Max Nordau
Die Nixe
Max Nordau

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IV

Rudolf und Catherine lebten in der neuen Wohnung eine Art Honigmond und ihre wechselseitige Verliebtheit gab sich so ungezwungen, daß Jacks heikle Empfindung daran heftigen Anstoß nahm. Nach einem ersten Besuche, bei dem Catherine Rudolf auf dem Schoße saß und mit ekstatischen Augen an seinem Blicke hing, nach einem zweiten, erheblich kürzern, während dessen sie nicht aufhörte, ihren Freund mit Küssen zu bedecken, vermied er es eine Weile, von neuem Zeuge ähnlicher Geschmacklosigkeiten zu werden. Seine Enthaltung befremdete und beunruhigte Rudolf. Der ältere Freund, mit dem er seit zwei Jahren, und besonders im letzten, so vertraut gelebt, gewohnt, gegessen hatte, fehlte ihm. Nach der alten Wohnung mochte er nicht gehen, weil er vom Pförtner schmollend geschieden war, in die Pension kam er nicht mehr, weil er jetzt mit Catherine in einem Gasthaus aß, er mußte also, um ihn zu sehen, ihn entweder im Seziersaal oder Laboratorium aufsuchen oder ihm förmlich auf der Straße auflauern, beides sehr unbequem, und dadurch noch unbequemer gemacht, daß Catherine darauf bestand, ihn immer zu begleiten.

Sie wollte ihn keinen Augenblick allein lassen, sich bei Tag und Nacht nicht von ihm trennen. In den ersten Tagen setzte er es noch durch, daß er in die Sorbonne, in das College de France gehen durfte, ohne daß sie ihm in den Hörsaal folgte. Sie wartete dann während der Vorlesung draußen auf einer Bank, mit einem Buch in der Hand, das ihre Träumerei maskierte, und wenn er herauskam und sie seiner ansichtig wurde, eilte sie auf ihn zu, bemächtigte sich seines Armes, führte ihn rasch weg und erzählte ihm die Anfechtungen, die sie in der Stunde der Erwartung hatte abwehren müssen. In die Nationalbibliothek ließ sie ihn überhaupt nicht mehr gehen, als sich herausstellte, daß er ihr keine Karte für den Lesesaal erwirken konnte, die sie gefordert hatte. Sie fand dabei Worte, deren lästerlichen Klang sie nicht ahnte, da sie nie die Bibel gelesen. »Laß doch deine Bibliothek,« sagte sie; »deine Bücher wirst du immer haben. Mich aber wirst du nicht haben.« Wenn er schwache und immer schwächere Versuche machte, seine Arbeitsfreiheit zu verteidigen, überwand sie ihn mit der Bemerkung: »Du hast mir sechs Wochen versprochen. Das ist so wenig. Willst du mir auch die paar Augenblicke noch verkürzen?« Er mußte sich darein finden, daß es mit der ernsten Beschäftigung vorbei war. Er entschuldigte sich vor sich selbst damit, daß er in den paar Wochen ohnehin nichts Rechtes mehr geschafft haben würde.

Auch Jack vermißte Rudolf recht sehr. Er hatte in den zwei Pariser Semestern viele Bekanntschaften gemacht, aber bei dem großen Altersunterschiede zwischen ihm und den Kameraden und bei seiner natürlichen würdevollen Zurückhaltung keine neuen Freundschaften geschlossen. Er war also jetzt einsam; weit mehr, als es seinen Neigungen und Gewohnheiten entsprach. Doch daran war nun einmal nichts zu ändern. Das Schauspiel lockerer Lebensführung war ihm zu widerwärtig, als daß er ihm nicht nach Möglichkeit hätte aus dem Wege gehen wollen. Auch er klammerte sich indes an die Hoffnung, daß der nahe Beginn der Universitätsferien den Freund aus dem Zauberbann seiner Nixe erlösen werde.

