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Neuntes Kapitel.

Man erfährt, woher die Midaskinder kommen und wohin sie gehen, aber das Buch rückt nicht vor.


Ehe Röhrle sich von den beiden Freunden verabschiedet hatte, hatte er die Zusage Viktors erhalten, am Abend noch sein Gast am Untertor zu sein. Dann war Röhrle gegangen, bald darnach der Freund. Nun brannte Viktor darauf, ohne Zeugen den Namen zu erfahren, der ihm seit zwei Wochen die Ruhe des Lebens gekostet hatte. Er fand den Wirt noch im Garten, damit beschäftigt, den Himmel anzuschauen, den Wetterhahn auf einem Kirchturme nachdenklich zu betrachten, der dem Rappen näher war als der Rappe ihm, und einem jungen Aufwärter zuzusehen, wie er Gießkanne um Gießkanne über die Beete des Gartens ausgoß. Viktor fragte zögernd: »Wissen Sie vielleicht, Herr Ohnimus, wie der Gutsbesitzer heißt, von dem heute Abend erzählt wurde?«

»Ihr Diener, Herr – Doktor, das ist der Zangkel vom Wiegandshäuserhof.«

»Wie – Zangkel? Kennen Sie seinen Vornamen?«

»Aufzuwarten, Herr – Doktor, er heißt Emanuel Narzissus Zangkel. Ah, Sie kennen ihn? Ist Ihnen nicht wohl?«

Dem Wirte war die tiefe Bewegung nicht entgangen, in die Viktor durch den Namen versetzt worden war, und Viktors Antwort: »O nein, nein« – kam so hastig, daß er nun erst recht annahm, sein Gast sei einer Ohnmacht nahe gewesen.

Wie Herr Ohnimus diesem Zustande durch eine gewisse Flasche in seinem Liqueurschranke abhelfen könne, war eine Überlegung, die er leider allein zu Ende verfolgen mußte, denn ehe er sich dessen recht bewußt war, hatte ihn Viktor nach raschem Gruße allein gelassen und hatte sein Zimmer aufgesucht, um das Unerwartete zu fassen und sich hoffnungsvoll auszulegen. Von fernen Verwandten in Süddeutschland hatten die Eltern geredet, aber wie man sich in einer weiten, fremden Welt finden solle, war eine manchmal aufgeworfne Frage gewesen, und nun hatte die sanfte, schüchterne Stimme der Frau Schwendeli Viktor auf die Straße gestellt, auf der man zu diesen halb märchenhaften Angehörigen gelangen konnte – auf einen Waldweg zum nassen Winkel, und eine Straße an Rebenhügeln und Waldrändern und Kornfeldern und blühenden Apfelbäumen vorüber nach Au im Winkel, und nun auf die Straße, über die eben die Abendschatten sanken und Au im Winkel, Remchingen und den Wiegandshäuserhof zudeckten. Der Mond kam in breiter, silberner Halbschied im Osten über den hohen Kastanienbäumen des Gartens herauf. Viktor wäre am liebsten sofort aufgebrochen, um die unbekannte Straße zu suchen, einsame, unerkennbare Wandrer zu fragen, mißtrauische Hofhunde in schlafenden Dörfern zu alarmieren, jedes ferne Licht für das Licht zu halten, das in dem ersehnten Sestos für den Mann aufgestellt sein mußte, der den Hellespont junger Sehnsucht mit mutigem Arme durchteilte.

Aber heute löschte der Präzeptor Röhrle diese glänzende Ampel unbarmherzig aus. Das Versprechen, den Abend am Untertore zuzubringen, war so bestimmt gegeben, und Herr Ohnimus schon einmal durch Ernsts unbillig frühe Abfahrt, auf die sein energisches, flottes und studentenmäßiges Eintreten in den Gasthof die Menschenkenntnis des Wirts durchaus nicht vorbereitet hatte, schwer gekränkt worden, daß es doch nicht anging, zwei Häuser in dem gutartigen Au im Winkel aus einmal zu enttäuschen, wenigstens nicht für Viktor.

