichtliche Verstimmung des Freundes war ihm ein Rätsel – sprach denn nicht alles von Glück und Hoffnung, wenn man sich diese zwei Menschenkinder, die so ganz füreinander geschaffen schienen, vereint dachte?

»Was hast du nur?« sagte er. »Fast ist es, als ob der Anblick dieser jugendlichen Liebesleute in ihrem Rahmen von knospendem, werdendem Grün dir die Seele verfinstert habe? Willst du nicht, daß sie einander angehören? Dann ist es hohe Zeit, ihnen das verständlich zu machen, denn seit mehr als Jahresfrist ist an Stelle der Kinderfreundschaft ein andres Gefühl getreten. Du, der du immer in deinen Arbeiten steckst und den Kopf voll wissenschaftlicher Probleme hast, hast es vielleicht übersehen, aber ich Alltagsmensch, dessen Hirn Raum hat für die kleinen Dinge des Menschenlebens, kann dir sagen, daß Robert deine Adrienne von ganzer Seele liebt, und daß er ihr zum mindesten nicht gleichgültig ist. Er ist siebenundzwanzig Jahre alt, sie achtzehn: er braun, sie blond. Er bietet alle physiognomischen Kennzeichen eines äußerst glücklich und gleichmäßig angelegten Mesokephalen – ich glaube, daß du ihm voll vertrauen kannst; er wird sie glücklich machen.«

»Und das muß sie werden! Sie glücklich zu wissen wird meine letzte Lebensfreude sein; dies Kind steht mir über allem. Ich werde mit ihr sprechen und will das Geheimnis ihres Herzens von ihren eignen Lippen erfahren. Auch Robert werde ich prüfen, und wenn du dich in deinen Vermutungen nicht getäuscht hast, nun ja, dann lassen wir sie heiraten und werden mit ihren Kindern selbst wieder jung!«

»Schiebe es nicht lange hinaus! Zeit, um sich kennen zu lernen, brauchen sie nicht; keins hat einen Gedanken, der dem andern fremd wäre. Man kann es also füglich mit dem Brautstand kurz machen.«

Rameaus Ausdruck ward wieder bekümmert, und mit einer Stimme, die von innerer Erregung bebte, sprach er: »Ich muß die nötigen Papiere zusammen suchen und ordnen. Meinen Trauschein, die Geburtsanmeldung meiner Tochter ... all diese Dinge sind in einem kleinen Schränkchen, zu dem meine Frau den Schlüssel hatte, und das in ihrem Zimmer steht. Du weißt, daß ich nur einmal des Jahres, am schmerzlichsten aller Gedenktage, in diesen Raum eindringe, wo tausend qualvolle Erinnerungen auf mich einstürmen. Ich werde es über mich gewinnen, jenem Jahrestag vorzugreifen, und morgen schon jene traurigen Erinnerungen aufstöbern. Zum erstenmal wird die Ruhe dieser geliebten Reliquien gestört werden – du fühlst mir wohl nach, was mich diese Ausgrabung kostet. Aber es muß sein ... ich werde es vollbringen ...«

Es wurde kein weiteres Wort gewechselt, und schweigend gingen beide in das Speisezimmer hinunter, wo die jungen Leute schon auf sie warteten. Rasch und ohne eine Unterhaltung zu führen, wurde gefrühstückt, worauf Robert mit Talvanne und dem Doktor das Haus verließ. Am Abend blieb der Psychiater aus und Rameau war mit seinem Kinde bei Tisch allein. Während der ganzen Mahlzeit ruhte sein Blick fast unverwandt auf ihr, und seine Augen, die Verborgenes zu enträtseln wußten, studierten jede einzelne Linie des jungen Gesichts voll Frische und Gesundheit und ruhten mit Freude auf der ebenmäßigen, anmutigen und kräftigen Gestalt.

Erstaunt über diese seltsame Anwandlung des Vaters dachte Adrienne hin und her, was wohl die Ursache dieser gründlichen Beobachtung sein möchte; ihre kindliche Ehrfurcht war aber so groß, daß sie keine Frage stellte, sondern geduldig abwartete, bis er selbst ihr die gewünschte Aufklärung geben würde. Erst als er sich wieder in seinem Arbeitszimmer befand, entschloß er sich zum Sprechen. Er zog das junge Mädchen an sich, drückte sie auf einen niederen Sitz neben seinem Lehnstuhl nieder, daß sie ihm fast zu Füßen saß, und begann, indem er ihre Hand in die seinige nahm: »Ich habe heute früh eine wichtige Unterredung mit deinem Paten gehabt, die sich ausschließlich um dich drehte!«

Mit einer Ueberraschung, die nicht ganz frei von Unbehagen war, hob sie das Köpfchen und sah ihm erwartungsvoll ins Gesicht.

»Keine Sorge, mein Kind! Du weißt ja, dich glücklich zu machen, liegt uns mehr als alles andre am Herzen. Was auch wir geträumt, geplant und gewünscht haben könnten, muß zurücktreten, wenn du andre Träume und andre Wünsche hegen solltest.«

Sie lächelte, und vollständig klar darüber, wo der Vater hinaus wollte, reckte sie sich ein wenig in die Höhe, schmiegte sich an seine Schulter und küßte ihn zärtlich.

»Du bist achtzehn Jahre alt geworden,« fuhr der Doktor fort, »und also jetzt ein erwachsenes Mädchen, das an ein andres Dasein zu denken hat als an das Leben, das du bisher mit zwei nicht alle Zeit froh gestimmten alten Männern, wie Talvanne und ich, geführt ...«

Diesmal konnte Adrienne sich nicht zurückhalten und fiel dem Vater lebhaft und voll Wärme ins Wort: »Und doch möchte ich gerade so immer fortleben und glaube nicht, daß ich je glücklicher werden kann, als ich es bei dir und dem Paten bin.«