Aus dieser beruhigenden Vorstellung schreckte ihn gegen Mitte Juli ein Angstbrief der Frau Geheimrat Korte auf, die ihm schrieb: »Mein verehrter, lieber Herr MacIntyre, Rudolf teilte mir vor einigen Tagen lakonisch mit, wir hätten auf seine Heimkehr, bis zu der wir alle die Stunden zählen, nicht mehr zu rechnen, er müsse noch eine Zeitlang – wie lange, sagte er nicht – in Paris bleiben. Auf meine dringende Bitte um nähere Angabe der Gründe antwortete er in unklaren ausweichenden Redensarten, die zu seiner sonstigen Bestimmtheit einen auffallenden Gegensatz bilden. Verständlich war mir nur eine Bemerkung, die mich mit der größten Unruhe erfüllt. Er schreibt nämlich: ›Ich werde vielleicht meinen ganzen Lebensplan zu ändern haben.‹ Was soll das heißen? Was geht vor? Eine frühere Anfrage, weshalb er plötzlich die Wohnung gewechselt, ließ er bis heute überhaupt unbeantwortet. Lieber, guter Herr MacIntyre, verzeihen Sie es meinem bangen Mutterherzen, wenn es sich an Sie, den bewährten Freund, mit der dringenden Bitte um Aufklärung wendet. Lassen Sie mich nicht warten, bitte, bitte! Aufrichtige Grüße von Ihrer Sie hochschätzenden C. Korte.« Eine Nachschrift sagte: »Adele und Tildchen grüßen herzlich. Auch sie wollen ihren Bruder wieder haben!«

Den Brief hatte die letzte Abendpost gebracht. Da zögerte er denn freilich nicht und eilte am nächsten Vormittag, ehe er sich in das Laboratorium begab, nach dem Quai Conti. Auf sein Klopfen an Rudolfs Tür, vor der zwei Paar Schuhe, Männlein und Weiblein, standen, antwortete eine Stimme aus dem Hintergrunde des Zimmers: »Wer ist's?«

»Mr. MacIntyre!« knurrte Jack.

»Oh! Gleich! Entschuldige!« rief es von drinnen, man hörte ein leichtes Gepolter wie von hastigen Bewegungen, die einen Stuhl umwarfen, und nach wenigen Minuten näherten sich Schritte der Tür, deren Riegel zurückgeschoben wurde.

Nach neun Uhr vormittags, im Juli, noch im Bette! Welche Änderung in Rudolfs Gewohnheiten!

»Verzeihe, daß ich dich ein wenig warten ließ,« sagte Rudolf, vor die halb geöffnete Tür tretend und ihm die Hand entgegenstreckend. Er war rasch in Pantoffel und Beinkleider gefahren, hatte sich aber keine Zeit genommen, auch eine Jacke anzuziehen. »Wir sind gestern spät nach Hause gekommen. Catherine versteckt sich vor dir unter der Decke. Komm herein.«

»Ich ziehe vor, dich unten zu erwarten, bis du dich angekleidet hast. Ich habe mit dir ein wenig zu plaudern. Deine Freundin will ich nicht stören.«

»Gut. Ich bin sofort bei dir.«

Jack ging hinunter und trat zu den Bücherkasten auf der Brustmauer des Quais, wo er zerstreut die regenverwaschenen und sonngebleichten Rücken der alten Bände betrachtete, bis Rudolf neben ihm stand.

»Was erfahre ich?« fragte Jack, langsam die Richtung nach dem Pont des Arts einschlagend, »du willst Ende des Monats nicht nach Hause reisen?«

»Hat dir meine Mutter geschrieben?« war Rudolfs rasche Gegenfrage.

»Ja. Sie ist sehr unruhig, denn sie kann sich deinen Entschluß nicht erklären.«

Rudolf schritt schweigend neben seinem Freunde her. Als die Antwort zu lang auf sich warten ließ, fuhr Jack fort: »Und ich erkläre mir ihn auch nicht.«

Der junge Mann schien noch mit sich zu ringen, endlich sagte er langsam und nachdrücklich: »Meine Mutter kann mich natürlich noch nicht verstehen. Aber dir sollte ich nichts zu erklären brauchen.«

»So! Als ich dich warnte, da erwidertest du mir wohlgemut: Ach was, Ende Juli ist ja doch alles vorbei. Und nun?«

»Ich war damals guten Glaubens. Ich kannte Catherine nicht. Jetzt – ist es etwas anderes.«

»Das heißt, du willst nicht von ihr lassen?«

Rudolf blieb stumm.

