Georges Ohnet
Doktor Rameau – Zweiter Band
Georges Ohnet

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Neuntes Kapitel.

Am Morgen nach der Verlobung begab sich Rameau schon in aller Frühe nach dem Sterbezimmer, das er sonst nur einmal des Jahres mit bebender Seele betrat. Durch das ganze Haus herrschte tiefes Schweigen. Adrienne saß in ihrem kleinen Wohnzimmer im Erdgeschoß an der Arbeit, und als Rosalie gesehen hatte, daß der Doktor sich den Räumen ihrer verstorbenen Herrin, um die sie gleich ihm noch immer weinte, zuwandte, hatte sie sich eilig zurückgezogen. Ohne einem Menschen zu begegnen, durchschritt Rameau also den Flur des ersten Stockwerkes und gelangte, blaß und mit Herzklopfen, an die bewußte Thüre. Der Schlüssel stak im Schloß, als ob die Bewohnerin nicht für immer geschieden wäre, sondern binnen kurzem wiederkehren könnte. Unentschlossen hielt er inne und von neuem überkam ihn ein Schwanken, ob er dies schwere Werk nicht auf später verschieben sollte. Aber sein kräftiger Wille besiegte sein inneres Bangen, mit sicherer Hand schloß er auf und trat ein. In dem Raume herrschte eine Dunkelheit, die ihm, der vom hellsten Tageslicht hereingetreten war, als völlige Nacht erschien. Er blieb in diesem Dunkel und dem tiefen Schweigen, das ihn umgab, wie angewurzelt stehen; die Kälte des allezeit geschlossenen Zimmers umwehte ihn eisig, er schreckte zusammen bei dem leisen Krachen, das die nur einmal im Jahre betretenen Dielen hören ließen, und sah sich mit einem gewissen Bangen um, ob jemand ihm gefolgt sei. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das trübe Dämmerlicht, und er unterschied die einzelnen Möbel. Da war der Tisch und dort auf der Seite das Ruhebett, auf dem Conchita sich so gern ausgestreckt und die Stunden verträumt hatte. Ein fadendünner Lichtstrahl, der durch ein Loch in den herabgelassenen Rollvorhängen hereinfiel, funkelte wie ein goldnes Sternchen auf der Spitze der Standuhr, und in dem noch dunkleren Alkoven verrieten hellfarbige Vorhänge, wo das Bett stand. Ein seltsamer Geruch, wie von welken Blumen oder einem lange entkorkten Riechfläschchen, erfüllte die Luft und gemahnte Rameau an die Blumenmasse, welche an dem unseligen Tage auf der Bahre gelegen, und mit Entsetzen durchdrang ihn abermals der widerlich süße Duft solch schmerzenvoller Gaben.

Fröstelnd wandte er sich um, als ob er noch einmal auf dem hölzernen, samtbezogenen und thränenbetauten Gestell den schweren Sarg erblicken müßte, der sein Liebstes umschloß. Der Schauer einer Einsamkeit, auf der das Gedächtnis der Toten finster und unheimlich ruhte, erfaßte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt und rasch, wie wenn Gespenster ihn jagten, stürzte er ans Fenster, riß es auf, stieß die Läden heftig zurück und wandte sich dann wieder nach dem Zimmer um. Es war leer und alles mit Staub bedeckt; die Sonne fiel in breitem Strom herein und von der Wand blickte, voll und ruhig beleuchtet, Conchitas Bild mit dem Vergißmeinnichtstrauß in der Hand, das schwermütig zu lächeln schien.

Das war alles, was ihm geblieben von seinem Weibe und seinem Freunde: diese tief leuchtende Leinwand in dem goldnen Rahmen, eine doppelt qualvolle Erinnerung, denn wie sie die Schönheit der Dargestellten verewigte und von der Meisterschaft des Künstlers Zeugnis gab, machte sie den Verlust beider noch bitterer. Rameau vergaß alles um sich her in schmerzvollem Anschauen. Die ganze Vergangenheit tauchte vor ihm auf: jene glanzvolle Zeit, als er die vom Morgenrot vergoldete Höhe erstiegen, die jetzt im Abendschatten weit, weit hinter ihm lag, jene glückliche Zeit, als Liebe und Freundschaft ihn warm umfangen gehalten, sie, die dann beide erloschen waren, um Schmerz und Zweifel an Stelle der Hoffnung und der Freude zurückzulassen.

Er fühlte sich unsäglich gedrückt und elend. Weshalb war er es denn nicht gewesen, der hinweg gedurft? Friedenvoll wäre er in die Ruhe des großen Nichts eingegangen, statt ein elendes Dasein voll fruchtlosen Klagens und Heimwehs hinzuschleppen. Was er Großes geleistet hatte, all seine hochgepriesenen, vielbewunderten Arbeiten, versanken ihm in nichts; und all seinen Ruhm hätte er freudig hingegeben, um eine Stunde jener auf ewig versunkenen Vergangenheit heraufzubeschwören.

Er setzte sich an das kleine Tischchen, auf dem noch in der Unordnung des täglichen Gebrauchs eine Menge hübscher Kleinigkeiten, deren Conchita sich bedient hatte, umherlagen, und starrte mit thränenfeuchten Augen auf dies bunte Allerlei. Die Liebe zu seinem Kinde, die herzliche Freundschaft, die ihn mit Talvanne und Robert verband, alles war für ihn versunken und vergessen, und sein Leben erschien ihm wie ein dunkel gähnender Abgrund, in dessen schwarzen Schlund alles versunken war, was ihn froh und glücklich gemacht hatte! Er griff nach einer kleinen unvollendeten Handarbeit, in deren Stoff die Nadel noch stak, als ob sie nur des schlanken Fingers harre, der sie sonst geführt.

Oft und viel hatte er diese Stickerei in Conchitas Hand gesehen, und es war ihm, als ob von dieser Berührung ein Eindruck, eine Wärme, ein Duft zurückgeblieben wäre. Er drückte das zierliche Gespinst an seine Lippen und konnte sein Schluchzen nicht unterdrücken; Thränen rollten über seine Wangen herab und sanken auf die bunte Seide. Er ließ ihnen freien Lauf, als ob er einen Trost darin fände, sich so schwach zu zeigen, sich ganz im Kummer zu verzehren, und als ob es ihm eine Art grausamer Wonne wäre, sich ganz diesen Regungen hinzugeben. Er war allein, fern von jedem Blick, jedem Zeugen, er hatte das Recht, sich gehen zu lassen wie der Aermste, seine Größe abzuweisen, nicht mehr der berühmte Mann, sondern ein thränentrunkenes Geschöpf zu sein, das seinen Schmerz groß zieht, nährt und hätschelt.