»Mehr Liebe kannst du jedenfalls nie und nirgends finden, denn seit du das Licht der Welt erblickt, bist du für uns beide der Mittelpunkt des Daseins gewesen! Aber, mein Kind, wir werden nicht immer um dich sein, und die Liebe, mit der wir dich umgeben, wirst du eines Tages entbehren lernen müssen – deshalb ist es unsre Pflicht, an deine Zukunft zu denken, und für ein junges Mädchen bedeutet Zukunft – die Heirat! Glaube ja nicht, daß ich ohne Kampf und Schmerz an diese Frage herantrete.... Wenn du dich bis jetzt in unsrer Hut glücklich gefühlt hast, so war uns dein Besitz der letzte Sonnenschein, den uns das Leben bot, der höchste Trost, den es uns aufbehalten. Dies Haus, durch das so viel Leid und Herzweh seinen Weg genommen, fand durch dich ein wenig Frohsinn, ein wenig Leben wieder. ... Du warst unser Lichtstrahl, unsre Wonne, und ich kann dir wohl gestehen, daß unser Herz sich schmerzlich zusammenzieht bei dem Gedanken, dies alles einem andern überlassen zu sollen. So selbstsüchtig sind wir aber nicht, daß wir das Opfer deines Glückes forderten oder annahmen, und wir wollen dich freudig einem Gefährten übergeben, an dessen Arm du gesichert und geschützt deinen Weg durchs Leben finden wirst.«

»Also willst du dich von mir trennen?«

»Nein, mein geliebtes Kind, ich hoffe sicherlich, daß der, den du dir zum Gatten erwählst, mich deiner Nähe nicht berauben wird ... aber du weißt und fühlst, daß das Weib dem Gatten anhängen muß, und daß du, auch wenn du mir äußerlich nahe bleibst, mir nicht mehr so angehören wirst, wie jetzt. Zwischen dich und mich wird von nun an der Gedanke an einen andern, die Sorge für einen andern sich stellen.... Ach, Kind, und ist denn dem nicht jetzt schon so? Ist es nicht vielleicht eine thörichte Selbsttäuschung, wenn ich mir einbilde, noch dein ganzes Herz zu besitzen? Talvanne behauptet, daß du nicht mehr ganz unser seiest, daß du liebest...«

Adriennes Hand fing in der des Vaters zu zittern an, eine dunkle Glut bedeckte ihr Gesicht, und sie schwieg betroffen und fand nicht mehr den Mut, die Augen aufzuschlagen.

»Ich mache dir das nicht zum Vorwurf, mein Liebling,« tröstete sie der Arzt. »Ja, und ich will dich auch nicht mit Fragen quälen. Ich habe volles Vertrauen in dich und bin zum voraus gewiß, daß, wenn dein Blick auf einen jungen Mann gefallen, deine Wahl eine solche sein wird, daß ich ihr nur von Herzen beipflichten kann ...«

»O, das wirst du, Väterchen!«

Sie schwieg, sichtlich beschämt und erschrocken über die Wärme, mit der sie diese Worte gesprochen hatte. Rameau lächelte mild und faßte sie am Kinn, daß sie das gesenkte Köpfchen voll zu ihm erheben mußte.

»Also auch die Ehrlichsten und Besten unter euch haben ihre Heimlichkeiten,« sagte er. »Dir stecken Dinge im Kopfe, die ich nicht bei dir vermutet! Dein Pate Talvanne ist weit hellsehender gewesen, als der eigne Vater, er hat sich durch deine äußere Ruhe nicht täuschen lassen und hat deinen kleinen Roman erraten. Jetzt aber, Kind, beichte ... jetzt will ich alles wissen!«

»O, Papa, da ist herzlich wenig zu erzählen, und romanhaft ist die Sache ganz und gar nicht. Möglicherweise habe ich auch leere Luftschlösser gebaut und war mein Traum ein einseitiger, denn nie ist zwischen mir und dem, von dem du mir sprichst, ein Wort gefallen....«

»Wer ist ›er‹ denn?«

Sie schlug die jungen, unschuldigen Augen zu ihm auf und sprach so ruhig und selbstverständlich, als ob ein andrer Name überhaupt nicht über ihre Lippen kommen könnte: »Robert Servant.«

Rameau atmete erleichtert auf. Er hatte eigentlich nie bezweifelt, daß Talvanne recht gesehen, aber er empfand doch eine tiefe Genugthuung darüber, nun Gewißheit zu haben, daß der, welchen er seinem Kinde zum Gatten bestimmt, der Mann ihrer Wahl war.

»Und du liebst ihn?«

»Ich habe darin nur dein Beispiel befolgt, Väterchen!« versetzte das junge Mädchen mit seiner Klugheit. »Du hast ihn ja von jeher wie einen Sohn behandelt. Ich freute mich, so oft er unser Haus betrat; er war mein Spielkamerad, solange ich ein Kind war, er ward mein Freund, als ich heranwuchs; immer war er um mich, und wenn er heute von uns scheiden würde, so wäre das für mich ein großer Schmerz. Außer dem Paten und dir kenne ich keinen Menschen so gut wie ihn. Hatte ich Kummer, so war er mein Tröster und Berater, war ich fröhlich, so freute er sich mit mir. Sein ganzes Wesen erscheint mir edel, zartfühlend und herzensgut, und wenn lieben heißt, daß man den Wunsch hegt, sein ganzes Leben mit jemand zu verbringen, dann liebe ich ihn!«

Mit tiefer Aufmerksamkeit war Rameau ihren Worten gefolgt, hatte keine ihrer Bewegungen außer Auge gelassen, und der keusche Reiz ihres Wesens berührte ihn mächtig und zauberhaft. Er suchte sich seine Empfindung nicht klar zu machen und legte sich keine Rechenschaft über ein Gefühl ab, dem er sich rückhaltslos überließ.

