Georges Ohnet
Doktor Rameau – Zweiter Band
Georges Ohnet

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Nach dem letzten Wutausbruch, der ihn bis zum äußersten getrieben hatte, war Rameau längere Zeit gleichsam in eine Erstarrung verfallen. In seinem tiefen Lehnstuhl zusammengesunken, fühlte er sich völlig zerschlagen und gebrochen und eine Empfindung gänzlicher Leere im Gehirn machte sich geltend. Hätte man ihm gemeldet, daß sein Haus in Flammen stehe oder dem Einsturz nahe sei, er hatte sich nicht von der Stelle bewegt und keinen Finger gerührt, sich zu retten. Alles ließ ihn kalt; der Schiffbruch seines Lebens hatte diesen Mann vernichtet. Hatte er denn noch etwas zu fürchten? Konnte das Schicksal ihm noch etwas Grauenvolleres bereiten, als was er eben durchgemacht hatte? Wäre dies unheilbar zerstörte Leben einer Verteidigung, einer Rettung wert gewesen? Wovon hätte er sich loszureißen gehabt, wenn er jetzt die Augen für immer schlöße? Er hätte diese unselige Erde, auf der nur das Unglück üppig gedieh, diese Welt voll Verworfenheit und Schlechtigkeit nicht mehr erblickt, er wäre mit Wonne ins Nichts zurückgetaucht, das heißt, er hätte aufhören mögen zu denken und zu fühlen.

Alles hatte ihn verraten und enttäuscht in diesem schändlichen Dasein, dem er fluchte; nicht einmal so viel Barmherzigkeit hatte das Schicksal mit ihm gehabt, daß es ihm den letzten süßen Wahn, die eine holde Lüge gelassen hätte. Er hatte den Kelch bis zur Hefe leeren, die Nägel im Fleisch und die Dornen auf seinem Haupte fühlen müssen. Man hatte ihn gewissenhaft jede einzelne Folterqual erdulden lassen und die Henker waren außer dem Bereich seiner Rache. Der Tod hatte ihm diese Ernte vorweggenommen und er, der verblendete Thor, hatte heiße Thränen geweint um die Schuldigen, hatte das Unmögliche versucht, um ihre Leiden zu lindern.

Verfluchtes Geschick! Wenn er sich um diese Jahre hätte zurückversetzen können! Wenn er sie mit eisernen Klammern gepackt halten könnte, um ihnen Haß und Verachtung ins Gesicht zu schleudern, um sich an ihrer Angst zu werden, um auf ihrer Stirn den kalten Angstschweiß perlen zu sehen. Aber nein, nein, zärtlich umschlungen von seinem Arm, unter seinen Trostesworten und Blicken, hatten sie so ruhig, als ob ihr Gewissen ihnen nicht den leisesten Vorwurf machte, ihren letzten Seufzer ausgehaucht und waren gestorben, wie sie gelebt, als Heuchler und Lügner. Und nun, was sollte aus ihm werden? Wo sollte er die Kraft hernehmen, um diesem Zusammenbruch standzuhalten?

Fortleben nach so vielen Enttäuschungen, ein Leben weiterschleppen, das ihm nur noch zur Qual war? Weshalb, wozu? Die letzte, die einzig vollkommene Ruhe, sie allein that ihm not!

Und wie leicht war das gethan! Nur ein paar Schritte brauchte er zu machen, nur einen Schrank aufzuschließen, und unter den vielen Substanzen, deren er sich zu seinen chemischen Versuchen bediente, brauchte er nur eine auszuwählen, ein paar Tropfen zu schlucken, und ohne jedes Leiden war der Schlaf da, bei dem kein Erwachen zu fürchten. Von einem Skandal keine Rede. Man würde einfach einen Hirnschlag voraussetzen und annehmen: die Spur des Giftes wäre kaum zu entdecken, sein Ende würde völlig den Anschein eines natürlichen Todes haben und kein häßliches Gerede sein Grab verunehren.

Mit einem düstern Lächeln begrüßte er die Erkenntnis, daß er so völlig Herr seines Schicksals war; er empfand eine gewisse Erleichterung und Befriedigung, das Gefühl, eine schwierige und verwickelte Angelegenheit geordnet und gelöst zu haben. Nachdem er sich entschlossen, Schmerz und Kummer von sich zu werfen, fand er sie schon nicht mehr so unerträglich und qualvoll. Er fühlte sich gekräftigt, stand auf und machte ein paar Schritte durchs Zimmer; sein Blick streifte den mit Manuskripten und Büchern bedeckten Schreibtisch, und er sagte sich, daß er die Arbeit nicht zu Ende führen werde, die er angefangen. Was lag auch daran? Wie hatte er nur so viel Interesse an einer Aufgabe finden können, deren Lösung zuguterletzt so herzlich wenig Wert hatte? Wo wollte er denn sichern Grund hernehmen, um sein Gebäude darauf zu errichten? War denn in dieser hinfälligen Welt nicht alles Irrtum und Täuschung? Nichts als Eitelkeit, wenn einer sich einbildete, recht zu haben und die Wahrheit zu kennen!

Langsam, in tiefem Nachsinnen, gelangte er in sein Laboratorium. Mechanisch, geistesabwesend öffnete er einen kleinen Schrank und sein Auge überflog prüfend eine Reihe von etwa fünfzig rot etikettierten Fläschchen. Er nahm eins der kleinsten heraus, hielt es gegen das Licht, um sich über den Inhalt zu vergewissern, verschloß den Schrank wieder, ging in sein Studierzimmer zurück, stellte das Fläschchen auf einen kleinen Tisch, wo er nur die Hand danach auszustrecken brauchte, und setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl. Er beschloß, eine Stunde vorübergehen zu lassen, um nicht irgend eine vor seinem Verschwinden notwendige Anordnung zu vergessen oder zu übersehen. Der Gedanke an Talvanne entlockte ihm einen tiefen Seufzer.

Der hatte ihn lieb und war ihm tief und aufrichtig zugethan mit einer Freundschaft, von der er zu jeder Stunde seines Lebens vollgültige Proben erhalten hatte. Sollte er sich von diesem treuen Gefährten trennen, ohne ihm auch nur ein Zeichen, daß er seiner gedacht, ein Abschiedswort, ein Andenken, eine vertrauliche Mitteilung zu hinterlassen? Bei der Vorstellung, daß Talvannes Schmerz einen bittern Vorwurf für ihn enthalten müsse, zog sich sein Herz krampfhaft zusammen: er stand auf und schickte sich an, dem Freund zu schreiben, als die Thür aufging und dieser in Person erschien.

Einen Augenblick schwiegen beide und sahen sich prüfend an, der eine nicht weniger blaß und erschüttert als der andre. Plötzlich fiel Talvannes Blick auf das Fläschchen mit der roten Etikette; er eilte auf den Tisch zu, nahm es hastig zur Hand, las die Aufschrift und mit dem Ton schneidendsten Vorwurfs rief er: »Du, Rameau! Ein Mann wie du?«

Der Doktor senkte den Kopf, und ohne einen Versuch des Leugnens erwiderte er, und seine Stimme hatte einen Schmerzensklang, der dem Freund die Thränen in die Augen trieb: »Ich bin so unglücklich!«

»Aber, was ist denn geschehen?« rief Talvanne beinahe zornig, denn daß der Freund, den er mehr liebte als sich selbst, so leiden sollte, erschien ihm ungerecht und grausam.

