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Der Notschrei aus England hat bereits einen Widerhall gefunden. Die Vereinigten Staaten haben beschlossen, schleunige Hilfe zu leisten. Wie erinnerlich, befanden sich diese beiden Mächte bis vor kurzem im Kriegszustande. Der Ausbruch der Feindseligkeiten stand unmittelbar bevor, da die beiderseitigen Flotten gegeneinander ausgelaufen waren und schon die ersten Schüsse gewechselt hatten. Als der drohende Weltuntergang bekannt wurde, verweigerten die Mannschaften hüben und drüben den Dienst und zwangen die Befehlshaber zur Rückkehr. Nunmehr wird die gesamte noch fahrtbereite Kriegsflotte der Union aufs schnellste abgerüstet und zur Beförderung von Lebensmitteln bereitgestellt. An Stelle der heruntergeholten Kriegsflaggen hat sie die Fahnen des Roten Kreuzes gesetzt.

*

Die tagelang strömenden Wolkenbäche sind endlich versiegt. Das düstre Chaos droben lichtet sich. Unzählige Augen sind dorthin gerichtet, wo loderndes Feuer sich durch Nebel kämpft. An den Fenstern, auf Straßen und Plätzen steht man zu Tausenden, viele mit Ferngläsern, und wartet des Augenblicks, wo sie erscheint, die gefürchtete, nun wieder ersehnte Mutter des Lebens. Da schwebt sie hervor, mit lautem Ah! begrüßt. Neben ihr der unheimliche Gast am Himmel, auf den nun alle schauen. Erregte Worte fliegen hin und her ... Ja, wahrhaftig! Auch das unbewaffnete Auge erkennt, daß er kleiner und schwächer geworden ist. Man drückt sich die Hände, manche können sich der Tränen nicht erwehren. Andere witzeln, rufen Spottnamen zu ihm empor. Wie einem abziehenden, geschlagenen Feind sieht man ihm nach.

»Kehrt euch doch um!« ruft jemand. Und nochmals ein vielstimmiges Ah! Da, auf der zerrissenen, dunkelblauen Wolkenwand schwingt sich der siebenfarbige Bogen in unerhörter Leuchtkraft, gleich einer geschmückten Pforte, die die Überlebenden dieser Schmerzenstage zu Frieden und Freude ladet.

*

Sigrid gehört nicht zu den Frohen. Ahnungsvolle Beklommenheit lastet auf ihr, seit der Vater in seltsamer Erregung gemeldet, daß die Bank wieder eröffnet sei und die Geldgeschäfte begönnen. Er hat die Mutter umarmt und den Kindern den Kopf gestreichelt, als er davonging. »Jetzt gibt es Arbeit und allerlei Überraschungen!« –

Nun kehrt er zurück, der sonst so Gehaltene, glückstrahlend und federnden Schritts, und wirft vor den Erstaunten ein Päckchen nach dem anderen auf den Tisch. Für die Kinder kostspielige Leckereien, Fleisch für die Küche, der Mutter gar ein Perlenhalsband, daß sie dunkelrot wird vor verlegener Freude.

»Nur ein kleiner Vorschuß«, sagt er und lacht geheimnisvoll.

Auf Sigrids fragenden Blick: »Ihr müßt nicht denken, daß es gestohlen wäre. Alles bar bezahlt ... Man hat eben ruhig Blut bewahrt, als an der Börse die Panik ausbrach. Weltuntergang! Unsinn! Die alte Erde kommt nicht aus den Gleisen, höchstens die liebe Menschheit einmal; und dann muß einer wissen, was er zu tun hat. Die Dummen verlieren, und die Weitsichtigen gewinnen – das ist der Lauf der Welt.«

Er geht, nach seiner neuen Gewohnheit die Hände reibend, durchs Zimmer. »Wir werden demnächst die Wohnung wechseln. Das prächtige Landhaus des geisteskranken Großunternehmers steht zum Verkauf, heute noch lächerlich billig zu haben. Ich greife zu. Kinder, das wird ein Leben! ... Übrigens werde ich dem Domprediger, der sich so für die Verarmten ins Zeug legt, eine mehrstellige Summe schicken ...«

Sigrid schweigt. Vor ihr steht ein Kästchen, das der Vater ihr aufgebaut und geöffnet hat: ein Armband mit blitzenden Steinen darin. Sie schiebt es, ohne zu danken, zurück ... Oh, daß er käme und sie davonführte in die reine Luft, die überall ihn umweht! ...