Lange verblieb er so. Die Standuhr zeigte seit jener Todesstunde die Zeit nicht mehr an und ihr goldner Zeiger hatte den emailschimmernden Kreis nie wieder durchwandelt. Die Stunden verflossen und der Tag hätte sich ganz zu Ende neigen können, ohne daß jemand gewagt haben würde, diese Schwelle zu überschreiten und den Mann, der sich hier eingeschlossen, an das Leben des Tages und seine Ansprüche zu mahnen. Die Geräusche des Hauses, Thüren, die vorsichtig zugedrückt wurden, der flüchtige Schritt eines Dieners, der über den Flur eilte, gedämpftes Sprechen und Rufen drangen nur undeutlich bis hierher und vermochten Rameaus Aufmerksamkeit nicht zu erregen. An eine Mahlzeit dachte er nicht; sein Geist hatte sich von der Materie gelöst und lebte, der Gegenwart uneingedenk, der Vergangenheit.

Indessen versank die Sonne tiefer und tiefer hinter den mächtigen Baumstämmen der Esplanade, und das Tageslicht nahm stetig ab. Das Bild Conchitas verlor an Glanz und Leuchtkraft und seine Linien schienen fern und ferner zu entschwinden und in das Dunkel unterzutauchen. Rameau wollte näher treten, um die geliebten Züge deutlicher erblicken zu können; er stand auf und damit brach er den Zauber, der ihn traumhaft umfangen gehalten. Er sah, daß er in dem öden, staubbedeckten Zimmer war, und entsann sich, welch ernsthafte Absicht ihn hierhergeführt und daß er, statt in einem mystischen Rückwärtsleben zu erstarren, praktische Arbeit vornehmen sollte, so peinvoll sie ihm auch sein mochte. Den weißen Kopf schüttelnd, fuhr er sich über die thränenblöden Augen, und wieder im Vollbesitz seiner Kaltblütigkeit, ging er zum Kamin, wo in einer emaillierten Schale, seit fünfzehn Jahren unberührt, Conchitas Schlüsselbund lag.

Er nahm ihn mit zitternder Hand an sich, griff einen winzigen goldnen Schlüssel heraus, trat an ein niedliches, im Geschmack des Rokoko gearbeitetes Schreibschränkchen aus Rosenholz mit Messingbeschlägen, ließ die innen mit blauem Samt bezogene Klappe herunter und zog mit frommer Scheu die Schiebfächer heraus. Im mittleren lagen wohl geordnet Briefbogen und Umschläge, die den Stempel 0. R. trugen; dabei ein elfenbeinerner Federhalter, Eine Photographie von Adrienne als kleines Kind, die mit bloßen Armen und Beinchen in einem weißen Kleide auf einem Lehnstuhl stand, lachte ihm aus einem emaillierten Rahmen entgegen. Rameau nahm das Bild zur Hand und entdeckte zu seiner Ueberraschung unter demselben ein Miniaturporträt von Münzel.

Ja, so hatte er ausgesehen um jene Zeit, da ihre Freundschaft sich angebahnt, fünfundzwanzigjährig, blond, mit blauen Augen, deren Blick stets von einer gewissen Wehmut verschleiert gewesen. Das Bildchen war mit dem Monogramm gezeichnet, wie es der Doktor so oft und viel auf den Bildern in kleinem Maßstab, die der Künstler flüchtig hinpinselte, um dem Drängen der Kunsthändler Genüge zu thun, erblickt hatte. Wie war diese Miniatüre, die so ganz und gar nicht in Münzels gutem Stil war, in dies Fach und in Zusammenhang mit Adriennes Photographie gekommen?

Die eigensinnige Feindseligkeit, mit der seine Frau den Freund anfangs behandelt hatte, kam ihm in Sinn und ebenso ihr Milderwerden, nachdem sie Frau Etchevarrays Porträt erhalten, und dann die wachsende Vertraulichkeit beider während der Zeit, da sie selbst ihm gesessen. Ohne Zweifel mußte Conchita damals diese Jugendarbeit im Atelier aufgestöbert und sie sich als freundschaftliches Erinnerungszeichen ausgebeten haben. Aber wie kam's, daß sie ihrem Gatten dieselbe nie gezeigt, ihm nie gesagt hatte, daß sie ein Bild von Münzel besitze? Weshalb hatte sie dasselbe in einer Schublade verborgen, in die, außer ihr selbst, nie jemand einen Blick warf?

Als ob er etwas Befremdendes daran gefunden hätte, daß Conchita ein Bild von seinem Franz besaß! Gefreut hätte er sich und oft und mit Vergnügen würde er das Bild angeschaut haben, ja, es hatte ihm ein teures Andenken an den auf so tragische Weise verlorenen und so bitter beweinten Freund werden können. Wozu es verbergen wie eine verbotene Ware? Was war denn Sträfliches daran, daß sie das Bild besaß? Und weshalb versetzte seine Auffindung Rameau in solche Erregtheit? Hätte er nicht ebenso gut Talvannes Bild hier vorfinden können?

Bei diesem Gedanken vertieften sich die Falten seiner blassen Stirn und ein herbes Lächeln kräuselte seine Lippen. Nein, es war nicht wohl möglich, daß er Talvannes Bild in einem Geheimfach entdeckt hätte, und wenn dies der Fall gewesen wäre, so hätte sein Puls deshalb nicht rascher geschlagen, kein Angstschweiß würde seine Schläfen bedeckt haben, keine Ahnung eines Furchtbaren, Widernatürlichen, Niedrigen hätte ihm das Herz zusammengezogen. Die kerngesunde, unerschütterliche Rechtlichkeit des Freundes würde ihr unangreifbares Schild darüber gehalten haben, während bei Münzel ...

