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Im Parke des reichen Mannes rieseln die sonnverbrannten Blätter von den Bäumen. Sie streuen eine goldene Decke über den Rasenplatz, auf dem er mühselig arbeitet. Er hat mit dem Spaten ein Rechteck ausgehoben, steht schon tief in der Grube und wirft die Erde hinaus. Jetzt hält er schweratmend inne, wischt den Schweiß aus Stirn und Nacken, an dem das rötliche Haar klebt, und schaufelt weiter. So eifrig ist er dabei, daß er auf nichts umher achtet, auch nicht auf den Volkshaufen, der draußen vor dem lanzenstarrenden Zaun heranlärmt. Nun klinkt man am Gittertor, stemmt sich dagegen.

»Hallo! Heda! Aufgemacht!«

Mit einem Satz ist er aus der Grube. Der kraftvolle Mann in Hemdsärmeln, auf den Spaten gestützt, mustert mit seinem gebieterischen Auge die Männer und Weiber hinter den Stäben, als schätzte er eine feindliche Macht ab.

»Was wollt ihr?«

»Wo ist der Herr von und zu, dem das gehört?« sagt ein Mensch mit nacktem Oberkörper.

»Das geht euch nichts an.«

Ein Murren ist die Antwort. »Eigentlich hat er recht«, sagt jemand, der wie ein Gebildeter spricht, ruhigen Tones. »Es geht uns in der Tat nichts an, wem dieses Anwesen einmal gehört hat. Heute jedenfalls gehört es keinem mehr. Bitte, mein Herr, wollen Sie uns öffnen; andernfalls verursachen Sie nur eine kurze Verzögerung. Wir benötigen zu einer allmenschlichen Festlichkeit von heute abend noch etwas Wein und eßbare Dinge. Und da wir voraussetzen dürfen –« er macht eine höfliche Handbewegung. – »Sie sind übrigens bestens eingeladen –«

Jener greift in die Tasche und wirft den Schlüssel durchs Gitter. »Wenn ihr auch die Wohnung ausräumen wolltet – laßt das eine Zimmer in Frieden – ihr werdet schon sehen.« Während die Menge eindringt und lachend die Terrasse hinaufstürmt, steigt er in die Grube zurück und schaufelt gleichmütig weiter.

Lange Zeit tobt und schwatzt es vom Keller aufwärts durch alle Stockwerke des vornehmen Landhauses. Dann wird es still und stiller und langsam kommen sie reihenweis die breiten Treppen wieder herunter, Flaschen im Arme, volle Körbe tragend, edle Porzellane, silberne Tafelaufsätze. Stumm gehen sie, fast scheu und beklommen. Beim Anblick des grabenden Mannes stoßen sie sich an, flüstern, manche schütteln den Kopf – er sieht sich nicht um ...

Nach einer Weile, da man nichts hört, als die durch die Zweige taumelnden Blätter, kommt die untersetzte Gestalt des Ingenieurs durch das Gartentor. Er bleibt verwundert stehn, dann tritt er an den Rand der Grube.

»Guten Tag, Herr Staatsrat.«

»Tag, Weiland.«

»Was wird denn das?«

»Das fragen Sie, findiger Kopf? Ein Grab – für meine Frau.«

»Ach, ist die –« stottert er ungeschickt.

»Ja.«

»Und das machen Sie – hier?«

»Wer anders soll es machen? Ich bewohne das Haus allein. Und auf den Kirchhof schaffen, wer tut das heute? Drinnen kann ich sie auch nicht lassen, nach zwei Tagen, bei der Hitze.«

»Aber –«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen: wir wandern ja doch bald alle in den großen Feuerofen. Mag sein. Nennen Sie es nun Ordnungssinn oder Anstandsgefühl oder Frommheit – was soll ich schließlich den Tag über tun? Es ist eine Beschäftigung. So, jetzt bin ich fertig. Reichen Sie mir, bitte, die Hand.« Er schwingt sich mit Weilands Hilfe aus dem Grabe.