»Ich möchte nur wissen,« fuhr Jack eindringlicher fort, »wie du dir das weitere eigentlich denkst? Willst du deine ganze Zukunft in Trümmer schlagen, um mit deiner – Freundin beisammen zu bleiben?«

»So weit habe ich, ehrlich gestanden, noch nicht gedacht. Und so tragisch würde ich es in keinem Fall ansehen. Meine Zukunft hängt doch wohl in erster Reihe von meiner Kraft und Tüchtigkeit ab, nicht von meiner Beziehung zu einem geliebten Wesen. Vorläufig steht nur so viel fest, daß ich meine Pläne ein wenig ändern muß. Ich kann Catherine unmöglich nach Hause mitnehmen. Und – ich kann sie ebensowenig verlassen.«

»Deine Pflicht gebietet es dir, Rudolf.«

»Nein, Jack. Es gibt keine Pflicht, ein geliebtes Wesen zu töten.«

»Das glaubst du?«

»Das weiß ich. Du kennst Catherine nicht. Sie ist ein Wesen der Auslese, von feinster, vornehmster Empfindung. Wenn ich ihr heute sagen würde: Schatz, es muß geschieden sein, – sie würde kein Wort erwidern, mich nicht mit rührsamen Auftritten plärrender Ariadnen aus der Nähwerkstatt langweilen, aber sie würde es nicht überleben.«

»Darauf würde ich es ankommen lassen.«

»Ich auch, wenn sie – mir gleichgültig wäre.«

»Wenn ich dein Vater wäre, würde ich dich sofort auf einem Segelschiff einschiffen und nach Neuseeland fahren lassen. Der Äquator ist sehr gut für solche Zustände.«

Rudolf lächelte. »Ich weiß nicht, ob ich mich deinem Machtgebot unterwerfen müßte, wenn ich dein vierundzwanzigjähriger Sohn wäre, aber das weiß ich, daß Catherine mir sehr bald nach Neuseeland folgen würde, wenn sie nicht schon in einem Dampfer vor meinem Segelschiffe dort angekommen wäre.«

»Das heißt also: es ist ein Bund fürs Leben?«

»Warum nicht?«

Jack blieb stehen. »Rudolf, kennst du Fräulein Catherine Lefueur?«

»Ich schmeichle mir.«

»Ich meine ihre Vergangenheit?«

Rudolfs Miene verdüsterte sich. »Ich weiß davon, was mir zu wissen nottut, und mehr will ich nicht erfahren.«

»Du weißt also, daß sie –«

»Ich bitte dich,« unterbrach Rudolf ihn gebieterisch, »erzähle mir nichts. In ihrer heldenmütigen Aufrichtigkeit hat Catherine mir alles bekennen wollen. Ich habe es ihr verboten. Was soll es mir nützen, daß ich von ihrem Unglück eine Einzelheit mehr oder weniger weiß? Das Schicksal hat sie durch den Schlamm von Babylon geschleift. Das weiß ich. Aber ich weiß auch, daß der Schmutz ihr Inneres nicht besudelt hat. Das nächtliche Bad in der Seine hat sie reingespült. Ihr neues Leben ist nichts als Liebe und Treue und Hingebung. Sie lebt nur in mir und durch mich.«

»Und von dir,« fügte Jack trocken hinzu.

Rudolf ärgerte sich. »Das scheint mir in der Ordnung. Etwa nicht?«

»Doch, doch,« begütigte Jack.

»Sie ist völlig anspruchslos. Ich habe sie geradezu zwingen müssen, sich von mir ein wenig ausstatten zu lassen. Denn es war mir unangenehm, sie in Kleidern von unbekannter Herkunft zu sehen. Sie ist von einer Zartheit der Empfindung, von einem natürlichen Sinn für das Schöne, die mich stündlich neu entzücken. Wirst du glauben, daß sie von mir Unterricht im Deutschen gefordert hat und mit dem größten Eifer lernt, um meine Dichtungen in der Ursprache lesen zu können?«

»Ganz geschickt,« brummte Jack.

