Max Nordau
Die Nixe
Max Nordau

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Das Geräusch, das jemand verursachte, indem er die Tür hastig öffnete und ohne Vorsicht eintrat, weckte Rudolf. Er fuhr auf und rieb sich die Augen. An der Tür stand die Pförtnerin. »Verzeihung –«

»Ah! Es ist wohl schon spät –«

»Zehn Uhr,« sagte die Frau und ließ erstaunt den Blick durch die genügend helle Stube wandern, in der die Kleider ihres Mieters zum Trocknen ausgebreitet umherlagen. Das Bett war leer, Jack ausgegangen.

»Teufel,« rief Rudolf. »Ich will schnell aufstehen.«

Die Frau machte keine Miene, sich zu entfernen.

»Wünschen Sie etwas, Madame Jeanne?«

»Das heißt – ich wollte sehen – Sie haben nicht wegen der Schokolade geklingelt und mein Mann hat Ihre Schuhe nicht vor der Tür gefunden. Und wir haben Sie doch heimkommen hören. Da habe ich bei Ihnen geklopft, aber keine Antwort bekommen. Das hat mich befremdet. Ich bin bei Ihnen eingetreten und da war – eine Dame –«

Sein Herz tat einige schnellere Schläge. Blitzgleich kam es ihm zum Bewußtsein, daß er erwartet, gefürchtet hatte, die Pförtnerin werde sagen: »und fand die Stube leer,« und daß er froh war, etwas anderes zu hören.

»Ja. Eine Bekannte. Wir sind uns zufällig im Theater begegnet. Sie wohnt draußen, auf dem Lande. Der letzte Zug war abgegangen. Da habe ich ihr Gastfreundschaft angeboten.«

Er erfand die Einzelheiten in dem Maße, wie er sie in erkünstelt gleichgültigem Tone zum besten gab; geläufig genug, um kaum zu stocken.

»Das ist nicht meine Sache,« erwiderte die Pförtnerin trocken. »Ich wollte nur sehen, ob Sie nicht etwa unwohl waren. Soll ich nicht Ihre Kleider zum Reinigen mitnehmen? Sie sind ja ganz naß! Hat es denn in der Nacht geregnet?«

Er blieb die Antwort schuldig. So viel sah er, daß sie von seiner Geschichte kein Wort glaubte. Um so schlimmer! Man war ja im Lateinischen Viertel.

»Wir wollen sie zuerst trocknen lassen. Ich ziehe andere Sachen an. Und nun bitte ich um meine Schokolade.«

»Auch für – die Dame?«

»Ich will sie zuerst fragen, was sie nimmt.«

Die Pförtnerin ging.

Er erhob sich rasch, fuhr sich nur mit dem benetzten Zipfel eines Handtuchs seines Freundes Jack über das glatte Gesicht, zwirbelte die Spitzen seines dunkelblonden Schnurrbärtchens ein wenig auf und trat in seine Stube.

Die Unbekannte lag noch im Bette. Sie lächelte ihm zu und streckte ihm mit einer anmutigen Bewegung des Kopfes die Hand entgegen. Sie zeigte keine Spur von Befangenheit und sah auch nicht niedergeschlagen aus. Sie schien sich wie zu Hause zu fühlen und über ihre Lage nicht im mindesten zu wundern. Sie blickte ihm voll ins Gesicht, aber er fand ihre großen, glänzenden braunen Augen nicht dreist und herausfordernd, sondern sanft, rührend zutraulich, leise bittend. Sie war mit ihrem reichen Rabenhaar, dem edeln Eirund ihres Gesichtchens, den auffallend starken schwarzen Brauen, dem feinen geraden Näschen, dem kleinen, etwas starklippigen Mund entschieden sehr verführerisch, viel hübscher, als er in der Nacht bemerkt hatte, und offenbar in der Blüte ihrer frischen Jugend.

Er nahm ihre kleine weiche Hand – es war keine Arbeitshand! – und behielt sie in der seinigen.

