Max Nordau
Die Nixe
Max Nordau

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V.

Die Wahl eines Seebades fiel auf St. Enogat, das nicht ganz so anspruchsvoll wie Trouville oder die anderen übermütig üppigen Weltbäder, doch auch nicht ganz so spießbürgerlich langweilig war wie die »wohlfeilen Strandlöcher«, petits trous pas chers, für die in den Volksblättern geklappert wurde. Es war auch da genug schillerndes und flatterndes Leben, um Rudolf als Bild zu überraschen und zu fesseln, aber der Wirbel des Gesellschaftstreibens raste nicht toll genug, um auch den Unbeteiligten mitzureißen und ihm Schwindel und Übelkeit zu verursachen.

Catherine hatte sich vor der Abreise von Rudolf ein kokettes Badekostüm kaufen lassen und freute sich wie ein Kind auf ihr erstes Seebad. Als sie aber aus ihrer Zelle trat und, von Rudolf an der Hand gefaßt, die wenigen Schritte bis zum Wellensaum hinabeilte, um sich in die an diesem Tage gerade etwas kräftigere Dünung zu stürzen, da begab sich etwas Sonderbares. Bei der ersten Berührung der kühlen Salzflut mit dem Fuße schauerte sie zusammen, stieß einen schwachen Schrei aus und taumelte zurück. Rudolf, der sich mit einem Anlauf in die See gestürzt hatte, tauchte sofort wieder heraus, war im Nu an ihrer Seite und fing sie rechtzeitig in den nassen Armen auf, um sie vor dem Umsinken zu bewahren.

»Was hast du, Schatz? Was ist dir?«

»Nichts, nichts,« gab sie leise zurück. »Es ist schon wieder vorüber.«

»Verträgst du kaltes Wasser so schlecht? Und es ist eigentlich gar nicht kalt.«

»Es ist nicht das, Schatz. Komm, führe mich zur Zelle zurück!«

»Wie! Du willst nicht baden? Sei doch nicht so schlapp. Ich will dich ganz sachte hineinführen.«

»Ich kann nicht. Du weißt nicht. Es ging mir durch Mark und Bein. Mir war plötzlich wie damals – in der Nacht – nein; ich kann nicht. Laß dich nicht stören, Schatz; geh ruhig ins Wasser. Ich kleide mich inzwischen an.«

Er brachte sie kopfschüttelnd an die Zelle und kehrte in die See zurück.

Sie blieb dabei, daß ihr vor dem weiten, großen Wasser graute. Aber auf den Genuß ihres reizenden Badekostüms wollte sie dennoch nicht verzichten. Und so kleidete sie sich täglich in ihrer Zelle um und begleitete Rudolf ans Wasser. Während er schwamm und tauchte, saß sie in einem Strandkorb oder im Sand und sah seinen Künsten eines kräftigen, kühnen und geschickten Schwimmers bewundernd zu. Aber ihre Aufmerksamkeit war nicht so vollständig gebunden, daß sie ihre Blicke nicht hätte wandern lassen. Das schöne junge Weib im trockenen Badeanzug, der zwar züchtiger ist als der nasse, welcher die Formen schonungslos modelliert, aber dennoch kecker wirkt, weil er die Vorstellung einer durch keinen erkennbaren Zweck gerechtfertigten Entkleidung macht, übte rasch eine starke Anziehung auf die männlichen Strandbesucher, die sie zuerst umschlichen, dann sich in ihrer Nähe lagerten und mit großer Deutlichkeit den Wunsch erkennen ließen, mit ihr anzubändeln. Nur die Gegenwart des großen, augenscheinlich athletischen jungen Mannes, mit dem man sie kommen und gehen sah, verhinderte die Dreistesten, sie anzureden. Der Augensprache legte seine Anwesenheit indes keinen Zwang an und es wurden verstohlen stumme, doch durchaus deutliche Unterhaltungen angeknüpft, die nicht nur einseitig waren.

Rudolf dachte nicht daran, eifersüchtig zu sein. Er fühlte sich seiner Catherine ganz sicher. Er sah daher auch keinen Grund, sie mißtrauisch im Auge zu behalten, während er sich in der Flut tummelte. Er schwamm bei glatter See manchmal so weit hinaus, daß man ihn nur noch als kleinen Fleck auf der spiegelnden Fläche wahrnahm. Er bemerkte aber dennoch nach einigen Tagen, daß einige Herren fortwährend an ihr vorbeistrichen oder sich in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft aufhielten, wenn sie im Badekostüm am Strand erschien, und das mißfiel ihm. Er tauschte mit diesen aufdringlichen Bewunderern herausfordernde Blicke aus, als er herauskam und den Bademantel umnahm, den Catherine ihm reichte, und er äußerte ihr gegenüber etwas übellaunig, daß sie sich doch recht auffällig mache, wenn sie im Badekostüm dasitze, ohne zu baden.

»Es macht mir aber so viel Spaß,« wandte sie schüchtern ein.

»Auch anderen,« bemerkte er trocken.

Wieso?«

»Jetzt spielst du Komödie. Es kann dir unmöglich entgangen sein, daß die Männer in hellen Haufen hinter dir her sind.«

»In hellen Haufen! Wie du gleich übertreibst. Ich bin nicht blind, aber ich achte nicht darauf. Ich kann Dummköpfe nicht verhindern, sich lächerlich zu machen, aber man erweist diesen Maulaffen zu viel Ehre, wenn man sich von ihnen stören läßt.«

»Erlaube –«

»Aber Schatz! Wenn ein junges Weib in Paris über die Straße geht, hat sie da nicht auch immer gleich einen Verfolger an den Fersen? Soll man etwa deshalb nicht ausgehen? Es ist doch nicht unsere Schuld, daß die Männer wie die Köter sind, die ihren Weibchen mit heraushängender Zunge nachlaufen.«

»Dann soll man ihnen wenigstens keinen Vorwand liefern.«

»Rudolf, du kränkst mich.«

»Ich tu' es ungern. Aber ich finde es nun einmal unpassend, daß du dich im Stil der GrenouilltèreGrenouillère: Froschtümpel. Name einer Seinebucht in Bougival bei Paris, die im Sommer der Schauplatz eines sehr freien Treibens von Schwimmern und Ruderern beiderlei Geschlechts ist. ausstellst.«

»Wozu bin ich dann im Seebad?«

»Um Seebäder zu nehmen. Da du aber erklärst, daß du das nicht kannst, so hat es auch keinen Sinn, daß du am Strand als trockene Nixe glänzest.«

»Dein Wille soll mein Gesetz sein,« sagte sie ergeben und küßte ihm die Hand.