»Und er, glaubst du, daß er dich liebt? Hat er dir's gesagt?«

»Gesagt? Nein, aber ich weiß, daß meine Nähe ihm ebenso lieb ist, wie mir die seine. Im Ton der Stimme liegt, wenn er mit mir spricht, sein ganzes Herz und in seinen Augen auch. Als seine Mutter gestorben war – du erinnerst dich doch, Papa – ging ich mit Rosalie hin, um an ihrer Leiche zu wachen. Wir fanden den armen Robert ganz allein mit seinem Schmerz, denn er hatte ja in Paris keine Angehörigen. Als er uns eintreten sah, war er so bewegt, daß er kein Wort sprechen konnte; er führte mich in das Zimmer, wo seine Mutter lag, und blieb bei mir. Ohne zu sprechen, saßen wir miteinander am Fenster, und seine Augen waren, so oft ich seinem Blick begegnete, voll stillen Dankes. Als ich abends wegging, nahm er einen kleinen Ring mit einer Perle, den einzigen, den Frau Servant je getragen, und gab ihn mir mit den Worten: ›Dies ist eins der teuersten Andenken an meine Mutter, die ich besitze, denn sie hatte diesen Ring schon als junges Mädchen und ließ ihn nie vom Finger. Ich bitte, daß Sie ihn annehmen und sich nie davon trennen!‹ Seine Stimme bebte, und ich wußte nicht, was thun; das Kleinod anzunehmen, davor bangte mir, und doch fürchtete ich, ihn durch meine Weigerung zu betrüben. Während ich so in meinem Kampfe vor ihm stand, ergriff er sachte meine Hand und streifte mir selbst den goldnen Reif an den Finger, und über sein tieftrauriges Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. Eine Thräne fiel auf den Ring, und mir erschien derselbe wie das erste Glied an einer Kette, die uns unlöslich und unzerreißbar verband. Als ich nach Hause kam, zeigte ich dir den Ring und erzählte dir genau, wie ich in seinen Besitz gelangt: du küßtest mich und sagtest nichts von Zurückgeben, was mich im tiefsten Herzen glücklich machte, denn ich wußte jetzt, daß du meine Neigung für Robert nicht mißbilligest. In den Tagen der Trauer durfte er sich noch wärmer als zuvor an dich anschließen; du machtest ihm unser Haus zu seiner Heimat, und er nahm dies ohne Widerstreben an. Seitdem vergeht kein Tag, an dem ich ihn nicht sehe: wir gehen miteinander im Garten spazieren, wir plaudern und lachen zusammen, und ich bin so glücklich, daß ich mir gar nicht denken kann, wie ich noch glücklicher werden könnte!«

»Er hat also nie ein Wort über sein Hoffen und Wünschen verlauten lassen?«

»Wozu denn?« sagte Adrienne ruhig, voll tiefen, unschuldigen Vertrauens, »wir wissen sehr wohl, wie es um unsre Herzen bestellt ist, ich kenne das seine, und er das meine.«

»Du bist seiner vollkommen sicher?«

»So sicher, Vater, als er meiner ist.«

»Ohne daß ihr euch je ausgesprochen hättet?«

»Unsre Augen haben sich ausgesprochen, Väterchen!«

»Du willst also seine Frau werden?«

»Ja, Papa, denn er wird dir ein guter Sohn sein, und unser Leben wird keine Umgestaltung erfahren. Der Pate ist es sicherlich auch wohl zufrieden, denn er hat Robert lieb, darüber täusche ich mich nicht! Verstellung ist Onkel Talvannes Sache nicht, und wenn ihm etwas nicht behagt, oder er einem nicht traut, merkt man es ihm auf der Stelle an. Robert aber hat er immer mit denselben Augen angesehen wie mich, und bei jeder Gelegenheit hat er mit mir von ihm gesprochen!«

»So, so; du bist also der Ansicht, daß er eure Neigung begünstigt hat?«

»Ja wohl, Papa, und das hat mich immer sehr gefreut.«

»Und was ich dazu sagen werde, darüber hast du dir keine Gedanken gemacht?«

Adrienne setzte sich lachend auf des Vaters Kniee und bot ihm die frischen rosigen Lippen zum Kuß.

»Ach du, Väterchen! Du kannst mir ja doch nichts abschlagen, wenn ich dich recht herzlich darum bitte!«

»Um die Ruhe deines Daseins ist es aber bei alledem doch geschehen,« sagte der Doktor mit großem Ernst, »und leicht dürfen wir solchen entscheidenden Schritt nicht nehmen. Ich halte Robert auch für einen guten, ehrlichen Menschen, und ich weiß, daß er als Arzt eine Zukunft hat. Wie viele unvorhergesehene Schwierigkeiten und Sorgen das Leben aber trotzdem bringt, davon hast du, mein Kind, noch keine Vorstellung, und es thut gut, sich nach Kräften zu wehren und vorzusehen vor allerlei Hinterlist und Tücke des Schicksals. Dies ist Sache der Alten, die ihr Teil Erfahrung sauer genug und um den Preis großer Schmerzen erworben haben! Talvanne und ich werden deinem Robert auf den Zahn fühlen, und bewährt er sich als der, für den wir ihn halten, hat er wirklich die Empfindungen, die wir bei ihm voraussetzen, dann, mein Kind, will ich, so schwer es mir wird, einen Teil deines lieben, kleinen Herzchens abzutreten, dich ihm anvertrauen und du sollst glücklich werden!«

Adrienne hing am Halse des Vaters und bedeckte sein Gesicht mit Küssen, die wohl nur zur Hälfte ihm galten, Rameau aber löste sanft die Arme, die ihn so warm umschlangen, und schob sein Kind ein wenig von sich.

»Geh jetzt, mein Liebling,« sagte er und in seiner Stimme zitterte noch immer tiefe Rührung, »und laß mich arbeiten. Schlafe ruhig und süß, damit dein Liebster morgen früh deine Augen frisch und deine Wangen rosig findet.«

Das junge Mädchen wünschte dem Vater gute Nacht und zog sich gehorsam zurück; eine ruhige, tief innerliche Glückseligkeit verklärte ihr ganzes Wesen. Rameau griff nach seinen Spitalberichten und versuchte zu lesen, aber er konnte seine Gedanken nicht sammeln und es gelang ihm nicht, Anteil an seiner Arbeit zu gewinnen. Immer wieder verschwammen ihm die Buchstaben vor den Augen und an ihrer Stelle erschien ein junges Menschenpaar, das leichten Schrittes dahinwandelte und süße Liebesworte flüsterte. Das Herz ging ihm auf bei diesem Bilde; eine weiche Glücksstimmung, die ihm lange fremd gewesen, durchdrang sein Innerstes mit lichter Wärme, und Empfindungen, die er für alle Zeiten versiegt und verdorrt gewähnt, rührten sich und schienen aus langem Winterschlaf zu erwachen.