»Wollen Sie mir freundlichst helfen, sie zu bestatten?«

»Aber natürlich.«

Sie betreten das Haus, dessen Türen alle aufgerissen sind, die dicken Teppiche zerwühlt und bestaubt. Die geschnitzten Schränke und Truhen erbrochen, da und dort Porzellanscherben und weggeworfenes Silbergerät.

»Es war Besuch hier«, sagt der Hausherr lächelnd. »An hundert Menschen, die viel Anteil an mir nahmen. Hoffentlich haben sie sich in der Hauptsache gut betragen.« – Sie kommen in das halbdunkle Schlafzimmer, wo die Tote in starrer Hoheit in ihrem Prunkbett ruht und alles unberührt scheint. »Sehen Sie, wie feinfühlig die Leute gewesen sind; man ist ihr nicht zu nahe getreten ...«

Dann tragen sie die Frau, nur in das Laken gehüllt, hinaus und in den Garten hinunter, und betten sie sorglich in die Tiefe. Vereint werfen sie die Erde darüber. Es ist eine lange, heißmachende Arbeit, bei der kaum ein Wort gesprochen wird.

»Ein Hügel ist nicht nötig«, sagt endlich der Staatsrat, indem er den Spaten hinlegt.

»Nun lassen Sie uns noch ein wenig niedersitzen und plaudern.«

Sie gehen unweit zu einer Bank unter breitästiger Buche. »Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie zu mir führt.«

»Ich wollte Ihnen meinen Abschiedsbesuch machen.«

Er lacht auf und schlägt ihm auf die Schulter. »Das nenne ich einen höflichen Todeskandidaten. Nun, es tut auch mir aufrichtig leid, daß wir uns trennen müssen. Offen gesagt, das ist mir das Unangenehmste von allem. Wir beide zusammen – das wär' eine feine Sache geworden. Und als Dritter im Bunde die liebe Sonne, der wir das strahlende Gold aus dem Leibe gezogen hätten. Verdammt noch einmal: konnte die nicht noch ein Menschenalter lang mit dem Techtelmechtel da oben warten? Nachher wäre es mir gleich gewesen. Na, also nicht.« Er sitzt vornüber gebeugt und malt mit einem dürren Reise Zahlen in den Sand.

Der Ingenieur räuspert sich. »Herr Staatsrat – eben unser Vertrag ist der zweite Grund meines Kommens. So wie er lautet, kann er nicht bleiben. Bei der ungeheuren Größe des Gewinns, den meine Erfindung verspricht, muß ich die Hälfte beanspruchen. Ganz einfach: Ich trete als Teilhaber in Ihr gesamtes Werk ein ...« Er führt aus, wie das einzurichten wäre, und schließt: »Ich wünsche das nicht um meinetwillen – Reichtum reizt mich nicht. Aber ich möchte so ein Haus und Park haben – für mein einziges Kind. Für das Kind würde ich den Mond verlangen, wenn er zu haben wäre. Ich habe der Kleinen versprochen, daß ich ihr ein Schloß in der Tasche mitbringe und ein Flugzeug, in dem man wohnen kann.«

Der Staatsrat ist aufgesprungen. In seinen durchschwitzten Hemdsärmeln, die Hände in den Hosentaschen, steht er breitbeinig da. »Mensch, Sie sind irrsinnig! Die Hälfte! Ich habe mein Werk in einem langen Leben aufgebaut – Sie haben einen einzigen glücklichen Gedanken gehabt – Sie hätten ohne meine Hilfe nicht einmal die Probe darauf machen können. Ich muß mein ganzes Vermögen daran wagen.«

Jetzt kommt der andere auch in Eifer: »Wenn Ihnen das Wagnis zu groß ist, geben Sie den Vertrag her!«

»Sie haben ihn unterschrieben, punktum. Um des Kindes willen – lächerlich. Das Mädel werd' ich zufriedenstellen. Ich erkläre hiermit: Ich schenke Ihnen das Haus samt Garten erb- und eigentümlich, und das Flugzeug obendrein. Kommen Sie hinein, wir machen es schriftlich –«

