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Durch die finsteren Straßen wandert einsam, unerkannt der Kanzler. Da und dort glimmt Kerzenlicht durch die Fenster wie Reste kümmerlichen Lebens. Gleich schwarzen Totengrüften stehen die hohen Häuser gegen den rötlichen, von fliegenden Funken übersprühten Himmel. Brandiger Geruch legt sich beklemmend heiß auf die Lungen ... Wäre es nicht dauernd windstill, die ganze Stadt wäre zur Ruine eingeäschert.

Oft stößt der vorsichtig Schreitende mit fremden Körpern zusammen – Wasserträgern mit klirrenden Eimern – vom Feuer Vertriebenen, die Unterkunft suchen – nackten Wesen, die in breiter Kette singend daherkommen – manchmal umschlingen ihn weiche Arme, raunt ihm Weibesstimme ein freches Wort ins Ohr, daß er sich losreißen muß. Doch sind es meist kurze Scheltworte, die die dumpfe Stille zerreißen, Laute verbitterter Ohnmacht ...

Endlich im Freien – im Stadtwald! Halb kahl geistert er im rötlichen Widerschein. Als hätte ein Orkan darin gehaust, liegen abgehauene Stämme, zerbrochene Äste umher. Am großen Teich Herden von durstenden Tieren: Pferden, Hunden, die frei umherschweifen. Dazwischen schöpfen Menschen – verdorbenes, fauliges Wasser. Schon gehen Gerüchte um von verheerenden Seuchen – und keine Ärzte, kein Heilmittel!

Aber es gibt noch schlimmere Not, die unheimlich heraufsteigt, unstillbar!

Der Kanzler ist stehengeblieben in plötzlichem Schwächegefühl. Er wendet sich rückwärts: da schwebt über der Stadt die Riesenfeuerwolke. Als wäre ein Vulkan aufgebrochen, hängt sie als ein überirdisches Schicksal drohend herab, sich ausbreitend wie ein ungeheurer Baumwipfel. Oder ist es ein rauchender Altar, auf dem die Menschheit sich selbst den Flammentod gibt, vorgreifend dem nahen Verhängnis?

Der Kanzler muß sich auf eine Bank setzen. Die durchwachten Nächte melden sich, dazu zittern die Glieder von nie gefühltem Hunger. Aber eine rasche Anspannung des Willens zieht ihn wieder empor – als sähen tausend Augen auf ihn, als trüge er noch immer, was ihm bisher den versagenden Körper gestrafft, zugleich sein Stolz und seine Qual: die letzte Verantwortung!

Wenn nur die kraftverzehrende Hitze nicht wäre, die auch im Dunkeln brütet! Oder stiege sie schneller bis zur vernichtenden Höhe! – Langsam schreitet er vorwärts, hält sich bisweilen an den Gittern der Vorgärten, hinter denen alles bereits im Todesschlafe zu liegen scheint. Ruhig ist's hier, die Wogen der lachenden und grollenden Verzweiflung schlagen nicht bis in diese Vorstadt, die im Volksmunde das Gelehrtenviertel heißt. Hier wohnen Menschen, die gewöhnt sind im Geiste zu leben und den Trieben der Natur zu gebieten ... Wie mögen sie leiden! Tiefer als die kindischen Kinder des Augenblicks!

Dort ist ein Kaufladen, in dem ein Lichtlein verloren brennt. Soll es bedeuten, daß da noch etwas ...? Den Kanzler zieht es näher, er tastet den Drücker, die Tür gibt nach. Leer ist der Raum, ausgekauft alle Fächer. Nur hinten in dunkler Ecke liegt – ein Brot. Mit angehaltenem Atem steht er, kein Laut ist im Hause hörbar. – Urgefühle alles Lebendigen recken sich auf. Ein Griff – ein Sprung – und ihm wäre geholfen. Da erschrickt er vor dem Schatten, der dort an der Wand mit gieriger Gebärde sich vorneigt – nein! Erst heute hat er es den Seinen geantwortet, die nach Nahrung ausgehen wollten: »Nur, wenn man euch schenkt oder verkauft!« Die Frau inmitten der blassen Kinder murrte: »Sie tun es alle!« Er dagegen: »Und wenn es alle täten – wir nicht! Wir haben ein Beispiel zu geben. Geht und bittet – nichts weiter!« Das ist sein letztes Wort an sie gewesen, als er davonging – vielleicht sein allerletztes!

Hinter ihm ist eine Frau eingetreten, mustert ihn mißtrauisch: »Was wollen Sie?«

»Würden Sie mir das Brot dort verkaufen?«

»Nein.«

Er greift in die Tasche und legt eine Handvoll Goldstücke auf den Tisch: »Auch dafür nicht?«

Sie lacht höhnisch auf: »Geld? Was nützt jetzt noch Geld?«

Die Münzen rollen über den Tisch, fallen klingend zu Boden.

»Ein kleines Stück davon?«

»Wir brauchen es selber, für morgen.«

Der Kanzler geht langsam hinaus, schließt leise die Tür und wandert weiter durch die dunkle Schwüle ...

Da, in einer Kellerwohnung ist auch noch Licht. Auf dem Herde flackert ein Holzfeuer, die Leute sitzen herum und starren, Mann, Weib und Kinder auf den Kessel, der darüber hängt: ein Bild, das an vorgeschichtliche Höhlenbewohner erinnert. So kehrt die Kultur – auch hier – an ihrem Ende zum Anfang zurück.

Der Kanzler fühlt, daß ihn die Füße nicht mehr tragen. Er steigt wankend die steile Treppe hinunter und bittet bescheiden, ein wenig mitessen zu dürfen. Mann und Frau wechseln fragende Blicke, dann sagt sie freundlich: »Es ist zwar unser Letztes, aber ein paar Löffel voll bleiben schon übrig.«