Rameau stampfte heftig mit dem Fuße, als seine wild hin und her wogenden Gedanken ihm diese Schlußfolgerung aufdrängten, und ein Laut des Zornes ertönte durch die Totenstille des Raumes. Er wollte sich Gewalt anthun, häßlichen und abgeschmackten Vorstellungen den Zutritt zu seiner Seele verbieten, und ganz laut sagte er zu sich selbst: »Ich fiebre wohl! Welch ein Gift kann sich denn in meine Adern eingeschlichen haben, welch ein Wahnsinn meine Gedanken umnachten? Franz? Ebenso gut könnte man dem eignen Bruder mißtrauen!«

Er schlug die Augen auf, und sein Blick begegnete dem Bilde der entzückenden jungen Frau, die ihn, die blauen Blümchen in der Hand, freundlich anlächelte. Ach, dies süße Lächeln, der zauberhafte Mund, der schmelzende Blick dieser wunderbaren Augen! Wochenlang hatte der Maler das alles vor Augen gehabt und bewundert, er hatte es wiedergegeben auf der Leinwand, und sein Pinsel hatte diese berauschenden Lippen nachgeformt, mit leichtem, zärtlichem, liebkosendem Strich! War es denn möglich, daß er all diese Schönheit geschaut und geschaffen hatte, ohne Leidenschaft für sein Modell?

Wie Nebelstreifen stieg es vor Rameau auf, und mehr und mehr ballten sich die leichten Flocken zum schweren Gewölk zusammen. Tausend Gedanken, die ihn nie auch nur flüchtig mit feurigem Flügel gestreift, versengten ihm jetzt das Innerste. Talvannes Voreingenommenheit gegen Münzel, die sich zu Anfang ihrer Beziehungen so mächtig geltend gemacht hatte, die instinktive Gereiztheit des Freundes, die ihn jetzt an die unbewußte Menschenkenntnis eines treuen Hundes gemahnte, seine Warnungen, Conchita nicht allein in das Atelier des Malers gehen zu lassen, das alles erwachte in seiner Erinnerung und stand furchtbar, erdrückend vor ihm. Das Vertrauen, das ihn sonst jede Verdächtigung hatte bespötteln lassen, war erloschen, in einem Augenblick aufgezehrt von der versengenden Glut der Eifersucht. Mit einemmal ward die innere Qual so übermächtig, so sehr zur körperlichen Schmerzempfindung, daß er all seiner Selbstbeherrschung bedurfte, um nicht ein Wehegeschrei auszustoßen. Er schleuderte das Miniaturbild, das er immer noch krampfhaft festgehalten, von sich und fing nun an mit fieberhafter Hast Schublade um Schublade zu durchstöbern; jedes noch so kleine, unbedeutende Fach wurde durchsucht und die Kleinigkeiten, die er kurz vorher noch mit frommer Scheu als Reliquien verehrt hatte, warf er jetzt roh und gewaltthätig beiseite.

Von einer brennenden Neugierde erfaßt, wollte er jetzt um jeden Preis in die Geheimnisse der Frau eindringen, der er zehn Jahre lang ein kindliches Vertrauen entgegengebracht hatte. Mit rauher Hand erzwang er sich jetzt den Einblick in ihr Inneres; er entweihte die Ruhe der Toten, und jetzt beklagte er ihren Hingang nicht mehr, weil sie damit seiner Liebe, sondern weil sie seinem Gericht entzogen war. Seine grenzenlose Zärtlichkeit verwandelte sich mit einem Schlage in grenzenlosen Haß bei der Vorstellung, daß die, welche er so leidenschaftlich betrauert hatte, um die heute, vor wenigen Minuten noch seine Thränen geflossen waren, ihn zum Narren gehabt, ihm eine Neigung verborgen, ein Abenteuer hatte verheimlichen können.... Seine Fäuste ballten sich krampfhaft, er preßte die Zähne aufeinander, daß sie vernehmlich knirschten. Ja, so weit war er schon. Er räumte ein, daß die Tote möglicherweise einer Schändlichkeit fähig gewesen, und er forschte wie ein Rasender nach den Beweisen für ihre Schuld.

Um rascher zum Ziele zu gelangen, stürzte er das ganze niedliche Möbel um, daß die Schublädchen samt ihrem Inhalt an Bändern, vertrockneten Blumen und kleinen Andenken aller Art den Fußboden bedeckten. Mit der Gewalt des Instinkts hielt ihn die Ueberzeugung, daß etwas tief und geschickt Verborgenes zu finden sein müsse, gefangen, aber er entdeckte nichts, und sein Zorn, der keine Nahrung fand, der sich immer mehr steigerte, je weniger Begründung vorhanden war, verzehrte sich innerlich. Plötzlich stieß er einen wilden Schrei aus. Beim Betasten der Zwischenwand des Schrankes waren seine Finger auf eine Erhöhung gestoßen; ein Krach ertönte, und ein in der Tiefe des Brettes eingelassener Doppelboden war bloßgelegt.

Einen Augenblick war Rameau wie gelähmt; mit so wahnsinnigem Eifer er alles aufgeboten hatte, um zur Gewißheit zu gelangen, so entsetzt bebte er jetzt, da sie sich ihm darbot, vor derselben zurück. So heiß die Folterqual der Ungewißheit war, so war es doch immer noch Ungewißheit. Jetzt brauchte er nur die Hand auszustrecken, und in dem dunkeln, verstaubten Geheimfach lag der Beweis vor ihm, und jetzt zauderte er, bebte scheu zurück vor dieser greifbaren Thatsache, vor diesem Zeugnis, das jeden Widerspruch zum Schweigen bringen und jede Illusion auf ewig zerstören mußte.

Er blickte hin, nur von ferne, aber mit großer Aufmerksamkeit. Ein dünnes, weißes Paket mit einem vergilbten Band umwunden, war in dem engen Zwischenräume zu entdecken. Langsam griff er danach, und ohne Hast und Eile ging er damit ans Fenster und setzte sich dort, um den Inhalt zu prüfen. Sorgfältig und gemessen löste er das Band, öffnete den Umschlag und fand ein Bündel von etwa zwanzig Briefen. Die Handschrift sah er noch nicht und bis jetzt lag noch nichts vor, was Conchita verurteilt oder auch nur angeklagt hätte. Ein letzter Hoffnungsstrahl fiel erwärmend und versöhnend in Rameaus Herz – wenn es Briefe von ihrem Vater oder ihrer Mutter waren, die sie frommen Kindersinnes aufbewahrt?

