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Zehntes Kapitel.

Herr Belloff muß sich endlich dreimal verwundern, Viktor nur einmal, aber sehr.


Daß man sich einmal in seinem Leben so verwundert, wie man sich noch nie verwundert hat, kommt häufig vor, daß es aber demselben Menschen dreimal geschieht, ist gewiß eine große Ausnahme, und Herr Belloff machte diese Ausnahme.

Das erstemal kam diese Verwunderung, wie er noch keine erlebt hatte, über ihn an jenem Montag, wo Viktor mit Ernst nach Au im Winkel wanderte. Herr Belloff ging an der Schifflände auf und ab, das Wohl von Haßlach forderte das; da er nicht die Absicht hatte, irgend jemand Schrecken einzuflößen, so entsprach das Benehmen aller Vorübergehenden ganz seiner Absicht, sie nickten ihm freundlich zu, oder bekannt zu, oder zogen die Mütze vor ihm, und er vergalt gleiches mit gleichem, nur behielt er die Mütze auf, seinem militärischen Ehrgefühl entsprechend.

Selbst die junge Dame, die von dem kleinen Kanaldampfer mit einem Köfferchen kam, fürchtete sich nicht vor ihm, sondern kam lächelnd auf ihn zu, als kennte sie Belloffs Herz, und fragte ihn mit offenbarem Zutrauen, ob er ihr sagen könne, wo man einen Wagen nach Remchingen finde. Da keine Spitzbuben mit dem Dampfer gekommen waren, auch nicht solche die Rückfahrt auf dem Dampfer zu beabsichtigen schienen, fühlte sich Belloff geneigt, dem feinen Fräulein den Weg zur »Kanne« zu zeigen, wo man Wagen sehr ungleicher Güte für Tagesfahrten haben konnte, und fühlte sich auch geneigt, das Köfferchen zu tragen. Aber sie gab es einem Jungen.

»Ein Fräulein wie eine Rosa-Hyazinthe,« sagte er später zu Frau Schwendeli, »und so schöne Augen, braun und freundlich, und den Kopf hat sie gehalten, gerade wie ein Weihnachtstännchen. Und eine Brosche hat sie getragen, so was hab' ich all mein Lebtag noch nicht gesehen. Und was meinen Sie, Frau Schwendeli, was das für einen alten, wetterfesten Polizeidiener, der sein Leben lang nur Spitzbuben in das Gesicht sehen muß, für ein Pläsier ist, wenn er da so ein liebes, junges Blut ansehen darf, das wie der leibhaftige Sonntag ist?«

Unterwegs fragte das schöne Fräulein, ob nicht ein junger Schriftsteller hier in Haßlach wohne. »Und ob!« bestätigte Herr Belloff, »wir haben einen fremden jungen Schriftsteller, wohnhaft in Miete bei Frau Schwendeli Witwe, er studiert das Mädchenschulwesen in Haßlach seit vorigem Montag und hat sich vor allem nach der Verwendung der Lehrerinnen und ihren Namen genau erkundigt.« Das Fräulein errötete, und Herr Belloff sah dies, denn Gemütsbewegungen hatte der Mann des Gesetzes und der öffentlichen Sicherheit von Amts wegen zu beobachten, und es war ein Gedanke in seiner Seele zögernd unterwegs, der mit einem Male köpflings ans Ziel stürzte. Als das Fräulein fragte: »Wie heißt er denn?« und er erwiderte: »Viktor Narzissus Zangkel,« da wurde das Fräulein so rot, daß Belloff sich sagte: »Aha, läuft der Hase über den Krautacker?« Und dann kam eine Verwunderung über ihn, wie er – so sagte er am Montag Abend zu Frau Schwendeli – in seinem ganzen langen Leben in und außer Dienst noch keine erlebt hatte, die Verwunderung, daß er nicht gleich auf den Gedanken gekommen war, daß der junge, hübsche, feine Herr offenbar nur eine einzige Lehrerin gesucht hatte. »Und hätte er die gefunden,« schloß Belloff, »dann lag ihm an den Schulhäusern der Haßlacher so viel, wie mir und Ihnen am Herrn Kibitz!« Über diesen höchsten Grad der Gleichgültigkeit mußten die zwei Haßlacher Freunde so lachen, daß Frau Schwendeli auf den nächsten Stuhl sank, und Herr Belloff einen Hustenanfall bekam, der seine Schrecklichkeit wesentlich erhöhte.