»Fühlen Sie sich wohl, – wie darf ich Sie nennen – Fräulein, nicht wahr?«

»Nennen Sie mich Catherine. Danke. Ganz wohl.«

»Haben Sie etwas geschlafen?«

»Vortrefflich. Ohne einmal zu erwachen. Erst Ihre Pförtnerin hat mich geweckt. Die gute Frau machte ein so verblüfftes Gesicht, als sie meiner ansichtig wurde! Sie scheinen nicht oft Damenbesuch zu empfangen.«

»Diese Unbefangenheit –« dachte er, aber sie ließ ihn zu längeren Betrachtungen keine Zeit.

»Haben Sie – keine – Freundin?«

»Aber – Fräulein-«

»Sie finden mich sehr indiskret?«

»Kann das Sie in diesem Augenblick wirklich interessieren?«

»Sehr.«

»Nun denn – nein; ich habe keine Freundin.«

Sie führte mit einer plötzlichen Bewegung seine Hand an ihre Lippen und drückte einen heißen Kuß darauf. Er zog sie rasch zurück.

»Und – Sie?«

»Was?«

»Haben Sie einen Freund?«

Sie setzte sich mit einem Ruck gerade, in ihren Augen blitzte eine Flamme auf und sie stieß heftig hervor: »Nein.«

Ihm wurde schwül. Im Widerstreit der Gefühle flüchtete er sich, wie natürlich, auf Gemeinplätze.

»Sie müssen hungrig sein?«

»Ja« sagte sie einfach.

»Was nehmen Sie? Schokolade oder Kaffee?«

»Schokolade, wenn es Ihnen gleich ist.«

Er trat rasch zum Kamin und schellte. Beide schwiegen, bis die Pförtnerin erschien. Inzwischen hatte er vom Tisch die ausgebreitete Wäsche weggeräumt, die sich kaum mehr feucht anfühlte.

»Schokolade, bitte,« sagte er der Pförtnerin, die an der Tür stehen blieb und mißvergnügt in die Stube blickte.

»Zwei?«

»Zwei, Madame Jeanne. Hierher, ja?«

Wieder schwieg er und ordnete weiter die Sachen des jungen Mädchens, bis die Pförtnerin den Tisch gedeckt, das Frühstück aufgetragen und sich zurückgezogen hatte.

»Wenn Sie aufstehen wollen, so gehe ich wieder einen Augenblick hinaus.«

»Darf ich im Bette frühstücken? Das ist zwar unartig, aber so bequem ....«

Er reichte ihr alles ins Bett und setzte sich selbst an den Tisch.

»Wie gut Sie sind!« murmelte sie und begann jetzt mit einem Behagen zu frühstücken, das sie nicht zu verheimlichen suchte.

Sie empfand anscheinend kein Mitteilungsbedürfnis. Er mußte also fragen, wenn er die Dunkelheiten der Lage aufklären wollte.

»Fühlen Sie sich genug erholt, um aufzustehen?«

»Aber gewiß!«

»Sehr wohl. Ihre Sachen sind trocken, bis auf die Schuhe und den Schlafrock. Wir hätten ihn auswringen sollen.«

»Um so schlimmer. Dann leihen Sie mir einstweilen Ihre Hausschuhe und einen Schal oder eine Morgenjacke.«

»So können Sie doch aber unmöglich über die Straße gehen?«

»Will ich auch nicht.«

»Ja – was gedenken Sie nun zunächst anzufangen?«

»Bin ich Ihnen sehr lästig? Wollen Sie mich sofort loswerden?«

»Das sage ich nicht,« erwiderte er in einem Tone, der eifriger klang, als er vielleicht beabsichtigte. »Aber Sie können doch nicht immer hier bleiben –«

»Warum nicht?«

Sie fragte das so natürlich, daß es ihm einen Augenblick die Rede verschlug.

»Aber – Fräulein –« stammelte er.

»Sagen Sie Catherine; wollen Sie?« bat sie mit einem halb schalkhaften, halb demütigen Blick.

