Max Nordau
Die Nixe
Max Nordau

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III.

»Du mußt nachmittags ausgehen, hast du mir gesagt?«

»Ja, nach dem College de France und nach der Sorbonne.«

»Sehr wohl, Schatz; wenn du mir zwei Stunden läßt, bringe ich alles in Ordnung. Du findest mich wieder hier und dann weiche ich nicht mehr von deiner Seite, so lange du mich nicht wegstößt.«

Er nickte schweigend.

»Aber – du gehst wirklich weg?«

Er blickte sie verwundert an: »Warum zweifelst du?«

Sie zögerte ein wenig. »Ich meine – du beobachtest mich nicht aus einem Hinterhalt – du suchst mir nicht zu folgen –«

»Wofür hältst du mich?« rief er unwillig.

»Verzeihe – ich wollte dich nicht verletzen – du bist ein Menschenkind – neugierig sind wir ja alle –«

»Ein Deutscher hält, was er verspricht.«

»Ihr seid wirklich außergewöhnliche Menschen. Danke, Schatz.«

Er nahm sie in seine Arme, blickte ihr lange in die dunkeln Augen, küßte sie und entwand sich ihr mit sanfter Gewalt, denn sie ließ ihn nicht gleich los. Sie sah zu, wie er seine Ledermappe nahm, einige Bücher und Papiere hineinschob und nach seinem Hut griff. Erst als er schon an der Tür war, sagte sie leise und tief errötend: »Noch eins, Schatz – ich schäme mich so – aber du begreifst – ich habe nichts mitgenommen –«

»Du brauchst etwas Geld?«

»Ein paar Sous – Ich glaubte ja nicht, daß ich noch etwas nötig haben würde – ich gebe sie dir auch gleich wieder, wenn du nach Hause kommst –«

»Närrchen. Genügt das?« Er reichte ihr ein Fünffrankenstück. Sie sagte nichts, sondern küßte ihm die Hand und den Mund und murmelte: »So. Nun gehe, Schatz, gehe ...«

Von den beiden Vorlesungen dieses Nachmittags nahm Rudolf nicht viel mit heim. Sein Geist war nur damit beschäftigt, sich der letzten Stunden zu erinnern und sich die nächsten auszumalen. Mehr als einmal erwachte er plötzlich wie aus einem Traum zu den Worten des Professors, wurde sich seiner Gedankenflucht bewußt und fragte sich: »Was mache ich hier? Warum gehe ich nicht heim, zu ihr?« Aber der kleine Saal war sehr schwach bevölkert, jeder einzelne Hörer stand voll unter dem Blicke des Professors und Rudolf scheute sich, die Empfindlichkeit des verehrten Meisters durch unziemliches Wegschleichen mitten im Vortrag zu kränken. Sobald er es indes mit Anstand tun konnte, eilte er weg, ohne an der anregenden zwanglosen Unterhaltung teilzunehmen, die wie immer dem förmlichen Vortrag folgte.

Als er in seinem Gasthof die Treppe hinaufhastete, öffnete die Tür der Pförtnerstube sich rasch und der Pförtner – diesmal nicht Madame Jeanne, sondern Monsieur Victorien in Person – rief ihm nach: »Monsieur Korté! Monsieur Korté!«

Rudolf blieb stehen: »Was gibt es, Monsieur Victorien?«

Der Pförtner trat zu ihm, lüftete das würdige Samtkäppchen zum Gruße und sagte mit Richterernst: »Verzeihen Sie, daß ich Sie aufhalte, Monsieur Korté; darf ich Sie bitten, einen Augenblick bei mir einzutreten?«

Rudolf folgte dem Manne mit dem achtunggebietenden Backenbart etwas begossen. Er hatte kein gutes Gewissen. Er suchte sich indes Haltung zu geben.