Mit einem Male weiten sich seine Augen, als sähe er etwas Riesenhaftes herannahen – und plötzlich lacht er schallend ... »Sagen Sie mal, sind wir nicht beide verrückt, wie jetzt die ganze Menschheit? Haben wir nicht den Sonnenstich? Zanken uns um ein Geschäft – ausgerechnet am Ultimo aller Weltwirtschaft! Machen's wie das Mädchen mit dem Eierkorb auf dem Kopfe, das sich eine Kuh kaufen wollte – da lag die Bescherung – hahaha ...«

»Warum nicht mit jedem denkbaren Falle rechnen? Mich hat die Jugend fortgerissen, die nicht sterben will und ans Leben glaubt. Sie haben doch auch Kinder?«

Er wechselt die Miene: »Gehabt.«

»Was? Sind die auch –?«

»Mir sind sie tot. Der Junge ist Straßenräuber, das Mädchen Dirne – was weiß ich? Lassen wir das und lassen alles unnütze Gedankenspiel ...«

Er hat sich wieder gesetzt und blickt vor sich hin auf das schwarze Viereck im gelblichen Rasen. »Ich habe mein Leben lang nur gerechnet und bin trotz allem froh, daß ich's nicht mehr brauche. Mir ist so feierabendlich wie noch nie – die paar Stunden sollen genossen sein. Das war nun meine letzte Arbeit, und nun kommt nichts mehr ... Das fließt so ruhig aus, wie ein Strom an der Mündung, und nichts in der Welt hat mehr Wert, nichts.« Seine sonst so schneidende Stimme hat einen weichen Klang. Sie sitzen minutenlang schweigend ...

Dann spricht er wieder: »Einen Segen übers Grab hätte man doch gern gehabt. Ein Mensch ist schließlich kein Hund. Sagen Sie: ob die Schwarzröcke das selber glauben, was sie da reden?«

Weiland zuckt die Achseln: »Warum nicht? Vielleicht: sie glauben, es zu glauben.«

»Haha, sehr gut. Sie reden sich's ein und danach den anderen.«

»Aber es gibt auch Menschen, die von Grund aus glauben.«

»Na ja, Weiber und Kinder.«

»Könnten die nicht gerade recht haben?«

»Könnten! – Weiland, Sie sind, unter uns gesagt, ein erzgescheiter Kopf. Einmal ganz ohne Winkelzüge: was denken Sie?«

»Mit meinem Denken bin ich nicht weit gekommen. Das sagt immer nur: ich weiß nichts von dem, was hinter den Dingen da ist. Aber zum Beispiel meine kleine Tochter – die weiß das ganz genau, von mir wahrhaftig nicht. Trotz meiner weiß sie es und redet mit dem Manne über den Sternen, als säß er an ihrem Bett. Sie weiß auch, wohin wir fliegen werden, und es ist ihr im Grunde gleichgültig, ob wir im Flugzeuge übers Meer schweben oder mit angewachsenen Flügeln zu Gott. Wenn wir nur beieinander bleiben, und wir bleiben es in Ewigkeit.«

»Märchen.«

»Mir scheint, Herr Staatsrat, wir sogenannten reifen Männer hätten uns mehr mit diesen Märchen abgeben sollen, anstatt nur mit Kontobüchern und Zahlenreihen. Es ist ja jetzt reichlich spät, aber ich denke es noch zu tun. Sehen Sie, da ist meine Frau –«

»War die nicht tot?«

»Sie ist wieder lebendig geworden. Ist Tage und Nächte über Land und Meer gereist, nur um mir zu sagen, daß sie mir Unrecht getan, als sie mich einstmals verließ. Nun sagen Sie: ist das nur Schwäche, Weiberlaune oder vielleicht etwas ganz anderes, woran wir zwei wohl auch nicht geglaubt haben? Der Weltlauf besteht eben nicht nur aus Druck und Stoß – es sind da Kräfte, wie soll man sie nennen? Ich hab's mit Augen gesehn, wie sie einen starrköpfigen Menschen zu Boden werfen, und darüber will ich in den paar Stunden, die wir noch haben, nachdenken. Also, Herr Staatsrat –«