Und bald leuchtete ihm ein dreifaches Licht zum Dank für seine Selbstüberwindung dreifach liebreich: freundliche Wirte behandelten ihn wie den lange erwarteten Gast, die Lampe strahlte in der grünumsponnenen Gartenhütte und leuchtete auf die uralten Festungsreste über der Schlucht hinab, auf denen die Hütte wie ein grünes Türmchen schwebte, und durch das Laub der Hütte und der nahen Bäume brach in das Licht der Lampe das Licht des Mondes. Sie kämpfte an den Grenzen, wo ihre Leuchtkraft versagte, mit seinem blassen Geisterlichte um den Besitz der Rosenstöcke und Lilien und Königskerzen, die da und dort über kleine Geröllhalden heraufgeklettert waren und sich in die Höhe reckten, um einen Überblick über alle Terassen dieses blütenreichen Gartens und über die Rose und über deren schlichte Schwester zu gewinnen, die über die breiten Sträucher der Heckenrose ihre zarten Blüten als das Brautkleid der Vorsommerwelt reich und überreich ausgebreitet hatte.

Und die Königskerze sah im Schein des Mondes über das alles weg und blickte in die Hütte und sah das schmale Gesicht des Fräuleins Charmänterle und das ebenso schmale und durchgeistigte Gesicht des Herrn Meschänterle, und sah den Fremdling, von dem sie seither nichts erfahren hatte, und dachte: Da sind drei Königskinder in Präzeptors Hütte, und ich stehe Schildwacht über der Schlucht.

Das tat sie bis elf Uhr. Dann wanderte die Lampe aus dem Garten, die Glockenrufe wurden vernehmlich, als sie niemand mehr bedurfte; der Mond wanderte bedächtig über Remchingen hin nach Westen weiter, und die Rosen zogen ihre Blätter an sich, denn ein kühler Lufthauch wehte aus der Schlucht in die Ebene hinab, er nahm Staub von den Blättern und streute Feuchtigkeit über das Laub, das nach ihr verlangte, aber die Worte, die in der Hütte getauscht worden waren, ließ er dort weiter weben, damit die Menschen, die hier zu Freunden geworden waren, den festen Ort der Erinnerung nicht verlören.

Zuerst ging die Rede von Allgäuer hin und her, und Viktor sprach von dem Bilde und ertrug den Blick, den die beiden alten Geschwister sofort prüfend auf den Jüngling richteten – der Präzeptor ohne Bewegung, die Schwester mit kräftigem Kopfnicken –, weil er eine Frage stellen wollte, die dem Sprachkenner in Röhrle galt, und die ihm eine Antwort bringen sollte, auf die er seit Samstag Abend innerlich spannte. »Sie wissen,« begann er, »daß mein lieber Freund Windisch heißt, in seiner Familie weiß man, daß die Voreltern eingewanderte Wenden sind, und daß ihr also ihr wendischer Familienname verloren gegangen, dagegen ihr Vaterlandsname aus einem Übernamen zu einem neuen Geschlechtsnamen geworden ist. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, ob nicht Allgäuer ebenso ein später Schleier ist, der den eigentlichen Familiennamen verdeckt, daß also etwa ein Vorfahre unsers verehrten Freundes aus dem Allgäu eingewandert und von seinen neuen Landsleuten um seinen eigentlichen Familiennamen Zangkel gebracht worden ist, weil es ihnen merkwürdiger war, daß er ein Allgäuer war, als ein Zangkel.«

» Per se,« unterbrach das alte Fräulein, »das ist gerade wie mit dem Hamburger am Steintore. Ich glaube, der Mosjö weiß selbst nicht mehr, daß er Boyesen heißt, kein Mensch nennt ihn anders als Hamburger, denn dorther stammt er. Aber das Geld, das wir ihm für sein schlechtes Schuhwerk bezahlen müssen, stammt aus Au im Winkel und heißt leider gewöhnlich Gulden und nicht anders!«

»Es mag sein,« sagte Röhrle nachdenklich, »es mag sein. Sie haben nicht viel Ähnlichkeit mit Allgäuer, aber –«

»Zweiglein heiß' ich jung, Baum heiß' ich alt!« unterbrach die Schwester.

»Ja, ja. Sie gehören gewiß zu diesem Baum,« sagte Röhrle mit freundlichem Aufblick in das Auge Viktors. »Aber stammt Ihre Familie aus dem Allgäu?«

»Aus Süddeutschland jedenfalls, mehr wissen wir nicht.« Nun erzählte Viktor, was er von der Geschichte seiner Familie wußte, am herzlichsten von dem Ahnherrn und dem Urgroßvater.