Monsieur Victorien bedeutete Madame Jeanne mit einem Blick, hinauszugehen, und als sie allein waren, hob er feierlich an: »Herr Korté, es tut mir leid, daß ich einen heikeln Gegenstand berühren muß. Die Dame – von heute Nacht – ist in einem sonderbaren Aufzug, in einem Schlafrock und ohne Hut, weggefahren – in einer Droschke, die wir ihr besorgen mußten – schon das war recht unangenehm – der Kutscher hat Augen gemacht – und die Vorübergehenden – die Nachbarschaft wird klatschen – Sie begreifen, Herr Korté –«

»Ich begreife, Monsieur Victorien.«

Die Ruhe und der hochmütige Ton seines jungen Mieters ärgerten den Pförtner sichtlich.

»Nun ja. Und dann ist sie mit ihrem Koffer und ihren sieben Sachen wiedergekommen und hat sich bei Ihnen eingerichtet, obschon wir ihr vorgestellt haben, daß wir in Abwesenheit des Mieters keine Fremde in sein Zimmer einlassen können. Sie hat uns aber nur ins Gesicht gelacht, die – Dame.«

»Ich hoffe, sie hat es an der gebührenden Höflichkeit nicht fehlen lassen. Jetzt ist ja übrigens alles gut.«

»Verzeihen Sie, Herr Korté – hat die – Dame etwa die Absicht, hier zu bleiben?«

»Es scheint.«

»In diesem Falle, mein Herr, tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß dies nicht möglich ist. Unser Haus ist dafür bekannt, daß es gut gehalten wird. Wir können bei uns keine Unordnung dulden.«

Rudolfs Antlitz überzog langsam dunkle Röte. Die Unterredung nahm eine sehr unangenehme Wendung. Seine erste Bewegung war, dem unverschämten Hausknecht, der ihm mitten im Heidentum des Lateinischen Viertels eine Komödie von ehrbarer Zucht vorgaukeln wollte, sehr schroff zu antworten. Er sagte sich indes rasch, daß es klüger war, einen Zusammenstoß zu vermeiden.

»Hier herrscht offenbar ein Mißverständnis,« bemerkte er scheinbar leichtblütig; »die Dame ist eine alte Freundin, sie steht allein, sie will sich in meinen Schutz begeben. Sie soll ja nicht etwa das Zimmer mit mir teilen – sie möchte nur hier im Hause eine Stube mieten, um in meiner Nähe zu bleiben.«

»Ich bedauere, Herr Korté; das geht nicht.«

»Wie? Ist keine einzige Stube frei?«

»Wir vermieten nicht an einzelne junge Damen.«

Das war so fest und unliebenswürdig gesagt, daß Rudolf ohne ein Wort die Pförtnerwohnung verließ und auf seine Stube ging.

»Endlich!« rief Catherine, als er die Tür öffnete, und flog ihm entgegen. Nach einer stürmischen Umarmung zog er sie ans Fenster, hielt sie auf Armeslänge von sich und betrachtete sie lange, innig, mit augenscheinlich wachsendem Entzücken. Sie hielt lächelnd und errötend still. Ihr Trieb sagte ihr, daß sie bei dieser schweigenden Prüfung, die zu einer trunkenen Versenkung in ihre Reize wurde, nur gewinnen konnte.

Sie hatte sich schön gemacht. Ihr zierliches Persönchen steckte in einem hellen Sommerkleid mit Spitzenkragen um Brust und Schultern. Das Rabenhaar, zu einem Zopf geflochten, war auf dem Scheitel wie zu einem dunkeln Krönlein zusammengerollt und mit einem geperlten Kamm aus Schildplattnachahmung gehalten. Um ihren Hals glänzte ein dünnes Goldkettchen und eine art nouveau-Brosche, am linken Arm trug sie ein Kettenarmband. Sie hatte ihren ganzen armen Grisettenschmuck angelegt. Auf dem Tische lag ihr Hut, ein großer flacher Strohdeckel mit Flitteraufputz, Seidenflorbausch und künstlichen Vergißmeinnichtsträußchen, zwischen einem braunlakierten Körbchen und einer hohen weißen Pappschachtel. Auf dem Kanapee stand ihr Kofferchen, ein kleines, dürftiges Kofferchen, das bestenfalls nur einige Lappen enthalten konnte.