»Du hältst das für Berechnung? Welchen Vorteil soll sie davon haben? Sie weiß, daß sie dem Dichter nicht zu schmeicheln braucht, um des Menschen sicher zu sein.«

»Doppelt genäht hält besser.«

»Du willst von deinem Vorurteil nicht lassen. Gut.«

Sie gingen wieder eine Weile schweigend nebeneinander her. So gelangten sie bis zur Solferinobrücke. Hier machte Jack kehrt. »Ich sehe, wie die Dinge liegen. Sage mir nun, was ich deiner Mutter schreiben soll.«

»Ja – allerdings –« murmelte Rudolf. »Das ist eine etwas peinliche Sache. Ich habe nie gelogen und will es jetzt nicht lernen. Die Wahrheit kann ich meiner Mutter doch nicht gut sagen. Ich muß ihre zimperlichen Anschauungen schonen. Ich werde von Arbeiten sprechen, die mich noch hier festhalten. Das ist nicht geradezu unwahr. Es ist nur nicht die ganze Wahrheit.«

»Hm. So. Und ich?«

»Du – sollst bestätigen, daß ich einstweilen hier bleiben muß.«

»Ohne auf Einzelheiten einzugehen?«

»Ich glaube nicht, daß du dazu verpflichtet bist.«

»So. Nun will ich dir etwas sagen. Wie ich Frau Geheimrat kenne, wird sie, wenn sie aus deinen und meinen Briefen nicht klug werden kann, nicht lange fackeln, sondern einen dieser Tage ohne Warnung bei dir eintreffen. Dann magst du zusehen, ob du auch ihr an der Tür sagen kannst, Catherine verstecke sich vor ihr unter der Decke.«

Rudolf zuckte die Achsel. »Das ist in der Tat nicht ganz unmöglich. Es wäre sehr unangenehm. Aber was kann ich dagegen tun? Ich werde meine Mutter um Verzeihung bitten. Auf ihre Liebe rechne ich blind. Und ich traue Catherine zu, daß sie jede Feindseligkeit überwinden und jedes Herz gewinnen kann, wenn man sich nur die Mühe nimmt, sie kennen zu lernen.«

»Armer Junge,« war alles, was Jack erwiderte. Rudolf lächelte über das Mitleid seines Freundes.

»Komme jetzt mit hinauf. Catherine ist inzwischen gewiß fertig geworden.«

»Lieber nicht. Es ist spät. Ich muß ins Laboratorium. Ein andermal.«

»Aber recht bald. Möchtest du nicht heute abend mit uns essen?« fragte Rudolf, als er an seiner Haustür dem Freunde die Hand zum Abschied reichte.

Jack überlegte kurz. »Meinetwegen,« sagte er dann. »Ich hole euch um sieben ab.«

Seine Gedanken blieben bis zum Eintritt in das physiologische Laboratorium bei seinem Freunde. Anfangs überwog der Widerwille gegen die Verhältnisse, die er aus so unangenehmer Nähe beobachten mußte. Vielleicht wäre es das beste, den törichten Jungen zu schneiden. Es paßte einem Manne seines Alters, seiner Stellung, seiner Anschauungen nicht, gewissermaßen zu den vergnüglichen Beziehungen eines sentimentalen Narren die Kerze zu halten. Aber die Frau Geheimrat? Ihr würde er schreiben, daß er über die Pläne ihres Sohnes nichts Genaues wisse und ihn übrigens nur noch selten sehe, seit er nicht mehr mit ihm in einem Hause wohne. Sein Gefühl ließ ihn jedoch diese Lösung rasch verwerfen. Würde er Rudolf sich selbst überlassen, wenn er den Typhus bekäme, oder wenn er plötzlich geistig erkranken würde? Welcher Gedanke! Er würde natürlich an seiner Seite bleiben und ihn pflegen, auch wenn dies ihm große Unbequemlichkeiten auferlegen würde. Er mußte ihn als einen Kranken ansehen. Er mußte ihm beistehen; ihm helfen, seine Gesundheit wieder zu erlangen. Rudolf wollte nach den Sitten des Lateinischen Viertels leben, ohne gegen die Sentimentalität fest zu sein, wie es die Jugend des Lateinischen Viertels ist. Masern sind bei uns eine verhältnismäßig leichte Krankheit. Auf den Südseeinseln töten sie alle, die sie befallen. Ein Pariser Student konnte sich vielleicht ungestraft mit einer Catherine einlassen. Er behielt sie, solange sie ihm Spaß machte, und gab ihr ohne Wimpernzucken den Laufpaß, sowie sie ihm lästig wurde. Bei Rudolf aber war der Einsatz in diesem Spiele gleich das ganze Herz. Er beherrschte die Lage nicht. Er war weder kaltblütig noch herzensroh genug, um sich den bequemen Ausweg aus ihr offen zu halten.