In tiefem Nachsinnen hielt er das Haupt gesenkt, und nicht ohne Bitterkeit sagte er sich, daß der Mensch nie genügend losgelöst sei aus irdischen Banden, und daß Schmerz und Freude immer wieder in seinem Herzen ein offenes Feld für ihre unerschöpflichen Saaten finden. Der Baum, den der Blitz gespalten und der Winter ausgetrocknet, grünt nicht wieder, langsam verfault sein Stamm und zerfällt in Staub, um wieder ein Teil der Erdmasse zu werden. Nach Jahren der Unfruchtbarkeit regt sich kein neuer Saft mehr in ihm, und das dürre Holz treibt nie wieder Knospen und Blüten. Und er, der entlaubte Stamm, der so lange regungslos gestanden, fand nun mit einemmal die Fähigkeit wieder, zu fühlen und folglich zu leiden! Er mußte erkennen, daß er mit jeder Fiber seines Herzens an den mit ihm Lebenden hing und an jeder Wendung ihres Geschickes tiefinnerlichen Anteil nahm: er hatte sein Empfinden erstorben geglaubt, und ward mit einem gewissen Entsetzen, in das sich doch auch ein Hauch der Freude mischte, inne, daß er lebte und also auch noch einmal glücklich sein konnte.

Denn mußte es nicht eine Wonne sein, dies liebenswerte Kind zum beglückenden Weib sich entfalten zu sehen? Mußte dies Glück, dessen Schöpfer er war, ihn nicht erwärmen und durchglühen? Durfte er nicht hoffen, Enkel zu erleben, die zärtlichen Herzens wie ihre Mutter unter seinen Augen heranwachsen und ihn mit Liebe umgeben würden? Es ward ihm trübe vor den Augen, sie hatten sich mit Thränen gefüllt. Eine Stimme erhob sich in seinem Innern und klagte ihn der Untreue gegen das Angedenken der Toten an: »Du hattest dir geschworen, nicht einen einzigen Gedanken zu hegen, der nicht ihr gälte; ihr Bild sollte immerwährend vor deinen Augen stehen, allein und ausschließlich, wie das einer Gottheit, der du dein Leben hingegeben. Und jetzt entweihst du die Einsamkeit, in der sie allein herrschte, und dein Herz thut sich neuer Liebe, dein Geist neuen Gedanken auf. Die Trauer, die du fünfzehn Jahre zur Schau getragen, und die dir als eine keinem Trost zugängliche erschien, wird dadurch, daß du jetzt in einem Augenblick alle schwarzen Schleier von deiner Seele reißest, zur Komödie herabgewürdigt. Du nimmst einen Ersatz an für sie, die deine Seele mit sich von dannen genommen zu haben schien.

Aber sein klarer Verstand und sein gesunder Wille kämpften diese Empfindungen nieder. »Dem Menschen,« sagte er sich, »wird nur ein gewisses Maß von Sorge und Schmerz auferlegt, und es wäre Undankbarkeit von seiner Seite, Freuden und Entschädigungen, die sich ihm bieten, von sich zu weisen. Daß mein Kind glücklich wird, und daß ich dessen von Herzen froh bin, ist nur gerecht; wenn ich nicht des Lebens Bitterkeit und Süße empfinden sollte, wozu wäre ich ein Mensch?« Uebrigens flüsterte ihm sein nur auf kurze Zeit in den Hintergrund getretener Pessimismus zu: »Wie leicht kann dieser Schein des Glückes eitel Trug sein, und wer weiß, ob nicht statt der Freuden, deren Genuß ich mir zum Vorwurf mache, unvorhergesehenes Leid und bittere Kümmernisse meiner harren?«

Er ging völlig auf die Suche nach Enttäuschungen und Bitterkeiten, die ihm in der Zukunft bevorstehen könnten, und das Entsetzlichste, was vor seiner Vorstellung auftauchte, war die Möglichkeit, seines Kindes beraubt zu werden. Wenn Adrienne bei der bevorstehenden Umgestaltung ihres Lebens krank werden, sterben sollte, was dann? Das Bild der Leere und Einsamkeit, in der er sein Leben dann weiter schleppen müßte, trat mit solcher Macht vor sein inneres Auge, daß er die ganze Unerträglichkeit eines solchen Zustands empfand; hastig erhob er sich und ging, um sich von dieser Vorstellung zu befreien, mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Nach einer Weile ward er ruhiger und konnte sogar die Arbeit wieder aufnehmen.

Als Robert sich am folgenden Morgen um zehn Uhr in der Rue Saint Dominique einfand, um sich gewohntermaßen seinen Lehrern zur Verfügung zu stellen, kam ihm die alte Rosalie entgegen und vertrat ihm ganz einfach den Weg. Höchlich überrascht, wollte er sich nach der Ursache dieses seltsamen Gebarens erkundigen, sie aber wies ihn schweigend in den kleinen Salon, wo er Doktor Talvanne mit einer Zeitung in der Hand vorfand. Der alte Freund erhob sich mit großer Lebhaftigkeit und streckte ihm herzlich die Hand entgegen.

»Rameau ist beschäftigt,« sagte er, »wir sind aus seinem Bereich verwiesen! Setze dich und leiste mir einstweilen Gesellschaft. Was gibt's Neues in der Wissenschaft?«

»Aber, Doktor,« versetzte Robert lachend, »das wissen Sie, dächt' ich, besser als ich....«

»Auf dem Gebiet des Ernsthaften vielleicht, aber von der heitern Seite der Dinge weiß ich gegenwärtig so gut wie nichts. Kannst mich ein wenig in den Studentenklatsch einweihen ... oder werden etwa keine Bosheiten mehr erfunden, keine Lehrer mehr lächerlich gemacht?«