Sie reihen sich um den Tisch und essen schweigsam den Mehlbrei. Der Kanzler muß an sich halten, um seine Gier zu meistern. Der Mann, dessen Hände den Schuhmacher verraten, sieht ihn über die Brille hinüber forschend an. »Da werden sich viele wundern«, sagt er plötzlich. »Viele werden sich wundern.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sehen Sie, zum Beispiel hier über mir wohnt ein studierter Herr. Der geht schon den ganzen Tag in der Stube auf und ab und weiß sich keinen Rat. Dann sucht er wieder mal in seinen Büchern nach, aber da steht nichts darüber. Und so läuft er wieder hin und her. Heute kam er herunter und setzte sich zu mir, ich flickte gerade eine Sohle; da stichelte er: ob man so was im Himmel brauchte. Ich sagte: ›Deswegen nicht; aber ich kann dabei besser simulieren.‹ ›Ja, Meister‹, meinte er, ›Sie sind ein nachdenklicher Mann. Was denken Sie denn nun? Was wird werden?‹ ›Was ich immer gesagt habe‹, sag' ich, ›wir werden auswandern müssen. Eine Weile werden wir ohne Leib sein. Und dann kommen wir in einen neuen, wie wir ihn verdient haben. Und immer so weiter, bis wir in den innersten Ring eintreten, ins allerhellste Licht. Das ist die Seligkeit. Aber manche werden sehr lange zu wandern haben, weil sie noch weit zurück sind.‹ Der Herr Professor wiegte den Kopf so, als wenn's ihm zu schwer wäre. ›Das haben schon manche in alten Zeiten behauptet‹, meinte er, ›aber es gibt doch keine Seele.‹ Da hab' ich ihm ins Gesicht gelacht. ›Ja‹, sag' ich, ›die Schriftgelehrten sind immer blinde Leute gewesen. Sie haben Augen und sehen nicht. Aber sie werden sich wundern, wenn sie aufwachen. Des Todes werden sie sich wundern.‹ Und da hab' ich meinen Kleinsten am Ohr genommen – er tut es, einen blonden Krauskopf mit großen, verwunderten Augen – und habe gesagt: ›Sehen Sie, der ist schon mal so einer gewesen wie Sie. Und nun ist er in einen Flickschusterjungen geschlüpft, aber in einen gläubigen. Der ist schon reif für den mittleren Ring. Der ist ein gut Stück weiter als Sie ... ‹« »Frau, gib dem Herrn noch die alte Semmel aus dem Schrank! Er hat noch Hunger.«

»Danke, nein. Ihre Kinder brauchen es nötiger.«

»Wenn Sie übrigens Mehl haben wollen, gehen Sie zum Kanzler. Der hat noch viel in den großen Speichern verschlossen.«

»Der Kanzler? Woher wissen Sie das?«

»So fragen mich die Leute immer. Ich weiß es, und damit gut.«

»Was meinen Sie, wozu er das täte?«

»Das geht mich nichts an. Er muß wohl für alle Fälle sorgen, dazu ist er da.«

Der Kanzler schüttelt den braven Menschen die Hand und steigt die Stufen kräftiger hinauf in die sternflimmernde Nacht. Weht nicht ein leiser Hauch Kühlung? Es raschelt in den welken Blättern am Boden.

Nicht lange danach zieht er die altmodische Klingel an der Tür seines alten Lehrers. – Hier ist alles wie vordem. Im Schein einer Öllampe das greise, hochstirnige Haupt tief über das Blatt gebeugt, über das die Feder in winzig feinen Zügen läuft. Noch durchscheinender das geisthelle Gesicht, das sich ihm zukehrt.

»Sehen wir uns noch einmal wieder? Und jetzt?« Er lächelt kindlich. »Wenn ich nicht irre, ist es Nacht.«

»Das ist die Zeit, wo ratlose Jünger zu ihren Meistern schleichen. Alle übrigen Ratgeber lassen mich im Stich. Meine Minister sind nicht mehr zu sprechen, sitzen bei ihren Frauen und warten in dunkler Stube auf das Unvorstellbare.«

»Und Sie?«

»Ich bin angeblich meines Amtes entsetzt, der Wahnsinn regiert. Um so mehr fühle ich die Pflicht, mich in Bereitschaft zu halten, falls Vernunft gebraucht wird.«

Der alte Denker hat die Brille auf die Stirn geschoben, die halbblinden Augen scheinen ins Unsichtbare hinauszuschauen. »Wie sieht es in der Welt aus?«

»Haben Sie von den neuesten Dingen gehört?«

»Ich habe meine Magd gebeten, mich nicht damit zu behelligen.«

Der Kanzler erzählt von Philander und seinem Reich, von der großen Feuersbrunst, von dem bevorstehenden Fest der Menschheit und von dem Riesengespenst der Not, das vor den Toren steht. »Man darf nur hoffen, daß das Erwartete, wenn anders es kommen soll, nicht länger warten läßt. Bis morgen, wäre das äußerste. Darüber hinaus wage ich nicht zu denken.«

Der Alte hat dem langen Bericht mit unbewegtem Ernste gelauscht. »Haben Sie Nachricht, wie es in anderen Ländern steht?«

»Heute, durch meinen treuen Flieger, den ich ausgeschickt, der einen Erdteil im Rundfluge besucht hat. Überall dasselbe: Ratlosigkeit, Verzweiflung, wilder Taumel. London in Krämpfen des Hungers, da die Schiffe ausgeblieben; Rom in Brand; Paris in Aufruhr. Allgemeiner Rechtsbruch, Raub und Plünderung in Stadt und Land, Auflösung der Familienbande. In Spanien und Rußland endlose Züge von Büßern, die Wallfahrtsorte überfüllt, Zeichen und Wunder geschehen. In Amerika soll ein Schwärmer das tausendjährige Reich ausgerufen haben nebst Güter- und Weibergemeinschaft ... Herr Professor, Sie sagten neulich, daß alles Leben seinen Wert in sich selber habe. Aber wie hoch schätzen Sie den Eigenwert eines solchen Geschlechts?«

Der Philosoph hat nach seiner Gewohnheit die Fingerspitzen gegeneinandergelegt und sieht nachdenklich darauf. »Was Sie erzählen, überrascht mich nicht. Unser Dasein ruht auf den großen Ordnungen der Natur. Werden uns diese gleichsam unter den Füßen weggezogen, schweben wir auch nur in Gedanken durch die Luft – das ist ein Zustand, den die Mehrzahl nicht verträgt. Sie verliert, daß ich so sage, den moralischen Ortssinn und fällt ins Bodenlose.«

»Das nenne ich ein vernichtendes Urteil über eine Welt, der Sie neulich eine gewisse Vergeistigung zuschrieben.«

»Ich bleibe dabei.«

»Ja, ein paar Weise ausgenommen, übergroße Geister, von der Welt Übersehene.«

»Wären es auch nur wenige – man schätzt einen Baum nicht nach den tausend Blüten, die fruchtlos abfallen, vielmehr nach den etlichen Früchten, zu denen er's bringt. Aber so ist das Verhältnis in der Menschheit nicht. Wir müssen uns abgewöhnen, wenn wir von ihr sprechen, vornehmlich auf die zu achten, die von sich reden machen, sei es im kleinen Kreise oder im großen. Und ich meine nicht nur die Berühmtheiten des Tages. Mir scheint, daß die Geschichtsschreibung uns irreführt. Das wirklich Große und Gute entdeckt sie selten, weil es im stillen verläuft. Eines der tiefsten Worte, die je geredet worden, sagt, daß Gott erwählt habe, was töricht ist vor der Welt. Glauben Sie mir, mein Freund: da liegen die verborgenen Werte unsres Planeten, die ihn überdauern werden ...«

Dem Kanzler steigt es warm zum Herzen. Er sieht ergriffen auf das weißsträhnige Haupt, das im Lampenschein wie mit prophetischem Glanze übergossen ist. Und er hebt an, von dem Schuhmacher im Keller zu erzählen. Er beichtet unverhohlen seine Diebsgelüste und wie er zum Bettler geworden. Wie ihm der Arme von seinem Letzten gab und ihm sein höchstes Hoffen offenbarte.