»Also, Weiland –«

»Kein neuer Vertrag?«

»Meinethalben, welchen Sie wollen.«

»Ich will keinen – auch Ihr Haus nicht. Ich will überhaupt nichts mehr.«

Die beiden Männer stehen Hand in Hand, der kleine vierschrötige und der große Herrenmensch. Keiner findet für dieses Scheiden ein rechtes Wort. Jeder liest in den ernsten Augen des andern und nickt ihm zu.

Als der Ingenieur das hohe Gittertor schließt, wendet er sich noch einmal um. Da sitzt unter der herbstkahlen Buche die schwarzweiße Erscheinung. Der die Welt gewinnen gewollt, als ein Einsiedler, grüblerisch vor der Totengrube.

*

Im großen Oberlichtsaale des Museums ist tiefe Stille. Wie ausgestorben die lange Flucht der Zimmer, die nach beiden Seiten verläuft. Nur an den Wänden ist alles lebendig. Da wogt die Farbenpracht der Schöpfung. Himmlische Frauen lächeln von Wolkensitzen hernieder, göttliche Kinder spielen zu ihren Füßen. Dort windet sich ein Bekenner des Glaubens in selbstgewählter Qual, hier stürmt ein Jäger mit geschwungenem Spieße dem Eber nach, den die Meute umstellt; daneben vor brokatenem Vorhang ein zarter Prinz in seidenem Wams, die durchsichtige Kinderhand am zierlichen Degen, als erwarte er untertänige Huldigung. Ein jedes in seinem Rahmen mit sich allein beschäftigt, in sich vollendet, eine Welt der Schönheit. Verschwenderisch preisgegeben denen, die schauen wollen – doch nun verlassen und vergessen.

Da, ganz aus der Ferne behutsame Schritte. Unten durch das marmorne Treppenhaus steigen sie herauf. Ein schmalbrüstiger Jüngling ist es, mit zurückgestrichenem Langhaar und weit offenem Kragen. Sehr langsam geht er, hält inne, nickt den weißlichen Göttern und Helden zu, die da prangend, doch mit blinden Augen versammelt stehen, streicht einer Aphrodite liebevoll über den glatten Arm; dann nehmen ihn die Bildersäle auf, die er leise, fast auf Zehen, durchschreitet. Nun steht er unter dem sanften Oberlicht des Glasdaches und wendet sich, wie man Bekannte grüßt, nach allen Seiten. »Schade!« sagt er laut, daß es geisterhaft durch die Leere schallt – »schade.«

Dann betritt er ein kleines Nebengemach, in dem nur ein einziges Gemälde wie auf einem Altare steht. Dort ist der Himmel offen, und die begnadete Mutter schwebt mit sehnlich gebreiteten Armen, wolkengetragen, strahlenkräftig gezogen empor, von dem verklärten Sohne empfangen; tief unten im Schatten strecken sich flehende Hände ihr nach.

Der Einsame ist in die Knie gesunken und verharrt so im Aufblick. Dann geht er zur Tür und zieht den Vorhang zu. Schiebt die Polsterstühle, die gegenüber dem Bilde gereiht sind, zu einem Lager zusammen, zieht aus den Taschen ein Fläschchen Wasser, eine Kerze, ein Stück Brot, streckt sich hin und bettet sich so, daß er das heilige Werk vor Augen hat. So liegt er und saugt es mit langen Blicken unersättlich in sich hinein, während der Himmel hinter den breiten Fenstern sich allmählich blasser färbt, der letzte Tag sich neigt und um so brennender die Purpurfalten der Himmelfahrerin leuchten ...

*

Nicht ohne peinliche Empfindungen steigt der Domprediger die dunkle Treppe ins Kellergeschoß hinunter und tastet sich durch den mauerdunstigen Gang, nimmt die Taschenlaterne zu Hilfe, um das Türschild zu lesen ...

