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Fünftes Kapitel.

Auch das Studium der Haßlacher Schulverhältnisse erweist sich nicht als förderlich.


Fürchten Sie sich nicht vor ihm! – mit diesen Worten schloß Frau Schwendeli ihrerseits die eingehende Besprechung aller Haßlacher Schulverhältnisse, die Viktor am nächsten Morgen, als ihm das Frühstück gebracht wurde, zur gewissenhaften Vorbereitung auf seine neue Aufgabe eingeleitet hatte; Frau Schwendeli begriff allerdings nicht, was Viktor mit dem Schulwesen ihrer Vaterstadt zu tun haben könnte, aber ihr Respekt vor dem »aparten« Mieter wuchs. Der aber, vor dem sich Viktor nicht fürchten sollte, war der Mann, der Viktor über die Lage aller Schulhäuser, über die Herkunft aller Lehrer und über das Alter aller Vorstände und Direktoren aufklären konnte, wenn irgendwer in Haßlach, der Freund ihres seligen Schwendeli, der Polizeidiener Belloff. An ihn wendete sich auch Frau Schwendeli, wenn sie Eingaben zu machen, Steueransätze zu beanstanden und Mieter zu beobachten hatte, die ihr nicht so gut gefielen wie Herr Viktor Narzissus Zangkel. Und fürchten Sie sich nur nicht vor ihm!

Viktor fand den furchtbaren Mann auf dem Marktplatze, dort stand er gerade und sah die Bauern an, die zum Wochenmarkt hereinkamen, und die Bauern sahen ihn an und nickten, und er nickte – er sah die Hunde an, die hinter den Tauben herbellten, die einmal über das andre auf eine unbelebte Stelle hinfielen und Körner pickten. Und die Hunde gingen ihm weit aus dem Wege, und die kleinen Schulkinder warfen einen scheuen Blick auf ihn, denn sein Gesicht war grimmig, der volle Mund etwas schief, die Augen standen nicht ganz in einer Linie, der Schnurrbart hatte etwas zorniges, die gedrungene Gestalt etwas bedrohliches, aber hinter diesem Gesicht, an dem Herr Belloff unschuldig war, und das wider Willen immer grimmiger aussah, je mehr es durch ein freundlich gemeintes Mienenspiel neue verzogene Linien erhielt, hinter diesem Gesichte lag ein gutes Herz, das es nur zu einem Ärger über verlaufene Hunde, zu einem Ingrimm über Gänse, die kleine Ausgänge aus den Höfen auf die Straße unternahmen und dadurch der Reputation Haßlachs als einer aufblühenden Stadt ohne Zweifel schadeten, oder zu einer Entrüstung über Bettler brachte, die ihn bei dem dritten Begegnen entweder gar nicht oder sehr vertraulich grüßten. Er salutierte allen Fremden mit einem wilden Blick, er hob Bäuerinnen den zu schweren Korb auf den Kopf und bemühte sich überhaupt nach jeder Seite hin um die Hebung Haßlachs.

Viktor richtete die Empfehlung seiner Hausfrau an den Schrecklichen aus, ohne zu lächeln, und Herr Belloff fuhr sofort in die Dienstbereitschaft hinein und zeigte Viktor den Weg nach der Mädchenschule, die in seinem Revier lag, denn Viktor hatte ihm gegenüber den Mut gehabt, sein ausschließliches Interesse am Mädchenschulwesen zu bekennen. Auf dem Wege zur Seevogelschule hörte er, daß dort ein Oberlehrer das Regiment führe, ein alter Herr, etwas bequem, aber die Leute könnten mit ihm reden. Viktor warf mit einiger Befangenheit die Frage ein, ob auch Lehrerinnen an der Schule beschäftigt seien? – »Und ob! fünfzehn! Da ist die Fräulein Grundemann, die Fräulein Bertram – wissen Sie, die Bierbrauerstochter aus dem »Storchennest«, das Bier war recht gut, solange der Alte lebte, ja, und die Fräulein Friedlein.« »Wohl alle schon ältere Damen,« fragte Viktor geschäftlich, als ob er Agent einer Lebensversicherungsgesellschaft wäre. – »Ja ja, die meisten, aber es sind auch ganz junge da, neulich ist erst eine angestellt worden, die so neunzehn oder zwanzig Jahre alt ist – Viktor stand der Atem still, hier war die Gesuchte! – »das Fräulein Krisch,« fuhr Belloff fort, »Katharine Krisch, eine überstudierte Person!« Viktor atmete auf, nein, die edle Namenlose, die er suchte, war nicht diese überstudierte junge Dame, Belloff hätte von der Gesuchten anders geredet.