Konnte er ihm daraus einen Vorwurf machen? Er selbst, der kühle, reife Mann, brachte es nicht über sich, mit Rudolf zu brechen, obschon dies jetzt eigentlich für ihn das richtige wäre, und ihn verband doch nur eine verständige Freundschaft lose mit dem jungen Mann. Wie sollte er sich wundern, daß Rudolf die unvergleichlich stärkeren Bande nicht zerreißen konnte, die ihn an ein schönes junges Mädchen knüpften!...

Schon die bloße Menschenpflicht gebot ihm, Rudolf nicht aufzugeben. Auch er wäre einem Freunde dankbar, wenn er unter ähnlichen Verhältnissen seinem Sohne beistände. Mit liebloser Strenge war offenbar nichts auszurichten. Sie würde nur Rudolfs Trotz herausfordern und zum Bruche führen. Nur durch treue Wacht und unablässige, jedoch nachsichtige und schonende Einwirkung durfte er hoffen, ihn über diese Krise hinwegzusteuern.

Und während Jack diese Verhaltungsregeln für sich im Geiste festlegte, schien es ihm, daß ihm die reizende Adele über die Schulter der Frau Geheimrat hinweg mit den sanften blauen Augen innig dankte.

Jack war wie immer pünktlich. Um sieben Uhr trat er bei Rudolf ein. Catherine, die, um nicht auf sich warten zu lassen, mit dem Hut auf dem Kopfe dasaß, begrüßte ihn mit ihrem bezauberndsten Lächeln und Blick und der Anrede: »Guten Tag, lieber Feind.«

»Feind?« fragte Jack etwas erstaunt, während er die ihm gereichte Hand leicht berührte.

»Gewiß, Sie würden mir sonst meinen Rudolf nicht mißgönnen.«

Jack erwiderte nichts, sondern blickte Rudolf an.

»Gehen wir,« sagte dieser.

»O, ich weiß sehr wohl,« plauderte Catherine, während sie die Treppe hinuntergingen, »daß Sie uns trennen wollen. Rudolf braucht es mir nicht zu sagen. Ich kenne jede Falte seines Herzens. Ich lese es in seinen Augen, wenn er mit Ihnen zusammen gewesen ist. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Gott bewahre. Sie haben recht. Aber ich habe auch recht.«

»Das ist nicht möglich,« bemerkte Jack trocken.

»Doch, doch,« erwiderte Catherine lebhaft. »Es kommt nur darauf an, was man vom Leben verlangt: Geld oder Glück.«

»Von Geld ist nicht die Rede, Fräulein. Glücklich aber kann man nicht sein, wenn man seine Pflichten vernachlässigt.«

»Ich werde meinen Rudolf nie hindern, seine Pflichten zu erfüllen, alle seine Pflichten.«

»Lassen wir das,« sagte Rudolf, dem der Gang der Unterhaltung peinlich schien.

Er führte nach einem bescheidenen Gasthaus in der Rue Dauphine. Catherine glich in ihrem Essen und Trinken einem kleinen Vogel, der Körner pickt und zwischendurch den Schnabel netzt. Sie hatte nicht die Unformen, die Personen der niederen Stände bei Tische hervorkehren und für die Jack ganz besonders empfindlich war. Er litt unter ihrer Tischgenossenschaft nicht. Das war viel mehr, als er erwartet hatte. Und sie plauderte nett und klug über alle möglichen Dinge, etwas sprunghaft, oft drollig durch unvorhergesehene Einfälle und malerische Vergleiche, daß Jack nicht umhin konnte, sich zu bekennen, daß man die Gesellschaft dieser Kleinen sehr wohl kurzweilig finden konnte. Sie war zweifellos reich an Naturanlagen. Günstigere Verhältnisse hätten aus ihr einen berückend anziehenden, vielleicht auch edeln und guten Menschen machen können. Aber was half es, zu klagen, daß es anders gekommen war?

»Sage mir nun etwas über deine Sommerpläne, wenn du schon welche hast,« wandte sich Jack an Rudolf.