Wie um einer Frage zuvorzukommen, sagte sie: »Da bin ich, Schatz; mit meiner ganzen Habe. Du siehst, wir nehmen dir nicht viel Platz weg.«

»In der Tat. Aber –« er zögerte ein wenig – »man gönnt dir nicht mal dieses bischen Platz.«

»Wieso?«

»Der Engel mit dem feurigen Schwert aus der Pförtnerstube will dich nicht in diesem Paradiese dulden.«

»Um so besser,« erwiderte sie lebhaft, »um so besser. Er machte schon solch ein Gesicht, als ich ging und kam – es ist mir viel lieber, mit dieser Kratzbürste nicht in Berührung zu kommen.«

»Es bleibt also leider nichts übrig, als eine Wohnung zu suchen – noch heute – denn ich möchte von dem Menschen keine neuen Bemerkungen zu hören bekommen –«

»Warum leider? Mir ist es ganz recht. Mir graut vor dieser Straße, diesem Viertel. Weg, weg, so weit weg, wie es deine Bequemlichkeit irgend erlaubt. Ich werde erst wieder froh sein, wenn ich diese Gegend nicht mehr vor mir sehe. Komm, Schatz. Laß uns keine Zeit verlieren. Ich will dir einpacken helfen.«

»Mir? Einpacken? Du willst, daß ich –«

Ihre Wangen verfärbten sich, sie blickte ihn mit weitgeöffneten starren Augen an, ihre Stimme zitterte, als sie langsam sagte: »Bin ich dir so schnell leid geworden? Ist der Traum zu Ende, ehe er begonnen hat?«

»Ich habe diese Schwierigkeit nicht vorhergesehen –«

»Welche Schwierigkeit?«

»Ich kann doch nicht Knall und Fall ausziehen –«

»Warum nicht?«

»Ich wohne auf vierzehntägige Kündigung.«

»Dann kündige sofort und laß uns gehen.«

»Die Miete läuft aber bis Ende des Monats –«

»O, Rudolf – so jung – so schön – so stolz – und so kleinlich? Ist die deutsche Seele so?«

Er schämte sich. Es war wirklich eine philiströse Regung, auf eine lieblich sonnige Idylle den Schatten einer Sorge um dreißig Franken fallen zu lassen.

»Erlaube –« stotterte er, »du mißverstehst mich – wenn ich ausziehe – so muß ich es doch nach Hause melden – man wird nicht begreifen, daß ich wegen der paar Wochen –«

»Ta – ta – ta –« sagte sie schalkhaft lächelnd, setzte sich ihm auf den Schoß und küßte ihn zärtlich. »Du bist ja die reine Konfirmandin. Deiner Schüchternheit muß ich furchtbar verwegen scheinen. Daß du nach einem Jahr noch so wenig Pariser geworden bist! Was hast du eigentlich alle die Zeit getan?«

Nichts Nennenswertes – sie hatte vielleicht recht – staubige Bücher wälzen, das hätte er schließlich auch in einer deutschen Bücherei können. Den Pariser Rhythmus des Lebens spürte er erst jetzt in den Nerven. Er gab sich ihm hin.

»Nun gut. Wir wollen Wohnung suchen.«

Sie stieß einen kleinen Freudenschrei aus, sprang von seinem Schoß auf ihre Füße und langte rasch nach ihrem Hute.

»Nur noch einen Augenblick, mein Kätzchen. Ich will sehen, ob mein Freund zu Haus ist. Ihn muß ich doch verständigen.«

»Tu, was du mußt, Schatz.«

Es waren nur einige Schritte bis zu Jacks Tür, aber die kurze Strecke schien Rudolf überaus schwer gangbar. Es war, als ginge von dieser Tür eine starke Abstoßungskraft aus. Er mußte eine ernste Anstrengung machen, um den Drang zu überwinden, eine der förderlichen entgegengesetzte Richtung einzuschlagen. Er schalt sich innerlich aus. Mußte er in diesem Augenblick der Probe entdecken, daß er, der freie, junge Mann, der Dichter, bereits genug in spießbürgerlicher Ehrbarkeit versauert war, um sich vor einem Manne, einem Freunde, eines lenzpoesieumwobenen fröhlichen Abenteuers zu schämen? Nicht gezögert! Vorwärts!