Die zweite Verwunderung, wie er doch in seinem langen Leben noch keine erlebt hatte, kam genau vierzehn Tage später über ihn, wieder an einem Montag; diesmal mehr gegen Abend. Auch diese Verwunderung hing mit der Rosa-Hyazinthe und Herrn Viktor zusammen und war auf folgende verwickelte Art möglich geworden.

Dienstag Morgen hatte Viktor früh aufbrechen wollen, aber es kam so schwer dazu. War es Bangen, war es wirklich allein der Brief, der den Eltern kindlich offen von der Entdeckung der schönen, jungen Verwandten und dem Herzenswunsche, der sich an sie knüpfte, erzählte, oder war es der auffallende Mangel an Schreibübung, denn die Feder wollte nicht vorwärts, oder war es das Gedicht von der Frau Sonnenschein, das ihm in der Seele erklang und festgehalten werden wollte – war es alles zusammen? Der Morgen ging ohne Zweifel über dem allen dahin, und Herr Ohnimus drückte feinem Gaste die volle Billigung dafür aus, daß er erst noch das Mittagsbrot abgewartet habe.

Es schlug drei Uhr, als Viktor endlich unter dem alten gotischen Bau des Steintores hindurchschritt, es schlug vier Uhr, als er die lange, herrliche Lindenallee verlassen, die von Au im Winkel hinaus in die Ebene bis zu dem Wehrzollhause führte. Hier schaute ein Vöglein vom hohen Schieferdache still und aufmerksam in die Gegend hinaus, die Viktor nun zu durchwandern hatte, und unten am Hause stand ein Wegweiser und wies in die gleiche Richtung; es schlug fünf von einer Dorfkirche herüber, da war es Viktor, als hätte ihn eine von Obstbäumen eingefaßte Straße an buntblühenden Wiesen und schönen Feldern vorübergeführt; die nächsten Stunden veränderten das Land, stille Altwasser lagen wie Seen mit schweigendem Wälderkranze im weiten Lande da, und die Straße mußte ihren Windungen folgen, wie sie einst zur Zeit der Römer dort noch dem rauschenden Fluß gefolgt war, den elementare Kräfte und Menschenwille seitdem so weit nach Westen gerückt hatten, daß nur diese wald- und schilfumstandnen Altwasser zurückgeblieben waren.

Die Dämmerung kam, vorübergehende Bauern, die von der Arbeit heimkehrten, rückten mit ihrer Angabe das Ziel immer näher und bezeichneten immer übereinstimmender das Wirtshaus zur Krone in Remchingen als das, wo auch die Jäger übernachteten, daß Viktor fröhlich ausschritt, von dem Gefühle getragen, wie nahe nun die sei, die er gesucht hatte. Doch brach das Dunkel völlig herein, bis wieder einmal ein Licht aufleuchtete – offenbar Remchingen, und davor oder daneben und dahinter, jedenfalls nahe dabei, der Wiegandshäuserhof. Viktor mußte singen vor Bewegung, und er jubelte die Worte heraus, die er heute von Frau Sonnenschein gesungen hatte, indem er ihnen die Melodie gab, die der Augenblick erschuf:

Du kamst so schlicht, du kamst so jung
In meine Welt herein.
Ich kannt' dich nicht und sagte doch:
Das ist Frau Sonnenschein.

Frau Sonnenschein, Frau Sonnenschein,
Deiner Augen helles Spiel
Hat mir zur Stund, da ich dich sah,
Gesetzt ein neues Ziel.

Ich dacht in mir, ich sagt zu mir:
Nach West zieht sonst sie fort,
Vielleicht ging's doch, vielleicht möcht's sein,
Sie zog zu mir nach Nord.

Kein Ausgang dann, kein Untergehn,
Nur Tag so licht und rein,
Denn immer wär, denn immer blieb
Bei mir Frau Sonnenschein.

Über seinem Gesange war er, ohne es zu merken, nahe an einige Spaziergänger herangekommen, die ihrerseits in ihrer lauten Unterhaltung geschwiegen hatten, sobald die frische, kräftige und wohlklingende Jugendstimme noch in einiger Entfernung begonnen hatte. Viktor sah unerwartet diese dunkeln Gestalten neben sich und hatte sofort das Gefühl, die Begegnenden könnten keine Bauern sein. Auf seine Frage: »Das Licht gehört wohl zu Remchingen?« erhielt er die kurze und bestimmte Antwort:

»Nein, das ist der Wiegandshäuserhof.« Der Antwortende war ein gebildeter Mann; Viktor hörte das aus dem Ton heraus. Froh überrascht sagte er: »Ah, der Wiegandshäuserhof, den ich suchte.«

»Und was suchen Sie dort?« wurde wieder sehr bestimmt zurückgefragt.