»Ich verstehe nicht recht – Sie stehen doch wohl nicht ganz allein in der Welt – es muß doch jemand geben, der Ihretwegen in Sorge ist, der zur Polizei laufen wird, um zu erfahren, was aus Ihnen geworden ist –«

Sie hatte, während er sprach, wiederholt mit dem Kopfe kräftig »nein« geschüttelt. »Ich habe niemand. Ich schulde niemand Rechenschaft oder auch nur Auskunft über meinen Verbleib.«

Da er stumm blieb und zu Boden blickte, fuhr sie fort: »Ohne Sie läge ich jetzt wahrscheinlich in der Morgue, wenn ich nicht etwa zwischen Rouen und Havre schwämme. Auch darum hätte sich niemand gekümmert.«

»Arme Catherine! Sie werden wohl Ihre Gründe gehabt haben, weshalb Sie diese Nacht – den Unsinn machen wollten. Ich kann mir nicht recht denken, daß Sie es nur getan haben, weil Sie sich im Leben einsam fühlten –«

Sie schwieg hartnäckig.

»Sie haben scharfen Kummer gehabt – und solcher wird einem gesunden, jungen, schönen Mädchen nur von Menschen bereitet – die bloße Einsamkeit gibt nicht um zwei Uhr morgens den Entschluß ein–«

Sie war errötet, als er sie schön genannt hatte, und faßte wieder nach seiner Hand.

»Verweilen Sie nicht dabei, ich bitte Sie darum. Sie wollen mir doch gewiß nicht weh tun.«

»Nein, gewiß nicht. Ich habe übrigens kein Recht, Sie zum Preisgeben Ihrer Geheimnisse zu zwingen. Aber ich möchte wissen, was Sie nun vorhaben. Es ist nicht weit von Mittag, nachmittag muß ich unbedingt ausgehen und bis zum Abend müssen wir uns für etwas entschieden haben, denn ich kann nicht wieder die Gastfreundschaft meines Freundes in Anspruch nehmen.«

Ohne es zu merken, hatte er die Stimme ein wenig erhoben und seine letzten Worte klangen beinahe barsch. Über das Gesicht des Mädchens zuckte es, ihre Augen verschleierten sich mit hervorquillenden Tränen und sie sagte leise: »Seien Sie nicht böse. Zanken Sie mich nicht aus. Sie können mir die Tür weisen, aber bitte, tun Sie es mit Güte. Den Weg zur Seine kenne ich ja. Davon haben Sie sich überzeugt.«

Der Ton ihrer Worte ging ihm zu Herzen. Er streichelte ihr begütigend die feuchten Augen und die heißen Wangen. Sie schien nur auf diese erste zärtliche Annäherung gewartet zu haben, die er seiner bisherigen Zurückhaltung abrang. Ihre Arme flogen um seinen Hals, ihre Lippen brannten auf den seinen und ihm war, als trinke sie seinen Atem und sein Leben in großen, wilden Zügen auf–

Als er aus dem Rausche wieder zur Besinnung erwachte, blitzte ihm der Gedanke durchs Bewußtsein: »Ein Würfel ist gefallen. Mein Schicksal hat sich gewendet.« Er war darüber nicht froh; dazu war er nicht leichtfertig genug. Es reute ihn, daß er sich hatte überrumpeln lassen. Er fühlte sich nicht mehr als Herrn der Lage, wie noch vor einer halben Stunde. Die Seine-Nixe war ihm nicht mehr fremd und gleichgültig. Ihm schien, als dürfe er sie nicht mehr einfach abschütteln.

Catherine ihrerseits erkannte mit der unfehlbaren Sicherheit des weiblichen Instinkts, daß sie von dem jungen Manne Besitz ergriffen hatte. Ohne einen Augenblick zu verlieren, ging sie daran, sich in seinem Leben häuslich einzurichten.

»Wie heißt du?« fragte sie, ihren Kopf an seine Brust legend und zu ihm aufblickend.

Er nannte ihr seinen Namen.

»Du bist wohl ein Deutscher?«

»Ja. Du liebst wahrscheinlich die Deutschen nicht?«

»Du bist du. Die anderen sind die anderen. Du studierst hier?«

»Ja.«

»Bist du schon lange hier?«

»Zehn Monate.«

»Du sprichst vorzüglich französisch. Fast ohne Akzent. Bleibst du lang in Paris?«

»Noch fünf oder sechs Wochen.«

Sie stieß einen leisen Schrei aus. »Fünf oder sechs Wochen! So bald!«

Er schwieg, während seine Hand verliebt in ihrem losen Rabenhaar wühlte.