Eine düstere Glut loderte in Rameaus Blick, als er ihm zur Antwort gab: »Du sollst wissen, was geschehen ist.«

Er nahm ihn bei der Hand, und ohne ein Wort zog er ihn hastig mit hinaus, den Flur entlang, die Treppe hinauf und blieb vor der Thür zum Zimmer der Verstorbenen stehen. Mit dem Schlüssel, den er bei sich getragen, öffnete er, und den Freund hineinschiebend, rief er mit neuerwachter Wut: »Sieh dies an, wie mein Heiligtum in Schutt und Trümmern liegt! Alles umgestürzt, zerfetzt, beschmutzt, entweiht! Nun denn – in meinem Herzen ist noch mehr zertrümmert, meine Gedanken sind noch schändlicher befleckt, entweiht und zerrissen! Du fragst, was geschehen ist? Ein Freund hat mich verraten, mein Weib hat die Ehe gebrochen. Befleckt und entehrt bin ich, ist mein ganzes Leben. Das ist's! Ich dächte, es genügte! Schande und Schmach und Schmerz! Und während diese beiden Elenden gestorben sind und nicht mehr leiden, soll ich nicht das Recht haben, den Tod zu suchen, der auch mich befreien würde?«

»Und wer gibt dir die Gewißheit,« sprach Talvanne mit tiefem Ernst, »daß du dann nicht mehr leiden wirst? Wer sagt dir, das sie nicht leiden, nicht grausam, fürchterlich leiden? Und selbst wenn du noch hundertfach bemitleidenswerter wärst, ist das ein Grund, dich so weit zu vergessen? Weißt du nicht mehr, wie viel des Wahren, Reinen und Guten dich umgibt, dir noch lebt? Komme ich gar nicht in Betracht, Rameau, und – Adrienne?«

Rameau zog die Augenbrauen finster zusammen, senkte das Haupt und schwieg.

»Dies arme Kind,« fuhr Talvanne fort, »das so unschuldig ist an all deinem Leid, das hast du zur Verantwortung gezogen? Wo blieb dein Hochsinn, deine Großmut, deine Vernunft? Seit sie atmet, ist ihr Dasein Liebe zu dir, Sorge um dich! Und du hast sie erschreckt, zu Tode geängstigt, roh mißhandelt, als sie sich flehend zu dir wandte.... Sie liegt krank darnieder, und dein ist die Schuld. ... Rameau, ich bin dir treu ergeben, ich bin ein Richter, der sehr zu deinen Gunsten voreingenommen ist, aber ich finde nichts, nichts, was dein Vergehen verzeihlich erscheinen ließe!«

Regungslos hatte der Doktor zugehört und eigensinnig beharrte er in seinem Schweigen. Talvanne sah ihm erschrocken ins Auge.

»Hörst du mich nicht?« fragte er.

Rameau nickte bejahend.

»Ich spreche von deiner Tochter! Verstehst du mich? Von deiner Tochter!«

Der Doktor hob die von tiefen Falten durchfurchte Stirn.

»Von meiner Tochter! Bist du dessen gewiß?« sagte er mit dumpfer Stimme.

Talvannes Gesicht wurde hart und streng, und fest und bestimmt gab er zurück: »Wenn dein Herz diese Frage nicht im voraus bejaht, wird alles, was ich dir sagen kann, nicht ausreichend sein, um dich zu überzeugen. Ich will mich also eines andern Ausdrucks bedienen. Unter deinem Dache, ein paar Schritte von hier, leidet ein menschliches Wesen, dem du Trost und Linderung geben kannst, und ich frage dich, ob du dich als Mensch weigerst, an ihr Lager zu treten, ob du als Arzt ihre Behandlung ablehnst?«

Rameau erwiderte kein Wort, aber er verließ das Zimmer und ging nach dem Flügel hinüber, wo Adrienne lag: der Freund folgte. Die Thür stand offen und in den nicht erleuchteten Salon warf eine Lampe, die man drinnen auf den Kamin gestellt hatte, einen schwachen Lichtschein. Die Schritte der beiden Männer vernehmend, trat Robert in diese Helle unter die Thür. Als er Rameau erkannte, vermochte er eine freudige Handbewegung nicht zurückzuhalten, jene Bewegung, die Rameau so genau kannte und der er stets begegnete, wo er eintrat, ein bedrohtes Leben zu retten. Der Lehrer schob seinen Schüler beiseite und befahl ihm, auf das Wohnzimmer deutend, kurz: »Bleibe indessen hier.«

Er bedeutete Talvanne voranzugehen und trat hinter ihm in das Schlafzimmer. Adrienne lag da, und statt der vorherigen Regungslosigkeit rückte sie jetzt unruhig und schmerzhaft mit dem Kopfe auf dem Kissen umher, als ob sie eine Stelle suchte, wo sie Ruhe finden könnte. Die halbgeöffneten Augen waren blicklos, das Gesicht von geisterhafter Blässe, wodurch die scharf hervortretenden entstellten Züge noch mehr den Eindruck einer steinernen Maske machten.

Talvanne trat näher und zeigte dem Freunde die Kranke.

»Sie scheint furchtbar zu leiden,« sagte er. »Sieh dir sie nur an, die arme Kleine! Ist das noch das nämliche Geschöpf, das wir gestern frisch und rosig, voll Leben und Jugend, mit lachendem Munde und strahlenden Augen um uns hatten?«

»Nein! Es ist nicht mehr dasselbe,« gestand Rameau zu.

»Ein Augenblick hat genügt,« fuhr Talvanne fort, »um diese kräftige Gesundheit zu untergraben, diesen frischen Jugendhauch abzustreifen. Und all das Uebel, welches dies herrliche Kind, in dem wir die Wonne unsres Lebens sahen, hingestreckt hat, kommt von dir!«

»Von mir!« wiederholte Rameau finster, ohne sich gegen den Vorwurf aufzulehnen, der in des Freundes Worten lag.

»Und du stehst da und siehst sie mit fühllosen Blicken an, du, der sich gestern noch für sie in Liebe erschöpft hat; unbeweglich und unthätig stehst du vor ihr, du, der gestern noch bei der Nachricht, daß ihr das Geringste zugestoßen, daß ihr der kleine Finger weh thue, alles im Stich gelassen hätte und herbeigestürzt wäre. Wenn einer dir vorhergesagt hätte, daß sich deine Natur so wandeln, ein solcher Unmensch aus dir werden könnte, hättest du ihm nicht ins Gesicht gesagt, daß so etwas unmöglich sei?«

»Das hätte ich.«

»Und dennoch ist dem jetzt so und du gibst es zu, du weißt es und beharrst doch bei deiner herz- und sinnlosen Gleichgültigkeit.«

Rameau hatte sich dem Bette um einen Schritt genähert und hielt den Blick starr auf Adriennes Züge geheftet. Plötzlich packte er den Arm des Freundes, drückte ihn krampfhaft und wies mit dem Finger auf das junge Mädchen.