»Ich denke, ich werde ein wenig in der Provinz reisen. Ich möchte doch von Frankreich etwas mehr gesehen haben als Paris. Ein Seebad. Die Bretagne, die mich seit Jahren beschäftigt und die für mich bisher nur ein Traumland gewesen ist.«

»Das wird herrlich sein,« schwärmte Catherine. »Ich reise so gern. Das Meer, die bretonische Heide, das Land mit Wiesen und Blumen und Kühen – all das in Gesellschaft eines Dichters, den man anbetet – ich fürchte mich beinahe noch, daran zu glauben – wenn etwas dazwischen käme! ...«

Rudolf streichelte ihr zärtlich die Wange. »Sei ruhig, Schatz.«

»Schön,« bemerkte Jack. »Das wird einige Wochen in Anspruch nehmen.«

»Die Ferienmonate,« sagte Rudolf.

»Und dann? Im Oktober?«

»Wer wird auf so weit hinaus Pläne schmieden!« rief Catherine. »Das Leben wäre unleidlich, wenn es nach einem amtlichen Programm ablaufen würde. Für den Oktober lassen wir einstweilen Gott sorgen.«

»Das ist bequem.«

»Eben deswegen.«

Rudolf konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Ist das auch deine Meinung?« fragte Jack stirnrunzelnd.

Catherine kam dem Gefragten zuvor. »Rudolf zeigt manchmal eine bedauerliche Neigung, sich über das, was werden soll, den Kopf zu zerbrechen. Ich rede es ihm aber nach Kräften aus. Ich habe immer gefunden, daß es nichts Unnützeres in der Welt gibt, als die Zukunft festlegen zu wollen. Es kommt ja doch immer anders. Also wozu? Das einzig Vernünftige ist, heute fröhlich zu sein. Für morgen genügen Wünsche, Hoffnungen, Luftschlösser.«

»Das nenne ich Leichtsinn,« sagte Jack.

»Ich auch,« antwortete Catherine rasch.

Diesmal lachte Rudolf. »Sie faßt als Kompliment auf, was du als Vorwurf meinst. Ihr werdet euch nie verstehen.«

Es war Jack aufgefallen, daß seit einigen Minuten Catherine angeregter, ihre Stimme lauter, ihr Mienenspiel lebhafter, ihr Blick beweglicher geworden war. Die Unterhaltung rechtfertigte diese Veränderung nicht genügend. Eine zufällige Kopfwendung ließ ihn vermuten, daß er die Erklärung gefunden habe. An einem Nachbartische hatte ein hübscher junger Mann Platz genommen, nach seiner Erscheinung und seiner Ledermappe zu urteilen ein Anwaltsschreiber oder dergleichen. Er hatte eine Abendzeitung vor sich gegen sein Glas gelehnt, um beim Essen zu lesen. Er war auf die anziehende Nachbarin aufmerksam geworden und las nicht mehr, sondern suchte mit ihr zu äugeln. Catherine mied seinen dreist beredten Blick nicht, sie suchte ihn vielmehr, sie ermutigte und erwiderte ihn. Ihr ganzes Wesen und Gehaben entwickelte hundert kleine Anreize für den unbekannten Hofmacher. Dabei schmiegte sie sich inniger, zärtlicher, fast unpassend an Rudolf und das hin und her blitzende Auge nahm einen besonders verliebten Ausdruck an, wenn es nach einem raschen Brandblick auf den jungen Nachbar zu ihm aufschaute.

Jack verfolgte dieses kleine Spiel mit einem Gemisch von Mitleid und Verachtung. Was war das? Komödie? Verderbnis? Läßliche Koketterie? Unbewußtes Tun? War ihre Liebe zu Rudolf eine oberflächliche Regung, vielleicht gar nur Verstellung? Oder war bedenkenfreie Gefallsucht bei ihr gebieterischer als die Liebe? Er mußte an die Diagnose des Interne denken: »Stark neuropathische Augen; sehr hysterisches Geschöpf.« Aber seine Wahrnehmungen waren ihm nicht unangenehm. Sie ließen die Umrisse einer annehmbaren Lösung hervortreten. Wenn er Rudolf nicht bestimmen konnte, sie aufzugeben, so war sie es vielleicht, die seiner überdrüssig wurde und ihn eines Tages neuen Eindrücken zuliebe anpflanzte. Wohl würde seine Eigenliebe unter solcher Treulosigkeit einen Augenblick leiden, aber um so schlimmer. Die Rettung war es doch und ganz ohne Ungemach konnte man nicht hoffen, aus einem derartigen Abenteuer frei zu kommen. Der Gedanke fuhr ihm sogar durch den Kopf, Catherinens natürlichem Flattersinn Vorschub zu leisten, mit ihr eine Unterredung zu suchen, ihr eine Abfindung anzubieten, wenn sie Rudolf heimlich verlassen wolle – wie es später oder früher ohnehin geschehen würde. Als puritanisch erzogener Schotte war Jack kein Theatergänger und kannte die »Kameliendame« nicht. Vater Duvals Besuch bei Marguerite diente ihm also weder als Anregung noch als Lehre. Aber in seiner Sollicitorpraxis hatte er mehr als einmal geschäftsmäßig Beziehungen zu lösen gehabt, die reichen jungen Toren gefährlich zu werden drohten. Es war indes doch etwas in Catherinens Wesen, was ihn warnte. Er mußte noch beobachten, ehe er eingriff.