»Und – was gedenkst du dann zu tun?«

»In die Heimat zurückzukehren.«

»Zur Braut? Zu einem blonden Gretchen?«

»Zu meiner Mutter und meinen Schwestern. Zu meiner Pflicht.«

»Ah!« Sie entfernte seine nervöse Hand sanft aus ihrem Haar und behielt sie in der ihrigen. Nach kurzem Sinnen sagte sie: »Ich darf nicht klagen und dich um nichts bitten. Du wirst tun, was du mußt. Ich will nicht an die Zukunft denken. Mit welchem Rechte täte ich es auch? Ich war dem Tode verfallen. Es hat dir beliebt, mir neues Leben zu schenken. Ich darf nicht klagen, wenn ich mich deines Geschenks nicht lang erfreue. Aber es mag kurz oder lang dauern, um eins flehe ich dich an: schenke mir zu dem Leben auch etwas Glück. Mich hungert und dürstet danach. Ich habe es so wenig gekannt!«

Er zog sie fest an sich und küßte sie. »Was magst du in deinem jungen Leben erfahren haben, daß du so sprichst – und so handelst –«

»Frage mich nicht,« sagte sie sanft. »Es liegt hinter mir. Es liegt am Grunde der Seine. Ich habe keine Vergangenheit. Ich will keine haben. Ich verlange keine Zukunft. Laß mir nur die Gegenwart. Diese Stunde. Diesen Tag.«

In seiner Seele ertönte leise der Sang aus Lohengrin: »Nie sollst du mich befragen ....« Ihm war märchenhaft zumute in diesem Abenteuer von Tod und Liebe und Geheimnis. Allein in der wagnerisch orchestrierten Musik mittelalterlicher Romantik, die von seiner heißblütigen Jugend sehr modernisiert wurde, verzichtete der ehrbar erzogene, über den Augenblick hinauszudenken gewohnte Philister, der im Hintergrund seiner dichterisch gestimmten Seele bedächtig waltete, nicht ganz auf das Wort.

»Diese Stunde – diesen Tag – das sagt man wohl. Aber auf diesen Tag folgt ein anderer Tag und dann wieder ein anderer, man gewöhnt sich leicht an Glück und Wonne, und die plötzliche Ernüchterung nach dem Rausch muß furchtbar hart sein.«

»Vielleicht. Um so schlimmer.«

»Ich verstehe nicht, daß du dich mit dieser Aussicht so leicht abfindest.«

»Ich verschließe die Augen vor ihr.«

»Was soll ich nun mit dir anfangen?«

»Mich lieben.«

»Gewiß; das ist kein Opfer; aber wenn ich nach Deutschland zurückkehre –«

»Mach dir darum keine Sorgen, Geliebter. Ich verdanke dir mein Leben. Ich bin dein Eigentum, deine Sache. Du schaltest mit mir nach deinem Belieben. Du behältst mich so lange, wie du Freude an mir findest; du wirfst mich weg, wenn du von mir genug hast. Ich werde dir die Hand küssen und keinen Klagelaut hören lassen.«

Er versank in ein Nachsinnen, das von dumpfen Unlustgefühlen nicht frei war. Sie fühlte Zögern und innere Widerstände bei ihm und fuhr einschmeichelnder, inniger, verführerischer fort: »Du bist doch kein deutscher Eiszapfen. Du bist tapfer, du bist gut und du weißt zu lieben – warum bist du unentschlossen? Warum öffnest du mir nicht die Arme? Bin ich so abstoßend? Oder bist du um deine Freiheit besorgt? Ach, sei ruhig. Ich bin keine Krampe – ich klammere mich weder, an einen Menschen noch an das Leben. Ich werde dir nie zur Last sein.«

Er schloß ihr überwunden den Mund mit einem langen Kusse. »Ich habe dich nur als holde Last empfunden, als ich dich in meinen Armen hierher trug.«

»Nicht einmal eine holde Last will ich dir sein. Ich weiß nicht, ob du reich bist – Verzeihe, wenn ich diesen heikeln Punkt berühre – Ich bin kein Kind – Ich kenne das Leben ein wenig – Ich werde dich nichts kosten –«