Inzwischen war der »Altmarkt«, an dem die Seevogelschule lag, erreicht worden, und Viktor fühlte sich sehr erleichtert, als der Mann der öffentlichen Sicherheit sich sofort verabschiedete. »Es ist Markttag, und der Belloff gehört auf seinen Posten,« sagte er mit einem Gesichte, wie der Kinderfresser des Märchens; »aber wenn Sie mich wieder nötig haben, der Belloff ist immer da!«

So begann Viktor seine Jagd nach dem Glück.

Wenn er fünf Tage später, nachdem er an fünf Mädchenschulen und zwei Instituten um acht Uhr und um zwölf Uhr, um zwei Uhr und um vier Uhr gelauert hatte, den Gewinn dieser rastlosen und völlig erfolglosen Wanderungen und Belagerungen aufgezeichnet hätte, so hätte er aufschreiben müssen, daß ihn vom Mittag des ersten Belagerungstages an sämtliche Polizeidiener grüßten, und wenn er nur ein altes Haus irgendwo bewundernd anschaute, gewiß ein Wohlbeleibter in dunkler Uniform mit blauem Kragen und mit einem Säbel bewaffnet auf ihn zukam und sagte: »Herr Hofgartenassistent werden entschuldigen, das ist kein Schulhaus!« – daß weiter Belloff die Augen fürchterlich rollte, so oft er seiner ansichtig wurde, und damit das höchste Maß der Bereitwilligkeit ausdrückte, den Mieter der Frau Schwendeli Witwe in allen gerechten Unternehmungen zu fördern.

Viktor prägte sich ferner unauslöschlich ein, wie alle Wallfahrten nach und von allen Mädchenschulen der Welt beschaffen sind. Auf dem Hinwege kam die Jugend reihenweise mit etwas raschem Schritt, es ward gesprochen, aber nicht eigentlich laut, Köpfchen wurden gedreht, und Zöpfe flogen je nach der Drehung über die rechte oder über die linke Schulter, aber die Drehung hatte nichts aufgeregtes; Schulmappen wurden geschlenkert; beliebte Lehrer tauchten auf und hatten rechts und links zutunliche und beglückte Kinder; Lehrer kamen, die nichts vom Patriarchen hatten, wandelnde Ausrufungszeichen, sie legten einsam den Schulweg zum zehntausendsten Male zurück und bedachten alle Gehaltsverhältnisse und deren Aussichten unter dem neuen Stadtregiment; Schultore taten sich auf, und gedämpfte Stimmen umsummten den Einzug, und Schultore taten sich auf, und Lärm und Aufregung und ein höchstgesteigertes Mitteilungsbedürfnis bezeichneten den Auszug. Zöpfe flogen, als stünde das junge Köpfchen auf einer Drehscheibe, und Schulmappen flogen und Hände schlugen immer wieder zum Abschiednehmen ein, weil jeder »letzter« sein wollte; und Lehrerinnen tauchten auf und hatten rechts und links sehr kleine, sie sehr verehrende Mädchen an der Hand und nickten dieser zu und beauftragten jene mit einem Gruß an die liebe Mama, den das kleine Fräulein niemals ausrichtete, trotz dem zierlichsten aller Knixchen, mit dem es sich verabschiedete – aber die Lehrerin, die Viktor suchte, kam aus keinem der Schultore! Dagegen kamen süße Lehrerinnen, und saure kamen, und Viktor entdeckte bald, daß auch Lehrerinnen kamen, über denen die Weihe der Liebe, der Pflicht und der Entbehrung lag, und sein Anteil an dem Treiben wuchs, daß er fast über sich selbst lächeln mußte.