Zur nächsten Flut kam sie angekleidet an den Strand. Das schien ihren prickelnden Reiz für ihre Verehrer nicht vermindert zu haben. Vielleicht vermehrte es ihn, weil man es für eine absichtlich raffiniert berechnete Gegensatz-Wirkung halten konnte. Man ging noch ausdauernder vor ihr hin und her und pflanzte sich noch standhafter neben ihr auf. Rudolf, der nun aufmerksam geworden war, ärgerte sich über solche Aufdringlichkeit. Er kürzte seine Bäder ab und entfernte sich weniger weit vom Strande. Es war immer noch nicht eigentlich Eifersucht, was in ihm gor, sondern Zorn über die Unverschämtheit der Burschen, die Catherine zu behelligen wagten, obschon sie sahen, daß sie mit ihm war. Bildeten sie sich vielleicht ein, daß es gefahrlos sei, sich über ihn lustig zu machen? Er wollte ihnen heimleuchten. Der wohlerzogene junge Mann hatte einen starken Widerwillen gegen öffentliches Ärgernis und es würde ohne Zweifel ein solches geben, wenn er im triefenden Schwimmanzug vor versammeltem Badevolk einen der Laffen, die Catherine umkreisten, am Wickel zu fassen bekäme. Aber dem natürlich und gewohnheitsmäßig rauflustigen Korpsstudenten zuckte es in allen Gliedern, über diese Leute wie Odysseus über die Freier herzufallen, wenn sie sich um Catherine sammelten, so wie er ins Wasser gegangen war. Im Widerstreit der Dränge hatte noch keiner die Oberhand gewonnen. Er begann aber doch, beinahe unbewußt, kleine Kriegslisten zu üben, um einen oder den andern der Strandgecken im weißen Flanellanzug, mit Monocle und Blume im Knopfloch, bei frischer Tat der Liebäugelei zu ertappen und schwer anzurempeln. Er landete nicht unmittelbar vor Catherinens Strandkorb, sondern seitwärts weit ab und ging in einem Bogen hinten herum auf sie zu. Man sah ihn aber doch kommen und stob weg, ehe er da war.

Catherine sagte er nichts. Es wurmte ihn indes ein wenig, daß sie sich durch die Annäherungsbestrebungen nicht belästigt fühlte. Ihm schien, daß es ihr ein Leichtes sein müsse, diese Schmeißfliegen wegzuscheuchen.

Er war wieder einmal, viel früher als gewöhnlich, der See entstiegen und hatte sich von der Seite her unversehens an den Strandkorb herangepürscht. Plötzlich fuhr eine Faust vor Catherinens Antlitz nieder und entriß ihr, ehe sie eine Bewegung machen konnte, ein Briefchen, das sie eben las. Sie fuhr auf und sah Rudolf vor sich stehen, der abwechselnd sie und den Brief ansah.

Sie wurde totenblaß und griff mit zitternden Händen nach dem neben ihr liegenden Bademantel, um ihn Rudolf zu reichen. Er langte sich ihn heftig, warf ihn um und ging mit großen Schritten auf die Kabinen zu, während er das Papier zu lesen begann.

Catherine folgte ihm wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Zwei oder drei Zierbengel sahen dem Vorgang aus einiger Entfernung zu. Er trat in seine Zelle und schloß sie hinter sich ab, ohne den Kopf nach Catherine zu wenden, die bang vor der Tür blieb.

Der Brief, den er ihr entrissen hatte, lautete: »Schöne Grausame, – Warum haben Sie nicht geantwortet? In Ihren schönen Augen lese ich süße Versprechen, die mich toll machen, aber Ihr Mündchen bleibt hartnäckig stumm und Sie fahren fort, mir den Rücken zu kehren, wenn ich Sie anflehe. Haben Sie vor Ihrem Gebieter Angst? Ein Wink, und ich finde Mittel und Wege, Sie zu befreien. Ich beschwöre Sie: lassen Sie mich nicht schmachten. Ein Wort, um des Himmels willen! Zu Ihren kleinen Füßen, der Brünette, der Sie anbetet.«

Als Rudolf angekleidet herauskam, schlug er den Weg nach dem Gasthof ein. Sie trottete neben ihm her und suchte mit ihm Schritt zu halten. Sie spähte ängstlich nach seiner finster drohenden Miene und versuchte einigemale, ihn leise anzusprechen, ohne eine Antwort zu bekommen.

Erst auf ihrer Stube stellte er sich vor sie hin und fragte zwischen den Zähnen mit bebender Stimme, indem er ihr den Brief vor die Augen hielt: »Was hast du zu sagen?«

»Höre mich an –«

»Keine Redensarten. Von wem ist dieser Brief?«

»Ich weiß nicht –«

»So! Du weißt nicht! Es ist nicht der erste.«

»Nein. Aber was kann ich dafür –«

»Warum hast du diesen Briefwechsel vor mir verheimlicht?«

»Weil ich ihm keine Bedeutung beimaß – und weil ich fürchtete, daß du es anders ansehen würdest.«

»Wirklich! Wer hat dir die Briefe zugesteckt?«

»Die Kabinenwärterin.«

»Und du hast sie angenommen?«

»Ich ahnte ja nicht –«

»Du ahntest nicht – nach einem ersten Briefe – wo sind die anderen?«

»Ich habe sie zerrissen.«

»Nochmals: wer ist der Schreiber?«

»Ich schwöre dir, ich kenne ihn nicht.«

»Du lügst!«

»Rudolf!«

»Du lügst. ›In Ihren Augen lese ich süße Versprechen.‹ Das ist dein Urteil.«

»Kein Urteil, eine Verleumdung. Ein Narr, ein Elender kann aufschneiden. Was beweist das?«

»Es beweist, daß du ihn ermutigt hast. Du kennst ihn. Du mußt ihn mir bezeichnen.«

»Niemals!« rief sie.