Draußen im Garten, in den entblätterten Frühlingsbäumen singen die Vögel ihr altes Lied von der Sonne –

Da fährt durch die aufspringende Tür ein breiter Lichtstrahl in den häuslichen Schatten –

Archibald steht da, und sie flüchtet ihm entgegen!

Er bringt ein Schreiben der Regierung, das ihn an Stelle des verstorbenen alten Professors zum Leiter der Sternwarte ernennt, »in dankbarer Anerkennung der unschätzbaren Dienste, die er dem Staate geleistet, durch treues Ausharren in schwerster Zeit, in hohem Pflichtgefühl und unbeirrtem Mute zur Wahrheit«.

»Das soll eine Hochzeit geben!« ruft frohgelaunt der Vater.

»Wir sind vermählt«, sagt Archibald kurz. »Was um der Welt willen noch zu geschehen hat, ist bald und in Stille getan.«

– – Nicht lange, und die Vereinten steigen unter den leise rauschenden Kiefern zu ihrer Gralsburg hinauf, wie Archibald, nicht im Scherze, das Haus seines Wirkens nennt, unweit dessen sie wohnen werden. Sie machen einen Umweg nach dem höchsten Punkte des Berges, um an diesem klaren Abend die Aussicht ins Land zu genießen ... Dort, was ist das? An einen Baumstamm gelehnt, sitzt ein altes Mütterchen, ein Kissen im Rücken, eine Decke über den Knien, neben sich eine Kiepe, im Schoß ein aufgeschlagenes Buch, auf dem die Hände gefaltet liegen. Schläft sie? – Nun bemerken sie, daß sie tot ist. Sie muß schon mehrere Tage gesessen haben, denn ihr Körper trägt Spuren der Auflösung, und das Buch ist vom Regen durchweicht.

Sigrid erzählt von ihrer Begegnung mit der Alten, und was sie auf den Berg getrieben. »Man hat doch nur eine Seele, und die will leben ...«

Archibald nickt in tiefem Ernste. »Wieviel Weisheit in solchem Menschen verborgen war! Können wir mit all unsrem Wissen des Wissens Höheres sagen? Ja, kommen wir damit auch so hoch? Vielleicht – sie hat mehr gewußt als wir – und ist uns jetzt weit voraus ...«

Da liegt in weithin geschwungenem Bogen das flache Land im Abendfrieden. Inmitten die große Stadt. Der Wald ihrer Schornsteine raucht, sie atmet wieder. Neugeboren erscheint alles: der Himmel – die Erde – das Leben. Seitwärts versinkt die Sonne mit ihrem vielberedeten Gegner, der nun zurückeilt in unerforschliche Fernen.

Sigrid fragt: »Ob er noch einmal wiederkommt – und dann das Letzte? ...«

Das ist nicht zu sagen. Er oder ein anderer, und wenn kein gewaltsames, so ein natürliches Aufhören – es muß ja sein. Am Ende war alle Aufregung umsonst. Die Weisesten haben recht, daß wir immer vor den letzten Dingen stehen. Alles Dasein ist nur ein Wimperzucken der Ewigkeit. Nehmen wir seiner wahr und füllen den kurzen Raum mit dem, was nicht aus der Zeit ist. Fühlst du das Unaussprechliche?«

Sie begegnet seinem Blick und sieht es in den Brunnen seiner Seele leuchten.

Er sagt: »So laß uns furchtlos jenem Tag entgegenwandern, wo kein Tag mehr ist.«

* * *

 


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