Der Alte nickt gewichtig: »Sehen Sie – da ist ein Beispiel. Und denkt der Mann nicht auch das Rechte? Was ich in dünnen Begriffsnetzen auszubreiten suche, das spricht er in kräftigen Bildern gläubig aus. Und was mehr ist: es wird ihm Antrieb des Lebens. War es nicht am Ende der vielberufene Stern, der Sie dorthin führte? Um deswillen schon dürften Sie ihn preisen.«

Der Kanzler legt ihm bewegt die Hand auf das magere Knie. »Erinnern Sie sich, Verehrter, daß ich letzthin sagte, ich wollte wie der Führer eines sinkenden Schiffes auf meinem Posten ausharren? Ich gestehe, daß ich inzwischen wankend geworden war. Mich ekelt vor dem, was sich Menschheit nennt, und was ich Pöbel nannte. Ich fragte mich: lohnt es sich, seine letzten Stunden dem zu opfern? Wie nun ...?«

Die schmale Greisenhand streicht zärtlich über die beschriebenen Blätter. Er hebt eins auf, schiebt die Brille zurecht und liest: »Das ist das letzte, nicht weiter ableitbare Kriterium des Wahren, daß es wirklich ist, das heißt: es wirkt auf den von ihm Ergriffenen, und zwar so stark, daß es ihm mehr bedeutet als sein Selbst.« ... »Meinen Sie, ich schriebe dies alles nur für mich? Was auch kommen mag, ich schreibe – für die anderen, für die Nachwelt. Herr Kanzler – es lohnt sich!«

Der hat sich erhoben: »Dank! ... Nun sagen Sie noch das eine: leiden Sie Mangel an Nahrung? Ich würde mit Freuden für Sie – betteln gehn.«

Um den feinen Mund spielt ein Lächeln. »Mein Bedarf ist gering. Im übrigen ist mir nichts aufgefallen.« Er rührt eine Klingel ... »Martha, haben wir noch zu essen?«

Das mürrische Gesicht der alten Frau belebt sich: »Sehr knapp, Herr Professor. Es reicht kaum bis morgen.«

»Nun also, sorgen wir nicht um den anderen Tag.«

»Ich sorge schon, Herr Professor – bis Matthäi am letzten. Wenn ich auch nichts kriege, der Herr Professor kriegt immer noch was.«

Ein triumphierender Blick des Philosophen fällt auf den Kanzler: »Sehen Sie, auch ein Mensch!«

*

Das Fest der Menschheit hat begonnen. Überall, wohin der beizende Rauch des Stadtbrandes noch nicht gedrungen ist, sind die Straßenbreiten und Plätze von lodernden Feuern erhellt. Vor dem alten Königsschlosse ragen zwei turmhohe Scheiterhaufen, aus denen Flammensäulen steigen. Kostbarer Brennstoff ist da gehäuft: bunt durcheinander hölzernes Schnitzwerk, fürstliches Hausgerät, Gemälde, Bücher, Teppiche – alles, was man aus nahen Palästen eilig zusammenraffte. Und immer noch schleppt junges Volk von allen Seiten Brennbares zusammen und wirft es in die züngelnde Lohe. Dazwischen knattern Feuerwerkskörper, gleißende Strahlen schießen auf und entfalten sich hoch im Dunkel zu prasselnden Sonnen, neigen sich in buntglühenden Garben.

Mitten auf dem Platze, von den Feuerpyramiden bestrahlt, ein schnell errichtetes Gerüst, mit schillernden Seidenstoffen ausgeschlagen. Rotsamtene Stufen führen empor zu zwei goldenen Thronen, die wie Göttersitze gegen den Nachthimmel leuchten. Hoch darüber, die Sterne verdunkelnd, einem rötlichen Gebirge gleich, die brandige Wolke.

Und rings in dem ungeheuren Festraume, den lichtlose Häuser schwarz umrahmen, ein Gewimmel, aus dunkelbekleideten und nacktweißen Leibern gemengt, schwatzend und lärmend, in zielloser Erregung.

Da in einem Strudel von Menschen aufbrausende Heftigkeit: »Ich will nicht! Laßt mich!« Hilda ist es, die Tochter des weiland reichen Mannes, die sich in Männerarmen sträubt. Aufgelöst ihr reiches Haar, die Kleidung lose, verwildert. Man redet ihr gütlich zu, man lacht sie aus, Neugierige sammeln sich.

»Ich will nach Hause! Meine Mutter ist krank!«

Der Bruder drängt sich zu ihr, umfaßt sie: »Es gibt kein zu Hause mehr. Du weißt doch, die Welt ist unser Heim.«

»Ich will nicht länger! Es ist mir zuwider! Komm mit!«

Er raunt ihr etwas ins Ohr.

»Doch will ich zum Vater! Knien will ich vor ihm!«

»Pater peccavi!« höhnt ein schmächtiger Jüngling mit langem Haar. »Laßt das Würmchen laufen!«

Sie hängt ohnmächtig in des Bruders Arm ... Musik von ferne, schmetternde Posaunen. Die lange Prachtstraße herauf, vom Siegestor der alten Könige her kommt es in dichten Wellen gezogen, mit lohenden Fackeln. Die Menge weicht zurück und staut sich zu beiden Seiten. Voran Reiter in vielfarbiger Heroldstracht, Banner im Steigbügel – nackte Jünglinge, Posaunen blasend – ein sechsspänniger Wagen mit einem Erdglobus, rosenumwunden, den griechisch gekleidete Frauen emporhalten. Danach die geharnischte Leibwache des Königs. Er selbst, in einer vergoldeten Sänfte getragen, von Fackeln umleuchtet, die sich hinter ihm in endlosen Reihen folgen: dazwischen marschieren Arm in Arm Männer und Weiber, Schar auf Schar. Auf Schildern, die sie vorantragen, steht zu lesen: »Ende gut, alles gut!« »Hoch, Mutter Erde!« »Alle Menschen werden Brüder!« »Ein Augenblick, gelebt im Paradiese ...!« und anderes mehr. – Die Zuschauer jubeln Beifall, klatschen, wehen mit Tüchern.

Auf dem Festplatze angelangt, steigt der König feierlich zu den Thronen empor. Er trägt ein weißes, schleppendes Gewand, die mageren Arme sind nackt, um den verkrümmten Oberkörper ist ein Leopardenfell geschlungen. Als er sich wendet, sieht man in seinem Stirnhaar ein Band von Sternen flimmern. Er setzt sich auf den Thron zur Rechten; zu seinen Füßen werden zwei lebende Adler angekettet, die, zuerst unruhig mit den Flügeln schlagen, dann aber erstarrt sitzen und stolz in die Weite äugen. Der König hebt die Hand, und die Posaunenbläser, die an den Stufen gereiht sind, setzen ein, ein hundertstimmiger Chor singt:

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium ...!