Aber wozu dieselben verbergen, wenn sie nichts Böses enthielten? Wozu das Geheimfach dafür benutzen und weshalb diese Vorsicht? Nein, nein! Diese Korrespondenz konnte nicht unschuldiger Natur sein, sie kann, sie konnte von keinem andern als einem Geliebten herrühren. Alles sprach dafür, alles bezeugte es, und er durfte nur das erste Blatt eröffnen, so mußte er den Namen des Ehrlosen vor Augen haben.

Mit den Fingerspitzen, wie wenn er sich vor der Berührung eines tödlichen Giftes scheute, faltete er den ersten der vergilbten Briefbogen auseinander und mit Entsetzen erkannte er Münzels Handschrift. Er wollte lesen und heftete den Blick fest auf die Zeilen, die all seine Ahnungen bestätigen sollten. Es war der erste Brief, den Conchita nach Münzels Abreise von Paris von ihm erhalten hatte, und das heiße Weh der Trennung sprach sich mit einer hinreißenden Beredsamkeit darin aus. Jede Zeile atmete Leidenschaft, aber auch der Aufschrei des Gewissens ertönte mit einer Gewalt, die Rameau erbeben machte. Gewiß, der Freund war schuldig, aber um wie viel mehr das Weib! Die ganze Geschichte ihres Falles war klar zu verfolgen in Worten voll Glut und Schmerz. Despotisch befahl ihm die Geliebte, zu ihr zurückzukehren, von Fieber geschüttelt lehnte sich der Unglückliche, dem die Erinnerung verbotener Wonnen und der Abscheu vor dem Verbrechen die Seele zerrissen, dagegen auf. Er fluchte seiner Schwachheit, die ihn am Freund hatte freveln lassen, und seine Liebe war doch so heiß, daß er es nicht bereuen konnte, den ehrlosen Betrug begangen zu haben. Scham über sich und lechzendes Verlangen nach Glück waren es, die ihn über Berge und Meere jagten, und um sich zu schützen vor jener verhängnisvollen Trunkenheit, wollte er sein Fleisch in der Einsamkeit der Wüste, fern von der ehebrecherischen Versuchung ertöten. Wie Schuppen fiel es von Rameaus Augen, und die Vergangenheit stand in ihrer entsetzlichen Wahrheit vor ihm. Jetzt wußte er, weshalb Münzel ihm schluchzend in die Arme gesunken war und ihm gesagt hatte, daß seine Liebe unvermindert die alte sei, daß er aber zwingende Gründe habe, sich von ihm loszureißen. Er sah die entfärbte Stirn des Verwundeten, wie er in der Ambulanz von Saint Maur gelegen, wieder vor sich und die flehenden Blicke des Sterbenden in Talvannes Zimmer in Vincennes. Fast wie ein Glück hatte Franz es empfunden, unter Rameaus Augen, in seinen Armen sterben zu dürfen, und ihm hatte zu Mut sein mögen, als ob in des Freundes zärtlicher Sorgfalt Vergebung läge.

Wie hatte er auch zu ihm gesprochen, wie weich war der Klang seiner Stimme gewesen, welche Welt von Flehen, Reue, Zärtlichkeit hatte jeder Ton enthalten! O Franz! Du Gefährte goldner Jugendzeit! Dieser Freund in guten und bösen Tagen, dem er so viele Jahre lang wie einem Bruder begegnet, konnte er denn um eines Weibes willen all dies vergessen und verleugnet haben? Wie ein Gift mußte die Liebe sein Blut durchrast haben, um in seinem Herzen jene Zartheit des Empfindens, jenen edeln Stolz, der einst seine Freundschaft so vollwertig gemacht, zu erlöschen und zu ersticken! O Himmel! Für den flüchtigen Rausch, auf den ein so grausames Erwachen gefolgt, hatte er alles verraten, alles entweiht! Einem Mann, für den er ohne Zaudern und Zagen in den Tod gegangen wäre, die Ehre gemordet! Den Namen dessen, der mit Gefahr von Freiheit und Leben für ihn Bürge gewesen wäre, beschimpft, befleckt!

Die Thränen entstürzten Rameaus Augen, nicht Thränen der Rührung, aber Thränen des allertiefsten Kummers. Das physische Schmerzgefühl war vorüber, der Zorn gebrochen: die Eifersucht kochte nicht mehr in seinen Adern. Das Gewitter hatte sich in andre Regionen verzogen; es grollte und raste in seinem Gehirn. Er weinte um seinen mit Füßen getretenen Glauben, um seine zerstörten Illusionen. Zur Fahne der Menschheit allein hatte er geschworen, und die Menschheit war es, die ihn schmählich verraten. Im Menschen hatte er den einzigen Herrn und Meister der Natur gesehen, und der Mensch, dem er das höchste Maß seiner Zuneigung geschenkt, stand nun erbärmlich und ehrlos vor seinen Augen, Was blieb dann noch? Nichts.

Er wollte sich an die Philosophie wenden, sich verzweifelnd an sie anklammern. Sie war machtlos. Von ihr forderte er Trost, Gründe, Erklärung, Schutz – sie hatte ihm nichts zu bieten, was ihm Heilung oder Linderung gewesen wäre. »Die Gläubigen haben wenigstens ihren Gott!« sagte er sich finster, aber wie eine widerspenstige Feder schnellte sein rebellischer Geist auf, als er ihm diesen Gedanken zumutete, und wies diese Verleugnung des eigenen Selbst von sich. War diese Rückkehr zum Begriff eines höchsten Wesens etwas andres als erbärmlicher Kleinmut? Das Bedürfnis, sich an ein außer und über uns stehendes Wesen zu wenden, war ja nur die Angst davor, sich verlassen und auf sich allein angewiesen zu fühlen, und wie hatte er dies Bedürfnis, diese Angst verlacht und verspottet! Heute lernte er selbst sie kennen, heute war er auf dem Punkt, ihr nachzugeben.