Gewiß, die Frommsten aller Zeiten haben kaum besser gewohnt, und der äußere Mangel ließ sie um so inniger nach den Schätzen der Seele trachten – aber indem ihm sein behagliches Heim wie im Blitzlicht erscheint, überkommt ihn doch Scham, ihn, den langjährigen Lobredner der im Geiste Armen. Daß er so lange gesäumt hat, denen, die lichtlos lebten, die Erde wohnlicher machen zu helfen – und nun ist es zu spät. Die einen reißen herrisch das Entbehrte an sich, um es in Eile wenigstens noch zu schlingen – menschlich genug. Die anderen – die edelsten! – verkümmern bis ans Ende ... Mit solchen Gedanken klopft er an wie einer, der um Entschuldigung bitten will.

Die Greisin ist beschäftigt, den unfreundlichen Raum auf den Knien zu scheuern.

»Ach, Herr Prediger, das ist lange her, daß ich Sie nicht gesehen habe – ich komme doch nicht mehr die Treppe hinauf.«

Er fühlt den ungewollten Stich und nimmt, noch befangener, auf dem geflickten Sofa Platz.

»So fleißig bei der Arbeit, Frau Büttner?« sagt er, um etwas zu sagen, und muß im stillen lächeln, daß sie das gerade heute tut.

»Ja, wenn der Herr kommt, muß doch alles sauber und ordentlich sein. Sonst wär' ich ja eine unnütze Magd.«

Jetzt ist es ihm nicht zum Lächeln; er verbirgt seine Ergriffenheit und nickt. »Es freut mich, daß Sie es können. Es geht also besser?«

»Denken Sie, Herr Prediger, seit gestern kann ich aufstehen. Das ist mir auch so lieb – wegen der Posaune. Es ist nicht schön, wenn man sich da nicht rühren kann. Und wissen Sie, was mich so gestärkt hat?«

»Nun?«

Sie schlürft zum Herde und holt einen Topf mit Milch. »Sehen Sie – und Butter und weißes Brot – das hat mir alles mein guter Junge gebracht. Sogar ein Stück gebratenes Fleisch – und weil doch von der großen Hitze das Wasser ausgegangen ist – eine Flasche Wein! Ich hab' nur einen Schluck gekostet – da ging mir das Herz gleich schneller. Denken Sie doch, das hat der Philipp alles verdient! Er arbeitet wieder!«

»So, so.«

»Tag und Nacht arbeitet er, kommt immer erst morgens und gönnt sich kaum Ruhe. Und in die Kirche geht er auch.«

»Ich habe ihn gesehen.«

»Nur das Fluchen hat er sich noch nicht richtig abgewöhnt. Aber er meint's nicht so schlimm. Herr Prediger – wird ihm der Herr gnädig sein? Glauben Sie's?«

Und aus tiefem Herzen antwortet der: »Ich glaube es.«

Sie sitzt neben ihm und streichelt ihm dankbar die Hände. »Daß er so wunderlich ist, Herr Prediger, das ist eigentlich meine Schuld. Ja, wirklich. Mußte ich mich denn mit dem schlechten Manne abgeben und mich verführen lassen? Es war mir nur recht, daß er mich sitzen ließ. Aber was konnte das arme Wurm dafür, daß es zur Welt kam?«

Dem Domprediger legt sich etwas auf die Zunge: von dem, der die letzte Verantwortung für alles Gewordene trägt; aber er schluckt es hinunter.