Aber auch er war nicht unentdeckt geblieben, und die älteste Lehrerin der Ägidienschule fragte jeden Kollegen, den sie noch nicht gesprochen hatte: »Haben Sie den neuen Schulinspektor schon gesehen?« – ein Scherz, der am fünften Tage, an dessen Schluß Viktor seine Schulfahrten aufgab, die Runde durch die fünf Mädchenschulen, die höhere Mädchenschule natürlich eingeschlossen, gemacht hatte, und von dem Viktor nie etwas erfuhr.

Und nicht Lehrer und Lehrerinnen allein und findige junge Augen unter lichten Sommerhütchen hatten ihn entdeckt, vor der Seevogelschule hatte er auch die Aufmerksamkeit eines Augenpaares gewonnen, das nichts mit der elementaren und nichts mit der höhern Bildung der weiblichen Jugend zu tun hatte, aber alle Kinder der Seevogelschule kannte und von diesen allen wohl gekannt war. Der alte Allgäuer hatte Viktor am ersten Morgen, als er die Runde begann, gesehen und Belloff dabei freundschaftlich zugenickt und Viktor eine einladende Verbeugung gemacht, aber Viktor hatte noch zu viel mit dem ihm so neuen Schulwesen der Stadt Haßlach zu tun, als daß er den alten Allgäuer beachtet hätte. Da kam er mittags um vier Uhr wieder – um zwölf Uhr hatte er die Sankt Gertraudenschule zu inspizieren gehabt –, und wieder verbeugte sich der alte Mann, und diesmal sah Viktor wenigstens das und dankte flüchtig. Am nächsten Tage aber, um zwölf Uhr, als sich die Seevogelschule mit Lärm öffnete und dann in das tiefe Schweigen versank, das leere Schulhäuser so trostlos aussehen läßt, verbeugte sich Herr Allgäuer nicht bloß, sondern räusperte sich auch leicht, und als Viktor das Auge von der Letzten, die das Schulhaus verließ, unbefriedigt abwandte, verbeugte sich Herr Allgäuer so einladend, daß Viktor zu ihm trat und mit der innern Höflichkeit, die er alten Leuten gegenüber von Kindheit an gepflegt hatte, einen Blick über die Herrlichkeiten gleiten ließ, die der Budenbesitzer hier ausgebreitet hatte – allerdings einen hilflosen Blick. Blechwaren, Pantoffeln, Butterfäßchen, Zinnsoldaten, Puppen und Drei-Kreuzeruhren, Besen, Rechen, Taschentücher mit dem Bilde des Königs, Senf, was sollte er wählen?

»Herr Hofgartenassistent,« sagte der Alte, »Sie brauchen nichts zu kaufen. Ich habe nur einmal mit Ihnen reden wollen.« Viktor sah ihn betreten an. Der Alte verstand den Ausdruck des jungen Gesichts und sagte: »Verzeihen Sie, so ein Mann wie ich, an dem unaufhörlich Menschen vorübergehen, mit ihren Gedanken beschäftigt, ihr Ziel im Auge und die verschwiegne Geschichte ihres Lebens in den Mienen, in dem Gang und in den Kleidern, die müssen mich beschäftigen, denn was soll ich oft anders tun, als sie ansehen und Mitleid mit dem verschwiegnen Bündelchen haben, das sie tragen, als trügen sie es nicht. Sie sind noch jung, darum sehen Sie mich eben so sonderbar an« – nein, Viktor verglich nur die Worte des Mannes mit seinem ärmlichen Berufe, betroffen aber ward er nun wirklich, als der arme Krämer fortfuhr: »Jung, wie Sie sind, schauen Sie nicht auf die Lastträger, sondern nur auf die Lichtträger, die fünf klugen Männer und Frauen, die das ewige Licht der Anbetung in immer wachen Händen tragen, aber wir Alten werden Krankenträger und suchen die Angesteckten und Siechen auf den Gassen der Zeit, das zieht uns.«

»Woher wissen Sie –,« stammelte Viktor verwirrt; war denn hier noch jemand, der um den Plan seines Buches wußte?