Das Bewußtsein solcher Schwachheit war eine derartige Demütigung für ihn, daß es all seine Heftigkeit entfesselte. Er brach in ein bitteres Hohngelächter aus. Ha, ha! Die Tröstungen der Religion! Das war sie also, die gemeine Angst, die im Augenblick des Todes so viele Ungläubige zu Kreuz kriechen, sich dem Priester beugen ließ. Das Gefühl der vollkommenen Verlassenheit, das so manchen zweifelstarken Geist schreckte und ihn trieb, die unendliche Einsamkeit mit einem Gott auszufüllen, auch er mußte es empfinden. Aber sein starker Mut empörte sich gegen so feige Heuchelei.

Die Religion, die man dem Ertrinkenden als einzigen Trost, als einzige Rettung bot, was war sie denn anders als Lug und Trug! Frömmigkeit und Laster vertrugen sich ja wunderbar gut, Schuld und Glaube reichten sich friedlich die Hände! Das wußte niemand besser als er, er, der eine jener Frommen geliebt hatte, die ihre Frömmigkeit nicht vom Fall abzuhalten vermocht, ja, ihr denselben erleichtert hatte. Die Gewißheit der Sündenvergebung erleichterte die Sache so ungemein! Eine kurze Reue, ein paar Gebete, und die Frau konnte beruhigt und neu gestärkt zur Sünde zurückkehren. War dieser regelmäßig sich wiederholende Gang vom Verbrechen zur Reue und umgekehrt nicht das Schamloseste, was je eine Phantasie ersonnen?

Die blinde Wut schlug wieder in lichten Flammen über ihm zusammen. Sein blasses Gesicht bedeckte sich mit eisigem Schweiß, Schaum trat auf seine Lippen. Wäre die Schuldige jetzt erschienen, er würde sie unfehlbar erwürgt haben. Nicht seinen Franz klagte er an, sie allein war ihm verantwortlich für das Vergehen, sie hatte ihn zum Mitschuldigen gemacht, zur Sünde hingerissen. Er ward sich rückwärts blickend bewußt, daß sie ihn, ihren Gatten, gehaßt hatte. Von dem Tage an, da er sich geweigert hatte, auf ihre mystischen Anwandlungen einzugehen, hatte sie ihn aus ihrem Herzen gerissen und die Religion als trennende, unheilvolle Schranke zwischen ihm und ihr aufgerichtet.

Mit großen Schritten durchmaß er das Zimmer, da und dort ein Möbel rauh beiseite stoßend; in seinem Wahnsinn hatte er alle Vorsicht, alle Schonung über Bord geworfen. Jenseits des Grabes hätte er sie verfolgen mögen, sie, die ihn betrogen. Alles, alles diente nur zur Erschwerung ihrer Schuld, er überhäufte sie mit Vorwürfen, mit Beschimpfungen – o, daß er sie hätte mißhandeln können! Plötzlich warf er den Kopf zurück, sein Blick fiel auf das Bild, das, lächelnd wie zuvor, mit den sentimentalen Blumen in der Hand, auf ihn niedersah. Es kam ihm vor, als ob das süße Gesicht ihm Trotz biete: »So hat sie ihrem Liebsten zugelächelt,« dachte er, »und dies schamlose Bild der Ehebrecherin soll ich meiner Lebtage vor Augen haben?«

Wie eine Glutwelle stieg es ihm vom Herzen zu Kopfe. Er stieß einen dumpfen Schrei, wie das Brüllen eines Stiers, aus, faßte nach dem Rahmen, riß ihn mit Wucht von der Wand und schleuderte ihn wütend zu Boden. Mit furchtbarem Getöse zerbarst derselbe und, in eine dichte Staubwolke gehüllt, stoben die Trümmer nach allen Seiten auseinander. Jetzt stürzte Rameau darauf zu, und wie ein Rasender zerstampfte er mit seinem Stiefelabsatz das entzückende Gesicht. Die Anstrengung steigerte seinen Zustand noch; eine wahnsinnige Wollust des Zerstörens und Vernichtens verdoppelte seine Kraft, und während er mit beiden Füßen die Leinwand zertrat, brüllte er mit heiserer, gräßlicher Stimme: »So, Elende! Ungeheuer! Niedriges, unreines Gezücht, weshalb kann ich nur dein Bild zerstampfen, und nicht dich selbst!«

Mit wirrem Haar, geballten Fäusten und blutunterlaufenen Augen glich er in seiner Zerstörungswut einem vollständig Geistesgestörten. Während er noch in seinen Schimpfreden fortfuhr, that sich die Thür auf, und bang erregt von dem Lärm, den sie vernommen, von Angst und Sorge ergriffen, erschien seine Tochter auf der Schwelle. Als Rameau sie erblickte, fuhr er schreckensbleich zurück. Wie sie so hell beleuchtet mit einemmal vor ihm stand, sah er mit Schaudern Conchitas Ebenbild in ihr, Conchita selbst, nur blond und blauäugig! Haare und Augen wie Franz Münzel! Er verschlang sie völlig mit stieren, glühenden Blicken, und Adrienne, die den Vater mit verzerrten Zügen, zerwühlter Kleidung, mitten unter diesen Trümmern sah, sinnloser Wut zum Raub, wagte keinen Schritt vorwärts zu machen. Mit entsetzlicher Stimme rief er endlich: »Was suchst du hier?«

Blaß, mit flehend erhobenen Händen, stammelte das junge Mädchen: »O Vater ...«

»Schweig stille!« unterbrach er sie mit schreckenerregender Gebärde. »Nicht dies Wort! Nicht diesen Namen! Nicht hier in diesem geschändeten Raum! Fort von hier! Fort, fort! Daß ich dich nicht mehr sehe! Dein Anblick ist mir ein Greuel!«

Bei diesen Worten aus dem Munde eines Vaters, der sie, so weit sie zurückdenken konnte, nur mit Zärtlichkeit und süßen Schmeicheleien überhäuft hatte, fuhr sich Adrienne über die Stirn, als müßte sie einen bangen Traum, ein Alpdrücken von sich abschütteln; das Blut drang ihr dermaßen zum Herzen, daß sie zu ersticken wähnte. Wie ein Schleier lag es vor ihren Augen, die Kniee bebten ihr, und Leichenblässe bedeckte ihre Wangen.