»So sieh doch nur diese gewölbte Stirn, diese vorspringenden Backenknochen, die leichte Biegung der Nase an. Du, der Gelehrte, der die Anthropologie zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat, du mußt ja sehen, daß dies samt und sonders Kennzeichen der spanischen Rasse sind! Sieh wie deutlich die Abstammung von den Berbern in diesen Zügen zu Tage tritt; ein maurisches Element spricht hier mit, das ist gar nicht zu leugnen. Wäre es nicht Linie für Linie der Kopf der Mutter, wenn nicht die untere Partie des Gesichts der sächsischen Rasse angehörte? Dies Kinn, das etwas zu schwer, etwas zu eckig ist, verrät unbedingt den deutschen Typus. Nun untersuche einmal den Kopf, ob du nicht alles für den Brachykephalen Charakteristische vorfindest? ... Ach, du siehst, ich habe etwas gelernt bei meinen Erörterungen mit dir und rede nicht ins Blaue hinein! Nimm deine Maße zur Hand; bringe das System Camper, oder das des Engländers Morton oder des Franzosen Broca zur Anwendung, und du wirst zu keinem andern Ergebnis gelangen, als zu dem meinigen – oder aber deine ganze Wissenschaft ist nichts als Leeres-Stroh-dreschen!«

»Was du mir tausendmal gesagt hast!« rief Talvanne am Rande der Verzweiflung. »Nie hast du daran geglaubt, und jetzt nimmst du deine Zuflucht zu Theorieen, die du dein lebelang verworfen und verlacht hast, nur um deine Ungerechtigkeit zu bemänteln? Rameau, habe Erbarmen mit diesem Kinde, Erbarmen mit dir selbst! ... Laß dir nicht von unvernünftigen Voraussetzungen und Vorurteilen, von wahnsinnigen Hirngespinsten deine Vernunft umnebeln!«

»Leugne das Licht!« entgegnete Rameau mit einer Ruhe und Ueberzeugung, die noch viel erschreckender wirkten, als seine Wut und Aufregung. »Es leuchtet doch, und wenn du auch die Augen zudrückst! Die blonden Haare, die blauen Augen des Mädchens, für das du bittest, sie stammen von Münzel. ... Sieh hin, jetzt eben, wie ihre Züge sich im Schmerz verzerren ... ist das nicht sein Gesicht, wie wir ihn beide sahen, als ich zuerst an sein Krankenbett trat in dem kleinen Stübchen der Rue de la Harpe? Die Aehnlichkeit ist derart, daß es unerhört ist, daß sie mir nicht früher in die Augen fiel! ... Aber das erbärmliche Tier, das sie Mensch nennen, glaubt ja so gern und so leicht! Ein Kind! Wie thut es der Eitelkeit des Vaters wohl! Man glaubt willig und fraglos, daß es unser Fleisch und Blut sei! Man ist ja so dumm und bildet sich was darauf ein! Ach! Ach!«

Er brach in ein herzzerreißendes Gelächter aus, preßte dann heftig die Hand auf die Brust, als ob er da drinnen einen wilden Schmerz, der ihm am Herzen fraß, unterdrücken müßte, und begann von neuem: »Ich habe es lieb gehabt, dieses kleine Mädchen! Du wirst nicht in Abrede ziehen, daß ich diese achtzehn Jahre nur für sie gelebt, gedacht, gesorgt, daß ich sie vergöttert habe! Du selbst hast es vorhin gesagt, sie sei meine Leidenschaft, meine Tollheit gewesen! Jawohl – und nun flößt sie mir Abscheu ein, und ich hasse sie! Sie hat Schmerzen, es rührt mich nicht! sie ist sehr krank, vielleicht wird sie sterben, und nicht einen Finger würde ich rühren, um ihr Schicksal abzuwenden! Die beiden andern haben sie erzeugt, den beiden andern gehört sie an, ihnen soll sie folgen!«

»Rameau!« rief Talvanne, von Entsetzen geschüttelt.

»Mein alter Freund,« fuhr der Doktor mit gräßlicher Kaltblütigkeit fort, »es wäre ja ein kleines, zu heucheln und dir allerhand Faseleien vorzuschwatzen, aber das würde ich deiner und meiner unwürdig finden. Nackt und bloß stehe ich vor dir, du sollst in meines Herzens tiefsten Abgrund blicken, und unverhüllt zeigt sich dir jeder Gedanke. Vielleicht, daß ich ein Ungeheuer bin – ich weiß es nicht und will es nicht bestreiten. Aber ich kann nicht anders. Ich hasse dieses unschuldige Wesen um all der Liebe willen, die sie sich unrechtmäßig angeeignet, um jeden Kusses willen, den ich zärtlich und ahnungslos diesem verhaßten Geschöpf auf die Lippen gedrückt! Achtzehn Jahre lang war ich ein betrogener Narr, ich meine, damit könnte es genug sein! ...«

»Und der Gedanke, daß sie Schmerzen leidet, läßt dich nicht erbeben?«

»Weshalb sollte ich erbeben? Welche Bande verknüpfen mich mit ihr? Kein Blutstropfen von mir fließt in ihren Adern, das steht mir unumstößlich fest und dir nicht minder. Weshalb also sollte mein Blut, sollten meine Nerven sich auflehnen? Mein Geist aber ist in voller Empörung, in lodernder Entrüstung, was verlangst du also von mir?«

Talvanne wischte sich mit seinem Taschentuche den Schweiß von der Stirn. Seine Lippen bewegten sich, als ob er nach Atem ränge, und, dann sagte er mit mühsam errungener Festigkeit: »Ich verlange deine Ansicht über die Krankheit. Sie ist für dich eine Fremde, wohl und gut, eine gleichgültige, ja sogar verhaßte Person, was liegt daran! Aus Rücksicht auf mich hast du dich an dies Krankenbett begeben: zögere nicht länger mit der Untersuchung!«

Rameau trat näher. Alles Blut war aus seinem Gesichte gewichen, seine Augen waren unter den dichten Brauen tief eingesunken und seine Hände bebten. Trotzdem beugte er sich über die Kranke und näherte sein Gesicht so weit dem ihrigen, daß er ihren heißen, hastigen Atem fühlte. Ein tiefer Schmerzenszug grub sich um seine Lippen, aber sein Blick blieb fest und sicher. Er zog die geschlossenen Augenlider in die Höhe und untersuchte ihre Augen; er nahm den runden, weichen, kindlichen Arm und prüfte die brennend heiße Haut: dann befühlte er die Magenhöhle und den Unterleib, betastete den Hinterkopf, wie Talvanne es vorhin auch gethan hatte, worauf er sich zurückzog. Er schien im stillen die Symptome mit allen Möglichkeiten, die sie eröffneten, zu erwägen. Endlich äußerte er halblaut: »Für den Augenblick ist im Gehirn ein entzündlicher Zustand vorhanden; die Gehirnhäute sind stark gereizt, was aber hauptsächlich zu fürchten steht, ist eine Störung der Darmfunktionen, die infolge plötzlicher Stockung des Blutumlaufs eintreten könnte. Morgen kann eine Bauchfellentzündung da sein. ... Verbreitet sich dieselbe sehr und wird sie allgemein, so ist das Schlimmste zu erwarten.« Und als er in Talvannes Mienen noch mehr Ueberraschung als Schrecken las, setzte Rameau mit der ganzen Ruhe des in der Praxis hart und gleichgültig gewordenen alten Arztes hinzu: »Uebrigens kannst du rufen lassen, wen du willst: Lacher, Sourdain oder Buyot ... ich bin zum voraus mit allem einverstanden, was die Kollegen beschließen mögen.«

»Und lehnst auf diese Weise jeden Anteil und jede Verantwortung ab,« sagte Talvanne bitter.

Rameau gab keine Antwort! er machte die Thür auf, und als er den in ängstlicher Spannung wartenden Robert bemerkte, sagte er in schneidendem Ton: »Du kannst nach Hause gehen, mein Junge, und morgen früh nachfragen, wie es steht. Momentan ist keine Gefahr vorhanden; schlaf also ruhig.«

Damit ließ er seinen Schüler, der im höchsten Grad bestürzt war, daß man ihn jetzt, da er bereit war, seine ganze Kraft einzusetzen und sich völlig aufzuopfern, fortschickte, stehen und schritt den Flur entlang, wo sich seine Schritte im Dunkeln verloren. Talvanne stürzte in einer Erregung, die er nicht länger zu verbergen strebte, auf Robert zu und wies mit der Hand in der Richtung, in der Rameau verschwunden war.