»Du hast Angst, daß die Wahrheit an den Tag kommt. Du bist eine –«

»Rudolf!« kreischte sie auf »sage kein Wort, das nicht wieder gut zu machen ist. Prügle mich, wenn du willst –«

»Ich bin kein Schwarzer.«

Wie von einem heftigen Peitschenhieb getroffen zuckte sie zusammen und sank mit den Händen vor dem Gesichte in die Ecke des rohrgeflochtenen Kanapees. Sie begann so herzbrechend zu schluchzen, daß Rudolf sein brandmarkendes Wort leid tat. Er sagte etwas weniger hart: »Ich will dich nicht weinen machen. Es hat keinen Zweck, daß wir einander Qualen bereiten. Du bist frei. Falschheit und Verrat dulde ich nicht. Aber wenn du meiner überdrüssig bist, wenn dir ein anderer ins Auge sticht, so brauchst du es nur zu sagen – ich halte dich nicht.«

Sie erhob ihr tränenüberströmtes Gesicht aus den vorgehaltenen Händen und stieß hervor: »Deiner überdrüssig! Ein anderer! Rudolf! Was habe ich getan, um das zu verdienen?«

»›In Ihren Augen lese ich süße Versprechen‹,« wiederholte er grausam. »Es ist wahr. Ich weiß, daß es wahr ist. Ich habe dich mehr als einmal dabei überrascht, wie du –«

»Rudolf,« unterbrach sie ihn; »ich war so glücklich bei dir, so glücklich – laß es nicht anders werden. Wenn du mich nicht mehr liebst, so töte mich. Der Tod von deiner Hand wird mir eine letzte Wonne sein. Oder befiehl mir, daß ich mich töte. Ich werde dir ohne Wimpernzucken gehorchen. Aber nicht schelten. Nicht schmollen.«

»Wenn du so sehr fürchtest, gescholten zu werden, warum gibst du dann zu solchen Briefen Anlaß?« Er zerriß das Papier und warf die Fetzen mit einem Ausdruck von Ekel weit von sich, daß sie falterähnlich durch die Luft flatterten.

»Rudolf –«

»Denn du leugnest umsonst, daß du Anlaß gegeben hast. Man wagt sonst nicht. Du bist gefallsüchtig. Du bist herausfordernd. Du machst mich lächerlich. Ich sehe hoffentlich nicht aus wie ein Ehemann, den man hörnt.«

»Wie kannst du nur aus einer harmlosen, nichtssagenden, lächerlichen –«

»Natürlich. Natürlich. Das hat gar keine Bedeutung. Zuerst die Augensprache, die ich nun schon an dir kenne, dann der Briefwechsel –«

»Rudolf,« flehte sie, »wenn du findest, daß ich unvorsichtig war, weil ich nicht immer wie eine Eule dreinsah, so bitte ich dich um Verzeihung. Ich werde es nicht wieder tun, obschon ich mir gar nichts dabei gedacht habe. Das schwöre ich dir. Wie ist es nur möglich, daß ein so kluger Mensch etwas so Einfaches nicht versteht? Die Männer sehen für gewöhnlich so gräßlich stumpf und langweilig aus – es genügt, daß man ihnen einen Blick zuwirft, manchmal ganz unbewußt, dann sind sie plötzlich verwandelt – es ist, wie wenn ein elektrischer Funke in sie geschlagen hätte – sie werden rot – ihre Augen blitzen und rollen – sie hüpfen und tänzeln – sie blähen sich, schlagen ein Rad, machen tausend Drolligkeiten – es ist zum Totlachen. Wenn du von ölgötzenartigen hölzernen Gliederpuppen umgeben wärst und mit einem Blick diese unheimlich leblosen Kegel beleben könntest, daß sie quecksilbern beweglich werden, zu zappeln anfangen und die lustigsten Clownstücklein ausführen, würdest du der Versuchung widerstehen, deine Kraft zu erproben? Würdest du dir ein so kurzweiliges Schauspiel versagen? Ich frage dich!«

Sie war, während sie sprach, ohne es zu merken, selbst so geworden wie die elektrisierten Klötze, die sie schilderte. Ihr Redefluß wurde immer rascher und schoß zuletzt wie ein Wasserfall dahin. Blick und Mienenspiel und Gebärde waren eigentümlich angeregt und wie von der eigenen Beredsamkeit oder den inneren Gesichten, die ihr entsprachen, fortgerissen, brach sie plötzlich in lautes Lachen aus.

Sie erschrak selbst darüber, besonders da ihr nicht entging, daß ihre zu der Lage so schlecht passende Heiterkeit auf Rudolf einen äußerst übeln Eindruck machte, und bemühte sich rasch wieder, betrübt auszusehen.

»Mit deiner Theorie kann man weit kommen,« grollte Rudolf mit zusammengezogenen Augenbrauen und begann langsam in der nicht allzu großen Stube auf und ab zu gehen. »Ich will diese Hexenkünste nicht. Ich will nicht, daß du die Kegel elektrisierst. Die Clowns, die dich umtanzen, wissen ganz genau, was sie wollen –«

»Das ist ja gerade das unwiderstehlich Drollige! Das ist ja gerade das Unterhaltliche!« rief Catherine, indem sie aufschnellte und sich wieder auf den Sitz zurückfallen ließ.

»Hast du dich auch gefragt, welche Rolle ich in deinem Zirkus spiele? Glaubst du, daß die Clowns auch mich unterhalten?«

Sie glaubte es vielleicht, aber sie gestand es nicht. Sie antwortete vielmehr kleinlaut: »Du hast vielleicht recht –«

»Vielleicht?«

»Du hast ohne Zweifel recht. Aber es ist oft stärker als ich – wenn das Gezappel anfängt, muß ich nachhelfen – ich kann mich nicht enthalten. Ich werde es nicht wieder tun, da es dir mißfällt. Und wenn ich in die Unart zurückverfallen sollte, bitte ich dich im voraus um Verzeihung. Du bist gut. Du bist großherzig. Du wirst mich gegen mich selbst verteidigen.«

Bei solcher Widerstandslosigkeit war es unmöglich, heftig zu bleiben.

»Ich will dir glauben. Aber hier können wir nicht länger bleiben.«

»Aber Rudolf –«

»Das stört dich?« brauste er wieder auf.

»Nicht im geringsten,« erwiderte sie hastig, »ich sehe nur nicht ein –«

»Ich müßte aufs Baden verzichten, denn ich kann dich nicht mehr am Strand allein lassen. Also weg.«

»Wie du willst, Schatz. Nur sei nicht böse. Ich verdiene es nicht. Ich liebe dich so sehr!«