»Trotzdem war das Kind lieb und gut bis zu dem Tage, wo es überfahren wurde. Daran war ich auch mit schuld. Ich stand gerade am Waschfaß, aber ich hätte wohl einmal auf die Straße gehen können und nach dem Jungen sehen ... Von da an war er wie umgewandelt, sprach wenig, und wenn er sprach, schmeckte es bitter. In der Schule wurde er geneckt: er trüge die Kriegskasse und dergleichen. Später wollte er gern ein Mädchen haben; aber die hübschen wollten keinen Buckligen heiraten, und die häßlichen ärgerten ihn. Lieb gehabt hat er immer nur mich, auch wenn er mich schlecht behandelte. Und ich war doch zuerst an allem schuld ... Herr Prediger, wird der Herr uns beide aufnehmen?«

»Ich hoffe es ganz gewiß. Und weil ich Ihnen das sagen wollte, Mutter Büttner, darum bin ich noch einmal zu Ihnen gekommen.«

Sie bückt sich über seine Hand und küßt sie trotz seines Widerstrebens.

»Und nun sagen Sie mir noch: Warum nennt sich Ihr Sohn Philander?«

»Ach, das ist mehr ein Spaß. Irgendein Lateinschüler hat ihm mal ausgelegt: Philipp hieße ›Pferdefreund‹. Nun mochte er die Pferde nicht wegen des Unglücksfalles. Da hat er sich umgetauft. Philander, das soll bedeuten ›Menschenfreund‹. Und das wollte er gern sein ... ja, er meinte es immer gut mit den Leuten, wenigstens mit den Armen.«

Sie sitzen beide in Gedanken.

»Sehen Sie, Herr Prediger, da scheint die Sonne!« Wirklich fällt durch die Fensterluke ein Lichtstrahl und spielt auf den Zinntellern auf dem Wandbrett.

»Das ist nur manchmal so in dieser Jahreszeit. Da spiegelt sie sich drüben in den Fenstern des Vorderhauses, und dann kommt sie auch zu mir ...«

Seltsame Geräusche auf dem Hofe, Stimmengesumm, klirrende Schritte. Jetzt stampft es die Treppe herunter, murmelt auf dem Gange. Den Domprediger befällt eine Ahnung, er sieht besorgt auf die Alte, die mit offenem Munde horcht. Es pocht, die Tür geht auf – ist es ein Märchentraum? Reisige treten ein, in Panzerhemden, schwertumgürtet, und stellen sich trutzig auf. Danach zwei Mädchen in schneeweißem Gewand mit silbernen Flügeln, Rosenkränze im offenen Haar. Sie heben grüßend die Hand. Hinter ihnen tragen Jünglinge in bunten Wämsern eine goldene Sänfte herein und setzen sie vor der Greisin nieder.

Die ist in die Knie gesunken, mit gefalteten Händen, bebend am ganzen Körper. »Kommst du, Herr? Ich bin bereit ...«

Da erscheint im rotschleppenden Mantel, Goldreif im Haargelock, ein kleiner Hochbrüstiger: »Ja, Mutter, ich will dich holen!«

Er bemerkt den Domprediger, der hinter der Knienden steht, stutzt und runzelt die Stirn. »Was haben Sie hier zu suchen?«

»Ich bitte Sie dringend, Philander: lassen Sie Ihre Mutter, wo sie ist. Stören Sie nicht ihre letzten Stunden.«

»Aha – sie lassen! Jawohl, das haben Sie und Ihresgleichen immer vortrefflich verstanden. Tausend Jahre lang haben Sie den Himmel gepredigt und uns in Dreck und Elend schönstens belassen! Nun schlägt die Stunde – endlich ist's auch mit Ihnen vorbei, und wir wollen Sie noch ein bißchen stören ... Mutter, jetzt bringe ich dich in meinen Himmel!«

Sie wankt, als wolle sie umsinken. »Philipp – kommst du im Namen des Herrn?!«

»Ich bin der Herr! Und außer mir ist keiner auf Erden! Ich heiße Wunderbar, Rat, Kraft, Friedefürst! Brüder, tragt sie in den Palast der Regierung. Und heute nacht, wenn die tausend Feuer zum Liebesfeste brennen, soll sie zur Rechten meines Thrones sitzen, und aller Knie sollen sich vor ihr beugen! Hebt sie empor!«

Zwei Jünglinge wollen die Alte umfassen, sie wehrt sich und schreit: »Ich will nicht! Ich will nicht!«

»Aber Mutter!«

»Philander, ich bitte Sie –«

»Du bist nicht vom Herrn! Vom Satan bist du –! Heiland, hilf!«

Sie hat sich losgerungen, taumelt – plötzlich gleitet sie, der Kopf schlägt gegen den Herd, sie liegt blutend am Boden.