»Ich weiß nichts, Herr Hofgartenassistent, aber eins weiß ich, ich habe Sie seit Jahren gekannt, lange ehe Sie geboren waren.«

Viktor sah das alte Gesicht mit einer ihm unerklärlichen Teilnahme auf sich ruhen. Jetzt erst betrachtete er, während er still verharrte, um das zu hören, was der Krämer etwa noch sagen würde, den alten Kopf zum ersten Male mit Aufmerksamkeit, und er sah etwas, das ihn anziehen mußte. Das buschige, kurzgeschnittene Haar war schneeweiß, auch der Bart, aber die Augenbrauen waren noch schwarz und hoben damit das dunkle Auge, von dem aus dieser Mensch fortan immer gesehen werden mußte, sobald man den Blick dieses Auges in seiner Eigentümlichkeit erkannt hatte: es war in ihm das Tiefe, Rätselvolle und Außerirdische, das der einsame Waldsee hat, der daliegt wie eine dunkle Prophetie ohne Worte. Viktor fühlte sich gezwungen, dem Alten die Hand über den Ladentisch zuzustrecken, und er fühlte sie rasch gefaßt und fest geschüttelt. »Beehren Sie mich wieder,« sagte der Alte herzlich und dringend, und Viktor sagte gern zu.

Und er kam bald wieder. In den Stunden, wo die Schulen ihre junge Bevölkerung in ihren Zellen hüteten, hatte Viktor wohl die freie Zeit zum Niederschreiben dessen, was ja vorbereitet in ihm lag; aber die Ruhe war aus seinem Leben gewichen, und die Stille seines Zimmers und der Anblick des Konzeptpapiers, das zur Niederschrift bereit lag, vermehrte die Unruhe. Bei dem Alten aber trat Ruhe ein. Es war nicht die kleine Welt dieses Mannes, die ihn in ihre Kreise zog und so überwältigte, obwohl ihn alles anzog, was er da sah. Kinder kamen, die einen Griffel ohne Silberpapier kauften und den Alten dann starr ansahen, ob er ihnen nicht einen mit Silberpapier überzognen dazu schenken werde; Dienstmädchen holten Schuhnesteln und warfen dabei einen verstohlenen Blick in die kleinen Spiegel, die in schlechten Goldrahmen oben an einer Querleiste hingen; Nachbarn erschienen mit geöffneten Birkendosen, und Herr Allgäuer füllte sie gemächlich, und sie sahen ihm gemächlich zu – Viktor sah, daß der Alte so recht der Krämer der kleinen Leute war, und daß sein sonderbares Lädchen wirklich in kein dunkles Haus, sondern unter die Bäume an dem kleinen Altmarkt gehörte.

Nein, Viktor zog allein der Alte selbst an, seine Worte, die Herzlichkeit seines Blickes, mit der er jedermann bediente, die Freude, die die Käufer offenbar an der Art des Alten hatten, und vor allem die Zugabe, die er umsonst zu dem Kaufe gab: gute Worte, kleine Ermahnungen, noch mehr – kleine, treue innere Hilfen. Das Wort von neulich ward ihm lebendig, und einmal war es ihm, als hätte sich der Alte nur verkleidet in einen deutschen Krämer, und Haßlach wäre eine Maske, und der Altmarkt nur eine Luftspiegelung, und als wäre der Mann, der eben so ruhig mit der Schere in das gewünschte billige Zeug schnitt, der barmherzige Samariter, und wenn ein Hauch käme und an alle den Schein anwehte, dann breitete sich statt dessen sogleich roter Sand aus, und die Sonne des Südens brennte, und aus einem weißen Burnus und schwarzbraunem Gesichte leuchteten diese warmen, treuen, helfenden Augen herab auf den wunden Mann, den die Welt in das Elend geworfen hatte.