Er sah, wie der junge Nachbar mit dem Kellner flüsterte und dieser nach einem Blick auf ihren Tisch leise antwortete. Eine Erkundigung nach ihnen, vielleicht ein Auftrag ... Und es entging ihm auch nicht, daß Catherine, als sie aufbrachen, zu dem Fremden hin sprach, während sie vor dem Spiegel die Hutnadel zurecht steckte und laut vorschlug, sie sollten den Abend in einem Café-Konzert beschließen.

Der Köder lockte nicht genug. Der junge Mann folgte ihnen nicht. In Jacks Geiste aber stand es jetzt wie eine Zwangsvorstellung: »Armer Rudolf! Armer Rudolf!«

Rudolf war weit entfernt, sich für beklagenswert zu halten. Er folgte dem Rate Catherinens, mehr in der Gegenwart als in der Zukunft zu leben, und er sah diese nur als ein schwimmendes Gebilde, worin deutliche Formen nicht zu erkennen waren, das aber im ganzen von freundlicher Rosenfarbe schien. Auch über die Sorge, die ihm die Mutter bereitete, kam er unerhofft glimpflich hinweg. Auf seinen Brief, worin er ihr mitteilte, daß er in Frankreich reisen wolle, erhielt er eine Antwort voll sanfter Vorwürfe, weshalb er denn zuerst geheim getan und dies nicht gleich gesagt habe; es sei ja so natürlich, daß er auch die Provinz kennen zu lernen wünsche; jetzt sei er nahe dazu, wer weiß, ob er es später je wieder so bequem haben werde; und es könne ihm gewiß nur nützlich sein. Sie habe einen Augenblick ernstlich daran gedacht, diese Ferienreise, die sie sich entzückend vorstelle, unter seiner Führung mitzumachen – ihn überlief es kalt –, aber das würde doch wohl zu kostspielig sein – »ah! Gott sei Dank!« –; so solle er es sich denn gut gehen lassen und nur möglichst bald gesund heimkommen. Tildchen legte einen Gruß bei und mahnte, ihr nur ja von überall Ansichtskarten zu schicken. Er atmete erleichtert auf. Nun hatte er wenigstens zwei Monate lang freie Bahn vor sich. Das Weitere –

Die erste Erschütterung erfuhr seine Selbstzufriedenheit wenige Tage, ehe er an die See ging. Er schlenderte mit Catherine nachmittags einen Baumgang des Luxembourggartens entlang, als aus einem Seitenpfad ein dunkelhäutiger junger Mann mit dem Studentenbarett auf dem Krauskopf in den Hauptweg bog und beim Anblick des Paars plötzlich wie eingewurzelt stehen blieb. Gleichzeitig fuhr durch Catherinens zierliche Gestalt vom Scheitel bis zur Sohle ein jähes, kurzes Beben wie von einem elektrischen Schlag.

Rudolf blickte erstaunt zuerst auf Catherine, die leichenblaß geworden war und sich trotz sichtbarer Anstrengung nicht verhindern konnte, wie Espenlaub zu zittern, dann auf den Unbekannten, der sich ebenfalls fahl verfärbt hatte, und war sich sofort über den Sinn dieser Begegnung klar. Er wußte nicht, welchen Ausdruck sein Gesicht und seine Augen annahmen, aber Catherine und der junge Farbige sahen es. Dieser machte kehrt und schlug hastig wieder den Seitenpfad ein, Catherine aber wandte sich dem Eingang zu und zog mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft Rudolf mit sich fort. Er hatte nur einen Augenblick triebhaft den Drang, sich von ihr loszureißen und dem Enteilenden nachzulaufen. Dann ließ er sich widerstandslos wegführen.