»Mutter! Mutter!« Der König kauert neben ihr, in seinen Scharlachmantel gebettet, liegt sie mit gebrochenen Augen. Stumm, entsetzt steht das Gefolge. Der König weint ...

»Geht hinaus, Leute!« sagt der Domprediger, so entschlossenen Tones, als hätte er jetzt zu befehlen. Sie gehorchen ohne Widerrede. Die Verantwortung des Augenblicks gibt ihm völlige Sicherheit, er fühlt sich diesem Gebrochenen überlegen.

»Stehen Sie auf, Philipp Büttner, wir legen die Mutter ins Bett.«

Sie tun es gemeinsam, er schließt der Toten die Augen ...

»Und nun – genug der Komödie. Rufen Sie Ihre Massen zur Vernunft, zum Ernst des Lebens. Noch ist es Zeit – aber höchste Zeit.«

Da blitzt der Kleine ihn an. »Komödie? Die hat man freilich mit uns gespielt, und wir waren die Dummen, die sich auslachen ließen. Ob Sie nicht auch über den Wahn dieser alten Frau gelächelt haben? Und 's war doch rührend, nicht wahr? Zum Heulen rührend! Aber nun wird es ernst, Herr Dompfaff! Das ist unser Ernst, daß wir einmal lachen wollen!«

»Gut. Sie haben sich zu beklagen. Ich gebe Ihnen zu: von je ist der schwächere Teil der Menschheit im Wettbewerb um die Erde zu kurz gekommen. Ich bekenne mich mitschuldig. Aber darum frommt es Ihnen doch nicht, in aller Eile maßlose Forderungen einzuziehen. Philander – wir stehen unmittelbar vor etwas gänzlich Neuem. Wir wissen nicht, wie es sein wird, aber wir haben tiefen Grund zu glauben, daß sich die Folgen unsres Lebens dort ergeben werden. Sorgen Sie – für sich und die anderen, daß das Ende gut ist.«

»Das gerade will ich ja! Und etwas Neues kommt nicht – wollen wir wetten?« – er streckt ihm die Hand hin – »ich zahle Ihnen da drüben jeden Preis. Und wäre es so, wie Sie meinen – die Abrechnung fürchte ich nicht! Ich hab' es Ihnen im Dome gesagt – wissen Sie noch?«

Der Prediger hat unwillkürlich die gebotene Hand ergriffen. »Und auch etwas in Ihnen selber scheuen Sie nicht, wenn Sie alle Laster freigeben?«

»Es gibt keine Laster mehr! Es gibt nur noch Rechte aufs Leben!«

Er hat sich losgemacht und eilt hinaus, der Königsmantel fliegt hinter ihm her. Bald ist draußen sein Befehlsruf zu hören und der rasselnde Schritt der Gewaffneten. Hier unten flimmert noch immer der Sonnenwiderschein und wirft einen matten Glanz zurück auf das stille Überwindergesicht der Toten.

*

Zur selben Zeit, so weit durch die Luft gemessen, wie ein schneller Vogel Tag und Nacht fliegen mag, liegt auf einer frisch-blumigen Wiese mitten unter blauen Dolden ein kräftiger Bursche, barfüßig, die bloßen, braunen Knie steilauf gestemmt, die Arme unter dem Nacken verschränkt, und blinzelt in die Sonne. Tief steht sie schon im glühenden Dunst, hart über der schartigen Riesenwand, die drüben wie ein Schattenbild ragt, tief abstürzend in jähes Dunkel. Darüber im rötlichen Glaste – ist das noch Erde oder schon himmlisches Gelände? – schwimmt in freier Luft rein weißes Gezack.