Doch ist zu merken, daß der Wortlaut des Liedes da und dort verändert ist, wo der Dichter von dem über den Sternen redete. Allmählich wird die unermeßliche Menge zum Mitsingen fortgerissen, und in ungeheurer Tonfülle schlägt es zum umrauchten Himmel empor:

Freude heißt die starke Feder
in der ewigen Natur!
Freude, Freude treibt die Räder
in der großen Weltenuhr! ...

Verklungen das Lied. Der König ist aufgestanden, durch ein weithallendes Sprachrohr ruft er in die Stille hinaus: »Mitmenschen! Brüder und Schwestern! Willkommen im Reich der Freude! Spät ist es gegründet, doch nicht zu spät. Alle sind zu ihm berufen, die es wagen, Menschen zu sein. Auch die Bedauernswerten, die sich in dunklen Häusern verstecken und den letzten Tag mit Furcht und Zittern verbringen. Jetzt heißt es: leben! An meiner Rechten« – er deutet auf den leeren Thron – »sollte heute die Armut sitzen. Aber die Armut ist tot! Heute starb sie. Ihren Platz nehme die Schönheit ein!«

Er winkt, und ein Wesen in durchsichtigen, silbrigen Schleiern steigt die Stufen hinauf und läßt sich neben ihm nieder.

»Und wie ich dem königlichsten der Tiere, dem letzten Gefangenen der Erde, die Freiheit gebe, so entfalte Menschenwille frei seine Schwingen!«

Man entkettet zu seinen Füßen die Adler. Rauschend schießen sie empor über Glut und Dunst und verschwinden in den Tiefen der Nacht. Beifallsklatschen folgt ihnen nach. Heiser schmettert die Stimme des Königs durch den Schalltrichter: »Hiermit erkläre ich – ruft es weiter von Mund zu Munde: Der Staat ist aufgehoben, das Gesetz ist aufgehoben! Es gibt nur noch Menschen, die gemeinsam leben und sterben! Liebet euch untereinander! Niemand entziehe sich dem Nächsten und Fernsten. Ich habe Nachricht aus den Nachbarländern und von jenseits des Meeres: Überall ruft man das Gleiche aus, überall ist Freiheit und Seligkeit! Der Erdball ist eins!«

Brausender Beifall. Stimmen unter der Menge geben ihn weiter und regen ihn fern und ferner auf.

Der König setzt das Rohr ab und ruft hinunter: »Und nun, ihr junges Volk, tanzt uns noch einmal den Tanz des Lebens!«

Schmeichelnde Musik. Auf erhöhtem Boden gegenüber den Thronen schlingen nackte Jünglinge und Mädchen den Reigen. Auf den weißen Leibern spielt bengalisches Licht in wechselnden Farben. Immer wilder, wütender wird die Bewegung – da teilt sie sich der herumstehenden Masse mit – hier und da sieht man Paare sich drehen, immer weiter schlagen die Wellen, und die unübersehbar wimmelnde Menschheit kreist und strudelt in dem Riesenrund des Platzes im tollen Taumel, im Gedränge sich schiebend, stoßend, in der dumpfen Hitze dieser glühenden Nacht.

Plötzlich steht da auf den Stufen dicht unter dem König eine verwilderte Gestalt mit hohlen Augen und wirrer Mähne, Kleidung und Gliederbau verraten den Mann verfeinerter Bildung. »Menschen!« eifert er wild, »es ist nicht wahr! Die Armut lebt! Elend und bittre Not wie noch nie! Daheim winden sich Weib und Kind in Todesqual! Gebt, die ihr noch habt! Wir leiden Hunger – wir leiden Durst!«

Was ist das? Wie gierige Fische durch bewegte Wasser schnellen, fahren von allen Seiten durch die wirbelnde Menge dunkle Menschen heran, die Hände erhoben: »Hunger! Hunger!« Schon füllen sie die Bühne der Tanzenden, verdrängen sie, stürmen den Thronsitzen zu: »Hunger! Durst! Essen ...!«

Der König ist aufgefahren, rasch haben die Gepanzerten drohend die Stufen besetzt. »Geht in die Häuser! Ihr findet genug!« ruft er hinab.

Der Wildwütende schreit: »Uns hat man ausgeraubt! Wir wollen nicht rauben! Gebettelt haben wir vor den Türen! Abgewiesen! Der König soll geben! Der König!«

»Der König! Der König!« schallt es in rasendem Chor. Immer stärker wird der Ansturm, der Tanz stockt, heißes Begehren reckt sich mit tausend, aber tausend Hälsen auf.

»Ein Fest der Menschheit soll das sein?« tobt der Besessene. »Ein Fest der Verbrecher ist's! Der Banditen!«

Geheul und Wirrsal. Der König hat ein Zeichen gegeben. Hinter dem Throngerüst, aus dem Schatten tauchen Lastwagen auf. Von dort wirft man in weitem Bogen dahin und dorthin Brote, Früchte, Süßwaren ...

Ein Aufschrei aus zehntausend Kehlen. Ein Haschen und Ringen, ein Auf-dem-Boden-sich-Wälzen, Lachen und Fluchen, fauchender Ingrimm. Über Niedergetretenen, Bewußtlosen schlagen die brandenden Wogen zusammen ... Jetzt hat man die Wagen erstürmt, rafft mit zitternder Hast, schleudert und wird geschleudert ...

In dem großen Springbrunnen, dem ausgetrockneten, zischt ein Strahl auf und schäumt in gelblichem Schwall hernieder. Man stürzt sich darauf, eine lechzende Herde. »Wein! Wein!« Aus hohlen Händen schlürft man, ein Menschenring über den anderen in das steinerne Becken gedrängt, kämpft um den goldenen Regen. Nackende plätschern hindurch, saugen an dem armdicken Strahl, werden heruntergerissen, rötlich färbt sich die Flut ... sie trinken!

In dem ohrbetäubenden Tosen hört niemand, daß es vom Domturme Mitternacht schlägt. Und mit einem Male dröhnt es von dort aus dunkler Himmelshöhe in langgezogenen Fanfaren ... Der letzte Tag bricht an! Te deum laudamus!

Tausende stehen dort auf den Freitreppen, Tausende singen das Lied ... »Herr Gott, dich loben wir! Herr Gott, wir danken dir! ...«

Die ungeheuerliche Menschenschlacht geht weiter. Man kämpft nicht mehr um Brot und Wein – Mann und Weib gegen Weib und Mann tobt seinen Zorn aus, geht sich ans Leben. Am bittersten um den Thronbau her. Dort stehen die Gewappneten des Königs, kühn-grimmige Menschen, schwingen Schwerter und bohren Lanzen, wie in uralter Zeit, in bloße Brüste, in waffenlos anspringende Scharen ... Sie alle sehen nicht, daß die Thronsessel leer sind, sehen den halbnackten Flüchtling nicht, der dort durch das Getümmel enteilt ...