Am nächsten Tage führte der Zug sie weiter westwärts. Er änderte seinen Plan. Er verzichtete auf längere Aufenthalte und Ruhe und wollte nun möglichst viele Orte sehen, die ganze Küste von St. Malo bis Nantes, das Binnenland auf den Strecken von Dinan bis Brest und von Quimper bis Chateaubriand. Die Reise war nicht durchweg Vergnügen. Sie hatte Demütigungen und Dornen. Es kam einigemale vor, daß man in den meist von Damen gehaltenen ehrbaren Gasthöfen wenig besuchter Provinzstädte nach einem ausdrucksvollen Blick auf seine Begleiterin erklärte, es sei kein Zimmer frei. Um sich derartigen Abweisungen, die ihm das Blut in die Wangen jagten, nicht auszusetzen, nahm er bald die Gewohnheit an, von vornherein in Häuser zweiten Ranges zu gehen, wo er unter der Unsauberkeit und allgemeinen Zurückgebliebenheit litt. Die Verbindung mit den Seinen und mit Jack, der in Schottland mit seinem Sohn und Schwiegersohn Waldhühner schoß und Forellen fischte, wurde ärgerlich unsicher. Briefe gingen verloren oder erlitten, von Post zu Post nachgesendet, endlose Verspätungen. Er hatte die niederdrückende Empfindung, daß er aus seiner Kaste ausgestoßen, ein Paria, ein Höhlenschliefer geworden sei. Er mußte die Gasthöfe der guten Gesellschaft meiden. Jedes Schreiben seiner Mutter brachte ihm zum Bewußtsein, daß er ihr – und nun gar den Schwestern! – jetzt nicht vor die Augen treten könnte. Catherine war tadellos, wenn sie mit ihm allein war, und sie wünschte sich nichts Besseres, als immer mit ihm allein zu sein. Aber sein Argwohn, der, einmal rege geworden, nicht wieder einschlief, nahm häufig an ihr Anstoß, wenn sie im Bahnabteil, an der Wirtstafel, an Stränden, in Kasinos unter Leuten waren. Es kam zu Auftritten, er warf ihr Blicke und Haltungen vor, nicht einmal immer ihre eigenen, sondern die der anderen, und es verdroß ihn, daß er nichts zu erwidern fand, wenn sie klagte: »Aber Schatz, die Leute sind doch nicht auf den Kopf gefallen, sie sehen ganz gut, daß wir nicht verheiratet sind, und da nehmen sie sich leicht etwas heraus. Das ist doch nicht meine Schuld.«

Er fühlte sich vermindert und verkleinert. Inmitten der wechselnden Stadt- und Landschaftsbilder, die sechs Wochen lang an seinen Blicken vorüberzogen und ihn mit unmittelbaren, immer neuen Eindrücken genügend anregten, um kein Brüten aufkommen zu lassen, gab es doch ab und zu Augenblicke, namentlich wenn er mit Catherine Ärger gehabt hatte, wo ihm erschreckend deutlich wurde, wie sehr sich sein Gesichtskreis verengt hatte, auf welch niedern Plan sein ganzes Denken gesunken war. Die großen Probleme, die seit Jahren zu allen Stunden seinen Geist zu erfüllen pflegten: das Leben der Worte mit der Erhöhung und Erniedrigung ihrer Würde, der Wandel ihres Sinnes als fortlaufender Zeuge der feinsten Änderungen in den Gefühlen und Anschauungen der Zeit, die unbewußte Offenbarung der Volksseele auch in der individuellen Kunstdichtung, traten immer mehr in den Hintergrund seines Denkens und verdämmerten beinahe vollständig. »Du bist ein ungewöhnlich gewecktes kluges Ding, aber mich machst du entschieden dumm,« sagte er halb scherzend, halb bitter vorwurfsvoll zu Catherine und es tröstete ihn nicht, wenn sie erwiderte: »Ich lehre dich lieben, das ist doch die größte Klugheit und die vornehmste Wissenschaft.«

Mit der Zukunft sich zu beschäftigen mußte er streng vermeiden, wenn er nicht in die unbehaglichste Stimmung verfallen wollte. Die Vergangenheit zu berühren scheute Catherine sich ängstlich. So waren beide auf die Gegenwart allein angewiesen. Das bedeutete eine fast unerträgliche Einschnürung und Verödung des Denkens, das sich nur in den winzigen, kindischen Erlebnissen des Tages bewegen durfte. Es war nicht zu verhindern, daß das Gespräch an den länger werdenden Septemberabenden sich mitunter doch über diesen engen Bannkreis hinaus verirrte. Da machte Catherine schwermütige Andeutungen von einem Vater, der Gymnasiallehrer war, trunkfällig wurde und sein Amt verlor, von einer guten, lieben Mutter, die den Säufer von Mann und die vernachlässigten Rangen von Kindern ernähren mußte und dies nach anfänglichen tapferen Kämpfen mit allen Mitteln einer hübschen und anmutigen Frau tat, und wenn sie in ihren Erinnerungen so weit war, riß sie plötzlich den Faden ab und begann von Nationalfesten und Bällen und Theaterstücken zu plaudern, bei denen sie sich gut unterhalten hatte, und Rudolf sah in seiner Vorstellung grinsende Mohrenfratzen heraufkommen, vor denen ihm graute wie vor einem Spuk. War er es, der seine Kindheit und Jugend erzählte, so fühlte er es fast als anstößig, Mutter und Schwestern laut zu nennen, und er empfand deutlich, daß in diesen Bildern der Heimat für sie kein Platz war. Da fanden sich beide nach solchen Abschweifungen unversehens wieder bei den Hotel- und Kasino-Abenteuern einer versuchten Kellnerprellerei, eines verwechselten Strohhutes oder eines drolligen Nachbars im Gasthofomnibus oder schwärmten bestenfalls gemeinsam von der Schönheit einer bretonischen Heide mit einem Menhir neben einem Kalvarienberg.

Der Oktoberbeginn machte dem sorglosen, zuletzt nicht oft lustigen Schweifen ein Ende. Sie kehrten nach Paris in ihr altes Nest am Quai Conti zurück. Nun mußte er sich für etwas entscheiden. Der Gedanke, Catherine zu verlassen, war ihm so schmerzlich, daß er dabei nicht verweilen konnte. Andererseits wurden die Briefe der Mutter immer unruhiger, immer drängender, nicht am wenigsten auch darum, weil er um eine Erhöhung seines Wechsels bitten mußte, die bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit ging.

»Ich werde nicht umhin können,« eröffnete er Catherine nach der Ankunft in Paris, »auf einige Tage nach Hause zu reisen.«

Catherine wurde leichenblaß. »Warum?«

»Ei, das bedarf doch keiner Erklärung. Ich habe die Meinen seit einem Jahre nicht gesehen. Ich muß allerlei Angelegenheiten ordnen. Ich muß die Zustimmung meiner Mutter zu einer Verlängerung meines Aufenthaltes in Paris erlangen.«

»Und ich?«

»Du bleibst inzwischen hier. Ich werde nicht lange weg sein.«

»Rudolf,« sagte sie angstvoll, »du willst mich verlassen.«

Er zog sie an sich und küßte sie. »Närrchen, was fällt dir ein? Hältst du mich für so tückisch?«

»Dann nimm mich mit.«

»Unmöglich.«

»Weshalb unmöglich? Ich werde dich nicht stören. Du läßt mich in einem Gasthof und gehst zu den Deinen. Es genügt mir, wenn du täglich auf ein Viertelstündchen zu mir kommst.«

»Das ist ganz ausgeschlossen. Bonn ist nicht Paris. Meine Besuche würden keinen Tag lang geheim bleiben.«

»Gut. Dann besuche mich nicht. Ich bin schon zufrieden, wenn ich dieselbe Luft mit dir atme und dich von weitem sehe. Aber ich will in deiner Nähe sein.«

Er schüttelte mißmutig den Kopf, ging von ihr weg ans Fenster und starrte auf die Seine hinaus. Sie folgte ihm, umschlang ihn und begann bitterlich zu weinen. »Ich sehe, der schreckliche Augenblick ist gekommen. Sei offen gegen mich. Das ist die letzte Liebe, die letzte Gnade, die ich von dir erflehe.«

»Wie kannst du nur solches Wesen von einer kurzen Abwesenheit machen!« rief er ungeduldig und schob sie zurück.