Viktor erwiderte: »Den Besitzer und die Seinen.«

»Vater, es ist unser Vetter Zangkel!«

Viktor vernahm Dorotheas Stimme mit Herzklopfen. Da fühlte er seine Hand gefaßt, und dieselbe Männerstimme sagte offenbar freudig ernst: »O, unser Vetter, der so unerwartet vor uns aufgetaucht ist! Seien Sie willkommen!«

So hielt denn Viktor seinen Einzug in den Wiegandshäuserhof, indem er glaubte, daß die dunkeln Gestalten neben ihm die Eltern und Brüder Dorotheas wären; daß aber Dorothea selbst neben ihm ging, wußte er, ihre Stimme hätte er aus tausenden wieder erkannt. Und am Familientische leuchtete die Lampe auf die neuen und ihm doch ganz vertrauten Gesichter, und ihnen war er wohl vertraut. Er erzählt von den Eltern und Großeltern, von Endenburg, von der halben Kunde von den fernen Verwandten, von dem, was die Seinen von dem Ahnherrn wissen, und das ist für die Wiegandshäuser Leute eine köstliche Kunde, sie verstehen nun, wie sie von seinem Tode in den Wellen hören, das Bild, das einst das »Herrenhaus« schmückte, und alle Zuhörer nehmen den frischen, ernsten, treuherzigen Mann in ihr Herz auf, soweit das nach den Beobachtungen des geschultesten Menschenkenners in Haßlach nicht schon früher geschehen war. Das Du wird mit ihm getauscht, und drei Tage später liest es in Endenburg die Mutter mit Tränen, und der Vater mit Lächeln, wie es der Sohn gefunden hat. Sie macht in Gedanken sofort die schöne Mansardenwohnung in ihrem herrlichen Gärtnerhause für die Kinder frei, und der Vater teilt mit ihr die Zimmer dieser kleinen, allerliebsten Wohnung für das junge Paar ein, und hundert kleine Fältchen spielen an seinen Augen.

Viktor schwieg die nächsten Tage von seinen Wünschen. Aber die feine, stille Mutter Dorotheas, in der alle Sanftmut als ein Trost und eine Zuflucht für den starken Mann, für die Kinder und alle Hausgenossen wohnte, und der Vater, der auf die Menschen teilnehmend acht zu haben gewöhnt war, sahen bald, wie es stand, und verbargen es ihm nicht, als sich die Gelegenheit ungewollt ergab. Sie saßen abends alle vor der Tür, die aus dem Garten in das Haus führte, so ausruhend, wie man auf dem Lande ausruht. Da begann der Hausherr: »Dorothea hat uns erzählt, daß du in Haßlach ein Buch schreiben wolltest; wie weit bist du damit gekommen?« Viktor sagte mit einem halb fröhlichen, halb verlegnen Lächeln: »Soll ich deine Frage der Wahrheit gemäß beantworten?« Dorothea stand auf, sie hatte noch etwas im Hause zu tun, wie sie sagte. Als sie gegangen war, erzählte Viktor, daß sein Herz daraus bestanden habe, Dorothea wiederzusehen, und daß er alle Schulen und Institute Haßlachs eine Woche lang belagert habe, da sie ihm gesagt hätte, daß sie Lehrerin sei.

»Da tatest du wohl daran, mein Sohn, daß du sie suchtest, sie verdiente es,« sagte Dorotheas Vater, die Mutter aber reichte ihm die Hand.

Dann vergeht ein Tag, so erinnert sich Viktor, wenn er später an diese sonnigen Tage zurückdenkt, und auch Dorothea meint, ein Tag. Der Briefbote kommt und geht. Und einen Tag später sagt die Sonne: Es ist so schön draußen! – Es geht ein Weg durch einen Wald, wie vordem der nasse Winkel war, dunkle Wasser überdecken den Waldboden, und Hagebuchen wachsen in hohen Lodenschößlingen prächtig aus diesem dunkeln Grunde herauf, und mitten durch diesen, in seinen Wipfeln lichten und sonnigen Wald führt ein Dammpfad, fest aufgeworfen, sicher, aber nicht breit; zwei Leute können nebeneinander darauf gehen, am sichersten allerdings, wenn sie sich umfangen, und aus diesem Grunde offenbar gehen Viktor und Dorothea diesen von Sonnenlichtern überspielten, von schwebenden Schatten verdunkelten, von Gräsern überglitzerten Pfad tief, immer tiefer in den Wald hinein, langsam, Hand in Hand, Arm in Arm, umschlingend und umschlungen, und diese Weise zu gehen scheint beiden die sicherste. Und sie sieht ihn an, wie ihn noch kein Auge angesehen hat, und er hat einen Blick und hat Worte und hat ein Schweigen – Dorothea überschüttet das alles das starke, junge Herz mit Freudenschauern, von denen sie nichts wußte, als sie den Weg zur Großmutter ging, und ein junger Wandrer sie einholte.