»O, was das betrifft, ist keine Abnahme an Thätigkeit zu verzeichnen!«

»Also denn! Laß mich hören!«

»Es heißt, daß Professor Gazan für die schwere Operation, die er zu seiner Spezialität gemacht, von jedem Patienten das Einkommen eines Jahres als Honorar verlange. Um die Summe richtig festzustellen, hat er sich ein regelrechtes Auskunftsbüreau geschaffen, das ihn haarklein über den Besitzstand der Kranken unterrichtet, und als neulich der Gemahl einer sehr kunstvoll entzweigeschnittenen und wieder zugenähten Dame sich über die Forderung empörte und versicherte, daß er bei weitem nicht so reich sei, als man anzunehmen scheine, fiel Gazan ihm ins Wort und sagte mit großer Bestimmtheit und Strenge: ›Mein Herr, Sie besitzen in der Rue de Rivoli ein Haus, das so und so viel Zins trägt, zwei Güter in der Normandie, die das und das tragen, und die und die Summe in Wertpapieren. ... Machen Sie sich keine Hoffnung, mich zu hintergehen.‹ Bestürzt und beschämt sah der Wackere zu Boden und ließ sich gutwillig auspfänden.«

»Und wenn die Operation mißlingt, zahlt der Herr Professor dann das Geld heraus?«

»Fällt ihm gar nicht ein! Der Kranke stirbt und Gazan behält sein Geld.«

»Das sind freilich neue Moden, mein Junge, von denen zu meiner Zeit kein Mensch eine Ahnung hatte. Damals hieß das Ding mit Recht Wissenschaft, heutzutage handelt es sich um medizinische und chirurgische Industrie. Geld verdienen ist die Losung, und du sollst dabei nicht zu kurz kommen – ich habe gehört, daß Rameau dir einen Vertrauensposten übergeben will. Du wirst nach Sachsen geschickt und sollst sechs Monate dort bleiben, dabei hast du Muße, deine Habilitierungsthesen vorzubereiten, und wirst fürstlich bezahlt. So etwas kann man sich schon gefallen lassen, nicht?«

Talvanne hätte noch lange weiter reden können, ohne einem Einwand zu begegnen, denn Robert hörte überhaupt nicht mehr zu. Er war sehr rot geworden und blickte, als ob er das Auge des Doktors scheue, krampfhaft zu Boden, wo eine Blume des Teppichmusters ihn über die Maßen zu fesseln schien. Die Mitteilung, die ihm eben zu teil geworden, war ein betäubender Schlag. Seit zwei Monaten hatte er den Weg von seiner Wohnung in die Rue Saint Dominique nie anders zurückgelegt, als mit dem festen Vorsatz: »Heute nehme ich mein Herz in beide Hände und rede ernstlich mit dem Meister.« Dies ernstliche Reden aber bedeutete für den jungen Mann, daß er Rameau seine Liebe zu Adrienne gestehen wollte und ihn um ihre Hand bitten.

Fest entschlossen, dem Herrscherblick des Doktors mit kühner Stirn entgegenzutreten, verließ er seine Wohnung. War es denn schließlich etwas gar so Peinvolles um diesen Schritt? Behandelte der große Mann ihn nicht wie einen Sohn? Ganz gewiß! Hatte er denn den geringsten Grund, an seinem Wohlwollen zu zweifeln? In keiner Hinsicht! Aber trotzdem – Rameau war darum nicht minder der Gewaltige, vor dem zu zittern Robert in den fünfzehn Jahren eines tagtäglichen Verkehrs nicht verlernt hatte. Wenn er die Thürklinke in die Hand nahm und die Schwelle überschritt, wo er den Meister an seinem Arbeitstisch sitzend wußte, so überkam ihn Tag für Tag eine gewisse Bangigkeit, und noch nie hatte er eine an ihn gerichtete Frage beantwortet, ohne dabei in Aufregung zu geraten. Er sah in Rameau ein Wesen höherer Art, mit dem vertraut zu werden schwierig, wo nicht unmöglich war, und so heiß seine Liebe zur Tochter war, gebrach es ihm doch an Mut, dieselbe dem Vater kund zu thun.

Bei Talvannes Worten stürmten Gedanken aller Art auf ihn ein: »Was bedeutet der Einfall, mich auf sechs Monate nach Sachsen zu schicken und zwar unter dem Vorwand, daß ich dort Geld verdiene, woran mir, wie er wohl weiß, blutwenig gelegen ist? Dort soll ich Muße für meine Habilitierungsarbeit finden? Als ob er nicht genau wüßte, daß mir die auch hier vollauf zur Verfügung steht! Offenbar ist irgend etwas vorgefallen, wovon ich noch keine Kenntnis habe und was auf meine Stellung in diesem Hause großen Einfluß hat. Rameau will mich entfernen. Vielleicht hat er entdeckt, daß ich seine Tochter liebe. Dann wäre er also nicht gesonnen, sie mir zu geben? Wäre es möglich, daß ein andrer um sie geworben hätte, und daß diese Werbung günstig aufgenommen worden?«

Bei dieser Vorstellung trat der kalte Schweiß auf seine Stirn, seine Hände zuckten fieberisch, und es sauste ihm vor den Ohren. Ein Gefühl tiefer Beschämung darüber, daß er die Augen zu der Tochter seines Wohlthäters erhoben habe, ohne dessen Zustimmung gewiß zu sein, drückte ihn fast zu Boden. Er machte sich Taktlosigkeit und Anmaßung zum Vorwurf und fand seine Lage namenlos unglücklich. »Aber wenn Adrienne mich bei alledem lieb hätte?« sagte er sich dann wieder. »Könnten wir nicht hoffen, den Widerstand des Vaters zu besiegen? Allein man würde mir eine unehrenhafte Glücksjägerei zur Last legen. Sie ist reich und ich arm. Man wird sagen, daß ich die Güte, mit der man mich aufgenommen, die Vertraulichkeit, die man mir gestattet, mißbraucht, um mich des arglosen, jungen Herzens, das so weich und zur Liebe geschaffen ist, zu bemächtigen.«

Das verletzte sein Ehrgefühl. Und doch klammerte er sich an die Hoffnung, daß Adrienne ihn liebe, an und rief sich all ihre vertrauende Anmut und liebevolle Aufmerksamkeit vor die Seele. War es denn denkbar, daß sie je einem andern als dem Freund ihrer Kindheit angehörte? Nein, gegen den Gedanken lehnte sich sein Innerstes auf und mehr und mehr ergriff ihn der Zorn. Wozu sollte er sich opfern? Weshalb sollte er fortgehen, um einem andern freies Spiel zu lassen? Das Blut stieg ihm heiß ins Gesicht, seine Augen, die er nun kühn aufschlug, flammten; entschlossen schlug er sich mit der geballten Faust aufs Knie, und vergessend, wo und bei wem er sich befand, rief er: »Nein, das wird nie und nimmer geschehen!«

»Was wird nicht geschehen?« fragte Talvanne ruhig und schreckte damit Robert aus seiner Selbstvergessenheit auf, daß er ihm verblüfft ins Gesicht starrte, doch sich rasch fassend, kehrte er wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück.