»Folge ihm,« flüsterte er hastig, »geh in sein Zimmer und, was er dir auch sagen mag, weiche nicht von seiner Seite, bis ich komme. Rasch!«

Damit stieß er ihn fast mit Gewalt zum Zimmer hinaus, und erst als er sah, daß der junge Mann ohne Widerrede sein Geheiß erfüllte, atmete er ein wenig erleichtert auf. Er ging in Adriennes Toilettenzimmerchen, wo Rosalie seiner Befehle harrte, und hieß sie zur Kranken gehen und bei ihr bleiben. Dann nahm er vom Schreibtisch des jungen Mädchens Feder und Papier und fing an ein langes Rezept zusammenzustellen. Während des Schreibens ließ die fieberhafte Erregung, in der er sich seit Stunden befand, und die Anspannung der Nerven nach, und die Lage der Dinge trat in ihrer ganzen grauenvollen Wirklichkeit vor seine Seele. Die Kranke, für welche er diese gewagten Mittel anwenden wollte, war das Kind seines Herzens, das anbetungswürdige Geschöpf, dem er all seine Zuneigung geweiht und dessen Dasein das einsame Leben des alten Junggesellen mit Licht und Wärme erfüllte. Langsam liefen ihm die Thränen über die Wangen und fielen auf das Papier; hastig und ärgerlich wischte er sie ab und raffte sich auf, ohne doch Herr über ein schmerzliches, halb ersticktes Schluchzen zu werden. Plötzlich fiel ein Schatten auf das weiße Blatt, und aufblickend gewahrte er die alte Haushälterin, die zu ihm getreten war und ihn beobachtete.

»Sie, Sie haben sie lieb!« sagte sie voll Dankbarkeit.

»Er auch,« versetzte Talvanne einfach, und als die alte Frau traurig und zweifelnd den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Er ist im Innersten getroffen und er leidet ohne Schuld, nun möchte er die ganze Welt zur Verantwortung ziehen für seinen Schmerz und für die Ungerechtigkeit des Geschicks. Bald aber wird er ruhiger werden, sein Herz wird den rechten Weg finden und alles sich ändern....«

»Das gebe unser Herrgott! Denn wenn es nicht anders würde, dann hätten wir alle miteinander nicht mehr viele Freuden zu gewärtigen.«

Sie wechselten einen Blick; es bedurfte zwischen ihnen nur einer leisen Andeutung, dann hatten sie sich schon verstanden. Nicht ein einziges Mal in so langen Jahren hatte diese treue Seele, welche jede kleine Einzelheit der den Frieden dieses Hauses zerstörenden Tragödie kannte, durch Ton, Blick oder Wort verraten, daß sie um ein Geheimnis wisse, ein solches mit sich herumtrage. Sie hatte alles gewußt, alles gesehen und alles verborgen, aus Liebe und Anhänglichkeit für die Herrin und deren Kind.

Daß er in dieser Person eine unermüdliche und zu jedem Opfer fähige Gehilfin bei der Aufgabe, die ihm zugefallen, haben würde, das wußte Talvanne, und der Gedanke, daß die treffliche Person Tag und Nacht nicht von Adriennes Lager weichen werde, war für ihn ein großer Trost, denn er konnte nun seine ganze Kraft dem Kampf mit Rameau, den aufzunehmen er fest entschlossen war, widmen. Er fragte sich, ob er Robert ganz oder nur teilweise ins Vertrauen ziehen, ihm das entsetzliche Geheimnis vollständig offenbaren oder es bei Andeutungen über Rameaus Zustand bewenden lassen sollte. Er kannte den jungen Mann hinreichend, um zu wissen, daß seine Liebe diese Probe unerschüttert bestehen werde und daß sich in seinem Herzen nichts umgestalten könne. Und war denn Adrienne irgendwie verantwortlich für die Schuld, die auf ihr lastete? Sie war nichts als das Opfer eines unabwendbaren Verhängnisses und als solches fast noch anziehender als zuvor, wenigstens sagte sich Talvanne: »Ich würde sie lieben, und wäre es auch rein nur um ihres Unglücks willen!«

Er mußte selbst über dieses Pathos lächeln und fragte sich, wie er dazu komme, so theatralisch zu empfinden. »Ich würde sie lieben,« dachte er, »ganz einfach um ihrer selbst willen und weil sie das Süßeste, Reizvollste und Entzückendste ist, was eine Phantasie sich auszudenken vermag. O Gott – so war auch ihre Mutter und daher kommt all unser Elend! Es gibt Frauen, und sie gehört zu diesen, die jeder lieben muß, er mag wollen oder nicht.«

Dann kam ihm ein andrer Gedanke: »Wie mochte Robert in diesem Augenblick zu Mut sein, wenn er Rameau so ganz und gar außer sich fand! Auf welch seltsame Mutmaßungen mochte der junge Mann verfallen? Um nicht zu ahnen, daß hier etwas mehr denn Außerordentliches vor sich geht, dazu ist er zu klug und zu feinfühlend, aber worin mag er die Ursache dieser Störungen suchen? Nachdem er zwanzig Jahre in jeder Handlung und jedem Wort dieses Mannes eine Geistesgröße und Klarheit ohnegleichen erkannt und bewundert hat, muß er sich jetzt mit einemmal sagen, daß dieser Mann sich wie ein Narr gebärdet. Es wird also entschieden das Klügere sein, ihm vollen Einblick in die Verhältnisse zu gewähren; es liegt in seiner Natur, daß er den Meister deshalb nur aufrichtig bemitleidet und um so wärmer verehrt. Wozu übrigens im voraus Entschlüsse fassen? Warten wir's ab und handeln wir, je nachdem der Moment es gebietet.«

Er stand auf und gab der Haushälterin das zuguterletzt doch fertig gewordene Rezept.

»Schicken Sie dies in die Apotheke und der Diener soll warten, bis er die Medizin mitbekommt. Augenblicklich ist nichts zu thun, als kalte Umschläge auf den Kopf zu machen, und tritt irgend eine Veränderung ein, so rufen Sie mich sofort. Ich bin unten bei dem Doktor.«

Er trat noch einmal zu dem Kind, das zu verlassen ihm schwer wurde, so dringend er auch bei Rameau nötig war. Ihre Stirn war immer noch glühend heiß; am Arm schien ihm die Haut etwas feuchter. Als er sich so über sie beugte, schlug Adrienne im Halbdunkel der weißen Vorhänge, die ihren jungfräulichen Schlummer behüteten, die Augen auf. Sie gab sich Mühe, den unstäten Blick voll und klar auf das Gesicht des vor ihr Stehenden zu heften; mit sichtlicher Anstrengung raffte sie sich auf, die Spannung in ihren Zügen ließ nach, ein freudiges Lächeln erhellte dieselben und in fröhlichem Tone fragte sie: »Bist du es, Papa?«

»Nein, mein Liebling, es ist nicht dein Papa,« sagte Talvanne zärtlich, »aber er war hier, vor wenig Augenblicken ist er weggegangen.«

Der Ausdruck des bleichen, jungen Gesichts wurde sofort wieder ernst und schmerzlich, von neuem begann das nervöse Herumrücken auf dem Kopfkissen und leise und erschöpft hauchte sie: »Ach! Du bist's, Pate? ... Danke dir ...«