Auf Rudolfs Anklopfen antwortete ein dröhnendes »Herein«.

»Ah!« rief Jack seinem eintretenden Freund entgegen; »du bist ja nicht zum Frühstück gekommen? Hast wahrscheinlich mit deiner Geretteten Scherereien gehabt?«

Rudolf nickte leicht.

»Nun, wie ist denn die Sache ausgegangen?«

Rudolf zwang sich, in leichtem Tone zu antworten: »Ich muß mich sofort auf Wohnungssuche begeben. Ich ziehe noch heute aus.«

»Wa–as?«

»Der Pförtner will nicht an Catherine vermieten – sie heißt Catherine – und so bleibt mir nichts übrig ...«

»Mensch – du bist von Sinnen – du willst doch nicht –«

»Ich kann nicht anders. Höre mich doch ruhig an, ohne aufzubrausen. Wenn dir in der Nacht auf dem Heimweg ein verirrter, herrenloser Hund zulaufen würde, du hättest nicht das Herz, ihn wegzujagen, nachdem du ihn gestreichelt und er dir die Hand geleckt und dich umwedelt hätte. Und ich soll ein schönes, junges Menschenkind herzloser behandeln als einen Köter?«

Jack hörte mit hart geschlossenem Munde und finsterm Blick zu. »Ich verstehe dich nicht. Willst du sie heiraten?«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Also eine Boul'Mich'-Spatzenehe?«

»Auf sechs Wochen.«

»So. Und zu einer solchen Liederlichkeit willst du hinabsinken?«

Rudolf lachte gezwungen. »Laß doch das Predigen, Jack.«

»Wie kannst du nur so leichtsinnig sein? Hast du dir denn klar gemacht, worauf du dich einläßt? Man weiß, wie solche Geschichten anfangen, aber nie, wie sie aufhören.«

»Doch, doch. Ende Juli muß ich nach Hause. Der Schluß der Dichtung ist also gegeben.«

»Wirklich! Und du denkst, du wirst dich nach sechs Wochen der Lotterei freimachen können, wenn du es nach einer Bekanntschaft von einigen Stunden nicht mehr kannst? Du bist im Begriff, eine furchtbare Dummheit zu machen. Ich lasse es nicht zu.«

»Du kannst es nicht verhindern.«

»Aber ich kann es deiner Mutter schreiben.«

»Das wirst du nicht tun!« rief Rudolf erbleichend. »Dazu hast du kein Recht.«

»Man hat immer das Recht, einen Freund vor dem Ertrinken zu retten. Du hast gestern Nacht auch nicht nach deinem Recht gefragt, als du dir deine Freundin aus der Seine fischtest. Aber wer ist sie denn?«

»Ich weiß nicht.«

»Fabelhaft. Hast du sie nicht gefragt?«

»Doch. Aber sie zieht vor, über sich und ihre Vergangenheit zu schweigen.«

»Weshalb ist sie denn ins Wasser gesprungen?«

»Das will sie nicht sagen.«

»Und du willst mit einer unbekannten Abenteurerin zusammenziehen, wahrscheinlich mit einer gewöhnlichen Kundin von Bullier, und willst dir von ihr das Leben zerrütten lassen?«

Rudolf faßte Jack am Arm. »Komm. Sieh sie doch wenigstens, ehe du sie verurteilst.« Er zog ihn rasch mit sich fort und Jack setzte keinen Widerstand entgegen.

»Mein Freund MacIntyre, der mir diese Nacht Gastfreundschaft gewährt hat,« sagte Rudolf vorstellend, als er mit Jack in seine Stube trat.