Und so verwunderte sich Herr Belloff zum zweiten Male, wie er sich noch nie in seinem Leben verwundert hatte: er stand am Montag Abend auf dem Markte und beobachtete alles Bemerkenswerte, eine Arbeit, die ihn nicht eigentlich anstrengte, denn es fiel nichts Bemerkenswertes vor. Da trat mit wohlgefüllter Brieftasche der Briefträger Wildenthaler auf seinem letzten Gange an ihn heran, froh, die Treppen zu Belloffs Dachwohnung erspart zu haben, und winkte seinem alten Schul- und Kompagniekameraden schon aus der Ferne mit einem Briefe zu. Belloff rollte die Augen, wich aber nicht von der Stelle. So kam der Prophet zum Berge und gab ihm eine zierliche Verlobungskarte. Und hier geschah's, hier kam die große Verwunderung übermächtig über ihn: da standen die zwei jungen Leute mit demselben Familiennamen – womöglich Vetter und Base! dachte Herr Belloff – und beehrten sich, ihm ihre Verlobung anzuzeigen, und Herr Belloff freute sich bis in den Grund seines wackern alten Herzens hinein, und er fühlte, daß er sofort zu Frau Schwendeli eilen müsse, oder zu Herrn Allgäuer, es zog ihn zu beiden, und er sah bald unruhig nach der Richtung hin, in der die Zotzelsgasse lag, bald nach dem Altmarkte, es war ein schwerer Kampf. Und da er in der Weise nicht zu beenden war, wie es sein Herz verlangte, daß er gleichzeitig in zwei Häusern die Nachricht verkündigte, so war es gut, daß in dem Augenblicke, wo seine innere Not und sein qualvolles Mienenspiel auf das höchste gestiegen war, von der Zotzelsgasse her im Sturmschritte Frau Schwendeli mit einem Briefe heraneilte, und vom Altmarkte her, ohne Brief, Allgäuers Waisenkind. »Hören Sie, Belloff,« keuchte Frau Schwendeli – »ach, Herr Belloff,« rief das Mädchen, und dann kam ein Dreiklang reiner Freude. »Frau Schwendeli hat soeben eine Verlobungskarte erhalten, Herr Belloff hat eine Verlobungskarte erhalten, Herr Allgäuer hat einen Brief bekommen – einen Brief, denn er ist ein Vetter, so glauben sie, von Braut und Bräutigam, aber von lange her, »sieben Suppenschnitten weit,« meint das Mädchen. Und nun kommt eine ganz neue Verwunderung. Herr Belloff sieht Frau Schwendeli an und schweigt, Frau Schwendeli sieht Herrn Belloff an und faltet die Hände, und eine reine Freude ist über ihnen, und Viktor sieht sie, so fern er von ihnen ist, denn zwischen Remchingen und Haßlach liegen acht Stunden Wegs.