»Du hältst Selbstgespräche?« fuhr der Psychiater fort, indem er ihn spöttisch ins Auge faßte. »Das schlägt in mein Fach ein. Solltest du vielleicht Gespenster sehen und dich mit ihnen im Ton der Drohung unterhalten? Das würde auf Verfolgungswahn deuten und der ist, wie du weißt, nur in seltenen Fällen heilbar. Im allgemeinen vollziehen sich die Veränderungen in der Gehirnmasse rasch, und das Stadium des Blödsinns ist erstaunlich schnell erreicht. Ebenso verhält es sich beim Größenwahn. Ist dir bekannt, daß das Wachstum der Krankheit in gleichem Verhältnis mit der Höhe der fingierten Ansprüche steht? Ein Kranker, der sich für Napoleon oder Christus hält, ist schwerer zu heilen, als einer, der sich mit der Rolle eines Bernadotte oder Johannes des Täufers bescheidet ...«

»Beruhigen Sie sich, lieber Doktor,« fiel ihm Robert mit erzwungener Heiterkeit ins Wort, »ich bin noch bei gesunden Sinnen. Oder glaube wenigstens es zu sein,« setzte er mit einem Anflug von Bitterkeit hinzu. »Ich dachte einzig und allein an das halbe Jahr in Sachsen und lehnte mich innerlich dagegen auf, daß der Meister auf den Einfall kam, mir das anzusinnen.«

»Ja, ich glaube ganz und gar nicht, daß er dir die Sache aufdrängt, wenn du keine Lust dazu hast,« erklärte Talvanne lebhaft. »Es schien mir, als ob er dir eine Gunst erweisen wollte...«

»Eine seltsame Gunst, mich fortzuschicken!«

»Es ist ein Beweis seines Vertrauens, daß er dir den schwierigen Fall übergeben will.«

»Kann er denn seinen Sachsen nicht durch einen Deutschen behandeln lassen?«

»Zum Kuckuck, Junge! Es ist ein Prinz.«

»Und wenn's ein König wäre!«

»Alle Wetter!«

Talvanne kniff die Lippen ein und rieb sich die Hände, bei ihm ein untrügliches Zeichen von Gemütsbewegung. Er stand auf, und mit gedämpfter Stimme, in jenem vertraulichen Ton, mit dem man den andern zum Reden bringen will und ihm seine Geheimnisse entlocken, sagte er: »Du hast also zwingende Gründe in Paris zu bleiben?«

Robert warf einen nachdenklichen Blick auf den Psychiater. Dieser flößte ihm keine Scheu ein; er war seiner Freundschaft sicher und seiner Zärtlichkeit für Adrienne nicht minder. War dies heutige ungestörte Zusammensein nicht ein Wink des Schicksals und ein Fingerzeig, daß er endlich sein geheimes Wünschen kund zu thun habe? Sprach er sich gegen Talvanne aus, so erfüllte das ebensogut seinen Zweck, wie wenn er Rameau selbst sein Herz erschlossen hätte, denn eine Viertelstunde drauf wußte der andre, was er dem einen gesagt! Und wenn Adriennes Pate seine Werbung begünstigte, sich auf seine Seite stellte, welch ein Gewinn! Dieser Verbündete mußte jedenfalls schwer ins Gewicht fallen; der Gedanke war herzerwärmend, er löste den bangen Druck, der auf ihm lastete und machte, daß er sich wieder fähig fühlte zu kämpfen, zu bitten und sogar seine Überredungskunst aufzubieten.

Während Robert sich im stillen diesen Kriegsplan ausdachte und sich desselben herzlich freute, sagte sich Talvanne: »Woran denkt denn das Kamel? Ich rücke ihm mit so schwerem Geschütz zu Leib, daß ich ihm eine sechsmonatliche Trennung von seiner Angebeteten ansinne, die Bombe schlägt ein, er widersetzt sich, weigert sich abzureisen, und wenn der Augenblick zum Geständnis da ist, macht er kehrt, zieht sich in sein Schneckenhaus zurück und ist stumm wie ein Stockfisch. Könnte es denn eine schönere Gelegenheit geben, mir um den Hals zu fallen und zu rufen: Onkel Talvanne, ich liebe Ihr Patchen, und wo sie nicht ist, kann ich nicht leben! Man muß sie mir geben oder ich gehe stehenden Fußes ins Spital und bereite mir bei der nächsten Sektion vermittelst eines kunstgerechten, kleinen Stichs einen glorreichen Selbstmord, bei dem ich noch im Lichte eines Märtyrers der Wissenschaft strahle! Aber ob der Mensch wohl den Mund aufthun will! Und dabei behauptet er, seine fünf Sinne beisammen zu haben! Oder sollte er am Ende wirklich nicht bei Trost sein? Ich bin doch wahrhaftig kein Spielverderber und flöße keinem Wickelkind Furcht ein. Na, ich muß ihm also wohl oder übel die Zunge lösen – gehen wir bei dem alten Sokrates in die Schule, den sie den geistigen Geburtshelfer nannten, und versuchen wir's, ob der junge Herr den Zangen Widerstand leistet.«

»Du bist also unwiderruflich entschlossen, in Paris zu bleiben?« begann er laut, indem er Robert aufmunternd ansah.

»Allerdings,« erwiderte Robert.