Catherine erhob sich vom Kanapee und errötete tief. Das entging Jack nicht und machte einen guten Eindruck auf ihn. Eine gewöhnliche Bullier-Pflanze war sie doch wohl schwerlich ... Er verneigte sich leicht. Der ältliche Mann mit dem strengen Gesicht und den ernsten Augen schüchterte sie ein. Es überkam sie eine unbestimmte Furcht, daß hier ein gefährlicher Gegner vor ihr stehe. Sie zwang sich indes, ihm die Hand, wenn auch zögernd, entgegenzustrecken und, wenn auch etwas zaghaft, zu sagen: »Die Freunde unserer Freunde –«

»Bitte, sitzen Sie, Fräulein,« sagte Jack, ohne sein Auge von ihr zu wenden. Seine Aussprache hatte die Wirkung, Catherine die volle Sicherheit wiederzugeben. Ihrem Ohr einer schalkhaften Pariserin klang sein Französisch wie das eines Zirkusclowns und mit der bangen Scheu vor dem Richter war es vorbei. Sie fühlte sich ihm überlegen; wenigstens in einem Punkte. Überdies erriet sie hinter seiner Zurückhaltung und Fremdheit eine geheime Väterlichkeit, ein gewisses mürrisches Wohlwollen, die sie beruhigten.

Die Lage war eigentümlich heikel und setzte Jack in Verlegenheit. Er räusperte sich. »Sie – Sie haben – einige bewegte Stunden hinter sich, Fräulein.«

»Um so mehr freue ich mich, daß ich jetzt bei unserm Freund Ruhe und Glück finden werde,« erwiderte sie und zog die Hand Rudolfs, der an ihre Seite getreten war, zu den Lippen.

»Schlagfertig,« dachte Jack, der von seinem frühern Berufe her für gewandte Gegenrede besondere Schätzung hatte.

Rudolf beobachtete still. Er kam sich einigermaßen wie ein Hypereides vor, der Phryne vor den Archonten durch ihre Reize verteidigt. Es entging ihm nicht, daß der Schlich des schlauen attischen Rechtsanwalt noch immer zum Ziel führte.

»Vorher steht Ihnen aber noch das Ungemach eines Umzugs bevor,« meinte Jack.

Ein reizendes Lächeln öffnete leicht ihre kirschroten Lippen. »Das ist wirklich nicht der Rede wert, ein Garni gegen ein anderes zu vertauschen. Wir verlassen doch kein Stammschloß, um in die Verbannung zu ziehen.«

»Willst du uns suchen helfen?« fragte Rudolf heiter.

»Ach was – ich würde nur stören,« erwiderte Jack stirnrunzelnd.

»Ich bedaure nur,« bemerkte Catherine sanft, »daß ich zwei Freunde trenne.«

»Das ist eine gute Bewegung, Schatz. Wie wär's, Jack, wenn du mitkämst?«

»Unsinn,« brummte der Schotte.

»Warum Unsinn? Es wäre so schön, wenn wir zusammenblieben. Schon wegen meiner Leute zu Hause. Wenn wir beide zugleich umziehen, wird man mich kaum nach dem Warum fragen.«

Jack zuckte schweigend die Achsel, reichte Catherine die Hand und wandte sich zur Tür.

»Sie werden mich hoffentlich nicht als Hindernis betrachten, Rudolf in der neuen Wohnung zu besuchen?« fragte Catherine einschmeichelnd.

»Nein,« erwiderte Jack kurz und ging.

Rudolf folgte ihm in den Gang hinaus. Er sagte nichts, aber sein Blick fragte gespannt: »Nun?«

»Ein niedliches Ding,« knurrte Jack, während er langsam nach seiner Wohnung hinschritt; »gewiß. Jung, hübsch, nicht dumm – sie hat alles, was nötig ist, um das Leben eines jungen Narren zu verwüsten.«

»Verwüsten! Schäme dich, du Sauertopf.«

»Verwüsten,« wiederholte Jack mit Nachdruck. »Laß dich warnen. Wenn du auf diesen Leim gehst, bleibst du kleben und suchst dich später umsonst loszumachen.«

Rudolf lächelte vor sich hin. Der Gedanke, daß Catherine eine Gefahr sein könne, schien ihn zu belustigen.