Sie schluchzte heftiger. »Du kommst nicht wieder, wenn du von mir gehst. Ich weiß es. Man läßt dich nicht. Niemand wird für mich eintreten. Geh nicht weg von mir oder laß mich mitgehen. Oder sage: es ist aus.«

»Catherine, hast du mir nicht damals gesagt: Ich bin keine Krampe? Wenn ich das damals geahnt hätte –«

»Zanke mich nicht aus, Schatz,« sagte sie sanft, während sie die strömenden Tränen zu trocknen suchte. »Nein. Ich bin keine Krampe. Reise in Gottes Namen, wenn du mußt, und sei glücklich mit den Deinigen. Aber mich findest du nicht wieder. Suche mich gar nicht erst. Ich kann ohne dich nicht leben. Keinen Tag. Keine Stunde. Geh. Geh. Nur eins möchte ich: daß du dich manchmal mit einiger Liebe der kleinen Pariserin erinnerst, die dich geliebt hat, wie nie wieder ein Weib dich lieben wird.«

»Genug, genug,« brummte er, aber sein Entschluß hatte Sprünge bekommen und stürzte ein.

Es war ihm eine ungeheure Erleichterung, als wenige Tage nach ihm auch Jack in Paris eintraf und sich dafür entschied, wieder mit ihm in demselben Garni zu wohnen. Er kam nicht aus Schottland, sondern vom Rhein. Er hatte die Frau Geheimrat besucht und sie schwer besorgt gefunden. Sie hatte ihn beschworen, über Rudolf zu wachen. Sie wußte nichts, aber ihrem Mutterherzen schwante etwas. Sie war fest entschlossen, nicht zu dulden, daß ihr Sohn in Babel verderbe.

Er sagte Rudolf nicht, welchen Eindruck er von ihm empfing, er schien ihm aber erschreckend verändert. Er war nicht mehr der überschäumend frische, schwungvolle Junge mit den Wangen von Milch und Blut und den kühnen, lachenden Blauaugen. Er zeigte ein gedrücktes, verlegenes Wesen, schien träger zu denken und sprach langsamer. Er hatte keine gute Farbe und um Augen und Mund zeigte sich ein müder, unzufriedener Zug.

Catherine begrüßte Jack nett und zutraulich, aber im Innern war sie nicht froh, ihn wiederzusehen. Sie fühlte, daß Rudolf ihr entschwand, wenn er seinen alten Schotten hatte. Sie manövrierte schlau, um zu verhindern, daß er mit ihm allein sei, und um sie auf eine Viertelstunde abzuschütteln, mußte Rudolf ihr derb sagen: »Sei doch keine Klette. Jack hat mir vom Hause allerlei zu erzählen, was dich nicht interessiert.«

»Was nun?« fragte Jack, als Rudolf bei ihm eingetreten war und die Tür etwas heftig hinter sich zugeschlagen hatte.

»Ich habe mich entschlossen, noch ein Jahr in Paris zu bleiben. Ich habe es der Mutter geschrieben.«

»So! Du hast ohne Zweifel entdeckt, daß deine hiesigen Studien noch nicht abgeschlossen sind?«

»Ganz richtig. Zehn Monate waren wirklich zu wenig. Ich habe den Umfang meiner Arbeiten unterschätzt.«

Jack sah ihn ernst an und Rudolf schlug die Augen nieder.

»Armer Rudolf! Steht es so mit dir! Kindische Ausreden selbst mir gegenüber!«

»Erlaube –«

»Ich erlaube nicht. Die dumme Geschichte sollte bis zum Herbst dauern und dann wolltest du brechen. Statt dessen –«

»Was willst du? Es geht nicht. Lebende Menschen sind keine Schachfiguren und keine geometrischen Zeichnungen. Ich bringe es nicht übers Herz, sie von mir zu stoßen. Sie hat es nicht um mich verdient.«

»Aber Mensch! Bist du von Sinnen? Was kann sie dir sein?«

»Alles. Sie ist eine interessante Seele.«

»Höchstens ein interessanter Leib.«

Rudolf war bei Jack an keine Zynismen gewöhnt und errötete wie ein junges Mädchen. »Tritt ihr nicht nahe. Ich müßte es mir verbitten. Sie verdient jede Rücksicht. Selbst Achtung, denn es sind in ihr Anlagen zu allem Guten und Schönen vorhanden.

Der Gedanke hat für mich nichts abschreckendes, sie zur Genossin meines Lebens zu machen.«

»Rudolf! Und ihre Vergangenheit!«

»Du darfst sie dafür nicht verantwortlich machen. Und sie hat sie vergessen. Ich werde mir Mühe geben, mir gleichfalls eine Gedächtnislücke anzuerziehen.«

»Du würdest sie deiner Mutter, deinen Schwestern vorstellen?«

»Nach einer ausreichenden Probezeit, wenn sie sich dessen würdig zeigt –«

»Genug der Dummheiten. Ich habe deiner Mutter versprochen, dich ihr wiederzubringen. Ich werde Wort halten oder ich will nicht Jack MacIntyre heißen.«

»Ereifre dich nicht, Jack, du wirst mich ihr wiederbringen, mit Catherine. Ich kann, ich darf sie nicht verlassen. Ich bin für sie sittlich verantwortlich. Mein Gewissen würde mich anklagen, wenn ich – weißt du, daß es ihr Tod wäre?«

»Das sagt sie.«

»Zweifle nicht daran.«

»Und wenn auch! Du oder sie. Es ist der Fall der zwei Ertrinkenden, von denen man nur einen retten kann. Man muß wählen. Ich wähle dich.«

»Mache dich nicht lächerlich mit solchem Schwulst. Ich sehe nicht, wieso ich gefährdet bin.«

»Ich sehe es. Sie frißt dich auf, mit Leib und Seele. Sie ist eine hysterische Verwüsterin von Männerleben, die moderne Belit oder Astarte, die Menschenopfer fordert. Wenn sie behauptet, daß sie ohne dich nicht leben kann, so laß sie sterben.«

»Würdest du den traurigen Mut haben, an einem jungen, schuldlosen, liebenden Menschenkind zum Henker zu werden?«

»Nicht ich werde an ihr zum Henker, die Natur selbst besorgt dies. Sie scheidet einen gefährlichen Schädling aus. Die Unglückliche gehorchte einem heilsamen Trieb, als sie ins Wasser sprang. Du hast eine klare Absicht der Natur frevelhaft vereitelt.«

»Kratze den Freidenker und du entdeckst den Inquisitor.«

»Sie hat Männer in den Tod getrieben. Ich will dir ihre Geschichte erzählen.«

»Ich will nichts hören. Du bist ein Egoist mit steinernem Herzen. Genug von diesem Gegenstand.«

Jack mußte sich fügen, denn Rudolf griff nach der Klinke, als er fortfahren wollte, gegen Catherine loszuziehen.