Endlich brechen die eisernen Männer zusammen. Die blutigen, zerstampften Stufen hinauf stürmt die keuchende Menschenflut. Man stürzt die goldenen Stühle hinunter, wirft Fackeln auf das zerfetzte Schaugerüst – es flammt und prasselt!

Vom Dome her posaunt es und schallt:

Alle Engel und Himmelsheer, und was dienet deiner Ehr,
auch Cherubim und Seraphim, singen immer mit hoher Stimm ...!

»Kinder, geht zur Ruhe, es wird bald Morgen.«

Sie sitzen, Mutter, Knabe und Mädchen um den Armleuchter mit den flackernden Kerzen, alle drei mit gesenkten Köpfen, vergrämt und müde.

»Ich geh' nicht«, trotzt der Junge, »ich zieh' mich nicht aus. Wenn es dann kommt –«

»Legt euch in Kleidern hin! Wenn etwas vorfällt, wecke ich euch.«

»Ich will auf den Vater warten.« Er geht ans offenstehende Fenster und horcht hinaus. Seltsame Laute, wie von ferner Meeresbrandung, kommen über die Dächer.

»Mutter, jetzt singen sie wieder – ein frommes Lied. Aber dazwischen schreit's ... Und die feurige Wolke kommt immer näher ... Wenn nun unsre Straße zu brennen anfängt?«

»So wandern wir aus. Wir finden schon gute Leute, die uns aufnehmen werden.« Ihre zitternde Stimme verrät, daß sie es ohne Glauben sagt.

Das Mädchen legt das Gesicht auf die Arme und bricht in Schluchzen aus.

Sie streicht ihm über den Kopf: »Hab' noch Geduld, Vater bringt uns zu essen.«

»Ich will nicht sterben!« jammert das Kind. »Ich will nicht sterben ...!«

In grenzenlosem Mitleiden nimmt die Mutter es in die Arme: »Du wirst ja nicht sterben ... Der liebe Gott wird sich unser erbarmen« – so redet sie, während die Angst ihr die Kehle zusammenpreßt – »und wenn du ein schöner Engel werden sollst – das ist doch nicht so schlimm?«

»Ich will nicht in den Himmel! Ich will bei euch bleiben!«

»Wir kommen ja mit«, lügt sie, und das Grauen durchfröstelt sie mitten in der schweißtreibenden Hitze.

In das zuckende Zwielicht hinein tritt Sigrids helle Erscheinung. Im weißen Kleid, wie sie es liebt, darüber die Küchenschürze, alles sauber gepflegt bis auf das schön geordnete Haar. Sie setzt eine Flasche Wasser und Gläser auf den Tisch, ruhig und sorgfältig, als decke sie zum Fest.

»Es ist aus dem Teich«, sagt sie, »ich habe es abgekocht.«

»Hattest du Feuerung?«

»Ich habe einen Stuhl zerschlagen.«

Die Mutter nickt müde, die Kinder schlürfen gierig das laue Naß.

»Hast du etwas gesehen?«

»Nichts Besonderes, die Straßen sind leer.«

Leise legt die Mutter den Arm um die Hüfte der Aufrechten und lehnt den grauen Kopf an sie. »Nun gehst du nicht wieder fort.«

Da durchläuft die hohe Gestalt ein Beben. Sie tritt ans Fenster und sieht in den rötlichen Widerschein des Himmels. Da, wo die Wolke ihn frei läßt, flimmern die Sterne, die grausam waltenden Sterne. Und ihr Herz fliegt zu dem, der sie alle zählt und mißt, einsam um ihre Geheimnisse ringt.

»Edmund!« Die kleine verkümmerte Frau ist ihm entgegengeflogen, der da in der Tür steht mit zerrissenen Kleidern, offenem Kragen, schweißbedeckt. Er wirft ein schweres Brot auf den Tisch: »Da – teilt es gut ein.« Holt Äpfel aus den Taschen und hält sie den lachenden Kindern vor den Mund. »Und das sparen wir bis zuletzt.« Er zeigt eine Tafel Schokolade und steckt sie schmunzelnd wieder ein.

»Vater, wie siehst du aus? Wo hast du das her?«

»Erkämpft hab' ich's! Was meint ihr, wie das herging! Gott sei Dank, daß ich noch ein stämmiger Kerl bin. Sie wollten's mir wegreißen, eine ganze Rotte fiel über mich her. Einem wütenden Weibe schlug ich die Faust vor die Nase, daß sie aufheulte. Einem Burschen, der noch länger war als ich, trat ich in den Leib, daß er umflog – ja, das war ein Höllenspektakel! Der ganze Platz ist ein Schlachtfeld, man stolperte über Leichen. Aber eigentlich war es verflucht schön, so ein Krieg aller bis aufs Messer!« Der sonst so nüchterne Mann ist wie im Rausche; er fuchtelt mit den Armen und trommelt im erregten Sprechen auf den Tisch.

Während die Frau den Kindern Brot schneidet und sie essen, erzählt er vom Fest der Menschheit, von Philanders Königsglanz und Sturz. »Der bucklige Narr ist erledigt«, meint er, »es soll ein schwindsüchtiger Schneidergeselle sein. Aber was nun werden soll, ahnt kein Mensch. Die Regierung hat sich verkrochen. Man munkelt, der Kanzler sei aus der Stadt geflohen, doch hätte er gewisse Vorräte an Lebensmitteln verwahren lassen, für den Fall ... ja, warum soll das nicht möglich sein?« Er verändert die Miene und fährt langsam, geheimtuerisch fort: »Ich sage euch, Kinder, jetzt gilt es die Augen offen halten. Die Astronomen tun das in ihrer Weise, aber wer sagt's, ob nicht manche Leute noch weiter sehen? Und wenn die recht haben –« er klopft der immer verängstet blickenden Frau auf die Schulter –, »dann sitzen wir in kurzem nicht mehr hier bei Wasser und Brot – dann war das kein Unglücksstern – für uns nicht!«

»Ach, Edmund, wenn das wäre!« sie faltet unwillkürlich die erhobenen Hände.

»Ja, bittet darum! Ich sage euch: bittet! Man kann augenblicklich nichts Besseres tun ... Kinder, ich muß euch etwas gestehen: Als mitten in dem Schlachtgetöse die Posaunen bliesen und der Choral anfing – es wurde mir doch sonderbar. Ich darf wohl sagen, ich bin nie ein Frömmler gewesen; aber ich habe mich aus dem Schlamassel herausgemacht und mich zum Dome durchgedrängt. Da standen die singenden Menschen Fuß bei Fuß; einer hat mich heraufgezogen, wie den Schwimmer ans Land. Ich habe wahrhaftig mitgesungen. Und dann im Dome die Andacht – das geht jetzt ununterbrochen Tag und Nacht – Menschen über Menschen, Christen, Juden, Heiden knien nebeneinander. Was der Prediger sagte, habe ich kaum gehört – aber gekniet hab' ich auch. Kinder, versäumt das nicht, man kann nicht wissen, es ist vielleicht doch etwas dran. Und unser Schade wär's nicht.«

Die Frau hält die bange gefalteten Hände im Schoß, die Kinder kauen heißhungrig, die Kerzen schwelen. Da tritt Sigrid aus der Fensternische vor: »Ich muß jetzt gehen, es ist höchste Zeit.«

»Ach, bist du auch da?« Der Vater ist herumgefahren, nicht ohne die Verlegenheit, die er neuerdings ihr gegenüber verrät.