»Könntest du mir wirklich raten, daß ich das arme Kind mit einem Fußtritt von mir stoßen soll?«

»Es ist ein Kniff, um dich selbst zu betrügen, daß du diesen brutalen Ausdruck wählst. Du schuldest ihr nichts und sie schuldet dir ihr Leben.«

»Das ich ihr gegen ihren Willen aufgenötigt habe und wofür ich nun verantwortlich bin.«

»Da haben wir deine deutsche Sentimentalität. Du kommst dir jetzt sehr edel und gütig vor; es ist aber nur Charakterschwäche. Du hast nicht den sittlichen Mut, eine notwendige Härte zu üben. Wenn du wirklich gut sein willst, so bestehe darauf, ihre Geschichte zu erfahren. Sie soll dir sagen, was ihr Kummer ist oder war. Weigert sie sich, so zeigt sie hinreichend, daß du ihr nichts bist. Eine fremde Person, die mit dir Versteckens spielt, die ihr Leben vor dir verbirgt, kannst du getrost laufen lassen. Hat sie dagegen Vertrauen, nun, dann suche ihr zu helfen. Versöhne sie mit ihren Leuten, wenn sie mit ihnen entzweit ist. Unterstütze sie, wenn sie in der Not ist. Dabei will auch ich dir gern an die Hand gehen. Führe sie mit Rat und Hilfe auf den rechten Weg zurück. Aber bringe sie um alles in der Welt von hier weg und ziehe deinen Kopf aus der Schlinge.«

»Wie kann man so prosaisch sein!« rief Rudolf unwillig. »Seid ihr Schotten denn wirklich jedes Schwunges unfähig?«

»Natürlich. Du kommst dir sehr schwungvoll und sehr poetisch vor, gegen mich beklagenswerten flachen Philister. Mein armer Rudolf, was dir dichterischer Schwung scheint, das ist nur krasse Selbstsucht eines Sinnesmenschen. Du glaubst um das Wohl des jungen Mädchens besorgt zu sein und denkst in Wirklichkeit nur an dein eigenes Vergnügen.«

»Das ist falsch,« erwiderte Rudolf um so erregter, als er im Innersten von der unerbittlichen Zergliederung seines Freundes betroffen war.

»Nein. Das ist richtig. Aber ich will zugeben, daß es dir nicht klar ist. Ich sehe die Sache eben als sechsundvierzigjähriger Mann, als Schotte, als Familienvater an und du siehst sie als vierundzwanzigjähriger Bursche ohne Verantwortlichkeit und mit festländischen Denkgewohnheiten an. Ich kann nicht hoffen, dich jetzt zu überzeugen. Aber ich möchte, du hättest genug Freundschaft, um mir blind zu folgen. Das wäre dein und des Mädchens Heil.«

Catherine hatte inzwischen das deutliche Gefühl, daß die da draußen über ihr Los verhandelten. Als ihr die Erwartung zu langwierig wurde, konnte sie ihre Ungeduld nicht bemeistern, öffnete die Tür und steckte den Kopf in den Gang hinaus. Jack wurde ihrer ansichtig, drückte Rudolf die Hand und ließ ihn mit den Worten stehen: »Was ich denke, weißt du nun. Wenn du kannst, unterlasse die größte Dummheit deines Lebens, so lang es noch Zeit ist.«

Es war nicht mehr Zeit. Als Rudolf wieder in seiner Stube war, umarmte Catherine ihn stürmisch und blickte ihm forschend, bittend, angstvoll in die Augen. Er verstand die Frage und zog sie statt aller Antwort fest an seine Brust.

»Mein!« jauchzte sie auf.

»Dein,« erwiderte er leise.

Wenige Minuten später sah Jack sie aus seinem Fenster Arm in Arm die Seine entlang in der Richtung zum Pont Neuf dahinschreiten. »Dummkopf!« stieß er unwillkürlich halblaut hervor, aber dem harten Wort entsprach innerlich bekümmerte Teilnahme und das Gefühl, daß er es der Mutter und Schwester Rudolfs schuldete, ihn nicht ganz die schiefe Ebene hinabgleiten zu lassen, die in seiner Vorstellung sehr weit abfiel, bis in die gefährlichsten Sümpfe und Abgründe.

Wer war das Mädchen, das die Verwirrung in Rudolfs geordnetes Leben trug? Die Gewohnheiten seines frühern Berufes nahmen wieder von ihm Besitz. Als Sollicitor hatte er oft nicht umhin können, auch ein wenig Detektiv zu sein, um künstlich verdunkelte Tatbestände aufzuklären. Er wollte auch in diesem Falle herausbekommen, was die Unbekannte verbergen zu wollen schien.