»Dahinter steckt ohne Zweifel eine Liebesgeschichte?«

Robert fuhr ein paar Schritte zurück und rief mit dem Ausdruck sittlicher Entrüstung: »Ich hoffe nicht, daß Sie so etwas von mir denken können!«

»Es ist dir also lediglich um das Vergnügen zu thun, jeden Tag ein paar Stunden mit zwei alten Männern, wie Rameau und ich zu verleben? Diesem Genuß zuliebe weisest du eine Aufgabe von der Hand, die jeden andern in deinem Alter überglücklich machen würde? Sehr schmeichelhaft für uns, das muß ich sagen.«

Diesmal fühlte Robert den Spott durch, und er warf den Kopf zurück, als ob er sich zum Ansprung bereit halte, allein das Geständnis, das er ablegen wollte, kam ihm so schwer über die Lippen, daß er abermals damit zögerte. Talvanne fühlte wohl, was es den jungen Mann kostete, seine Schiffe hinter sich zu verbrennen, und verstand, was ihn so furchtbar ängstigte, deshalb kam er ihm ohne weiteres zu Hilfe.

»Vorwärts, du Einfaltspinsel! Heraus mit allem, was du auf dem Herzen hast. ... Du weißt sehr wohl, daß wenn das Ziel deiner Wünsche erreichbar und vernünftig ist, du auf meine Bundesgenossenschaft mit Fug und Recht zählen kannst, und daß, im Fall du etwas Unsinniges vorbringst, dein Geheimnis bei mir wohl aufgehoben ist ...«

Bei diesen herzlichen Worten wurden dem jungen Mann die Augen feucht, und er faßte des Doktors beide Hände und drückte sie warm.

»Nun denn, ja, Sie sollen es wissen, daß ich Adrienne liebe und daß darin der Grund meiner Weigerung, Paris zu verlassen, liegt. Was könnte sich in meiner Abwesenheit nicht alles ereignen? Weiß ich denn, ob ihr Vater nicht jetzt schon in einer Weise über ihre Zukunft bestimmt hat, die all meine Hoffnungen zunichte macht?«

Diesmal rieb sich Talvanne die Hände dermaßen, daß beinahe die Haut abging, und faßte dann den Freier seines Patenkindes mit sehr plötzlich erwachter Strenge ins Auge.

»Aha, mein Junge,« sagte er, »an absonderlicher Bescheidenheit leiden deine Pläne eben nicht!«

»Doktor,« stammelte der junge Mann.

»Begreife, begreife vollständig, daß dir daran liegt, hier zu bleiben.«

»Glauben Sie mir ...« warf Robert, völlig außer Fassung gebracht, ein.

»Und wie verhält sich mein Patenkind zu der Sache?«

»Aber ich habe ihr gegenüber ja nie mit einer Silbe meine Empfindungen verraten!«

»Und steckt doch alle Tage beisammen!«

Talvanne hielt inne und warf einen spöttischen Blick auf seinen gänzlich verblüfften Gefährten.

»Du bist ein sehr wohlerzogener junger Mann und von einer Zurückhaltung, die ihresgleichen sucht – alle Achtung! Aber bist du ganz gewiß, daß du dich nicht ein wenig einfältig benommen hast? Wenn man ein junges Mädchen wahrhaft liebt, so ist es ja sehr verdienstlich, ihre Herzensruhe nicht durch leidenschaftliche Liebeserklärungen zu stören; hat sie aber in ihrer nächsten Nähe einen Paten, wie den Doktor Talvanne zum Beispiel, so muß man schon ein fürchterliches Scheuleder tragen, um diesen nicht ins Vertrauen zu ziehen und die Situation klar zu machen!«

»Was wollen Sie damit sagen?« rief Robert.

»Ganz einfach, daß ich mich seit einer halben Stunde aus Leibeskräften abmühe, dich dahin zu bringen, daß du mir sagst, was ich wissen muß. Und jetzt vorwärts, Bursche, jetzt werden wir beim Vater deiner Schönen unser Anliegen vorbringen.«

Talvanne klopfte dem jungen Mann ermutigend auf die Schulter, machte die Thür auf und schob ihn hinaus, Robert aber war bei dem Gedanken, sich seinem Lehrer erklären zu sollen, abermals so von Furcht ergriffen, daß er noch auf dem Flur jeden möglichen Widerstand versuchte. Er blieb stehen und stammelte ganz fassungslos: »Aber, Doktor, ich bitte Sie, sagen Sie mir doch ... meinen Sie denn, daß ich so plötzlich und so unvorbereitet ...«

»Hast du im Sinn, wie ein Prinz von Geblüt Gesandte zu schicken?«

»Ja, was soll ich ihm aber sagen?«

»Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.«

»Was wird aber der Doktor denken?«

»Nun, er wird es ziemlich natürlich finden, daß man sich in seine Tochter verliebt – hübsch genug ist sie schon!«

»Glauben Sie, daß er mich gütig aufnehmen wird?«

»Würde ich dich sonst zu ihm führen?«

Das klang sehr tröstlich, und als Talvanne gleichzeitig die Thür zu Rameaus Arbeitszimmer öffnete, trat Robert ziemlich mutig hinter ihm ein. Ohne sich zu rühren, sah der Doktor, der in seinem schwarzen Hausgewand, auf das der weiße Bart fiel, im Lehnstuhl saß, ihnen entgegen; seine Augen leuchteten unter den buschigen Augenbrauen, und um seinen Mund lag ein wohlwollendes, gütiges Lächeln. Der Psychiater trat auf ihn zu und zeigte mit einer Handbewegung auf den unbeweglich dastehenden Robert.

»Da bringe ich dir den jungen Ausreißer, ist aber ein saures Stück Arbeit gewesen. Ein zugeknöpfterer Mensch ist mir noch selten vorgekommen, und man hätte denken sollen, seine Liebe sei ein Verbrechen, so schwer bracht' ich ihn zum Geständnis derselben. Nun aber, habemus confitentem reum ... was machen wir jetzt aus ihm?«

»Einen Glücklichen!« sprach Rameau, der aufgestanden war und am Kamin lehnte.

Robert ward blaß vor Erregung; der einzige Laut, den er von sich gab, glich auffallend einem Schluchzen, und als er sah, daß der große Mann seine Arme ausbreitete, flog er mit kindlicher Zärtlichkeit an seine Brust.