Die Wirkung von Jacks heftigen Warnungen war merkwürdig verschieden von der, die er sich davon versprochen. Die Vorstellung von der Gefährlichkeit dieses süßen kleinen Wesens hatte einen aufregend prickelnden Reiz wie scharfes Gewürz. Sie schmeichelte ihm weit mehr, als sie ihn ängstigte. Seine Einbildungskraft, von jeher auf romantische Tonarten gestimmt, gefiel sich darin, bei dem dämonischen Zug in Catherinens Wesen deutend, vertiefend, ausgestaltend, mythenbildend zu verweilen. In seiner Seele wurden Anklänge an die Sagen laut, worin das uralte Grauen des Mannes vor der unheimlichen Gewalt des Weibes sich von jeher dichterisch ausgedrückt hat: die thebanische Sphinx, deren Tatzen dem Einfaltspinsel tötlich wurden, die Zauberin Circe, die den Hofmacher vertierte, die Elfenkönigin, die den Sterblichen nachts beglückte, um ihm beim Morgengrauen zu entschwinden und ihn als Greis zurückzulassen – all das geheimniste er ein wenig in Catherine hinein und er dachte sich dazu, daß die Sphinx ihren Ödipus und Circe ihren Odysseus und die Elfenkönigin ihren klugen Schäfer gefunden hatte, der sich in der Nacht ihres Rubinkrönleins bemächtigte und sie damit für immer an sich fesselte. Auch der Geist aus »Tausend und Einer Nacht« fiel ihm ein, den der Fischer aus der mit Salomonis Siegel verwahrten, ins tiefe Wasser versenkten Flasche befreit, der sich nachher unheilstiftend gegen seinen Befreier wendet und den dieser wieder in die Flasche bannt und ins tiefe Wasser zurückschleudert. Keine Bange! Er blieb Herr der Lage und seiner rätselhaften Freundin immer überlegen.

Das äußere Leben der beiden mußte sich jetzt ändern. Es ging nicht länger an, bis mittag im Bette zu bleiben, nachmittags spazieren zu gehen oder zu fahren, den Abend in Theatern oder Singspielhallen zu verbringen. Er mußte wieder auf Arbeit bedacht sein. Er bemühte sich zunächst, für seine altfranzösische Handschrift einen Verleger zu finden. Das kostete viel Lauferei und einen regen, weitläufigen Briefwechsel. Das Lesen der Korrekturabzüge, das dann folgte und das er mit peinlichster Sorgfalt ausführte, nahm gleichfalls viel Zeit in Anspruch. Da konnte er sich Catherine weit weniger widmen als sonst. Wollte sie mit ihm plaudern, während er am Schreibtisch saß, verwies er sie, nicht immer geduldig, zur Ruhe. Viele Stunden hintereinander zu lesen war sie nicht imstande. Sie langweilte sich und sagte es Rudolf.

Er begriff es. »Natürlich langweilst du dich. Du müßtest ja eine Auster sein, um dich bei ewigem Müßiggang nicht zu langweilen. Suche dich zu beschäftigen. Du hast ja arbeiten wollen.«

»Erlaubst du mir das?« fragte sie freudig.

»Warum sollte ich nicht?« gab er verwundert zurück.

Sie klatschte in die Hände und fiel über Rudolf her, um ihn mit Küssen zu bedecken. »Ich will mich gleich morgen umtun. In eine Werkstatt will ich nicht gehen. Denn ich kann nicht den ganzen Tag fern von dir sein. Ich hoffe, Arbeit nach Hause zu bekommen. Du sollst sehen, wie geschickt ich bin und wie viel Geld ich verdienen werde.«

»Um so besser. Es wird nicht schaden, wenn du dir deine Toilette erwerben kannst.«

Er hatte Catherine für den Herbst und Winter ausstatten müssen und dabei eine Vorstellung davon bekommen, was es selbst bei geringen Ansprüchen kostet, holde Weiblichkeit zu unterhalten. Ohne eine Zwangsanleihe bei Jack, die er aus seinen künftigen Wechseln zurückzuzahlen hoffte, war er seinen ursprünglichsten Pflichten des Besitzers einer schönen Freundin nicht gewachsen.

Rudolf konnte nicht erraten, warum Catherine so hocherfreut war. Sie erlangte ganz einfach, ohne Lockerung des Bandes, das Rudolf an sie knüpfte, ihre Freiheit wieder. Sie konnte wieder kommen und gehen, ohne Erklärungen geben zu müssen. Das war ihr ein Bedürfnis, das sich seit der Rückkehr aus der Bretagne bis zur Unerträglichkeit gesteigert hatte. Mit Rudolf allein zu sein war ihr eine Lust, wenn er sich ihr widmen konnte. Dagegen fand sie es tötlich, wenn er über seine Korrekturabzüge mit gekrümmtem Rücken wie ein Alter gebeugt war und stundenlang keinen Blick, kein Wort, keinen Kuß für sie hatte. Sie konnte so wenig still halten wie ein Spatz. Sie mußte flattern und sprudeln und zwitschern. Sie brauchte Bewegung und Lärm um sich. Auch Beachtung, Verlangen und Anfechtungen.