»Wirst du wohl schweigen!«

»Nein, Geliebter. Laß mich reden. Ich bin eine geschickte Modistin. Ich verdiene mir reichlich mein Leben, wenn ich nur etwas Lebensmut habe und die Arbeit und alles mich nicht anwidert.«

»Ich bin nicht reich. Ich bin auf den Wechsel von meiner Mutter angewiesen. Aber es langt auch für dich, wenn du nicht anspruchsvoll bist.«

»Anspruchsvoll! O, Schatz! Du weißt nicht, was eine kleine Pariserin ist, die von ganzem Herzen liebt....«

Auf gut Glück! rannten ihm die erregten Sinne in die Seele. Schließlich: warum auch nicht? Er hatte ein Herrenrecht auf dieses entzückende junge Mädchen, das er sich mit Einsetzung seines Lebens erobert – jetzt stellte sich ihm sein recht harmloser Sprung in die Seine schon als lebensgefährliches Wagnis dar. Er hatte in Paris bisher zu den Füßen der keuschen Wissenschaft gesessen; es war doch schön, daß er nun auch zum üppigen Lebensfest zugelassen werden sollte, aus ihrem Freudenkelch einen tiefen Zug tun durfte. Weshalb sollte er sich diese köstliche Erfahrung versagen? Er brauchte keine Gewissensbedenken zu haben, wenn er das schöne Mädchen nach einigen Wochen verließ – sie sprach ihn ja im voraus von jeder Pflicht und Reue los – sie wollte es ja nicht anders haben. Er nahm dann aus Paris außer einem geschriebenen auch ein erlebtes Gedicht mit, eine wunderholde Erinnerung, die sein ganzes Philisterium durchduften sollte wie das kleine Riechkissen mit Veilchenwurzel den großen Wäscheschrank, an dessen Grunde seine Mutter es zu bewahren pflegte. Freilich – im Hintergrunde seines Bewußtseins dämmerten schattenhaft Bilder auf vom Hörselberg und von Venus, der süßen Teufelinne, und von dem jungen Sänger, der in ihrem Lotterschoße siech wird und um der Seelen Seligkeit kommt – aber wie konnten derartige halbdurchsichtige Nebelformen seine Aufmerksamkeit fesseln, die von dem vor seinen Augen, in seinen Armen blühenden jungen Leben beherrscht wurde?

»Du willst niemand ein Wort schreiben oder sagen lassen?«

»Niemand.«

»Aber du hast doch wohl irgendwo – Sachen – die dir gehören – die du holen mußt –«

»Ich werde sie holen.«

»Im Schlafrock?«

»Nein, Geliebter. Sorge dich nicht darum.«

»Soll ich es nicht –«

»Nein,« fiel sie ihm ins Wort; »mische dich in nichts.«

»Wo wohnst du eigentlich?«

»Bei dir, Schatz.«

Sie sagte das mit so drolliger Selbstverständlichkeit, daß er lachen mußte. »Ja wohl, aber ich meine – bisher?«

Er mußte lange auf die Antwort warten. Endlich erwiderte sie leise, ohne ihn anzusehen: »Erlasse mir, es dir zu sagen. Gib mir diesen ersten Beweis deiner Liebe.«

»Aber warum –«

»Verstehst du meine Empfindung nicht? Wenn du meine Wohnung weißt, wirst du dich erkundigen wollen – du sollst nicht. Ich habe dir schon gesagt – meine Vergangenheit ist begraben. Du sollst sie nicht aufdecken. Es ist nicht der Mühe wert. Für die paar Wochen, die ich dir gehören darf. Nimm mich, wie ich bin. Verlange nichts zu wissen. Es würde nur dir und mir Schmerz bereiten. Bist du erst wieder in Deutschland, vergißt du mich ja doch – also wozu?«

»Sonderbares Wesen!« murmelte er. »Kannst du mir wenigstens sagen, wie du heißt?«

Sie zögerte ein wenig. »Catherine Lefueur,« sagte sie dann.