»Und nun muß ich Ihnen sagen,« fuhr Viktor mit einer gewissen Entschlossenheit des Tones fort, »daß ich heute andre Ihrer Landsleute mit voller Sicherheit als meine Verwandten erkannt habe: der Gutsbesitzer, von dem im Garten des Rappen erzählt wurde, ist ein Zangkel und gehört zu uns, denn auch er trägt als zweiten Vornamen den Namen Narzissus – das kann kein Zufall sein!«

»Und Sie, mein lieber junger Freund, haben zugleich gefunden, was Sie suchten,« sagte Röhrle herzlich zu Viktor, um ihm die weitere Mitteilung zu erleichtern.

»Ja,« erwiderte Viktor mit leuchtendem Auge, »und morgen werde ich diese Verwandten aufsuchen und die Freundschaft erneuern, die suchende Herzen in Endenburg und gewiß auch im Wiegandshäuserhof durch ihren Zug nach den Verschollnen geschlossen haben, ehe sie begründet werden konnte. Und was meine Eltern vor allem beglücken wird, wie es mich beglückt hat, ist das, was wir heute Abend erfuhren, daß auch diese Zangkel, wie es bei mir zu Hause von den Leuten unsres Geschlechts hieß, ertrunken sind in einer Flut, die nicht verschlingt, sondern an die Küste der ewigen Heimat trägt.«

»Es erbt der Väter Segen, nicht ihr Fluch,« sagte Röhrle sanft und nachdenklich mit den tröstlich süßen Worten, die Pylades an den Tantalusenkel richtet, und die der alte Sinner sich doch selbst nicht ganz zu eigen machen konnte.

»O lassen Sie mich Ihnen ein Blatt aus dem Gedankenkreise der Tantalusvorstellung vorlesen und dann eine Frage wegen solcher auffallenden Zusammenhänge im Familiengeschick an Sie richten. Das Blatt stammt aus der Feder eines Bekannten Ernst Windischs, zugleich meines Nachbarn in Haßlach. Ich muß ihn irgendwie, ich ahne aber nicht wie, auf die Midasvorstellung gebracht haben, aus der heraus ich ein Buch schreiben möchte – da Fräulein Regine Ulrike Röhrle ihren Gast nun mit einem ganz besondern Anteil ansah, geriet Viktor in große Verlegenheit und redete etwas stotternd weiter –, ein Buch von herrlichen Seelen, die vor Lust am Schönen nicht Zeit dazu haben, das Unschöne zu sehen, und nun hat Herrn Säuerlich, so heißt mein Haßlacher Nachbar, die Midassage offenbar in einem andern Zuge mehr angesprochen, er hat diesen aufgegriffen, und während ich nicht zum Schreiben komme, schreibt er und sorgt dafür, daß mir sein Fleiß auf Schritt und Tritt sichtbar wird. Diesmal aber ist mir das Zeugnis seines Schriftstellereifers, das ich hier habe, vielleicht ohne seine Absicht zugekommen, obgleich ich das kaum glauben kann. Darf ich lesen?«

Die Geschwister waren so bereit zu hören, daß es Viktor fast einen Stich ins Herz gab, daß es sich nicht um ein Blatt handelte, das zu seinem Buche gehörte, und so las er denn:

Midaskinder.

3. Vater Tantalus.

Ich kenne einen, der seinen Ahnherrn als Mütze über die Eselsohren zieht.

Ich traf ihn seit unsern Sekundanerjahren, aber es war für mich kein Auskommen mit ihm, und ich denke, für ihn kein Auskommen mit mir. Ich hielt ihn für einen Wichtigtuer, der hinter seiner Löwenhaut von feinen Kleidern, langem Haar, blassen Wangen, dem müdemachenden Zitieren von Anastasius Grüns »Schutt« und dem schwersten Tabak, der damals bei uns zu haben war, ich glaube, er hieß La Guayra, einen Willen verbarg, der so schwach und pampelig war wie der ganze Mensch.