Der Schmerz, den ihres Vaters Abwesenheit ihr bereitete, war sichtlich so groß, daß Talvanne ein Schauder überlief und er den Eindruck hatte, daß dies junge Wesen sich verlassen, verleugnet und verstoßen fühle. Schon glaubte er Todesschatten über sie hinstreichen zu sehen, er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Er wird wiederkommen, mein Kind, ich verspreche es dir. Ich will ihm sagen, daß du nach ihm verlangt hast, und dann wird er kommen ...«

Sie bewegte den schwachen, kranken Kopf ein wenig und sagte leise: »Ja, Pate, ja... du bist so gut, Pate ...«

Talvanne fühlte, daß er keine Minute länger bleiben dürfe, um ihr nicht all seine Herzensangst und Rührung zu verraten; er küßte sie sanft auf die Stirn und ermahnte sie leise: »Versuche ein wenig zu schlafen, mein Herzenskind!«

Sie gab keine Antwort und schloß die Augen. Auf den Zehenspitzen, um sie durch kein Geräusch zu stören, verließ er das Zimmer und begab sich in den unteren Stock zu Rameau. Er war tief bewegt beim Gedanken an die Unterredung mit dem alten Freund, der er entgegenging, aber keine Angst vor derselben machte sich geltend. So fest er seit langen Jahren gegen dessen Heftigkeit gepanzert war, so ungewappnet und hilflos stand er seinem Schmerz gegenüber. Und was für ein Schmerz erfüllte ihn! Dieser Geist, der so hoch und groß über den andern stand, mußte auch tiefer leiden als ein andrer, jede Empfindung mußte sich verzehnfachen, wenn ein so empfindliches Gehirn sie zu verarbeiten hatte. Als er hierher gekommen, hatte Talvanne den Doktor gänzlich gebrochen und an der Schwelle des Selbstmords gefunden – ob er ihn jetzt, nachdem sie so heftig aneinander geraten, in zorniger Erregung oder in tiefer Niedergeschlagenheit wiederfinden würde?

Er war unten an der Treppe angelangt und näherte sich dem Arbeitszimmer Rameaus, aus dem er nun den lauten Klang einer Stimme vernahm, die ununterbrochen fortsprach, wie wenn ein Vortrag gehalten würde. Das war ihm befremdend und beängstigte ihn derart, daß ihm kalte Schweißtropfen auf die Stirn traten – war der Freund wahnsinnig geworden? Rasch öffnete er die Thür und warf einen Blick ins Zimmer; durch die Breite des riesigen Schreibtischs von seinem Schüler getrennt, saß der Doktor in seinem Lehnstuhl, ungewöhnlich blaß, aber ruhig und vollständig Herr seiner Gedanken, denn er diktierte eben die abschließenden und zusammenfassenden Schlußsätze eines Berichts, worin er sich durch Talvannes Eintreten nicht unterbrechen ließ. Es gewährte ihm sichtlich eine gewisse Befriedigung, vor dem, der ihn so schwach gesehen, seine erstaunliche Energie und Willenskraft ins Licht zu setzen.

Traurig und von tiefer Sorge erfüllt, warf Robert fragende Blicke von einem der beiden Männer zum andern, und bemühte sich offenbar, die Lösung des Rätsels, die man ihm vorenthielt, auf eigne Faust zu finden. Eilig warf er die letzten Zeilen aufs Papier, ließ dann die Feder sinken und blieb schweigend und unbeweglich sitzen. Auch Rameau und Talvanne fanden keine Worte, und der junge Mann glaubte, nie etwas Drückenderes erlebt zu haben als diese Stille und diese tiefe, peinvolle Verstimmung. An Stelle der heiteren Vertraulichkeit und Offenheit, die sonst zwischen den zwei alten Herren herrschte, war plötzlich Zwang und Kälte getreten. Was war vorgegangen? Womit sollte er sich diese unvermittelte Wandlung erklären? War Adriennes Erkrankung Ursache oder Wirkung dieser geheimnisvollen Vorgänge? Jetzt nach Hause gehen und die ganze Nacht in dieser Ungewißheit, ohne jegliche Aufklärung zubringen, nein, das war ihm nicht möglich, das konnte er nicht.

Mit einemmal stand Rameau auf, und Robert fühlte, daß er hier zu viel war, daß sein Lehrer ihn entlassen wollte. Schüchtern trat er zu ihm, um sich zu verabschieden; sonst hatte Rameau stets einen warmen Händedruck und ein herzliches Wort für den Schüler, heute nickte er nur mit dem Kopf und beschränkte sich darauf, ihm kurz »Gute Nacht« zu wünschen. Talvanne dagegen drückte ihm wärmer als sonst die Hand, und diese Berührung zeigte ihm zur Genüge, wie nervös erregt er war. Robert verbeugte sich tief und ehrfurchtsvoll vor dem Meister und ging.

Sobald sie allein waren, setzten sich die beiden Männer einander gegenüber. Talvannes erster Blick hatte dem Tischchen gegolten, auf dem er eine Stunde zuvor das Fläschchen mit der roten Aufschrift entdeckt hatte. Dasselbe war verschwunden. Hatte der Doktor es an sich genommen oder an seinen Platz im Schrank zurückgestellt? Entsagte er seinem unwürdigen Vorhaben, oder verschob er es nur auf eine Stunde, in der sich dasselbe mit Muße und ungestört ausführen ließ? Rameau schien dem Freund diese Gedanken von der Stirn abzulesen; ein spöttisches Lächeln erschien auf seinen Lippen, und er senkte die kahle Stirn.

»Du zerbrichst dir den Kopf darüber, wo die Phiole mit Blausäure hingekommen, die du vorhin hier entdeckt hast,« sagte er. »Beruhige dich, sie ist wohl aufgehoben im Laboratorium. Wärst du heute abend eine halbe Stunde später bei mir eingetreten, so hättest du einen allen Kummers ledigen, stillen Mann vorgefunden. Du hast mich an der Ausführung meines Entschlusses verhindert, die nur möglich war, solang das Fieber anhielt, das mich denselben fassen ließ. Jetzt ist die Gefahr vorüber: die Aufregung hat nachgelassen: ich überblicke die Lage der Dinge mit kaltem Blut und fühle die Kraft, diesem Geschick die Stirn zu bieten. Es war eine Anwandlung von Schwäche, die mich befallen ... wer nie eine solche kennen gelernt, möge mich verachten!«

Talvanne faßte seine Hand und drückte sie fast krampfhaft. Welche Riesenlast war von seiner Seele genommen! Hin und her geworfen zwischen seinem Gefühl für Vater und Tochter, um den einen so sehr in Sorge wie um die andre, unfähig, sie in seinem Herzen auseinander zu halten, war er den ganzen Abend fürchterlicher Qual preisgegeben gewesen, nun war er wenigstens nach einer Seite hin von Sorge befreit. Auf seinen Zügen spiegelte sich eine derartige Herzensfreude, daß Rameau nicht unbewegt bleiben konnte.