»O bitte, bitte, du machst mir angst! ... Was ist geschehen? ... Weshalb willst du mich von dir stoßen? Hab' ich etwas Böses gethan?«

»Nicht gethan hast du das Böse – du bist es! Du bist die Verkörperung desselben!« schrie Rameau mit irrem, wildflammendem Blick. »Du bist des Bösen lebendig gewordener Ausdruck! Das Böse, das bist du! Du, der verhaßte Beweis eines Verbrechens, dessen Gedächtnis du verewigst? Weshalb ich dich nicht vernichte, zerschmettere, das weiß ich wahrhaftig selbst nicht!«

Er hatte sie an der Schulter gepackt und schüttelte sie heftig. Kein Wort kam mehr über ihre Lippen; nicht die Angst um sich, die Angst um den Vater lähmte ihre Kraft. Sie hielt ihn für wahnsinnig. Ein unsägliches Weh durchzog und erfüllte ihr Herz, Thränen rannen über ihre Wangen, sie konnte sich nicht mehr aufrecht halten und sank, wie um Gnade flehend, in die Kniee. Als er das Geräusch ihres Hinsinkens vernahm, kehrte bei Rameau einen Augenblick die Vernunft zurück. Er sah nichts mehr vor sich, als das Kind, das er achtzehn Jahre lang vergöttert hatte.

Die Arme nach ihr ausstreckend, wollte er sie vom Boden erheben.

»Adrienne!« erklang es innig.

»O, es ist vorüber! Das bist du selbst wieder! Das sind deine Augen, deine Stimme!« jubelte das junge Mädchen in überströmender Freude.

Sie wollte die Arme um seinen Hals schlingen, sich an ihn schmiegen, ihn ganz und gar wieder gewinnen. Aber schon flog sein Blick über das Zimmer hin; das zerfetzte Bild, die zerrissenen Briefe, die zertrümmerten Möbel fielen ihm in die Augen, und die ganze grausenhafte Wahrheit drang mit einemmal von neuem auf ihn ein, sein Gesicht zeigte wieder die vorige Härte. Er wies das Kind von sich, entzog sich barsch ihren Liebkosungen und rief mit Donnerstimme: »Zurück! Keine Komödie! Ich habe es satt, genarrt zu werden! Hinaus mit dir!«

Hoch aufgerichtet, ein schreckenerregender Anblick, stand er da und wies mit weit ausgestreckter Hand nach der Thür. Adrienne, die dieser plötzliche Uebergang von seligster Hoffnung zu grausamer Enttäuschung überwältigte, gab keinen Laut von sich; sie ward kreideweiß, blauschwarze Ringe um ihre Augen wurden sichtbar und sie stürzte kalt und steif der Länge nach zu Boden. Im nämlichen Augenblick warf die alte Rosalie, welche das laute Sprechen herbeigelockt hatte, einen Blick ins Zimmer, sie sah das junge Mädchen leblos neben den zertrümmerten Möbeln liegen und stürzte sich auf sie, wie wenn sie einen Raub in Sicherheit bringen wollte, umschlang sie mit ihren Armen und befühlte sie, um sich zu vergewissern, ob sie überhaupt noch lebe. Ein flehender Blick flog zu Rameau hinüber, der demselben regungslos, finster und unerbittlich stand hielt.

»Mein Gott!« seufzte sie dumpf.

Dann, ohne eine Frage zu stellen, ohne einen Ruf um Hilfe, ohne ein Wort, hob sie das Kind vom Boden auf und schleppte ihre kostbare Bürde am Vater vorüber zum Zimmer hinaus. Auch Rameau verließ dasselbe jetzt, verschloß die Thür, steckte den Schlüssel zu sich und ging langsam und mühsam nach seinem Arbeitszimmer.

Rosalie hatte verschiedene Gänge durchschritten und war am andern Ende des Hauses, da wo Adriennes Zimmer sich befanden, angelangt. Jetzt rief sie plötzlich mit lauter Stimme, ohne Scheu, um Hilfe. Zwei von den Dienstmädchen kamen eilends herbei und erhoben, als sie ihr Fräulein in diesem Zustand erblickten, ein Zetergeschrei, schlugen die Hände überm Kopf zusammen und wußten sich vor Weh und Ach nicht zu lassen.

»Haltet euren Mund!« unterbrach die alte Frau ihren Wort- und Fragenschwall barsch, indem sie in den kleinen Salon trat. »Das Fräulein hat eine Ohnmacht ... eine von euch geht und richtet ihr Bett her, die andre sagt dem Kutscher, daß er einspanne und sofort den Herrn Doktor Talvanne in Vincennes holen soll; der Diener soll zu Herrn Robert laufen und ihn eilends mit hierher bringen. Vorwärts, keine Redensarten: hier ist weder Zeit noch Ort zum Schwatzen.«

Diensteifrig flogen die Mägde davon, und Rosalie ließ die leblose Gestalt auf ein Sofa nieder, holte aus Adriennes Toilettenzimmer eine Flasche mit kölnischem Wasser und stellte allerhand Belebungsversuche an. Die blonden Haare aufgelöst, die Augen fest geschlossen, völlig farblos, wie eine jugendliche Märtyrerin lag das junge Mädchen da, und sie war so schön, daß die treue Dienerin eine ganze Weile sich dermaßen in ihren Anblick versenkte, daß sie zu handeln vergaß. Dann griff sie, von neuem ängstlich geworden, rasch nach der Flasche, benetzte ihr die Schläfen und inneren Handflächen, suchte sie durch Reiben zu erwärmen, beugte sich über sie, rief sie beim Namen, sprach mit mütterlicher Liebe und Innigkeit zu ihr, erreichte es aber nicht, den Zustand der Erstarrung zu lösen. Wiederum herrschte tiefes Schweigen durchs ganze Haus; kein heiserer Wutschrei, kein dumpfer Schlag, kein zorniges Stampfen war mehr zu vernehmen. Der Sturm hatte sich gelegt, aber diese Ruhe barg vielleicht noch mehr des Unheils als alles Drohen und Toben.

Ein rascher Schritt, der auf dem glattgebohnten Flur schleifend heraneilte, ließ Rosalie auffahren, sie ging an die Thür und ihr gegenüber stand Robert. Er stellte keine Frage, sie gab keine Erklärung. Sein erster Blick war auf das leblos hingestreckte Mädchen gefallen; er faßte nach ihrer Hand und fühlte ihren Puls, dessen Schlag ihn einigermaßen zu beruhigen schien, dann untersuchte er ihr Gesicht. Die Augen waren bläulich unterlaufen, der Kiefer verzerrt und die Lippen eingekniffen.