Es dauerte nicht allzu lange, da war das Pärchen wieder im Hotel und Rudolf kam zu seinem Freunde, um sich von ihm zu verabschieden und ihm die neue Adresse am Quai Conti mitzuteilen.

»Wie heißt deine Freundin eigentlich?« fragte Jack scheinbar gleichgültig, während er sich Rudolfs Wohnung aufschrieb.

»Catherine Lefueur,« antwortete Rudolf arglos.

Damit war ein Ausgangspunkt für Jacks Nachforschungen gegeben.

Sie ließen sich anfangs leicht und verheißungsvoll an. Monsieur Victorien, verletzt von der Schroffheit, mit der sein Mieter nach fast einjähriger ausgezeichneter Beziehung das Haus wegen einer liederlichen Person verlassen hatte, wünschte nichts Besseres, als sein gekränktes Gemüt vor dem Freunde des Ungetreuen, der ihm blieb, zu erleichtern. Jack brauchte kaum eine Frage an den Pförtner zu richten, um zu erfahren, daß er der jungen Person nachmittags eine Droschke besorgt hatte und zwar, wegen ihres anstößigen Aufzugs, eine geschlossene, die zu finden im Juni nicht eben bequem war. Er hatte bis zum Standplatz hinter dem Odéon um sie laufen müssen und sich auf Verlangen seiner Gattin ihre Nummer gemerkt. Die durchnäßten Kleider der beiden hatten die Neugierde der Madame Jeanne stark gereizt. Sie wollte wissen, was das bedeutete, und nahm sich vor, den Kutscher gelegentlich aufzusuchen, um ihn auszuforschen oder dies durch den befreundeten Polizeiinspektor besorgen zu lassen, der ihr Meldebuch zu prüfen kam. Das erwies sich als überflüssig. Denn derselbe Kutscher brachte das junge Mädchen mit ihren sieben Sachen nach einiger Zeit wieder und während Monsieur Victorien diese widerwillig hinauftrug, fand Madame Jeanne Gelegenheit, vom Kutscher zu erfahren, daß er vorhin nur bis zu einem Hotel am andern Ende der Rue Séguier, dessen Nummer er angab, gefahren war und nach längerm Warten seinen sonderbaren Fahrgast, diesmal in anständigem Aufzug und mit Koffer, Schachteln u. s. w., wieder aufgenommen und hierher zurückgefahren hatte.

Madame Jeanne nahm sich vor, das erste freie Viertelstündchen zu einem Besuche bei der Kollegin im benachbarten Gasthof zu benutzen, um über die Entführerin ihres Mieters etwas zu erfahren. Jack wartete darauf nicht, sondern trat den Gang ungesäumt an. Er fragte die Pförtnerin des ihm bezeichneten Garni, ob Fräulein Catherine Lefueur zu Hause sei. Sie antwortete barsch, das Fräulein wohne nicht mehr da. Catherine hatte also keinen falschen Namen angegeben. Ein guter Punkt. Er erkundigte sich weiter. Die Frau wollte nichts sagen und nichts wissen. Sie war sichtlich äußerst mißtrauisch gegen ihn. Da er erkannte, daß er sie nicht kirren konnte, verlor er seine Zeit nicht, sondern ging heim und bat Madame Jeanne, die Frau zum Sprechen zu bringen.