Lange gingen sie beflügelten Schrittes wortlos nebeneinander her. Endlich fragte Rudolf zwischen den zusammengebissenen Zähnen: »Dieser Neger war also dein – dein –«

Sie drückte seinen Arm an sich und beschleunigte ihren Gang.

»Antworte mir, Catherine.«

»Sei nicht grausam, Schatz,« murmelte sie flehentlich, »was soll ich dir sagen?«

»Mit einem Neger hast du dich eingelassen!«

Nun wurde sie doch empfindlich. »Er ist doch kein Neger! Er ist nur ein ›pays chaud‹. Er gehört einer der besten Familien von La Martinique an. Aber warum drehst du mir die Messerklinge im Herzen um? Du hast mir versprochen, die Toten begraben sein zu lassen.«

»Tot! Er ist lebendig. Ich kann ihm auf Schritt und Tritt begegnen – o Catherine, wie konntest du –«

Sie ließ seinen Arm los. Über ihr Gesicht zuckte es. Plötzlich brachen zwei Tränenströme aus ihren Augen und überfluteten ihre Wangen. Vorübergehende blieben stehen und blickten den beiden nach.

»Catherine! Kein Ärgernis!«

»Verzeihe. Verzeihe. Ich bin schon ruhig. Ach, ich bin so unglücklich.« Sie fuhr sich mit dem Taschentuch über das trostlos scheinende Gesicht, während unterdrücktes Schluchzen ihre Büste erschütterte.

Er schämte sich seines Mangels an Selbstbeherrschung. In ihm wollte Mitleid mit dem armen Geschöpfe erwachen. In der Tat: mit welchem Rechte quälte er sie? Er durfte sie doch für das, was vor ihrer Bekanntschaft lag, nicht verantwortlich machen.

Er wiederholte sich das im Geiste einigemal. Aber er konnte den abscheulichen Eindruck doch nicht loswerden. Er hatte bisher vermieden, sich mit Catherinens Vergangenheit zu beschäftigen. Wenn er an sie denken wollte, machte er eine Anstrengung, um seine Gedanken abzulenken. Das gelang ohne allzu große Mühe, denn sie war eine Abstraktion, in der kein bestimmter Zug seine Aufmerksamkeit anrief und festhielt. Jetzt aber war diese Vergangenheit konkret verkörpert; jetzt sah er sie als einen scheußlichen schwarzen Kerl vor sich – welche Demütigung! Welcher Ekel! Sein Stolz eines Edelrassenmenschen, der nach der Art seiner in den Lehren von Lagarde und Gobineau und Nietzsche aufgewachsenen Hochschülergeneration fühlte, bäumte sich gegen unleidlich widerwärtige Vorstellungen. Er war auf sich selbst wütend, daß er nicht die Kraft fand, diese besudelte Kleine weit weg zu schleudern, sich ihrer Berührung zu entziehen.

Sie erriet genau, was in ihm vorging. Sie flehte: »Sei gut, sei großherzig, Schatz. Ich liebe dich so sehr! Ich weiß nichts mehr von dem, was war. Ich habe ein Gespenst gesehen. Ich begreife jetzt selbst nicht, daß es möglich war.«

Er setzte stumm den Weg fort, bis sie nach Hause kamen. Da war sie demütig und zerknirscht und in unterwürfigen Liebkosungen erfinderisch wie eine morgenländische Sklavin. Und sie flüsterte ihm unter Küssen ins Ohr: »Ich hätte das nie bei dir vermutet. Wenn du dich gesehen hättest! Ich war versteinert vor Entsetzen. Du warst so wunderschön – wie ein Mörder. Ich bin sicher, du hättest auch gemordet, wenn ich dich nicht weggerissen hätte. O Schatz, Schatz!«

Seine Widerstände erschlafften. Er suchte das Bild der Begegnung aus seiner Erinnerung zu verscheuchen. Er erwiderte Catherinens Zärtlichkeiten. Aber der Wurm saß im Kern ...


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