»Freue dich nicht allzu sehr,« bemerkte er. »Vielleicht wäre es besser für dich gewesen, wenn ich verschwunden wäre... Leicht hast du es mit mir wunderlichem Gesellen schon bisher nicht gehabt, wie wird es erst in Zukunft werden?«

»Wie du nur so reden kannst, und wäre es selbst im Scherz!« rief Talvanne. »Vergiß doch nicht, daß ich seit unsrer Jugendzeit als ein bescheidener Satellit um dich kreise, Licht, ja fast Leben von dir empfange.... Ohne dich – was wäre ich? Ein schlichter Hüter von Geisteskranken, der Wirt eines Gasthofs zum Wahnsinn, wo Narren gefüttert und beherbergt werden! Du allein hast durch deinen Einfluß mich in gewissem Sinn zu einem Menschen von Talent gemacht, du hast in deinen Ueberfluß an Ruhm gegriffen, um mir einen Namen zu schaffen, hast mir von deinem Glanz einen Glorienschein geschmiedet und mir ihn aufs Haupt gesetzt, wie man einem Kind ein Spielzeug schenkt. Hast du vielleicht je geglaubt, daß ich mich darüber täusche? ... O! Wenn ich nicht unverbrüchlich an dir hinge, so wäre es ganz einfach schnöder Undank! Aber neben dieser Dankbarkeit, das weißt du ja wohl, habe ich eine tiefe, herzliche Zuneigung zu dir ... ich bin ein einsamer Mensch, du hast mir die Familie ersetzt; du und die Deinigen, ihr seid meine wahren Verwandten, um so teurer, weil frei gewählt.... Und da willst du mich bemitleiden, weil wir noch ein Stück Wegs zusammen zu gehen haben? Ich sollte mich vor deiner Verdrießlichkeit und deiner bösen Laune fürchten, während meine ganze Seele dir dankt, daß du es aufgegeben, mich allein zu lassen! Ach, geh ... ich bin nichts als ein großer Egoist! Möglich, daß die Flucht aus dem Leben dir die ersehnte Ruhe, das Glück gebracht hätte; ich muß dir ehrlich gestehen, daß ich nicht einen Augenblick daran gedacht habe, sondern nur an mich: Was sollte aus mir werden, wenn du mich im Stich gelassen hättest?«

Bei diesem warmen, aus dem Herzen kommenden Erguß der Freundschaft fühlte Rameau die Eisrinde um sein Herz schmelzen, das Blut strömte wieder in seine entfärbten Wangen und sein Blick verlor die starre Wildheit. Ein gewisses Wohlbehagen durchdrang ihn erwärmend und belebend, und diese Empfindung, der er sich nicht zu entziehen vermochte, bewies ihm zur Genüge, wie wenig sein Gefühlsleben erstorben war. »Wenn ich noch immer so sehr ein Spielball meiner Einbildungskraft bin, daß die Gemütsbewegung eines andern sich mir mitteilt,« dachte er, »so werde ich noch grausam genug zu leiden haben. Was wird noch alles kommen müssen, bis meine Empfindungsfähigkeit vollständig erloschen sein wird?«

In dem Augenblicke also, als Talvanne sich glücklich pries, ihn wieder errungen zu haben, sann er auf Mittel und Wege, sich seiner Macht zu entziehen, aber die Natur gehorchte dem Willen nicht und hielt ihn in festen Banden, und er war weit mehr vom Einfluß des Freundes abhängig, als er sich bewußt war. Ein Wort, welches seine Leidenschaft mit erneuter Heftigkeit und Schärfe wachrief, genügte, ihm das zu beweisen. Talvanne hatte sich im Ueberschwang seines Empfindens unvorsichtigerweise zu der Aeußerung hinreißen lassen: »Wie dir seit deiner entsetzlichen Entdeckung zu Mute ist, vermag ich voll zu ermessen, ich selbst habe, und zwar schon vor langer Zeit, durchgemacht, was du heute erfahren, denn die Thatsache, die du nicht ahntest, war mir bekannt.«

Mit einem Schlage brauste da Rameaus verzweifelte Eifersucht wieder auf wie ein wilder Springquell, und riß ihn vollständig mit sich fort. Bei Talvannes Worten standen Münzel und Conchita wie ins Leben zurückgezaubert vor ihm: glücklich, lebensvoll, lächelnd traten ihre Gestalten vor das innere Auge des Mannes, den sie verraten; in einem mystischen Halbdunkel schwebte das schuldige Paar, sich eng umschlungen haltend, in seinem Glückstaumel an ihm vorüber, und seine Phantasie verfolgte sie mit unerbittlicher, ihm Schmerzen schaffender Neugierde.

»Also du wußtest um das Verbrechen?« fragte er seinen Freund.

»Vom ersten Tage an.«

»Und du schwiegst – du hast mich nicht gewarnt, mir nichts gesagt, keinen Finger gerührt zum Schutz meiner bedrohten Ehre?«

Er hatte sich erhoben, seine gebeugte Gestalt war stramm aufgerichtet, die Fäuste geballt, drohend stand er da, als wollte er die Schuldigen zu Boden schmettern. Aber nur ein Stöhnen ohnmächtiger Wut entrang sich seiner Brust – die Schatten entschlüpften ihm, er vermochte nicht, sie festzuhalten, sie mit den bebenden Händen zu erwürgen.

»Dich warnen?« gab Talvanne kalt zurück. »Wozu? Um dir zwanzig Jahre früher, als es jetzt geschehen, das Leben zu vergiften? Die Rolle eines edeln, ehrlichen Jago spielen? Wozu hätte es genützt? Das Uebel war unheilbar, und die es verübt, unglücklich genug.«

»Unglücklich?«

»Ja, denn er wie sie sind die Opfer eines unseligen Verhängnisses gewesen. Sie hatten sich nicht gesucht, sie hatten im Gegenteil ihr Möglichstes gethan, sich zu meiden, und dennoch liebten sie sich. In beiden war ein solcher Rest von Ehrbarkeit, daß sie sich Mühe gaben, einander ihr Gefühl unter der Maske der Freundschaft zu verbergen. Erinnere dich doch ihres gezwungenen Wesens, des verletzenden Spottes, mit dem sie sich gegenseitig verfolgten und verletzten?«

»Eitel Lüge und Heuchelei! Damit sollte ich irregeführt werden!«

»Nein! Es war ihnen völlig ernst damit. Ich habe beider Geständnisse entgegengenommen. Du hast mir vorhin den Vorwurf gemacht, nichts zum Schutze deiner Ehre gethan zu haben – nun denn, so wisse, daß ich auf die Gefahr hin, die Zuneigung deiner Frau auf immer zu verscherzen, mit großer Herbheit und Bestimmtheit eingeschritten bin. Ich habe ihr gedroht, Münzel, falls er nicht auf der Stelle Paris verlasse, durch eine tödliche Beleidigung zum Zweikampf mit mir zu zwingen. Heute, da ich weder ihn noch sie zu schonen habe, sollst du die volle, die ganze Wahrheit erfahren, und ich gebe dir mein Wort, sie waren beide der Verzweiflung nahe.«

»Ueber die Trennung – o gewiß!«

»Nein, denn Conchita selbst hat die Kraft gehabt, Münzel zur Abreise zu veranlassen. Die Selbstanklage ob ihrer Schuld, die Scham über ihren Verrat überwogen das Glück ihrer Liebe, und ihr Gewissen ließ sie keine Freude unverbittert genießen. Nicht eine einzige der Stunden, die nach dem Fehltritt ihnen noch beschieden waren, ist frei gewesen von der Seelenpein, in der deine wirksamste Rache lag. Wie es in Münzels Herzen aussah, kannst du dir klar vor die Seele stellen, wenn du dich erinnerst, daß er in der Todesstunde nicht einmal die Mitschuldige wiedersehen wollte. Du weißt es ja, ich war nie für ihn eingenommen, und ich habe stets ein gewisses Vorgefühl gehabt, daß uns von ihm nichts Gutes kommen könne, aber ich muß bestätigen, daß seine Reue wahr und ehrlich gewesen. Nur an dich dachte er, nur dich wollte er um sich haben, während die Unselige nur durch eine Thür von dem Totenbett getrennt, von dem sein Wille sie fernhielt und ausschloß, auf ihren Knieen lag und die Hände wund rang im Gebet. Es war, als ob er fürchte, durch ihre Nähe verhindert zu sein, sich in deine Freundschaft zu flüchten, in diese Freundschaft, die ihm wie eine Zufluchtsstätte der Gnade und Vergebung erschien. Klage nicht, daß dir versagt wurde, selbst Rache zu üben; besänftige deine Empörung, mäßige deine Bitterkeit: so hättest du nicht zu strafen vermocht, wie sie selbst sich straften, und wenn sie heute lebend vor dir stünden, du brächtest es nicht über dich, ein so unerbittlich strenger Richter zu sein, wie sie selbst es sich waren.«