Und endlich kommt die dritte Verwunderung, wie er sich nun aber wahrhaftig noch nie in seinem langen Leben verwundert hat, und diese kam über ihn nicht lange nachdem, so meint Herr Belloff, sehr lange nachdem, so meint Viktor, in der Tat aber nicht so lange, nachdem das junge Brautpaar Herrn Belloff auf der Straße getroffen und ihn zutunlich begrüßt, bei Frau Schwendeli Viktors kleinen Besitz gepackt und sich von der gutherzigen Frau mit aufrichtigem Danke verabschiedet, bei Allgäuer gute Stunden verbracht, die Großmutter im Herrenhause besucht und mit ihr noch einmal bei Allgäuer vorgesprochen hatte. Nicht so lange nachher kam eine zierlich gestochne Karte an Herrn Belloff, diesmal aber kam sie zu ihm herauf in seine Wohnung wie es sich geziemte, und ein »Hofmeister« Ludwig Narzissus Zangkel lud im Auftrage seiner Schwester und ihres Verlobten Herrn Polizeisergeanten Michael Leopold Belloff zu ihrer Hochzeit zu Au im Winkel auf Dienstag, den 3. September, ein. Trauung um ein Uhr, murmelt Herr Belloff, denn er ist sprachlos, Festmahl im Gasthof zum Rappen um zwei Uhr – beim Ohnimus, spricht Herr Belloff lauter und gesammelter, und er sieht seine kahle Stube, seinen unpolierten Tisch und seinen zerbrochnen Spiegel an, als ob sie ihm bei ihrer größern Fertigkeit im Lesen lateinischer Kursivschrift sagen müßten, ob er sich etwa verlesen hätte. Aber es stand alles so da, wie er es gelesen hatte, und er setzte sich auf einen Strohstuhl mit sehr brüchigem Geflechte und strich sich über die Stirn und seufzte und rollte die Augen. Auf so etwas war er doch nicht gefaßt gewesen. Ja ja, das ist ein nobler Herr! Nein, das ist ein guter, treuer Mensch – von der alten Sorte! Lädt den alten Belloff ein! Und die junge, liebe Braut – auch von der alten Sorte. So gibt's heutzutage gar keine Menschen mehr!

Es bleibt dabei – er ist eingeladen. Aus der Hauptstadt, von Haßlach, von Remchingen, von Endenburg, von da und dorther rollen Wagen heran nach dem Städtlein, wohin der Wiegandshäuserhof eingepfarrt ist. Ernst wohnt mit andern Gästen im Rappen und begründet dauernd eine gute Meinung bei Herrn Ohnimus. Fabricius, der alte Freund des Herrn Emmanuel Narzissus, beherbergt im geräumigen Hause die Braut und alle die Ihren, am Untertore aber, bei dem alten Gottesschauer und seiner hurtigen Schwester wohnen die Eltern mit dem Sohne und dem »Herrn Vetter«, denn so heißt Allgäuer bei den Alten fortan und auch bei den Jungen, nur das Brautpaar ist ihm in der Anrede näher getreten, aber sie lieben ihn alle und teilen alle seine Überzeugung, daß er zu ihnen gehöre und sie zu ihm, und er wird am 3. September den lange heimgegangnen Großvater Dorotheas, Ludwig Narzissus Zangkel, an der Seite der grauen Herrin des Herrenhauses vertreten, und er wird eine Gabe zum Feste bringen, die dem jungen Paare vielleicht über alle Gaben gehen wird, das Bild des Ahnherrn.

Der 2. September warf Kastanienblätter in Menge auf die Straßen und Raine, gelbe Lindenblätter wirbelten von hohen Ästen herab und suchten neckisch den breitrandigen Hut der Braut, da sie mit Viktor langsam die Lindenallee nach Radlos und dem Wehrzollhause wandelten; holde Worte gingen zwischen ihnen und Gedanken von zarter, stiller Liebe und das Leben besiegender Lauterkeit woben schweigend hinüber und herüber. Viktor glaubte schon das ganze Leben vor sich zu sehen, wie es wird, und Dorothea hört ihm frohgemut zu.

Aber eins sah er, der Kluge, nicht voraus, eine Überraschung, die Dorothea für ihn hatte. Herr Belloff leitete sie im rechten Augenblicke ein. Am 3. September abends, als die Festfreude durch den Saal wogte, erzählte er die Geschichte seiner drei Verwunderungen und übersah in seinem Eifer, wie groß der Kreis war, der ihm zuhörte, denn es war niemand da, der seine Art falsch verstanden hätte.

»Glaubst du wohl,« sagte Viktor zu seiner jungen Frau, »daß ich den alten Belloff auch unter die Midaskinder bringe?« – »Nein, ich glaube es nicht,« sagte sie mit einem leuchtenden Lächeln. – »Und warum nicht?« – »Du, mein Viktor, erlebst die Midaskinder, da kommt man nicht zum Schreiben, und andre schreiben sie.

Bei diesen Worten nahm sie neben einem Blumenstocke, wo sie das Geheimnis verborgen hatte, ein zierliches Bändchen mit glänzender Goldpressung und schlug den Titel auf. Viktor las mit einer Verwunderung, die noch über die drei Verwunderungen des Herrn Belloff hinausging: Midaskinder. Vierzig Umrißzeichnungen von Philipp Säuerlich. Stuttgart, Verlag der J. G. Cottaischen Buchhandlung.


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