»So ists recht! So ists recht!« rief Talvanne fröhlich. »Jetzt ist's aber Zeit, daß wir uns auch ein wenig nach dem Fräulein umsehen.«

Er ging hinaus und ließ Schüler und Meister miteinander allein. Das Eis zwischen ihnen war gebrochen, und Robert entschädigte sich jetzt für die Zurückhaltung, die er sich allzulange auferlegt, durch ausgiebige Herzensergießungen. All sein Träumen und Sehnen und Hoffen, sein Zweifeln und Erwägen und Fürchten legte er dem Doktor dar, und dieser hörte ihm mit leiser Wehmut freundlich zu, fand er doch in den glühenden Worten des jungen Mannes einen Wiederhall seiner eignen erstorbenen Liebe. Ja, wer so liebte, dessen Empfinden war echt und rein, tief und unumschränkt und keiner Wandlung unterworfen.

Adriennes zarte, liebeverwöhnte Seele fand hier volles Verständnis, die beiden jungen Herzen schlugen gleich warm und zärtlich füreinander, und hier war auch nicht der schwächste Keim eines Zwiespalts zu entdecken, wie er auf dem Gebiet der Religion zwischen ihm und Conchita trennend erwachsen war. Robert, der eine fromme Erziehung gehabt, verhielt sich zur Religion wie ein ehrlicher Kerl, den seine Mutter beten gelehrt hat, und wenn auch sein natürlicher Verstand und sein errungenes Wissen ihn im stillen zu manchem Zweifel geführt, wenn auch mancher Teil des Dogmas vor seinem prüfenden Blick nicht bestanden hatte, so waren es andrerseits die heftigen Verfolgungen, welche die Kirche von Seiten einer sektenfreundlichen Regierung zu erleiden hatte, welche seinen Glauben wieder befestigt hatten. Der siegreichen, triumphierenden Kirche hätte er sich vielleicht entfremdet, der in der Ausübung ihrer Pflichten bedrohten beugte er sich, und wenn Adrienne ihn heute bäte, an ihrer Seite zu knieen, so konnte er es ohne inneren Kampf thun, und ihre Liebe konnte aus gemeinsamem Beten und Glauben Kraft und Stärkung gewinnen.

Ein Seufzer schwellte Rameaus Brust, als er sich dies klar vor Augen stellte, und ein schmerzliches Erinnern verdüsterte seine Stirn. Dieser große Geist, welcher die Gedanken der Menschheit überblickte und beherrschte, fluchte für einen Augenblick der Geistesklarheit, die ihn über seinesgleichen stellte, ihn aber zugleich von dem Glück der geistig Armen und der einfältigen Herzen ausgeschlossen und ferngehalten hatte. Ein neuer Prometheus hatte er in die Geheimnisse der Natur und des Himmels geblickt, und vom Unglück getroffen, trug er die nie vernarbende, verzehrende Wunde in der Seite. Hatte er aber damit nicht den Tribut menschlichen Leidens für die seinigen bezahlt? Konnte seiner Tochter nicht ein von Sorgen und Thränen freies Leben bestimmt sein? Robert gelobte ihm das mit feurigen Worten, und er war geneigt, ihm zu glauben; aus seinen Augen redeten Ehrlichkeit, Dankbarkeit und Liebe ihre überzeugende Sprache.

»Mein teurer Sohn,« sprach Rameau, »ich gebe in deine Hand, was ich Liebstes, Köstlichstes auf Erden habe. Du weißt, wie schweres Leid ich trage. Meine Tochter allein knüpft mich an das Dasein; es ist also mein eignes Leben, das ich in deine Hut gebe. Ich war dein Lehrer und dein Führer, der dir die Wege geebnet, du mein Schüler und fast mein Sohn! Dein Großvater ist mein Wohlthäter gewesen, dem ich mehr Dank schuldig war, als du mir, denn deine Familie war so gestellt in der Welt, daß sie dir auch ohne meine Hilfe eine gute Erziehung hätte geben lassen, und du würdest dich so wie so bemerklich gemacht haben, indes ich als Kind eines Arbeiters nur zu grober Arbeit und roher Unwissenheit verurteilt gewesen wäre, wenn Doktor Servant nicht in mein Leben eingegriffen und einen andern Menschen aus mir gemacht hätte. Bis zu dieser Stunde hatte ich meine Schuld an die Deinen und an dich nicht abzutragen vermocht, heute gebe ich dir mein Kind, und von diesem Augenblicke an bist du mein Schuldner.«

»Ein Schuldner, der sein Leben daran setzen wird, seine Dankbarkeit zu bewähren.«

»Ich glaube und ich danke dir!«

Hand in Hand und Aug' in Aug' standen sich Greis und Jüngling gegenüber und eine innige Umarmung besiegelte das gegebene Wort. Die Thür that sich auf und an Talvannes Arm erschien Adrienne auf der Schwelle. Die lichte Freude leuchtete aus ihrem Gesichtchen, und ihr Blick flog glückstrahlend vom Vater zum Geliebten. Sie eilten nicht aufeinander zu, sie blieben ruhig stehen und sahen sich an, als ob jedes fürchte, die Seligkeit dieser Empfindung zu kürzen, und erst als Rameau die Arme gegen sein Kind ausbreitete, sank sie mit einem leisen Dankeswort an sein Herz. Die beiden Verlobten vereint umschlungen haltend, ließ der Vater seinen durchdringenden Blick mit tiefem Ernst auf ihnen ruhen und es war, als ob er von den reinen, faltenlosen Stirnen die Zukunft ablesen möchte; sanft fügte er ihre Hände ineinander und das mächtige Patriarchenhaupt beugend, sprach er: »Seid glücklich, meine geliebten Kinder!«

Sie standen Hand in Hand da und sahen sich lächelnd, mit fröhlichem Staunen, als ob sie noch nicht an ihr Glück zu glauben wagten, in die Augen, dann verließen sie, ohne ein Wort zu sagen, eng aneinander geschmiegt, wie sie hinfort durchs Leben gehen sollten, das Zimmer. Eine kurze Weile darauf knirschte der Sand im Garten unter ihrem elastischen Schritt, und halb frohen, halb wehen Herzens, blickten die beiden Alten, denen diese voll erschlossene Liebe so großen Abbruch that, auf das junge Paar, das, leise plaudernd, mit seligem Lächeln, Erd' und Himmel vergessend, unter Blumen wandelte.


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