»Ist das auch wirklich dein Name?«

Eine jähe Röte schoß ihr in die Wangen. »Ich lüge nie. Was ich nicht sagen will, das sage ich nicht.«

»Verzeihe. Nur eins noch. Bist du – deinen Eltern entlaufen?«

»Nein.«

»So! Du hast also nicht in deiner Familie gelebt. Aber sicher auch nicht allein?«

»Siehst du, Geliebter, nun fragst du doch. Und ich habe dich doch gebeten –«

»Gut, gut, wie du willst.«

Es war etwas wie ein leiser Unterton von Schmollen aus seiner Stimme herauszuhören und über sein Gesicht huschte ein Schatten von Unzufriedenheit. Es entging ihr nicht. Sie zog ihn an sich und sagte unter Liebkosungen: »Nun bist du mir böse. Ist es denn mein Verhängnis, daß ich kein ungetrübtes Glück gewähren kann? Ich möchte, daß du an mir nur Freude hast, nichts als Freude.«

»Und beginnst damit, daß du mir dein Vertrauen verweigerst und dich in Geheimnis hüllst –«

»Nicht aus Mangel an Vertrauen; um deiner Ruhe willen.«

Da er sich ihren Armen entwand, ließ sie ihn los, stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte: »Ich entgehe meinem Stern nicht. Du hast vielleicht recht. Jage mich weg. Es war ein Traum.«

Statt aller Antwort küßte er sie lang und heiß. »So sei es denn. Ziehen wir den Vorhang der Zukunft zu. Leben wir frohgemut in den Tag hinein. Ich habe das bisher nie gekannt. Versuchen wir es.«

»Danke, Schatz, danke,« jubelte sie auf. »Du weißt nicht, wie leicht das ist; und wie angenehm. Sicher hat man ja doch nur den Tag; nicht einmal die Stunde; die Minute. Sich um das weitere den Kopf zu zerbrechen ist unnütz und töricht.«

Inzwischen war es mittag geworden. Die wonnige Erregung, die seit zwei Stunden seine Sinne wie eine leichte Trunkenheit befangen hielt, hatte seine Wahrnehmungsfähigkeit für das wirkliche einigermaßen abgestumpft. Jetzt erzwang sich aber die nüchterne Prosa der Alltagsumstände doch den Einlaß in seine schwärmerisch gesteigerte Stimmung. Er war noch nicht gewaschen und angekleidet; Catherine auch nicht. Es mußte für das Mittagessen gesorgt werden. Gewöhnlich nahm er es mit seinem Freunde Jack in einer Studentenpension. Heute sollte er vergebens auf ihn warten. Er mußte bei der Pförtnerin etwas für Catherine bestellen, da sie doch nicht ausgehen konnte. Was Madame Jeanne wohl dazu sagen würde? Die Fabel von der zufälligen Begegnung im Theater, dem versäumten Zug u. s. w. war nicht mehr aufrechtzuhalten. Er schämte sich, daß er ihr ausdrücklich oder stillschweigend bekennen sollte, eine Unwahrheit gesagt zu haben. Und was dann noch kommen würde – wenn Catherine ihre Sachen irgendwoher brachte und in aller Form zu ihm zog, und wenn sein Freund Jack sie in dem neuen Verhältnis fand – unangenehm; recht unangenehm. Das Leben hat doch gar kein Stilgefühl, gar keine Achtung vor der Lokalfarbe! Wenn einem ein Märchen aufblüht, so soll es sich billig nach Märchengesetzen entwickeln. War ihm eine Nixe zugeschwommen, hatte sie ihn mit ihren weißen Armen umklammert und wollte nicht mehr in ihre unbekannte Grotte zu ihrem unbekannten Wasservolk zurückkehren, so sollten nun auch andere Nixen oder Elfen, Kobolde oder Wichtelmännchen seine Gasthofstube in einen Feenpalast umwandeln und ihm auf sein Händeklatschen zu Diensten stehen, daß er nur zu wünschen, zu befehlen brauchte, um alles zu haben, und daß ihm die Berührung mit der Menschenwelt erspart blieb –

Es war aber in Begleitung seiner Nixe kein einziger dienstbarer Geist erschienen und er mußte selbst der Pförtnerin klingeln und sie, ohne sich bei ihrer verdrossenen Miene aufzuhalten, fragen, ob sie ihnen nicht einen Eierkuchen, ein Hammelrippchen mit Kartoffeln, ein Stückchen Käse, ein Flasche Wein – »und schwarzen Kaffee«, fügte Catherine vom Bette her unbefangen hinzu – besorgen wolle, und nach dem Essen würde er mit Madame Jeanne ein Abkommen zu treffen haben und spätestens am Abend kam das Gespräch mit Jack –

Daran dachte er mit besonderm Unbehagen. Denn Jacks Urteil war ihm nicht gleichgültig und er war nicht im Zweifel, wie es ausfallen würde.