»Archibald wartet auf mich. Er konnte es mir nicht sagen lassen, aber er wartet.«

Die Mutter steht erschrocken: »Tue uns das nicht an! Es ist der letzte Tag!«

Er dagegen: »Was, letzter Tag! Laß sie nur gehn, sie hört Neuigkeiten. Und wenn sie mit guter Nachricht wiederkommt –«

»Sie kommt nicht wieder!« klagt die Armselige.

»Larifari, sie gehört zu ihm.«

»Sie soll allein, mitten in der Nacht –?«

»Es wird ja schon langsam hell. Und für alle Fälle« – er zieht einen Revolver aus der Tasche –, »es sind noch ein paar Schüsse drin. Nur zur Abschreckung für die lieben Mitmenschen.«

»Ich brauche das nicht, Vater. Ich fürchte mich nicht.«

Er nickt und scheint nicht unzufrieden, daß sie geht. Ein jammervoller Abschied der Mutter – ein Kuß den Geschwistern: in kurzem steht sie auf der menschenleeren Straße. Hinter ihr, unter der überquellenden Riesenwolke, graut der Morgen, sie läuft den bleichenden Sternen entgegen.

Eine kühle Brise weht ihr ins Gesicht – endlich, nach einer Woche unerträglicher Hitze. Was das bedeuten mag? – Bisweilen muß sie stehenbleiben, Atem zu schöpfen; dann hört sie aus der Ferne Schüsse, Schreie und Toben. Sie überlegt, ob sie die innere Stadt umgehen soll. Aber jede Minute, die sie erspart, ist ihm und ihr errungen! Also immer den kürzesten Weg!

Dann und wann muß sie doch innehalten, um eine Horde vorbeizulassen, die in der ganzen Breite der Straße singend daherkommt. Sie drückt sich in den Schatten eines Torwegs; trotz ihres weißleuchtenden Kleides bemerkt man sie nicht.

Komme, was kommen mag, Sonnenschein, Wetterschlag,
wenn sie mich heut nur mag: heute ist heut! ...

– Dort aber ist kein Ausweichen möglich. Eine ganze Straßenflucht wird von Plünderern belagert und heimgesucht. Wo die Türen nicht nachgeben, hat man Leitern angesetzt, Fenster eingeschlagen, kühne Kletterer steigen auf die Balkone; man wirft herunter, zankt sich um den Besitz. In den Häusern wird nicht Klage noch Widerstand laut, dumpfe Ergebung scheint dort, wie überall, zu wohnen. Sigrid glückt es, unbeachtet hindurchzuschreiten. Nur einmal legt sich ein Arm um ihre Hüfte: »Noch frei, Schwesterchen?« Sie schüttelt ihn kraftvoll ab und gewinnt das Weite.

Aus dem Dome Orgelton und Gesang. Sie denkt an den Vater und schaudert: nein, dort mag sie nicht knien, wo er ... und sie darf nicht säumen.

Hier qualmen noch die riesigen Scheiterhaufen, in sich zusammengebrochen, ekler Gestank; die Trümmer des Thronbaus, ein rauchender Haufen. Und hingestreut über den weiten Platz im fahlen Morgenlichte starre Schläfer. Sie muß hindurch. Zuweilen glaubt sie etwas sich regen zu sehen, leises Stöhnen zu hören – ach, was vermag sie zu helfen! Und muß sie nicht weiter? ... Und sind wir nicht in wenigen Stunden alle vereint? Im Krankenhause freilich hat sie gewartet, nachdem auch der Arzt gegangen, bis der letzte Seufzer getan war. Aber dieser Rest ihres Eigenlebens gehört – nicht Vater und Mutter, nicht Bruder und Schwester, nicht der vergehenden Menschheit – ihm und ihr allein! Ist das kleinmenschlich gedacht? Nein, so wollte es der Gott, der sie zueinander zwang!

Sie muß über Leichen hinüber, die in langer Reihe im Wege liegen – geschürzten Kleides springt sie, damit sie nicht anstreift.

Nun eilt sie durch den verwüsteten Stadtpark, der von weidenden Pferden belebt ist. Hungrige Hunde, die da wie Wölfe umherschweifen, machen Miene, sie anzufallen, sie muß ihnen mit einem aufgerafften Baumzweige drohen. – Weiter durch verödete Straßen, die mit glanzlosen Augen wie in Betäubung schlafen; sie sieht im Geiste die verzweifelten Menschen auf ihren Betten liegen, unfaßlichem Schicksal entgegenharren. – Endlich im Freien und die schnurgerade Landstraße hinaus. Als sie wieder einmal steht, um das wildklopfende Herz zur Ruhe kommen zu lassen, drängt es sie, sich umzuwenden: da hängt wie ein schwebendes Gebirge der geballte Rauch über der unglückseligen Stadt. Und es fällt ihr die uralte Geschichte ein von jenem sündhaften Ort, auf den Feuer und Schwefel regnete; aus dem ein Weib floh, das sich nicht umwenden sollte. Und da es das Verbotene tat, ward es zur Salzsäule ... Schon will sie den Fuß weitersetzen – da, sieh, bohren sich durch den düsteren Schoß des qualmenden Berges zwei rotglühende Augen, ein großes und ein kleines – die Sonne des letzten Tages!

Und sie stürmt davon, von Sorge gehetzt, unter den Kastanienbäumen dahin, die ihre weißen Blütenkerzen feierlich leuchten lassen, als hießen sie die Eilende willkommen auf dem Wege ins Brautgemach. Vögel zwitschern über ihr in den Zweigen, die Ahnungslosen, die singend in den Tod gehen; und über den Wiesen summt das Volk der Insekten, alles Wesen, denen das Glück ward zu leben, ohne zu wissen.

Und doch liegt etwas wie Erwartung in der Luft. Vor ihr jagen Schwalben tief am Boden hin, unerreichbar schnell, als wollten sie geheime Botschaft bringen. Drüben am Waldrande stehen aufgereiht die Kiefern mit brennend roten Stämmen und gucken gedrängt ins Licht. Wiegen sie nicht leise die grünen Häupter und raunen: Die Sonne ist krank ... die Sonne ist krank? Und dort der alte Weidenbaum neigt sich vornüber, als sei er auf den Todesstreich gefaßt.