Sein Gesicht in den Händen verborgen, hatte Rameau den Freund angehört, ohne ihn mit einem Wort zu unterbrechen, ohne durch ein Zeichen zu verraten, daß er ihn verstehe. Er verharrte noch einige Minuten schweigend, dann ließ er die Hände sinken, und Talvanne konnte seine Züge beobachten, während er ihm erwiderte: »Ach! Ich hätte ja die Großmut noch weiter treiben können, sie zu vergessen – aber auch diese Möglichkeit haben sie mir abgeschnitten. Der Tod hat ihre Schuld nicht ausgelöscht, dieselbe lebt fort. In meinem Hause, an meiner Seite, unter meiner Obhut ist das Zeugnis derselben lebendig geblieben. Dies ist die schärfste Pein, die unheilbarste Wunde. Von diesem Kinde, das ich lieb gehabt, das ich vergöttert habe, an dem ich mit jeder Faser meines Herzens hing, das mein Trost und meine Freude gewesen ist, von dem muß ich mich jetzt mit Abscheu abwenden. Ach! Ich kann dir nicht klar machen, was seit jener schreckensvollen Enthüllung in mir vorgegangen ist. Wenn mein Verstand sich getrübt hätte, es wäre kein Wunder zu nennen! In meinem Hirn stoßen und drängen sich die Gedanken in fiebernder Hast. Es gibt Momente, in denen ich mir sage, daß es ungeheuerlich ist, dies unschuldige Geschöpf von mir zu stoßen; ich will mir selbst beweisen, daß mein Fühlen und Denken in so kurzer Frist kein andres geworden sein kann. Heute früh war sie meines Herzens Kleinod, heute abend hasse ich sie. ... Es ist so unwahrscheinlich, so widersinnig, und doch ist es so. Eine Sekunde hat hingereicht, diese Zärtlichkeit zu vergiften, diesen Glauben zu zertrümmern.... Das Bild der Gottheit ist zu Boden geschmettert, wie soll ich es wieder auf den Altar erheben? Ich habe die Philosophie zu Hilfe gerufen, ich habe meine Menschlichkeit heraufbeschworen.... Alles, was bisher die Triebfeder meines Denkens und Handelns gewesen, hat sich als hinfällig und eitel erwiesen! ... Ich habe es aufgegeben, mit mir selbst zu rechten und zu kämpfen. Der Geist liegt danieder, und die Bestie, die weint und wehklagt, weil ihr Junges, das sie lieb gehabt, nicht ihres Blutes ist, ihr nicht zu eigen gehört, trägt den Sieg davon! ...«

»Schon einmal habe ich dir entgegengehalten: ›Woher weißt du das?‹« sagte Talvanne, »Wie kommst du, der erfahrene Arzt, der geschickte Physiologe, dazu, eine Mutmaßung als Thatsache aufzustellen? Deine Folgerungen sind sehr kühn. Weil eine Frau einen Geliebten hat, muß das Kind, das sie zur Welt bringt, sein Kind sein? Das ist die Logik des Romanschriftstellers oder des Dramatikers, die bequemste Voraussetzung, um eine bedeutende Scene, eine entscheidende Lösung herbeizuführen. In Wirklichkeit liegen die Dinge weit weniger klar, denn diese Frau hat einen Gatten, der sie ebenfalls besitzt. ... Oh! Das ist widerlich, empörend, gewiß, aber laß mich zu Ende reden. ... Es gehört die Phantasie eines Dichters oder die Verblendung eines Eifersüchtigen dazu, um zu behaupten, daß der Gatte nicht der Vater des Kindes sei. Was wissen wir denn davon? Woher bist denn du in erster Linie berechtigt, dein Kind zu verleugnen? Ich will dir nicht mit Gefühlsgründen kommen, will dir nicht sagen: Sie ist das Kind, das Werk deines Geistes; ihr Denken und Fühlen, jede ihrer Regungen in Kopf und Herz tragen den Stempel deines Wesens. ... Nein, ich will mich einfach an deine gesunde Vernunft wenden, will die Natur zu Zeugen nehmen und rufe dir kraft meiner innersten Gewißheit zu: Du täuschest dich und dein Irrtum kann diesem Kinde den Tod geben, und dich, Robert und mich, uns alle, die wir sie lieb haben, elend machen!«

»Und darauf entgegne ich dir,« sagte Rameau, abermals in höchster Erregung, »daß meine innere Gewißheit, meine Ueberzeugung so stark und unumstößlich ist, wie die deine, und daß nichts sie zu ändern vermag. Nein! Dies Kind ist nicht mein Fleisch und Blut! Sieh sie doch nur an – was bedarf es weiterer Beweise! Alles an ihr verkündet die Sünde; sie ist der leibliche und geistige Ausfluß des Verbrechens; sie besitzt die ganze Anmut und Lieblichkeit, den vollen Zauber, der nur dem im Rausch der Sinne erzeugten Kinde der Leidenschaft zu eigen. Dies wonnige, entzückende Geschöpf ist nicht in leidenschaftsloser, freudloser Ehe empfangen. Liebesglut, vollpulsierendes Leben erschließen sich in ihr, und die furchtbarste Zeugin, die gegen ihren Ursprung auftritt, ist sie selbst. Dies Kind, das so frühlingsgleich, so blumenhaft ist, soll eines alten Gatten und einer jungen Mutter Tochter sein. Geh doch, Talvanne! Selbst wenn Zeit und Umstände nicht so vernehmlich dagegen sprächen, wäre es mir unmöglich, zu glauben, daß ich ihr Vater bin! Gib es also auf, mich als einen altersschwachen Narren zu behandeln, der nichts Bessres verlangt, als sich von dem, was er glauben will, überzeugen zu lassen. Ich bin Manns genug, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.«

Talvanne fühlte, daß er am besten thue, keinen Einwurf mehr vorzubringen. Rameau klagte nicht weiter; er hatte seine volle Selbstbeherrschung und die ganze Klarheit des Denkens und Redens wiedergewonnen.