Jack MacIntyre war ein Schotte von der eigentümlich ernsten, strengen Anschauungsweise der Besten seines Volkes. Er war der Sohn eines sehr wohlhabenden Sollicitors in Glasgow und seinem Vater zusammen mit seinem Bruder in seinem Berufe gefolgt. Er hatte zu diesem keine innere Neigung, erfüllte ihn aber gewissenhaft und sicherte sich dadurch geschäftlichen Erfolg, der den ererbten Wohlstand zu Reichtum mehrte. Sein eigentlicher Hang war auf die Naturwissenschaften gerichtet und während er seinen Rechtsgeschäften oblag, erwarb er sich zuerst als Schmetterlingssammler, dann als wissenschaftlicher Systematiker in der Lepidopterologie Kenntnisse, die erheblich über die eines bloßen Liebhabers hinausgingen. Später wandte er sich auch der Anthropologie zu und wurde einer der Gründer der anthropologischen Gesellschaft für Schottland. Mit einer Verwandten sehr jung, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, verheiratet, lebte er mit ihr in ungetrübtem, ruhigem Glück, bis sie ihm nach achtzehnjähriger Ehe durch die Schwindsucht entrissen wurde. Von drei Kindern, die sie ihm geschenkt hatte, war eins im zarten Alter gestorben. Als er Witwer wurde, blieb er mit einer siebzehnjährigen Tochter und einem sechzehnjährigen Sohne zurück. Er widmete sich ihnen in selbstvergessender Treue drei Jahre lang, bis das Mädchen mit einem Schiffsreeder glänzend verheiratet und der junge Mann als Lehrling bei seinem Oheim eingetreten war, mit dessen ältestem Sohne er später die alte Firma weiterführen sollte.

Nun hatte er als guter Familienvater sein Haus gewissenhaft bestellt und fühlte sich frei, ohne Pflicht gegen andere. Er vertrug sich mit seinem Bruder wegen seines Anteils an der Firma und ging endlich daran, seine alte Sehnsucht nach ausschließlicher Hingabe an die Naturwissenschaften zu befriedigen. Er begab sich zuerst nach Bonn, wo er zwei Semester lang Anatomie und Physiologie hörte. Trotz seines bescheidenen Auftretens war er an der Hochschule eine stark bemerkte Gestalt: wegen seines Alters, das den flaumbärtigen Kommilitonen greisenhaft schien, wegen seines Rufes auf einem, wenn auch engen, wissenschaftlichen Sondergebiete, wegen seiner Wohlhabenheit, die ihm gestattete, die ihm von den Professoren und den vornehmsten Korps erwiesene Gastfreundschaft in ersten Gasthöfen häufig und stattlich zu erwidern, und wegen seiner Tüchtigkeit in mehreren Sports, namentlich im Kricket und im Rudern, in denen er sich den schneidigsten jungen Nacheiferern spielend überlegen zeigte.