Da war es ihm auch nicht auffallend, daß ihn der Alte, als der Samstag kam, bat, am Abend nach acht Uhr, wenn sein Lädchen geschlossen sei, als Gast zu ihm in seine Wohnung zu kommen. »Meine Frau will Sie auch gerne sehen.« Viktor sagte gerne zu, und abends stand er zur rechten Zeit vor der bezeichneten Haustür, nachdem er vor einer Stunde die Heimkehr des von Engländerinnen besuchten Instituts von dem Abendspaziergange abgewartet und abermals eine Hoffnung begraben hatte. Herr Kibitz, der derzeitige Besitzer des Hauses, stand mit gespitztem Munde, als wollte er pfeifen, unter der Tür und fragte mißtrauisch: »Was belieben?« – und brummte dann: »Vier Treppen!« Aus einem Zimmer des ersten Stockes schaute der Tapezier Ohnesorg heraus, Auge und Nase ein einziges verbindliches Fragezeichen; auf dem Flur des zweiten Stockes nahm Frau Kümmel, Stuhlmachersfrau und höchst kinderreiche Mutter, mürrisch einen Besen vor Viktors Füßen weg; auf dem schmalen Gange des dritten Stockes ging ein Flötenkünstler ohne Rock auf und ab, hielt im Blasen inne, ohne die Flöte abzusetzen und starrte Viktor an.

Endlich stand dieser vor der Tür des Alten, und als er eintrat, sah er, daß hier in dem bescheidnen Raume, der ihn aufnahm, Friede herrschte. In jedem Winkel Friede, bei der ihn freundlich begrüßenden alten Frau, die im Lehnstuhle am Fenster saß und sich kaum erheben konnte, weil sie wie gelähmt war von dem frühern Aufenthalte in der Bude auf freiem Markte; Friede bei der Lampe, in deren Schein das bescheidne Mahl auf alle wartete; Friede bei den Bildern, die die Wand zierten und zum Teil aus Blättern der Schnorrschen Bilderbibel bestanden, zum Teil aus Blumen, die mit treuer Naturbeobachtung in Wasserfarben auf braunes Papier gemalt waren; und Friede bei den Blumenstöcken, die von der Fensterbank hereinlugten in den Feierabend des Alten und in den Westhimmel hinausschauten, an dem sich die Türme von Haßlach dunkel abhoben.

Der Alte belebte das Gespräch des Abends. Er war in jungen Jahren in der Welt herumgekommen, er kannte Endenburg und alle Orte, die Viktor kannte, und viele Orte, nach denen sich Viktor sehnte, und kannte die Pflanzen, die an seinen Wegen gewachsen waren, und hätten nicht zinnerne Teller vor ihnen gestanden, und hätte nicht das Tischtuch gefehlt und nicht das stille Waisenkind mit am Mahle teilgenommen, das den kleinen Haushalt besorgte und den Alten in seinem Lädchen ablöste, wenn die Mittagsstunde da war, so hätte Viktor vergessen, daß er bei einem Kleinkrämer in bescheidner Mietwohnung den Abend verbrachte.

»Bei Ihren Wanderungen suchen Sie nicht allein Pflanzen?« fragte der Alte im Laufe des Gesprächs.

»Nein, Sie haben neulich schon gefunden, worauf mein Auge am liebsten ruht. Ich habe das Zutrauen, daß Sie mich nicht mißverstehen, wenn ich Ihnen mit einer Knabenvorstellung wiederhole, was ich suche. In unserm Lesebuche, das wir als kleine Gymnasiasten hatten, stand ein Aufsatz mit der Überschrift: ›Gott grüßt manchen, der ihm nicht dankt‹. Schon damals nahm ich mir vor, ich wolle ihn immer wieder grüßen, und wenn es anginge, noch lieber ihn zuerst grüßen; und,« so fügte Viktor lächelnd hinzu, »meine liebe Mutter lobte mich sehr, als ich ihr erklärte, wie ich das verstünde.«

Die alte Frau legte ihr Strickzeug bei diesen Worten Viktors hin und erfaßte seine Hand mit einer so zarten Bewegung, daß man es ihr nicht ansah, daß diese Hand nie ein eignes Kind zu pflegen, zu liebkosen und zu segnen gehabt hatte. Viktor empfand dankbar und still diese wortarme Vertretung der eignen geliebten Mutter.