Aber das Seltsamste begibt sich da vorn in der Richtung, der sie entgegenläuft. Da im Westen, wo die Waldberge aufsteigen, über den mattblauen Himmel schieben sich Wolken empor – seit langem ein ungewohnter Anblick. Wolken wie zerrissene Länder mit Halbinseln und Inseln breiten sich dort aus als eine neue, obere Welt, und auf ihrem dunklen Grunde schimmert silberweiß die Tempelkuppel – seine Behausung! Von dort weht ein Lufthauch von wunderbarer Frische, wahrhaftig aus einer anderen Welt als der des Brandes und Mordes hinter ihr!

Sie nimmt einen Anlauf zu noch größerer Eile, aber die Glieder versagen; sie muß sich an einen Baum lehnen ... Da bemerkt sie erst, daß nahe vor ihr jemand unter den Bäumen wandert, seit Stunden der erste lebende Mensch. Augenscheinlich ein altes, gebücktes Frauchen, barfuß, die Kiepe auf dem Rücken, am Stocke. Sie will schnell vorüber, aber die Alte ruft sie an: »Mädchen, hast du nichts zu essen?«

Ja, sie besinnt sich, daß die Mutter ihr beim Abschied etwas zugesteckt. Sie hatte es vergessen, aber der Gedanke daran weckt den Hunger. Es ist ein großes Stück Brot, das sie durchbricht. Sie sitzen beisammen im Straßengraben und essen, die Alte zieht aus dem Korbe ein Fläschchen Obstwein, trinkt und bietet ihr an. Sie dankt, weil sie niemals Berauschendes genießt. Während sie ißt, fällt ihr ein, woher dieses Brot stammt. Sie möchte es am liebsten wegwerfen, aber der Hunger ist übermächtig, und sie muß bis dorthinauf aushalten.

Die Alte plaudert mit zahnlosem Munde: »Alles habe ich bei mir, ein Kopfkissen, eine Decke zum Liegen, sogar mein Sterbehemd. Man kann nicht wissen ...«

»Wohin wollen Sie?«

»Auf die Berge dort. Es steht geschrieben: ›Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung, alsdann fliehet auf die Berge; und wer auf dem Felde ist, der kehre nicht um, seine Kleider zu holen ... ‹ Willst du's lesen? Ich habe es bei mir ...«

Sie glaubt's ihr und läßt sich von dem Weibchen erzählen, daß es ganz allein steht. Das heißt, es hat Kinder und Kindeskinder, aber die glauben nicht und haben es verlacht. Da ist es ausgezogen, um seine Seele zu retten. »Sieh mal, man hat doch nur eine Seele, und die will leben.«

»Die will leben«, sagt Sigrid, tief in Gedanken.

»Wo willst du denn hin?«

»Auch auf die Berge. Dort oben wohnt mein Liebster.«

»Ach, hast du noch solche Flausen? Der hilft dir auch nicht. Es steht geschrieben: Zween werden auf einem Bette liegen; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden.«

Sigrid durchschauert's. Sie springt auf die Füße und läuft mit kurzem Gruß davon. Das Wolkenland da vorn ist höher gestiegen, wie ein graues Meer wallt es von unten nach.

Von nun an bleibt sie im Laufschritt, das Versäumte nachzuholen. Nur einmal, an einer sumpfigen Lache, die der Sonnenglut widerstanden hat, zwingt es sie nieder. Sie wirft sich ins Gras und schlürft das schwärzliche Wasser. Dann rasch das Kleid gesäubert und vorwärts. Sie sieht sich nicht mehr um, haftet den Blick nur auf die Kuppel, die wie ein leuchtender Märchentempel sich aus dem Walde hebt. Auf dem Rücken fühlt sie den Sonnenbrand, doch kühlt der Gegenwind ihr Gesicht ...

Am Torhäuschen begrüßt sie der alte Pförtner mit einem ehrlichen: »Gott sei Dank! Wir haben auf Sie gewartet. Wir hatten keinen Boten. Der alte Professor ist beinah hin, er wird's nicht lange mehr machen. Aber der junge Herr hat die ganze Nacht gearbeitet –«

Sie kann nicht sprechen, hastet an ihm vorüber den letzten Hügel hinauf, ins Haus, keucht die Treppen empor in den gewölbten Raum – da liegt er auf dem Ruhebett, angekleidet, den Arm unter den Kopf gelegt, als schmerze er ihn, doch ruhig schlafend. Neben ihm brennt im Tageslichte die Kerze.

Sie steht eine Weile am Eingang, die Hände auf die wogende Brust gepreßt. Dann geht sie auf Zehen näher und setzt sich behutsam auf den Bettrand. Löscht die Kerze und betrachtet ihn, auf den das Himmelslicht von oben herabfällt. Wie eingefallen die Wangen! Wie todmüde – dunkel umringt die Augen, ein weher, alter Zug um den Mund. Nicht mehr der Jugendschöne, der sie zuerst gefangennahm ... Und doch, was da vor ihr liegt, woraus die Seele träumend entschwebt ist – es ist ihr zu eigen gegeben! Ein langes Leben sollte es ihr gehören, zu innigster Verschmelzung! Das geliebte Haupt mit der hohen, freien Stirn – der wortereiche, ihr so hold begegnende Mund – die breite, atmende Brust – die feinen, gedankenwebenden Hände! Die schlanken Glieder, mit denen er so sieghaft einherschritt! Alles ihr Eigentum! ... Und das soll, ehe die Sonne wiederum sinkt, in Feuer und Rauch verwehn ...? Auf ewig? – Ja, es gibt noch ein Leben, zu dem wir ausgeglüht werden – habe ich seine zarten Bekenntnisse richtig verstanden, so erwartet er's auch. Aber ist das Ersatz für solchen Verlust? – Sie versucht sich vorzustellen, wie reine Geister sich lieben können, körperlos sich einander vermählen – und immer zerfließt das Bild in kühle Nebel. Sie sinnt und sinnt. Irgendwo drehen sich geheime Räder, schwingen Pendel, schlägt ein Zeitmesser. Und mit einem Male tropft es ihr von den Wangen, fällt, ehe sie es hindern kann, heiß herab auf seine ruhende Hand.

Da regt er sich, schlägt die Augen auf – ein leerer Blick, dann tritt die Seele hinein, er strahlt und breitet die Arme: »Sigrid!«

Da löst sich in ihr die übergroße Spannung dieser Tage und des gehetzten Laufes, zerbricht in einem Strom von Lachen und Weinen, den sie an seiner Brust ausschüttet. Langsam dämpft und erstickt er ihn mit seinen Küssen, bis sie endlich nebeneinander auf dem Polster ruhn, selig und still umschlungen. Und wieder hört man nichts als den metallischen Pulsschlag unsichtbarer Instrumente und zuweilen das leise Sausen des Windes um diesen Tempel der Liebe.