Erst war das ein Renommieren mit »Schutt«, alle wollten es ihm nachtun, und das Buch wurde bei jeder Bücherausgabe am Donnerstag um vier Uhr verlangt. Dann kam derselbe Lärm mit Schopenhauer. Die Parerga und Paralipomena lagen in zwei schönen großen Bänden auf seinem Tische, und man war gar nicht sicher, daß er einem nicht mit einem dieser pompösen Bände auf einem Spaziergange begegnete – »einsame Gänge« nannte er sie, es durfte ihn niemand begleiten, obgleich sie alle darnach hungerten, mit ihm »einsam« sein zu dürfen. Dann kamen Stunden, in denen er düstere Bekenntnisse seines Seelenzustandes verlauten ließ – einmal war ich unfreiwillig Zeuge, aber diese nervöse Art der Selbstanklage war zu gemischt, als daß ich sie hätte vertragen können, da war Selbsterkenntnis, Selbstinteressantheit und Steigerung des Wortes durch das Wortmachen so unentwirrbar ineinander gemengt, daß ich das Fenster nicht bloß wirklich aufmachte, um dem Guapraqualm zu entkommen, sondern auch figürlich.

Später kam der deutsch zurecht gemachte Darwin in Mode, und da entdeckte er sofort seinen Vater Tantalus. Er begriff sein Leben, er war das bejammernswerte Ergebnis einer ganzen Reihe von Kräften, die es offenbar drauf abgesehen hatten, einen Schwächling zu erzeugen, eine unglückliche Diagonale im Parallelogramm der Kräfte. Wenn er sich wie ein Tropf benommen hatte, und das brachte er vorzüglich fertig, so schalt er den Vater Tantalus. Wenn das Geld, das am Ersten eingetroffen war – und es floß für diesen Kameraden zu reichlich – ihm am Fünfzehnten das letzte Lebewohl sagte, wenn er Katzenjammer hatte, wenn er in Abenteuer verwickelt war, deren Entdeckung er fürchtete, dann hörte man ihn: O Tantalus, Tantalus! murmeln, wenn er neben den andern herging, – und diese ehrten seine große unglückliche Seele mit einer Ängstlichkeit und Teilnahme, die mir an ihnen gefiel, aber ich konnte sie nicht empfinden, ich sah eben keinen Tantaliden, sondern einen Menschen, der nicht steuern und nicht rudern wollte.« –

»Das ist ein scharfer Herr,« sagte das alte Fräulein, als Viktor geendet hatte.

Viktor aber, der sich genötigt sah, jedes Wort Säuerlichs zu unterschreiben, erwiderte: »Ich habe noch nie gesehen, daß ein edler Mensch diese Deckung hinter Verhältnissen, Elternschuld und Vorvätererbe gesucht hätte.«

Röhrle saß in sich versunken da, in Gelände entrückt, wo es nicht Ost und West gibt. Als er dann das Wort ergriff, sprach er so, als hätte Viktor die von ihm angekündigte Frage gestellt, und er führe nun mitten in einem schon laut gewordnen Gedankenzusammenhange fort:

Die Wissenschaft wird kaum zu einer andern Erklärung gelangen können, als die ist, die der arme junge Mann für sich bequem gefunden hatte, von dem Ihr Nachbar uns eben erzählt hat. Die Dinge wenden ihr bis ans Ende der Zeiten immer nur eine Seite zu, wie uns der Mond, und so gewährt sie keine Weltanschauung, sie nimmt das ihr Sichtbare, zergliedert und ordnet es. Sie sieht, wie äußere Familienzüge durch Jahrhunderte, äußere Völkerzüge durch Jahrtausende wiederkehren, sie sieht Eigenschaften der Vorväter und Väter in den Kindern wieder auftauchen, sie findet mit ihrer Psychologie keinen freien Willen, und kann es nicht, weil sie bis zu der Tiefe, zu der sie hinabreicht, immer noch sieht, daß der Mensch in seinem Gedankenvorrat und der Richtung seiner Wünsche und der Art seiner Entschließungen von fremden Einflüssen und Vorbedingungen, die zum Teil vor seiner Zeit liegen, schmerzlich abhängig ist, aber die Wissenschaft verfügt nur bis in eine gewisse Tiefe und Breite über die Durchsuchung des Bodens, gerade wie der Bergmann, und so sagt sie denn für sich und damit für viele Menschen, die von ihr die letzten Antworten erwarten: Der einzelne Mensch ist das Ergebnis vieler erkennbarer Vorbedingungen, man muß ihn aus seinem Milieu verstehen!«

» Excusez, Euer Gestrengen, hängt meinen Vater und nicht mich!« fuhr die Schwester dazwischen und klapperte entrüstet mit den Nadeln ihres Strickzeugs.