Und noch etwas anderes. Ihre Vergangenheit war nur für Rudolf tot, nicht auch für sie. Sie kroch wieder ganz sachte aus der Vergessenheit hervor und streckte dünne, zähe Saugarme nach ihr aus. Sie wollte wissen, ob ihre Alten noch lebten, ob der elende Papa nicht schon endlich an dem ersehnten Delirium tremens eingegangen war, ob ihre Schwester noch immer mit dem kleinen Schauspieler von den Bouffes du Nord lebte und von ihm täglich geprügelt wurde, und sie hatte auch eine verderbte, wonnevoll sündige Neugierde, was aus Cartaux, für sie der kleine Jacques, geworden war. Wirklich nichts als Neugierde. Denn sie liebte Rudolf mit ihrem ganzen Wesen und sie schüttelte sich bei dem bloßen Gedanken einer Untreue. Es drängte sie nur, zu erfahren, wie Jacques sich zu ihrem Verlust verhalten hatte. Sie wußte am besten, daß sie gegen ihn im Unrecht war. Sie hatte ihm zur Eifersucht Anlaß gegeben. Aber sie trug es ihm doch nach, daß er sie nicht zurückgehalten hatte, ihr nicht nachgeeilt war, als sie, von ihm mit dem Revolver bedroht, kaum bekleidet hinausstürzte, auf die Straße, in die Nacht, in den Tod... In den Tod aus Empörung darüber, daß er sie hatte laufen lassen. Nur darum? Oder auch aus anderen Gründen? Sie wußte es selbst nicht mehr. Jedenfalls war es sehr dumm. Und doch wäre es ihm ganz recht geschehen, wenn sie damals gestorben wäre; durch seine Schuld. Er war feige ausgerissen, als sie nicht wiederkam. Er fürchtete wohl, wegen ihres Todes Unannehmlichkeiten zu haben. Ob er schon wußte, daß sie nicht gestorben war, als er ihr im Luxembourggarten begegnete? Ob er überhaupt erfahren hatte, was in jener Nacht vorgegangen und nachher aus ihr geworden war? Ob er litt, wenn er sich erinnerte? Sie hätte das überaus gern gewußt, wie eitle Menschen viel darum geben möchten, ihren Nekrolog zu lesen.

Ihn wollte sie nicht sehen, sie fürchtete die Begegnung; aber einen seiner Freunde, mit denen auch sie vertraut verkehrt hatte; am liebsten den, der ihm am nächsten stand, den Interne. Sie suchte ihn in seinem Krankenhaus auf. Er war seit Beginn des Schuljahrs nicht mehr in der Charité. Der Pförtner wußte nicht, nach welcher Abteilung er versetzt war. Sie würde es bei der Armenverwaltung erfahren. Dort erhielt sie die Auskunft, daß er jetzt dem St. Louis-Krankenhaus zugeteilt war. Das war zu weit. Dorthin konnte sie nicht gehen. Denn allzu lang, halbe Tage wegzubleiben schien ihr doch nicht geraten. Sie ging in den Lesesaal des Louvre-Magazins und schrieb ihm, sie empfinde das Bedürfnis, ihn wiederzusehen und sich mit ihm einmal so recht vom Herzensgrunde auszuplaudern, er solle ihr postlagernd – sie gab Buchstaben und ein Postamt am Quai Malaquais an – mitteilen, ob er sie an einem der allernächsten Tage gegen drei Uhr im Antikensaal des Louvre, vor der Venus von Milo, erwarten wolle.

Ihre täglichen Ausgänge, von denen sie bisher allerdings, aus triftigen Gründen, noch keine Arbeit heimgebracht hatte, schienen ihr trefflich zu bekommen. Sie war nun dauernd vergnügt und zärtlich wie in ihren verliebtesten Stunden. Das Bewußtsein, ihre kleinen Geheimnisse zu haben, wirkte auf sie erregend wie Schaumwein. Rudolf bildete sich ein, es sei die Erlösung aus der Faulenzerei, was sie so froh, fast übermütig machte.

Catherine hatte ihm einmal, in der ersten Zeit ihrer Liebe, gesagt, eine Chiromantikerin habe aus ihren Handlinien trübe Geschicke herausgelesen; sie wisse, daß sie eine saturnische Natur sei. Der Ausdruck war ihr geläufig, denn sie war eine Leserin und große Verehrerin von Verlaine.

Sie war in der Tat eine saturnische Natur. Sie hatte kein Glück. Der Interne, dem sie geschrieben hatte, traf zufällig im Hofe der medizinischen Fakultät Jack, mit dem er seit der gemeinsamen Mahlzeit kameradschaftliche Beziehungen unterhielt.

»Was ich sagen wollte, lieber Herr Mac, sind Sie noch mit der kleinen Catherine?«

»Ich?!« rief Jack empört, während sein Gesicht purpurrot wurde.

»Na, na, ich wollte Ihrer anglikanischen Tugend nicht nahetreten. Ich glaubte –«

»Sie sind verrückt. Ich habe mit der kleinen Catherine nie etwas zu schaffen gehabt.«

»Um so schlimmer. Sie ist ein reizender Kerl. Ich würde es als Kompliment ansehen, wenn mich jemand im Verdacht hätte.«

»Wie kommen Sie auf diesen Unsinn?«

»Ich dachte, weil Sie sich vor einiger Zeit so lebhaft für die Kleine interessierten und weil sie dann vollkommen aus dem Umlauf verschwand. Sie scheint Heimweh nach dem Boul' Mich' zu haben. Wenigstens schreibt sie mir ungefähr in diesem Sinne.«

»Nein!« stieß Jack so laut hervor, daß der leichtblütige junge Mann ihn verwundert ansah.

»Wieso nein? Halten Sie mich etwa für einen Aufschneider?«

»Verzeihen Sie – ich meinte nur. Will die Kleine mit Ihnen anbändeln?«

»Ich weiß nicht. Ich wage nicht zu hoffen, obschon sie mir ein Stelldichein gibt.«

»Ei, ei. In ihrer Wohnung?«

»Nein. In ihrer überspannten Weise zu den Füßen der Venus von Milo. Ich glaube, sie will nur über mich zu ihrem Cartaux zurückgelangen.«

»Haben Sie den Brief bei sich?«

»Warum?«

»Könnte ich nicht einen Blick hineinwerfen?«

»Teufel auch! Ist das in England üblich?«

»Sie mißverstehen mich. Der Fall interessiert mich rein psychologisch und ethnographisch.«

Der Interne sah ihn scharf an, lächelte, drehte sich den Schnurrbart und verabschiedete sich von ihm. Jack gab eine Arbeit, die er vorhatte, auf und ging langsam nach Hause. Er kämpfte einen schweren Kampf mit sich. Seine natürliche Ritterlichkeit gebot ihm Schweigen. Sein Wunsch, Rudolf von der kleinen Hexe zu befreien, ließ es ihm als unabweisliche Pflicht erscheinen, dem Freunde den Verrat zu enthüllen, den Catherine plante oder schon begangen hatte. Denn daß ihm der Interne keinen Bären aufgebunden hatte, davon war er fest überzeugt.

Er fühlte sich gerechtfertigt, Rudolf die Augen zu öffnen. Er tat es ohne Übertreibung, doch ohne Schonung. Er wiederholte die Worte des Interne mit der Genauigkeit eines Zeugen, der unter seinem Eid aussagt.