Das gelang ihr ohne Mühe. Als Jack am Abend aus der Pension heimkam, wo er seine Mahlzeiten einnahm, konnte Madame Jeanne ihm mit einer umständlichen Erzählung aufwarten. Die Person war etwas Rechtes! Das konnte man sich ohnehin denken. Sie hatte seit einigen Monaten in dem Garni mit einem Studenten aus den Kolonien gelebt. Er war sehr verliebt und sehr eifersüchtig. Ob sie ihm dazu Anlaß gegeben, wußte die Pförtnerin nicht oder wollte es nicht sagen. Es gab häufige, überaus heftige Auftritte zwischen den jungen Leuten. Der Mulatte bedrohte seine Freundin wiederholt mit dem Revolver. Er schlug sich zweimal mit Stubennachbaren, weil sie ihr zu nahe gekommen waren, und wurde einmal nicht unerheblich verwundet. In der letzten Nacht war wieder Streit auf ihrer Stube ausgebrochen und so lärmend geworden, daß das Pförtnerpaar erwog, ob man nicht hinaufgehen und Ruhe fordern solle, obschon man ja in Studentengarnis auch nachts an keine Klosterstille gewöhnt ist. Da hatte Mademoiselle Catherine plötzlich » Cordon, s'il vous plaît!« gerufen und das Haus verlassen und der Lärm hatte ein Ende. Am Morgen schien der junge Mann von den Antillen verstört, lief früh weg, kam im Laufe des Vormittags wiederholt zurück, fragte in der Pförtnerstube, ob nichts für ihn gekommen sei, eilte wieder davon, ohne auf seine Stube hinaufzugehen, und zog schließlich mittags klipp klapp, ohne Kündigung, ohne Erklärung, ohne Angabe einer Bestimmung, mit Hinterlassung der Habseligkeiten seiner Freundin, aus. Nachmittags erschien dann Mademoiselle Catherine wieder auf der Bildfläche – in welcher Kluft, du grundgütiger Himmel! – und fand das Nest leer, was ihr indes anscheinend weder Kummer noch Überraschung bereitete. Was zwischen den beiden vorgefallen war, blieb dunkel, aber die Pförtnerin erklärte sich erfreut, daß sie das unbequeme Paar los geworden.

Jack hatte den Rahmen und die großen Züge des Lebens von Catherine und im Grunde konnte das genügen. Aber der Hang zur Genauigkeit in den Einzelheiten, der ihm natürlich war, ließ ihn noch nicht ruhen. Er brachte leicht den Namen des Mulatten in Erfahrung, der aus dem Garni der Rue Séguier verschwunden war. Er erkundigte sich bei einem Studenten aus Guadeloupe, der im physiologischen Laboratorium neben ihm arbeitete, nach dem Landsmanne. Der kannte ihn nur dem Namen nach, konnte aber Jack mit einem Kameraden in Verbindung setzen, der mit dem Mulatten enger befreundet war.

Bei dem Essen, zu dem Jack beide junge Leute einlud, sprach der eine, ein Interne (Krankenhaus-Hilfsarzt), mit Behagen, und nicht ohne leisen Spott, von seinem Freund und Catherine; er bildete sich nämlich ein, daß der alte Engländer in das Mädchen verschossen sei. So viel er wußte, war Catherine eine Blüte von Montmartre, dem Pflaster des heiligen Berges entsprossen, den Eltern aus angeborenem, unwiderstehlichem Drang zu wilder Ungebundenheit früh entlaufen. Sein Freund Cartaux hatte sie einem Vorbesitzer entführt, einem ältern Geschäftsmann, in dessen Modeatelier sie gearbeitet hatte. Das war eine unerquickliche Geschichte. Wegen Catherine hatte der Mann seine Frau, nach gefeierter silberner Hochzeit, aus dem Hause gejagt und sich eine Kugel durch den Kopf geschossen, als sie ihn verließ, um dem Mulatten zu folgen. Es gab überhaupt viel Melodrama im Leben dieses reizenden Mädchens. Sie verdrehte alle Köpfe. »Wir waren alle hinter ihr her, mein lieber Herr Mac, so viel wir unser waren, Freunde und Bekannte Cartaux'. Es war aus ihr nicht klug zu werden. Sie lockte alle an und ließ alle schnöde abfallen. Ich könnte große Eide schwören, daß keiner von uns sich auch nur so viel rühmen darf. Der arme Cartaux! Er wollte es freilich nicht glauben. Ein sehr hysterisches Geschöpf. Stark neuropathische Augen. Furchtbar gefährlich für Nervöse – und Schwachköpfe.«

Jack bekam eine gute Meinung vom Urteil des Interne und eine beklemmend düstere vom Schicksal seines jungen Freundes.


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