»Die Erklärung des Charakters, des ganzen Zuges einer Persönlichkeit aus Vererbung hat so den Vorzug der Augenscheinlichkeit für sich, daß es schwer fällt, sich von ihr freizumachen,« sagte Viktor, »aber sie widerspricht den Selbstaussagen unsers Bewußtseins und unsers tiefsten Lebensgefühls, das sich nur als sich selbst weiß. Und dann muß ich sagen: so gern man lieben Voreltern und Eltern jeden angebornen guten Zug im eignen Wesen verdanken möchte, wie darf man das Gute von ihnen ableiten, wenn man ihnen das angeborne Böse in uns niemals zurechnet?«

»Ja, Herr Zangkel,« unterbrach ihn das alte Fräulein, »sagen Sie es nur gerade heraus, Sie wollen das Rechte aus sich selbst und nicht so quasi zwangsweise, weil eine Schar braver Vorfahren hinter Ihnen steht und schiebt, wie die Mutter den Stoffel zur Braut schiebt. Eigner Rauch ist besser als fremdes Feuer!«

»Freuen Sie sich Ihrer Voreltern,« setzte Röhrle hinzu. »Jeder Sohn und Enkel und Urenkel hat die Tat Ihres Vorvaters und die Gesinnung, aus der sie geschah, mit eignen freien Händen wieder übernommen, sie ist nur von Geschlecht zu Geschlecht bei Ihnen allen die belebende Musik gewesen, aber keine Schlachtmusik hilft, wo die Helden fehlen, und erst der Held macht den Hörnerruf und Trommelklang zur Schlachtmusik! Freuen Sie sich vor allem der zwei größten Helden unter Ihren Voreltern, von denen Sie uns erzählten, derer, die sich im Tode und im Leiden als die edelsten Midaskinder bezeugten. Nach irdischem, natürlichem Maßstabe sind große Kriegsleute, Staatsmänner, Künstler, Gelehrte, überhaupt alle, die etwas Erdengroßes geschaffen haben, die, die man berühmt nennt, und von denen man spricht; aber Gott spricht nicht von ihnen, sie sind ihm zu klein und unbedeutend. Aber jeder unberühmte und verborgne Mensch, der sein Schicksal trägt, ist vor Gott berühmt, und von ihm spricht Gott. Nicht daß er die Peterskirche gebaut und seinen Moses geschaffen hat, macht Michelangelo groß – so ist auch König Friedrich nicht groß, weil er sieben Jahre Schlachten gewonnen und Schlesien behauptet hat – groß sind sie nur, weil sie tapfer gelitten haben. Aber freuen sie sich aller Midaskinder, die ihnen je begegnet sind, und die Ihr freundliches Auge noch entdecken wird, und glauben Sie dem alten Geisterseher in Au im Winkel, daß kein Midaskind der Welt je war, was es sein mußte, sondern immer, was es sein wollte! Und so lassen Sie mich zu dem Gedanken zurückkehren, dem ich vorhin folgte, und sagen: Wenn die Gelehrten den Menschen aus seinem Milieu, also der Summe aller seiner Daseinsbedingungen ableiten, so sehe ich das Entgegengesetzte: jeder Mensch hat das Milieu, das er verdient! Die Nachtigall sucht die grüne Einsamkeit, der Schmetterling die bunte Blume, der Falke die hohen Wipfel, der gute Mensch neigt sich zum guten Menschen, der unerfreuliche Charakter sucht seinesgleichen. So trifft nach einem Gesetze, das wir nur ahnen können, die vorirdische Seele aus ihrer Wanderschaft zur Erde dort ein, wo sie ihresgleichen findet.«

»Spitzbuben gehen nicht in den ›Rappen‹, sondern in die ›fidele Geige‹,« erläuterte Fräulein Regine Ulrike.

»Die Seele, die irdisch wird, erhält das Milieu, das sie sich vor der Erde erworben, also verdient hat.«

»Aber die Menschen, die dann während der Lebenszeit auf der Erde ›aus der Art‹ schlagen?« bemerkte Viktor zögernd.

»Katzen schlagen nicht aus der Art, Hühner schlagen nicht aus der Art, und Menschen schlagen nicht aus der Art,« sagte das alte Fräulein mit großer Bestimmtheit.