»Nun ist mein Werk getan, nun bin ich frei für dich.«

»Ist dir nicht auch, als wären wir ganz allein auf irgendeiner Weltinsel zwischen den Sternen?«

»Die letzten Menschen.«

»Archibald – daß wir den Tag nicht erleben sollen, der uns ganz eins macht.«

»Heut ist der Tag.«

»Aber niemand spricht uns zusammen.«

»Brauchen wir einen Dritten? Wir tun es selbst.«

»Haben wir Vollmacht dazu?«

»Heilige Vollmacht, wie einst die ersten, die sich geliebt.«

»Nun kann ich mich nicht mehr schmücken.«

»Du bist geschmückt, meine schneeweiße Braut, mit all deiner Lieblichkeit.«

»Archibald – laß uns knien!«

Sie stehen vom Bette auf und knien Hand in Hand. Gerade über ihnen an der Wand hängt eine Sternkarte, darstellend das ganze hohe Himmelsheer, das Wunder des schaffenden Geistes. Vor diesem Bilde beugen sie sich und beten an ... Als sie sich aufgerichtet, reißt er sie stürmisch an sich: »Nun sind wir eins – durch Gott!« Da hört sie zum ersten Male von ihm das Wort. Wie eigen es aus seinem Munde klingt! Wie sachlich! Groß!

Wieder ruhen sie nebeneinander, er sagt ihr hundert Liebesworte ins Ohr, aber sie ist seltsam verträumt.

»Süße, was ist dir?«

»Archibald – meinst du, daß wir uns wieder begegnen?«

»Ich meine das nicht – ich weiß es, so gewiß, wie im Hauch deines Mundes deine Seele die meine küßt.«

»Können Geister sich lieben?«

»Ja, wie sich Gott lieben läßt – im Geiste. Aber nicht so, wie sich warme Menschen umfangen. Holde, so liebt man nur einmal!«

»Wie schaurig groß ist – das andere!«

»Und wie wonnig ist dies!«

Heißer und heftiger schlägt er die Arme um sie, die sich nicht mehr sträubt; er hört nicht, daß drunten im Saal eine Klingel wirbelt. Sie mit ihren höchst erregten Sinnen hat es vernommen und schnellt empor.

»Was war das?«

»Nichts, Liebste, nichts.«

»Es läutet irgendwo.«

»Nicht doch. Alle Leitungen sind unterbrochen.«

Sie bleibt dabei, er steht unmutig auf, geht die Treppe halbwegs hinunter, lauscht. Kein Laut. Wie er zurückkehrt, fällt sein Blick auf das mächtige Rohr, das da zur Decke hinausstarrt. Seit gestern abend hat er nicht ... Von einer Eingebung der Pflicht getrieben, setzt er sich auf den Beobachtungsplatz. Lange muß er die feinen Gewinde drehen, die das ganze Riesengestell bewegen, muß mit dem Nebenrohr suchen – nun hat er's im Blickfeld. Er sieht – sieht lange, angestrengt – wischt sich das Auge – noch einmal ...

Sigrid, in hoher Spannung, gewahrt, wie der sonst so ruhig Arbeitende zuckt und zittert. Er stößt einen dumpfen Laut aus, spricht zu sich selber Unverständliches. Dann ruft er: »Sigrid, sieh du einmal – nein, du verstehst nichts – aber das ist ja –!« Plötzlich schreit er: »Der X-Stern hat sich entfernt!«

In diesem Augenblick schrillt unten von neuem die Klingel. Er fährt zusammen, ist im Nu die Treppe hinunter – Sigrid hört ihn im Saale hantieren – Minuten vergehen, dann kommt er atemlos zurück: »Sigrid! Kalifornien ruft an: Der Stern entfernt sich! Mailand und Greenwich bestätigen es!«

Er steht, von oben bis unten erbebend, mit hängenden Armen, unfähig jedes klaren Gefühls. Jeder sucht in des andern Augen Antwort auf riesenhaft heraufquellende Fragen und findet keine. Verflogen der Rausch dieser Stunde. Als wehe in heiße Stille urplötzlich durch aufgesprungene Türen ein kühl brausender Wind. Und wirklich – jetzt heult es ums Haus.

Langsam geht er zu ihr hinüber, faßt ihre schlaffe Hand; so stehen sie gesenkten Kopfes in tiefen Gedanken. Endlich sagt er: »Da ist das Wunder ...«

Sie leise darauf: »Es war mir wie ein Fest – nun ist es Alltag.«

»Aber wir dürfen leben ... Menschen sein.«

»Gilt unser Bund auch jetzt?«

»Ja, zwischen uns.«

Er will den Arm um sie legen – da zieht er ihn jähe zurück. Die welterschütternden Folgen der neuen Tatsache durchblitzen ihn. »Sigrid – ich muß zum Kanzler. Er hat mir hinterlassen, wo er sich aufhält für diesen unwahrscheinlichen Fall. Jede Stunde Versäumnis kann Millionen das Leben kosten. Wer bringt mich hin?«

Damit ist er schon die Treppe hinuntergesprungen, Sigrid ihm nach. Vor der Tür ein neues Ereignis: es regnet! Regnet in dicken Tropfen, die der Wind daherschleudert. Archibald rennt voran durch das kalte Gestiebe den Berg hinab zum Pförtnerhaus. Rede und Gegenrede überstürzen sich:

»Gutes Wetter, Herr Doktor!«

»Alter, der Stern rückt ab! Die Erde ist gerettet!«

Der steht mit offenem Munde, die Augen glänzen in Tränen ...

»Ich muß aufs schnellste zur Stadt – raten Sie, wie!« –

Alle drei reden sie hin und her – dies zu langsam, das unmöglich. Sigrid erinnert sich, daß da auf der Wiese ein Pferd geweidet.

»Ein schweres Ackerpferd –«

»Gleichviel!« Schon ist Archibald davon, hat es gefunden. Ein mächtiges Tier, wie ein Streitroß alter Zeit, ungesattelt, aber gezäumt. Mit einem Schwung ist der Gewandte hinauf.

»Bitte, nimm mich mit!«

Er bietet ihr den Fuß zum Aufstieg, reißt sie empor; sie klammert sich, vor ihm sitzend, an den Geliebten ...

Ein abenteuerlicher Ritt. Als ahnte das schwerfällige Tier, daß es eine Weltbotschaft gilt, schlagen seine klappenden Hufe den Boden. Über ihnen hin, sie überholend, jagen die Regenschauer, peitschen ihnen den Rücken. Vor ihnen ertrinkt das Doppelgestirn in grauen Schleiern, die Rauchwolke der brennenden Stadt neigt sich wie ein sinkender Baum vor dem Sturme, in sie hinein stürzt die erlösende Wasserflut ...

Die beiden fühlen nicht die durchdringende Nässe, finden kein Wort. Dem schnaubenden Tier voraus fliegen unsagbare Gedanken. Sie reiten ins Leben – ins Leben!

* * *

 


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