»Damals glaubte ich im Ernste,« fuhr er fort, »Gott nehme die Gestalt eines Bettlers oder einer verzweifelnden Mutter oder eines geplagten Ackersmannes oder eines verwundeten Soldaten an, und nur an dem heiligen Dunkel der göttlichen Augen erkenne man ihn, der gespannt darauf harre, daß man seiner Gestalt in ihrer Not helfe, und während man ihr helfe, Gott in ihr erkenne. Aber heute noch und heute erst recht sehe ich mich auf meinen Wanderungen nach den Augen Gottes um und schaure zusammen, wenn ich im Vorübergehen an einem Wandrer plötzlich inne werde, daß mich Gottes Augen grüßend angeschaut hatten – einmal sind es Menschenaugen, oft auch Blumen.«

»Menschen und Pflanzen,« wiederholte der Alte langsam. »Ja, Menschenaugen und Pflanzenaugen! Das haben Sie recht gesehen! Die Pflanzen stehen näher bei Gott als die Tiere, er schuf sie vor den Tieren und dem Menschen und gab ihnen den göttlichen Auftrag, den gottähnlichsten, sie sollten dienen. Das Tier kann sich über die Erde frei bewegen und gehört doch ihr allein an, die Pflanze ist gebunden und doch ein Kind der freien, raumlosen Geisteswelt. Woran merkst du das? Ein Tier hat Verstand und weckt deine Neugierde, ja, wenn es ein Vöglein ist, wird es dein Zeitvertreib, aber damit ist sein Unterricht an dich abgetan. Die Pflanze aber hat Seele, und sie setzt deinen Geist in Bewegung. Von der Wirkung auf dich mußt du auf die Ursache schließen, und wenn in dir Geist gewirkt wird, was könnte ihn anders wirken als Geist? Es ist ein Geheimnis, mein junger Freund, warum Gott die Pflanzen herzlicher liebt als die Tiere, ich kann es nur so ergründen, daß ich denke, er dankt ihnen für ihr Dienen mit seiner Liebe. Ich habe davon schon etwas geahnt, als ich noch ein Kind war.«

»Da haben Sie gewiß niemals zwecklos Blumen gebrochen und Zweige abgerissen!« sagte Viktor mit Nachdruck. »Die Poeten lassen die Spaziergänger mit dichten Primelsträußen aus dem Walde kommen, als brächten sie den Frühling damit in das Haus, aber ich sehe dann nur in gedankenlosen Händen gedankenlos zusammengeraffte Bündel armer Pflanzen, von denen über die Hälfte auf dem Heimweg und die Treppe hinauf verzettelt wird, der Rest morgen verwelkt im Ascheneimer liegt!«

Mit freundlichen Augen, ja mit Augen, die von etwas Feierlichem glänzten, sah der Greis den Jüngling an und fragte ihn dann: »Welche Blume ist Ihnen die liebste?«

»Die Gartennelke,« sagte Viktor rasch, »so, wie sie von den Fenstern unsrer Bauernhäuser in langen Rankenstielen herabspielt, oder wie sie unsre Gärtnermühe mit vielfacher Farbenpracht liebevoll lohnt.«

Während Viktor sprach, entfernte der Alte schweigend die Lampe und stellte einige Nelken in einem altertümlichen Kelchglase mit hoher Röhre und einem breiten Beckenfuße vor Viktor hin. Dieser ward von dem Anblick getroffen, wie es der Greis erwartet hatte. Sein an alte Formen durch Vätererbe gewöhntes Auge erkannte an dem eigentümlichen grünen und bläulichen Schimmern des Glases, wie alt es war, und mit Entzücken gewahrte er das Ineinanderspielen der schönen Blumen und des schillernden Kelches. Das Licht der abseits stehenden Lampe fiel auf das im Helldunkel liegende sinnendverlorne Antlitz des Jünglings und hell auf die Blüten. Der Alte streifte mit einem ernsten und freudigen Blick seine Frau, die selbst mit gespannter Aufmerksamkeit allem zugesehen hatte, dann erschloß er einen alten Spind und nahm ein rahmenloses Ölbild heraus, das fest in ein seidnes Tuch, das gewiß auch von hohem Alter war, eingeschlagen lag und legte es langsam, um den Blick des Jünglings nicht von dem Blumenkelche abzulenken, neben Viktor hin. Es war ein nach der Art Rembrandts gemaltes Bild. Man sah von dem dunkeln Hintergründe in hellem Profil abgehoben den Kopf und den aufgestützten Arm eines Mannes in einer Tracht, wie man sie am Schlusse des sechzehnten Jahrhunderts liebte; eine schöne, offne Stirn, dunkle, sinnende, glaubende und sehnliche Augen, Mund und Kinn von feinster Form, weich und fest. Das Auge des Mannes war ganz in fünf in einem hohen Kelchglase stehende Nelken versenkt; es waren zwei rot, eine gelb und zwei hatten die Lachsfarbe, das Kelchglas aber funkelte in einem Lichte, dessen Quelle nicht zu sehen war.