Rudolf glaubte, ein Folterknecht reiße ihm das Herz vom Geäder los. Es war ein Schmerz, wie er ihn nie empfunden hatte. Zum Aufbrüllen. Zum Zusammenbrechen. Jack erschrak über den Ausdruck seines Gesichts und wollte ihm zureden, vernünftig zu sein. Rudolf bat ihn nur, ihn allein zu lassen.

Die Mitteilung überraschte ihn, während sich in ihm ganz still ein vollkommener Wandel der Hintergrunddekoration seines Lebensschauspiels vollzog. Angesichts der Schwierigkeit, Catherine in seine Familien-, Militär-, Gesellschaftsverhältnisse einzuordnen, machte er sich allmählich mit dem Gedanken vertraut, ihr zuliebe aus allen diesen Verhältnissen herauszutreten. Den Seinen war er nicht unentbehrlich. Eine Laufbahn tat sich ihm überall auf, wo es einen Lehrstuhl für Romanistik gab, auch im Ausland, selbst in Frankreich, wenn nicht gleich in Paris, dann an einer Provinzfakultät. Und mitten in der Arbeit der Anpassung an diese neuen Ausblicke flog eine Mine auf und legte den schimmernden Bau in wüste Trümmer.

Es war ein November-Nachmittag, der Himmel blaßgrau, der Quai mit den letzten welken Blättern der Straßenbäume bestreut, der Strom grüngelb und schlammgetrübt unter brauendem Nebel. Knapp vor Anbruch der Nacht kam Catherine von ihrem Ausgang heim und eilte wie gewöhnlich auf Rudolf zu, um ihm an den Hals zu fliegen. Er stieß sie zurück. Sie starrte ihn verblüfft an und bemerkte seine verzerrte Miene.

»Was hast du, Schatz?« stammelte sie, mitten in der Stube stehen bleibend.

»Die Komödie ist zu Ende, ich weiß alles, Verruchte.«

Wie ein Blitz schoß es ihr durch den Kopf: »Der postlagernde Brief ist ihm in die Hände gefallen!« Sie war nahe daran, die Geistesgegenwart zu verlieren, in die Kniee zu sinken, mit gefalteten Händen »Verzeihung! Gnade!« zu rufen. Da fuhr er fort:

»Du kommst wohl von deinem Neger. Gehe wieder zu ihm.«

Nein. Er konnte den Brief nicht haben. Wie wäre es auch möglich – Sie sammelte ihre Geister. »Rudolf! Was soll das heißen! Ich verstehe dich nicht! Du phantasierst!«

»Nochmals, ich weiß alles.«

»Was weißt du? Es gibt nichts zu wissen.«

»Leugnest du, daß du geheime Briefe wechselst?«

»Ich leugne es. Geheime Briefe? Mit wem?«

»Und die Rendezvous – am Fuße der Venus von Milo –«

Wieder wurde ihr schwarz vor den Augen. Aber sie machte eine neue Anstrengung. »Du träumst! Beweise!«

Wortlos schritt er zur Tür hinaus und kam gleich mit Jack wieder. »Die Elende leugnet. Sie verlangt Beweise. Sprich.«

Als Catherine Jacks ansichtig wurde, kam eine Wut über sie, die sie alles vergessen machte. »Ah! Dieser heuchlerische Clown ist der Angeber! Nichtswürdiger Spion! Verräter! Du treibst ein sauberes Handwerk. Was bekommst du dafür? Liest du das in deiner Bibel? Gleisnerischer Pastor! Hahnrei!«

Jack zuckte die Achseln. »Dein unflätiges Geschimpf,« sagte Rudolf zähneknirschend, »ist ein Geständnis. Geh! Ich will nichts mehr von dir wissen.«

Sie rutschte auf den Knien zu ihm und umfaßte ihn: »Rudolf! Ich flehe dich an! Höre mich an! Der Schein ist gegen mich –«

Er machte sich mit einer schroffen Bewegung los. »Geh. Ich bin mit dir fertig.«

»Rudolf! Wenn du mich wegschickst, so schickst du mich in den Tod!«

Er wandte ihr den Rücken. Da sprang sie auf, schrie gellend: »Du hast es gewollt!« und flog zur Tür, die sie wild aufriß. Es war in ihrem Schrei eine besinnungslose Verzweiflung, die ihn zwang, sich jäh umzukehren und einen Schritt zu ihr hin zu tun. Sie war aber schon draußen und auf der ersten Treppenstufe. Er wollte ihr nacheilen. Die Tür flog vor ihm ins Schloß, zwei eiserne Fäuste packten ihn und hielten ihn fest.

»Laß mich! Jack! Sie tut sich etwas an!« keuchte er und suchte sich loszureißen. Jack blieb stumm und drängte ihn von der Tür weg. Ein furchtbares Ringen begann zwischen dem Jüngling und dem reifen Mann, der bärenstarke Schotte bemeisterte aber den heftig erregten, fassungslosen Rudolf und schleuderte ihn in den Hintergrund des Zimmers zurück.

»Du bist ein Mörder!«

»Ich bin ein Retter,« sagte Jack tief atmend und stemmte sich mit dem breiten Rücken gegen die Tür.

Rudolf stand am Fenster. »Ah!« schrie er auf und suchte mit zusammengekrampften Händen die Flügel aufzureißen. Er sah sie im Zwielicht unten über den Straßendamm jagen – wie damals – und hinter der Quaibrüstung verschwinden – und im Nu einen großen Auflauf entstehen – und Leute hin und her rennen und gestikulieren – und Schutzleute laufen – wieder machte er einen Satz zur Tür, um hinaus zu gelangen, wieder schlug Jack seinen Angriff ab. Da brach Rudolf, obschon sonst nicht nervenschwach, zusammen und begann zu schluchzen wie ein kleines Kind....


Diesmal war niemand Catherine nachgesprungen. Mehrere Kähne waren losgetaut worden. Man hatte gerudert, gekreuzt und gestakt. Die Haken hatten aber nichts an die Oberfläche gebracht.

Jack suchte Rudolf alle qualvollen Berührungen mit der Polizei zu ersparen. Er erstattete die Anzeige. Er gab die Habseligkeiten ab. Er entführte ihn nach drei Tagen aus Paris, in die Heimat.


Weihnachten feierte Rudolf mit den Seinen. Die Mutter behandelte ihn wie einen Kranken, kaum Genesenden. An Jack hatte er seit der schrecklichen Minute nicht wieder das Wort gerichtet. Das hinderte Adele nicht, sich unter dem Christbaum mit ihm zu verloben; nicht aus Dankbarkeit allein, aber auch aus Dankbarkeit.


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