»Geben Sie mir Aether,« sagte der junge Arzt. Die erfahrene Haushälterin ging hinaus und kehrte nach kürzester Frist mit einer Flasche und einem Löffel zurück. Langsam und nur mit großer Anstrengung gelang es Robert, die fest zusammengepreßten Zähne Adriennes so weit auseinander zu bringen, daß er ihr einige Tropfen der Flüssigkeit einzugießen vermochte. Sofort färbte ein lebhaftes Rot die Wangen des jungen Mädchens, sie holte tief Atem und ihre Augenlider hoben sich. Sie schien ihren Pfleger zu erkennen, ein schmerzliches Lächeln trat auf die entfärbten Lippen, dann wurde sie sofort wieder totenblaß und unbeweglich. Die eigentliche Ohnmacht war aber dennoch vorüber, und die vorhin eiskalten, steifen Hände wurden ein wenig feucht und biegsam.

»Sie muß zu Bett gebracht werden,« sagte Robert und setzte, als Rosalie ihre Zustimmung dazu durch ein Kopfnicken gegeben, hinzu: »Wo ist ihr Vater?«

Die alte Frau runzelte die Stirn und bedurfte eines Augenblicks der Sammlung, wie wenn es gälte, einen schweren Entschluß zu fassen.

»Der Herr ist seit dem Frühstück ausgegangen,« erwiderte sie endlich kalt und ohne Robert ins Gesicht zu sehen. »Aber man hat es ihn wissen lassen und Herrn Doktor Talvanne auch ...«

Dann sagte sie hastig, wie um jede weitere Frage abzuschneiden: »Bitte, fassen Sie Adrienne an den Schultern ... wir beide können sie wohl tragen, das arme Kind, es ist nicht schwer.«

Die Thür zum Zimmer des jungen Mädchens stand offen. Es war ein lauschiges Stübchen, ganz mit einem weißgrundigen Seidenstoff mit versetzten Rosen darin ausgeschlagen, die Möbel weiß lackiert, alles frisch, hell, jungfräulich und der ganze Raum von einem leichten Parfüm durchströmt. Zum erstenmal betrat Robert dies Heiligtum, und es preßte ihm ordentlich das Herz zusammen, als er die Schwelle überschritt. Ihm war, als ob nur der Tod ihm ein Recht zu solcher Kühnheit gebe, er blickte auf das blasse, leblose Gesicht des jungen Mädchens und mit Schauder ergriff ihn die Vorstellung, daß diese fest geschlossenen Augen sich nie wieder aufthun könnten. Er wollte solch bange Ahnungen verscheuchen; die ganze Umgebung war ja heiter und lachend, in diesem Augenblick aber trat eine Wolke vor die Sonne, der Himmel trübte sich, und das ganze Zimmerchen erschien düster. Er war weitab mit seinen Gedanken, als er plötzlich die alte Rosalie sagen hörte: »Gehen Sie jetzt wieder in den Salon; ich werde Sie rufen, sobald ich das Fräulein zu Bette gebracht habe.«

Mechanisch gehorchte er dem Befehl: er war sehr erschüttert und mehr und mehr erfaßte ihn eine fürchterliche Angst. Er rief seine Wissenschaft zu Hilfe und suchte sich genau zu erinnern, welche Krankheiten mit einer Ohnmacht und einem darauf folgenden Zustand äußerster Erschlaffung ihren Anfang nehmen: allein diese Symptome paßten auf etliche zwanzig Erkrankungsarten, und er gelangte zu keiner Gewißheit. Furcht und Zweifel an seinem Können erfüllten seine Seele; »was würde aus mir werden,« dachte er, »wenn ich die Behandlung übernehmen sollte? Wie eng begrenzt ist doch dies Wissen, mit dem wir uns so gerne brüsten, und wie tief erkennen wir die Unzulänglichkeit desselben, sobald es sich darum handelt, es an denen zu üben, die uns so teuer sind. Was wird Doktor Rameau wohl zuerst anordnen?« Der Gedanke, daß Adriennes Vater bald nach Hause kommen und daß er den Kampf mit der Krankheit aufnehmen werde, fiel wie ein Lichtstrahl in das Chaos von düstren Gedanken, deren er sich vergebens zu erwehren suchte; das Vertrauen, das er in seinen Lehrer und Meister setzte, war so unumschränkt, daß er plötzlich seine Ruhe wiedergefunden hatte.

Ermutigt und gefestigt, war ihm zu Sinn, wie dem Soldaten, dessen Führung ein allezeit siegreicher Feldherr übernommen. Mit seinem unfehlbaren Blick würde der Doktor sofort die richtige Diagnose stellen, und in Bezug auf die Behandlung war er ja so wunderbar schöpferisch und erfinderisch, daß er ohne Zweifel sofort ein Mittel herausgreifen würde, dem kein Feind gewachsen. Rameau hatte wie die Thaumaturgen des Altertums so unzählige Male Wunder vollbracht, daß Robert jede Bangigkeit abschüttelte und vollkommen sicher war, daß zur entscheidenden Stunde eine Wendung zum Guten eintreten müsse. Es war ja seine Tochter! Welche Fähigkeiten müßte er nicht erst da entfalten, wenn er sein Liebstes bedroht sah! Die Thatsache, daß viele Aerzte, und darunter sehr bedeutende Namen, von der Verantwortlichkeit, ihre eignen Frauen oder Kinder zu behandeln, schon zurückgeschreckt waren, daß sie offenbar derselben Angst, demselben Gefühl der Unzuverlässigkeit all ihres Könnens und Wissens erlegen waren, die Roberts Seele vorhin bestürmt, war ihm wohl bekannt, aber Rameau stand ja sicher himmelhoch erhaben über solcher Schwachheit! Ueberragte er ja doch an Stärke und Macht des Willens, Klarheit und Ueberlegenheit des Geistes die übrige Menschheit.