Viktor aber warf ein: »Es gibt doch in jeder großen Familie ›verlorne Söhne‹, und in jeder irgendwie gezeichneten Familie den bekannten weißen Raben!«

»O,« sagte Röhrle mit großem Ernst, »wenn man von den Menschen das Verschwiegne hörte, dann könnte man gerade von den weißen Raben hören, wie sie in stillen Nächten nicht die Totenuhr im Holzwerk, sondern den Strom des geistigen Blutes ihrer Familie in ihren Adern kreisen hörten. Es wird doch dabei bleiben, daß keiner in ein Haus geboren wird, wohin er nicht gehört, und er findet seinen Weg dahin, wie, wir wissen es nicht.«

»Und es kommt keiner in ein Haus, wohin er nicht gehört!« sagte mit herzlich-fröhlichem Tone das alte Fräulein. »Darum Glück auf, Herr Zangkel, in unserm Heim!« Beide Geschwister nickten Viktor liebevoll zu, und sein Herz rief nach den fernen Eltern, daß sie bei ihm seien und diese treuen Seelen mit ihm erlebten.

Wie jedes Wort aus eine Weile verstummte, sprach unten das rasche, kleine Wasser, und ferne Schritte waren von der Landstraße zu hören. Bäume rauschten einmal und wieder, dann verstummte das Rauschen, blaß glänzten die Sterne am mondhellen Himmel – eine göttliche Traurigkeit umhauchte alle Dinge und zitterte durch diese Menschenherzen. Viktor ward alles dessen inne, und es wob sich in die eine große Lebensempfindung hinein, die ihn mit andern Weiten verband, er fühlte die Geisterreihe, wie sie ungesehen zur Erde zog, um dort ihr Leben, Irren und Geraten zu finden, und wie sie weiter von dannen zog aus diesem Hause zu neuen Erden mit weniger Irren und froherm Geraten in dem neuen Milieu, das man hier verdient und dort erhalten hatte.

Röhrle ehrte das stille Sinnen des jungen Gastes. Dann aber fuhr er fort:

»Die Schwalbe weiß nichts von Afrika, wie die vorirdische Seele von der Erde, dann kommt für die Schwalbe die Zeit, da sie spürt, die Tage werden kalt, die Blüten fallen, die Nahrung wird knapp – da kommt für die Seele die Stunde, wo ihr Leib nachläßt und zerfällt – und die Schwalbe schwingt sich auf und erreicht ihr Afrika, und die Seele schwingt sich auf und erreicht ihre Erde, die Schwalbe findet ihr Nest vom vorigen Jahre, und die Seele findet ihr Haus, wo sie leben, irren und wachsen soll. Von Gott gewichen, nach heim verlangend, wandert die Seele, bis ihr Innerstes, das kein Milieuforscher ableiten und auflösen kann, der aus der Welt Gottes mitgebrachte, heimlichste Kern sich von den Flocken befreit hat, die sich ihm in der Verhaftung in die körperliche Welt angesetzt haben; die Midaskinder tragen aber aus Fernen eine Seele in unsre Zeit, die in immer wachsender Andacht und Gottesliebe von Stern zu Stern näher zur Heimat die wunderbaren Kreise der Entwicklung zieht und hier schon dem Ewigen näher ist, als andre noch tief in der Zeit und Materie Verhafteten. Sie trinken aus dem heiligen Kelche der Schönheit dem Vater aller Seelen den Morgengruß zu, wenn die Läden aufspringen und die Türen sich zur Tagesarbeit öffnen, und sie grüßen mit diesem Kelche den heiligen Osten, der sich im Todesfeuer des Westens vorbereitet: Gott geht ihnen nicht unter, wie die irdische Sonne. Siehe, er ist bei ihnen alle Tage und Nächte!«

Viktor sah schüchtern in das alte Antlitz, und eine starke Liebe lohte in ihm zu dem ergrauten, schmächtigen, von der Zeit unbesiegten Mann empor.

Eine Glocke rief. Das kleine alte, fleißige Fräulein legte das Strickzeug zusammen und küßte den Bruder auf die Stirn. Dieser aber ergriff schweigend die Lampe. Wenige Augenblicke später traten zwei alte Menschen über die Schwelle und folgten dem jungen Wandrer über die Treppe hinab auf die Straße, und welkende Hände drückten die junge Hand, und alte, tiefe Herzen liebkosten ohne Worte das junge, bewegte Herz, das neuen Schicksalen entgegenging.


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