Wie sich das gemalte Bild und der gleiche lebendige Vorgang wie Gegenstand und Abspieglung so einleuchtend und so geheimnisvoll ergänzten, neigte sich der Alte über Viktor und küßte ihn auf die Stirn. Jetzt erst wachte dieser aus seinem Traume auf und sah in demselben Augenblick das alte Bild und sah es fast erschrocken an; er fühlte, was der Alte hier vorbereitet hatte, und eine unwiderstehliche Sehnsucht nach dem Manne in dem Bilde ergriff ihn. Verwirrt schaute er zu dem Alten auf und fragte: »Wer ist dieser Mann?«

»Das gerade wollte ich Sie fragen. Sie selbst erinnerten mich sofort an dieses Gesicht, als ich Sie am Dienstag Morgen sah, und erinnerten mich täglich mehr daran, und meine Frau nickte mir hinter Ihrem Rücken zustimmend zu, als Sie kaum eingetreten waren. Das Bild ist bei uns Allgäuers, solange wir wissen, und immer stand es uns fest, daß es unser Vorvater sei, aber es steht kein Name da, und was ich an dem Kelch unten am Fuße von Buchstaben heute zu sehen meine, das erscheint mir morgen nur als ein Kranz von Zierschnörkeln.

Auch Viktor sah die Stelle genau an, auf die der Finger des Alten deutete, aber auch er konnte nichts erkennen, dagegen verglich er im stillen das Gesicht seines Wirtes mit dem Bilde.

»Wir haben keine Kinder,« begann nun der Alte wieder. »Lassen Sie mich Ihnen sagen, was die liebe Frau und ich schon ausgemacht haben, als ich ihr zum ersten Male von Ihnen erzählte: Sie sollen dies Bild nach unserm Tode erhalten!«

Viktor sah das herrliche Gemälde mit Scheu an. Ja, es sollte einst von ihm geehrt werden, wie es von diesen Alten geehrt ward. Lange hielt er die Hand des Greises gefaßt und sah das Bild schweigend an.

»Lassen Sie uns immer in Verbindung bleiben,« unterbrach der Greis nach einer guten Weile das Schweigen. Wo wir Sie von August an zu suchen haben, weiß ich. Was aber sollen Ihnen die nächsten Wochen bringen?«

Viktor überwand sich, von der schönen Fremden zu reden.

»Das ist keine hiesige Lehrerin,« sagte der Greis bestimmt, »ich kenne sie alle, auch keine Hauslehrerin; hier ist zur Zeit keine einzige. Aber sie kann nicht weit entfernt von hier wohnen, denn Sie sahen sie ohne alles Gepäck?«

Viktor bejahte. »Nun, dann wird sie wohl auf eines der Güter hinter Au im Winkel gehören oder ist vielleicht eine Tochter des Oberförsters in der Forstei zum ›nassen Winkel‹, obgleich sie dann mit Ihnen über das Wirtshaus dort hätte gehen müssen.«

Also nach Au im Winkel und mich dort an den Präzeptor Röhrle wenden, wiederholte sich Viktor, als er bald nach zehn Uhr über den Altmarkt ging, die Seele bei den beiden Alten da oben unter dem Dache, bei dem Bilde, bei der Fremden. Sie waren alle wie ein Erlebnis, in dem jedes seinen Anteil hatte, aber der schönste fiel auf Frau Sonnenschein.

Als Viktor in die Zotzelsgasse einbog, stand eine dunkle Gestalt am Eingange der Straße und grüßte militärisch. Viktor fügte sich fröhlich dem Landesbrauch und rief: »Grüß Gott, Herr Belloff!« – »Gehorsamer Diener, Herr Hofgartenassistent!«


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