Rosalie trat in den Salon und entriß damit den jungen Mann seinen Betrachtungen. Fragend sah er sie an und sie sagte leise: »Das Kind scheint zu schlafen. Sie können hineingehen.«

Der dicke Bodenteppich dämpfte seinen Schritt so sehr, so daß er vollkommen lautlos bis an das Bett gelangte, wo Adrienne mit jetzt geröteten Wangen, aber immer noch fest geschlossenen Augen ruhte. Ihr weißer Arm, der aus dem weiten Aermel des Nachtkleids hervorsah, zuckte fortwährend, als ob jeder Nerv von einer gewaltigen inneren Erregung in Bewegung erhalten werde. Die Atemzüge waren kurz und peifend, die Zähne immer noch krampfhaft aufeinander gebissen. Beim Anblick dieses offenbar schmerzhaften Zustandes erwachten Roberts Besorgnisse aufs neue. Nein, Schlaf konnte man diese halbe Bewußtlosigkeit nicht nennen, und das vollständige Aufhören aller geistigen Funktionen bewies zur Genüge, daß in ihrem Organismus eine ernstliche Störung stattgefunden haben mußte.

Er trat vom Bett weg zum Fenster. Auf der Esplanade der Invaliden exerzierten die Soldaten wie jeden Tag und eine Schar von Neugierigen und Müßiggängern sah ihnen, Maulaffen feilhaltend, zu. Er warf einen Blick auf die Standuhr: schon eine Stunde war verflossen, seit er das Haus betreten. Eine fieberhafte Ungeduld packte ihn: Wo war denn Rameau, daß er nicht abkommen konnte? Weshalb erschien Talvanne nicht? Wie sollte er ohne sie zu einem Entschluß gelangen, und was sollte er anordnen? Das Alleinsein in diesem Zimmer, an der Seite des Lagers, auf dem das geliebte Wesen bewußtlos und ausgestreckt lag, ward ihm zur Qual. Eben war er im Begriff, auf die Klingel zu drücken, als das Geräusch eines Wagens ihn innehalten ließ. Er atmete erleichtert auf; endlich fand er Hilfe und Beistand, und dies trostlose sich selbst Ueberlassensein nahm ein Ende. Talvannes Stimme ließ sich auf der Treppe vernehmen, und er eilte ihm bis an die Thür des kleinen Salons entgegen; hastig und atemlos trat der Irrenarzt ein.

»Ach! Da bist du ja,« sagte er kurz, »Wie steht es?«

»Immer der nämliche Zustand. Eine Art von fieberhafter Schlafsucht.«

»Sehen wir uns die Sache an,« unterbrach Talvanne seinen Bericht und er ging ins Nebenzimmer, wo Rosalie schon am Kopfende des Bettes stand. Mit Spannung ruhte sein Blick auf seinem unbeweglich daliegenden Patenkind; es war, als wollte er um jeden Preis in ihr Innerstes eindringen. Kopfschüttelnd beugte er sich nach einer Weile herunter und zog ihr ein Augenlid in die Höhe. Ein plötzliches Schielen trübte ihren Blick. Er befühlte ihre Stirn und fand sie glühend heiß; er schob ihr die Hand unters Genick und betastete dasselbe stark, wobei Adrienne schmerzlich aufseufzte. Talvannes Ausdruck verdüsterte sich; er warf einen raschen Blick auf die Haushälterin und Robert und sah, daß beide angstvoll seines Ausspruchs harrten. Er schüttelte wiederum den Kopf, hustete kurz und trocken und murmelte: »Man muß zusehen ...«

»Wo ist denn Rameau?« fragte er dann rasch, indem er sich an Rosalie wandte.

»Soeben ist er nach Hause gekommen.«

Auf Roberts Mienen malte sich bei dieser Mitteilung die höchste Ueberraschung, und da die alte Frau wohl sah, daß er im Begriff stand, Fragen zu stellen, nahm sie Talvanne gebieterisch am Arm und zog ihn mit sich in eine entfernte Ecke.

»Gehen Sie hinunter,« sagte sie leise und mit unsicherer Stimme, »er ist in seinem Zimmer, und thun Sie Ihr Möglichstes, ihn zur Vernunft zu bringen. Es haben sich heute unselige Dinge zugetragen. ... Wolle Gott, daß es uns nicht das Leben unsres Kindes koste!«

In größter Bestürzung über diese seltsame Mitteilung wollte Talvanne eben den Mund aufthun, um sich weitere Aufklärung zu erbitten, die Alte schien aber seine Gedanken erraten zu haben und sagte, allem weiteren zuvorkommend: »Nicht an mir ist es, Sie aufzuklären.... Gehen Sie zu ihm, fragen Sie ihn ... wenn er will und wenn er den Mut hat, mag er Ihnen sagen, was sich zugetragen! Und er wird ihn haben, diesen Mut. ... Ach er ist ein schrecklicher Mann! ... Habe ich doch geglaubt, er werde die arme Kleine töten! ...«

»Töten!« wiederholte Talvanne erbleichend. »Rosalie, so besinnen Sie sich doch ein wenig, was Sie reden!«

»Er hat sich nicht besonnen zu thun, was er gethan,« entgegnete die Alte bitter. »Er war wahnsinnig ... wahnsinnig vor Wut!«

Plötzlich hielt sie inne und nach einer Weile setzte sie sehr ernst hinzu: »Weshalb ein Verbrechen rächen wollen an den Unschuldigen?«

Bewegt sahen die alte Dienerin und der treue Freund einander in die Augen. Diese wenigen Worte hatten genügt; ein geheimnisvolles Verstehen war hergestellt. Blitzartig hatte die eine Sekunde Talvanne klares Licht gegeben und er war vollkommen vorbereitet auf alles, was er hören sollte.

»Ach! Ach!« war das einzige, was über seine Lippen kam, und in diesem kurzen Ausruf lag so deutlich: »Das wußten Sie und wußten es seit so langer Zeit und haben sich nie verraten?« daß die alte Frau den unausgesprochenen Gedanken mit einem Kopfnicken bejahte. Talvanne wandte sich nach Robert, der neben dem Bett der Kranken saß, um und sagte: »Bleibe hier, bis ich wiederkomme. Ich will den Doktor heraufholen.«

Der junge Arzt und Rosalie übernahmen die Bewachung Adriennes und Talvanne suchte den Freund auf.


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