Mit Rudolf Korte war er in dessen Verbindung bekannt geworden, in der er am frühesten hospitierte. Aus den flüchtigeren Beziehungen der Kneipe und Paukbude wurde ein inniger Anschluß, als er sich von seinem jungen Freunde in dessen Familie hatte einführen lassen. Die Frau Geheimrat behandelte ihn mit einer Zuvorkommenheit, die erraten ließ, daß ihre mütterliche Fürsorge in einem Altersunterschiede von fast vierundzwanzig Jahren zwischen dem stattlichen, reichen Schotten und ihrer ältesten kein Hindernis sah, gewisse Hoffnungen zu nähren und auf ihre Verwirklichung diskret, doch zielbewußt hinzuarbeiten. Auch Fräulein Adele Korte schienen Vorstellungen, in denen sie sich mit der Mutter begegnete, nicht zu mißfallen. Ohne im geringsten aus ihrer mädchenhaften Zurückhaltung herauszutreten, zeigte sie dem Freunde des Bruders Zuneigung und Vertrauen. Im Korteschen Hause umgab ihn eine Wärme, die ihm sehr behaglich war; aber er blieb gegen Adele immer väterlich. Der alternde Mann versagte sich das Recht, ein so junges Geschöpf in sein Leben aufzunehmen. Aber seine Charakterfestigkeit war in dem Maße, wie die Monde dahingingen, immer stärkeren Prüfungen ausgesetzt und sie hätte dem Zauber einer stillen, keuschen Mädchenneigung vielleicht nicht lange mehr widerstanden, wenn Rudolf nicht am Ende des Schuljahrs beschlossen hätte, auf zwei Semester nach Paris zu gehen.

Mr. MacIntyre erklärte sofort, dasselbe zu tun. Ihm, der keinem Brotstudium oblag, war es gleich, wo er arbeitete, und der Umgang mit dem hochbegabten, ideal gerichteten Jüngling ihm ein Herzensbedürfnis geworden. Eine gewisse Wesensverwandtheit zog sie zueinander hin. Jack war Freidenker von äußerstem Radikalismus und las allabendlich vor dem Einschlafen in der Bibel, wie er es seit der frühesten Kindheit gewohnt war. Rudolf lebte in mittelalterlichen Stimmungen und war gleichzeitig von kühnstem Modernismus durchdrungen. Jack verband ein großes Maß praktischer Klugheit, die durch umfassende Lebenserfahrung reich entwickelt war, mit einer eigentümlichen Zartheit der Empfindung, edelm, selbstlosem Erkenntnisdrang und einer tiefen Andacht für alles große und schöne, die ihm den Glauben ersetzte. Rudolf zeigte ein interessantes Gemisch von schwärmerischer Romantik und wohl ausgebildetem Sinn für die Forderungen der Wirklichkeit, der allerdings bisher bloß auf die Rüstung zu seinem Daseinskampfe gerichtet war. Sie waren mitunter beide heiter erstaunt, wie leicht sie sich an einem Treffpunkt begegneten, wenn sie in ihren Betrachtungen von ganz verschiedenen Voraussetzungen und Grundsätzen ausgingen.

Die Frau Geheimrat war recht enttäuscht, als Mr. MacIntyre seinen Entschluß ankündigte, Bonn zu verlassen, ohne auch nur hinzuzufügen, daß es bloß auf ein Jahr sei. Aber ihre Würde verbot ihr jede Anspielung, die eine Aufdringlichkeit gewesen wäre. Sie beschränkte sich darauf, ihm zu sagen, daß sie ihn ungern entbehre, daß ihr aber die Vorstellung angenehm sei, ihren einzigen Sohn in dem großen, verführerischen Paris gleichsam unter der Obhut eines zuverlässigen und erfahrenen Freundes zu wissen.

So war Mr. MacIntyre Rudolf gewissermaßen als Schutzgeist an die Seite gestellt. Er verkörperte für ihn die öffentliche Meinung des heimischen Kreises, sein gesellschaftliches Gewissen. Aus seinen mutigen blauen Augen blickten Mutter und Schwestern auf ihn. Bisher hatte er sie nicht gescheut. Für kleine Seitensprünge eines temperamentvollen Jünglings hatte Jack eine Nachsicht, die mit einer gewissen Geringschätzung gemischt war. Denn obschon er für seine Person Anhänger einer strengen Sittlichkeit war und vom Manne dieselbe Reinheit forderte wie von der Frau, nahm er doch in seinem Stammesstolze an, daß nur ein Schotte solche Selbstzucht üben könne, für einen Festländer jedoch, und wäre er auch sonst von vornehmer Gesinnung, dieses Ideal zu hoch sei. Ein richtiges Pariser Verhältnis dagegen würde sicher seine harte Mißbilligung erfahren. Diese Gewißheit war Rudolf sehr unbehaglich. Er sah aber keine Möglichkeit mehr, ihr zu entrinnen.


 << zurück weiter >>