»Ich habe ganz einfach,« fuhr er fort, »in meinem Hause eine Fremde, der das Gesetz alle Rechte eines echten Kindes zugesteht. Die Verwickelung, die mir hier zu lösen auferlegt ist, geschaffen zu haben, ist mit das Häßlichste, wessen die Ehebrecherin sich schuldig gemacht. Wie ich die Sache gestalten werde, weiß ich noch nicht; jedenfalls werde ich meine Entschließungen reiflich erwägen.«

»Greife nicht zu einem äußersten Mittel,« bat Talvanne. »Schone das Mädchen, wenn nicht um deiner selbst, so um meinetwillen. Du weißt, wie ich an ihr hänge, und für mein Gefühl ist nichts anders geworden. Willst du sie nicht mehr vor Augen haben, erscheint dir ihre Gegenwart unerträglich, so übersieh nicht, daß ich jede Stunde bereit bin, mich ihr ganz zu widmen. Ich bin ihr Pate; mein Haus ist so gut wie auf dem Lande... es ließe sich also mit Leichtigkeit das Bedürfnis einer Luftveränderung vorschützen, um vor den Augen der Welt eine so völlige Umgestaltung der Verhältnisse, wie dein Vorurteil – du wirst es nicht erreichen, daß ich die Sache anders benenne – sie in Bezug auf Adrienne nötig macht, zu bemänteln. Sie ist krank gewesen, blutarm, bedarf der Ruhe, damit könnten wir die Sache bis zum Zeitpunkte ihrer Verheiratung hinziehen, vorausgesetzt, daß wir nicht ...«

Er stockte und ein sorgenvoller Ausdruck trat auf seine Züge.

»Daß wir nicht ...« wiederholte Rameau fragend.

»Daß wir sie nicht,« vollendete Talvanne mit unsicherer Stimme, »ganz einfach auf den Friedhof zu geleiten haben, unsern armen Liebling. Der Auftritt von heute hat ihre Organisation furchtbar erschüttert, und ich fürchte ernste Komplikationen. Ein wenig Zärtlichkeit und Güte wären in meinen Augen die einzigen Mittel, dem Uebel beizukommen, und gerade diese scheinst du ihr nicht gewähren zu wollen...«

Er sah dem Freund ins Auge und fuhr mit einer Wärme und Dringlichkeit, welche vor den Ereignissen dieses Tages jeden Widerstand von Rameaus Seite entwaffnet haben würden, fort: »Vorwärts geblickt, Rameau! Ein ganzer Mann, mit einem großen warmen Herzen und mächtigem Geist, so habe ich dich von jeher gekannt.... Kannst du nicht Herr werden über solche menschliche Schwachheit? Kannst du die Flügel nicht mehr ausbreiten und dich mit kühnem Schwung emporheben über all das Elend, das dir die Seele beschmutzt, und, groß, und rein, alles vergessen, die ewige, über allem thronende Gerechtigkeit wiederfinden? In diesem Augenblick bist du nicht auf der Höhe, die dir geziemt, du sinkst herab und bist dir dessen bewußt, daher dein Zorn. Halte dein Haupt hoch, nimm die Stelle wieder ein, die dir über den andern gebührt. Sei so groß in deiner Güte, wie du es in deinem Wissen und Können bist. Adrienne ist dir eine Fremde? Nun denn, so verstoße sie nicht, sondern nimm sie an Kindesstatt an.«

Rameau schüttelte schmerzlich den Kopf.

»Ehemals würde ich gesprochen haben wie du, und hätte mich in schönen Theorieen von übermenschlichem Edelmut ergangen. Heute ist alles anders geworden. Ich habe es nicht mehr mit einer Idee zu thun, die man besprechen, erweitern, ins Unendliche steigern kann; mein Denken bricht sich an einer Thatsache, und Thatsachen lassen sich nur erdulden, nicht erörtern, nicht bestreiten. Möglich, daß du an meiner Stelle das thätest, wozu du mir rätst. Dann bist du eben ein besserer Mensch als ich. Ich habe nicht die Kraft dazu und glaube, daß ich sie nie haben werde, es müßte denn ein Wunder geschehen!«

»Nun denn – wenn ein Wunder uns not thut, so wird Gott es vollbringen!«

»Gott!« wiederholte Rameau dumpf. »Gott! Das ist immer der letzte Trumpf, den ihr ausspielt, wenn ihr mit all eurer Weisheit zu Ende seid! Ach! Daß er sich mir doch offenbaren wollte, dieser Gott, an den du glaubst,« setzte er müde hinzu. »Ich wollte ihm wahrhaftig dankbar sein, denn ich wäre eines Sternes, der mich durch diese Dunkelheit leitete, in der mein Fuß strauchelt, mehr denn je bedürftig.«

»Dieser Führer ist dir nahe, Rameau! Du hast ihn, aber du weigerst dich jetzt noch, ihm zu folgen. Es ist dein Gewissen.«

Er ließ dem Freund nicht Zeit zur Antwort; er wollte ihn unter dem Eindruck dieser letzten Worte allein lassen. Mit einem warmen Händedruck und einem kurzen: »Auf morgen« verließ er das Zimmer und nahm das einsilbige »Ja« des Doktors wie eine Zusage mit sich fort.

Als er das halbdunkle Vorzimmer durchschritt, löste sich ein Schatten von der Wand ab und kam auf ihn zu. Er erkannte Robert.

»Du hast auf mich gewartet? All die Zeit?« fragte Talvanne überrascht.

»Ich bin noch einmal bei Adrienne gewesen und habe ihr die von Ihnen verschriebene Arznei selbst beigebracht. Das Fieber hat etwas an Heftigkeit nachgelassen, aber der Kopf ist noch nicht frei!....«

»Warten wir ab, wie die Nacht auf sie wirkt.«

Er nahm Roberts Arm und stützte sich darauf.

»Weshalb hast du mir hier aufgelauert?«

Verlegen schwieg der junge Mann.

»Na, so habe doch wenigstens den Mut deiner Neugierde,« sagte der Irrenarzt ermunternd.

»Es sei!« erwiderte der Liebende mit erstickter Stimme, »ja, mich verlangt, von Ihnen zu erfahren, was heute vorgefallen, was meinen Lehrer so tief erschüttert und Adrienne so schwer geschädigt hat!«

Sie hatten die Straße erreicht, wo Talvannes Coups wartete.

»Wir gehen eine Strecke weit zu Fuß,« sagte der Doktor zu seinem Kutscher.

Sie betraten den Invalidenplatz: der Wagen folgte langsam. Robert beobachtete den Arzt schweigend und aufmerksam, plötzlich blieb dieser stehen, faßte seinen jungen Gefährten scharf ins Auge und fragte: »Wenn Adrienne nun nicht Rameaus Tochter wäre, was würdest du dazu sagen?«

Liebe verleiht Ahnungsvermögen. Es war, als ob Robert ein Vorgefühl davon gehabt hätte, daß Talvanne eine derartige Frage an ihn stellen würde, und rasch, wie wenn sein Herz sich längst darauf vorbereitet gehabt, erfolgte die Antwort: »Ob sie Hinz' oder Kunz' Tochter, arme Waise oder Erbin wäre, was läge mir daran? Solange sie meine Adrienne ist, genügt mir das – ich liebe sie!«

Talvannes Gesicht hellte sich auf, fröhlich drückte er den Arm des jungen Mannes an sich und rief: »So ist's recht! Sag mir einer, wer seine Gedanken klarer auszudrücken versteht, als so ein Verliebter! Du bist ein netter Kerl, den ich gestern gern leiden mochte, den ich aber heute sehr lieb habe. Nun höre mir zu; du sollst das ganze Geheimnis kennen lernen!«

Die Nacht war mild; ein leiser Wind rauschte im Laub der Bäume und Tausende von Sternen funkelten kalt und leuchtend am Himmel. Der Doktor warf einen nachdenklichen Blick hinauf und brummte vor sich hin: »Dieser Teufelskerl von einem Rameau verlangt einen Stern! An dem Stern fehlt es wahrhaftig nicht, aber ihm fehlt es an Augen, zu sehen!«

Er schlug einen rascheren Schritt an, und als sie den Quai betreten hatten, begann er versprochenerweise Robert zu erzählen; der Wagen fuhr im Schritt nebenher.


 << zurück weiter >>