Der Bursche schließt die geblendeten Augen, vor denen ihm rote Ringe tanzen. Nun atmet er nur noch die Windstille und hört im reglosen, duftenden Gras die tausend wispernden Stimmen des kleinen Lebens. Unter ihm aus dem Schindeldache, das sich eng an den Grashang lehnt, steigt bläulicher Rauch geradauf und zerrinnt im Lichte.

Plötzlich sitzt er aufrecht und lauscht. In unsichtbarer Tiefe läutet es feintönig, in heiseren Akkorden. Sie kommen! Schon steht er auf vorspringendem Felsen, seine Falkenblicke fliegen hinunter, nun hat er sie entdeckt. Eben ziehen sie aus dem Schattengrunde des tief geschnittenen Tales heraus ins Licht, wo die dünne Linie des Pfades in weit ausholendem Bogen die höhere Stufe gewinnt. Deutlich erkennt er die gefleckte Herde, die langsam aufwärts treibt, dazwischen die wandernden Sennen, die paarweise an geschulterten Stangen die schweren Milchkessel tragen. – Der Bursche, die hohlen Hände am Mund, schreit einen Juchzer zu Tal, und von unten kommt mehrstimmige Antwort ...

»Fast wären wir nimmer aufgestiegen«, sagt der gliedergewaltige Toni, indem er vor der Hüttentür seine Last sinken läßt, zu dem Träumer Sixtus, und trocknet die nackte Brust.

»Von wegen der Hitze?«

»Na, von wegen, daß morgen Jüngster Tag ist.«

»Wa–s sagst?«

Der Toni ist zum Brunnentrog gegangen und läßt sich den eiskalten Strahl über den Kopf laufen. »Daß morgen Jüngster Tag ist«, wiederholt er gleichmütig. »Net?« befragt er die übrigen.

»Wird schon sein«, sagen die im Chore. Auch die alte Sennin mit dem Kinnbarte nickt dazu und macht ein ernsthaftes Gesicht, wie zum Feiertage.

»Seid ihr verruckt?«

»Wir net. Der Kurat hat's ansagen lassen. Aus der Stadt haben sie's gebracht, in denen Zeitungen hat's zu lesen gestanden.«

»Ja, woher dann?«

»Hast net neben der Sonne das andere Lichtl gesehn? Das wird an die Sonne stoßen, sagen sie. Dann kriegt die einen Ruck und purzigagelt herunter, und wir müssen alle verbrennen.«

»Genau so. Dawider ist nix z'machen«, bekräftigen die anderen.

Sixtus steht offenen Mundes. Mit einem Male springt er in langen Sätzen den Abhang hinter der Hütte hinauf, klimmt höher und höher – umsonst, die Sonne ist hinter dem Grat verschwunden; er müßte bis zu dem Schneekar droben hinauf, wo sie noch scheint, aber er würde sie nicht mehr erwischen. Langsam kommt er wieder herunter, blickt sie der Reihe nach an, die sich müde vor der Almhütte niedergelassen haben. Da etliche sich verstohlen angrienen, wird er wieder mißtrauisch: »Gelt, ihr macht euren Gspaß mit mir?«

»Na, na«, beteuert der Toni, »wie wir da sitzen, ist's wahr. Der Kurat hält jeden Tag Bittgottesdienst.«

Da schlägt Sixtus ein helles Gelächter auf, nicht wegen der heiligen Handlung, aber zu der Ursache. »Leute, das kleine Dingl soll die Sonne umschmeißen? Ich hab's auch die Tage gesehn, dachte zuerst, ich wär' schieläugig geworden, aber ich konnt's mir net aus den Augen reiben ... meinethalben! Das Dingl da droben! Und wenn auch die Sonne herunterfiele – so viel macht das net! Bis da herauf kommt's noch lange net!«

»Was du weißt! 's wird halt der Jüngste Tag.«

Jetzt wird's ihm zu viel, er fährt sie an: »Ja, warum kommt ihr dann noch herauf mitsamt dem Vieh?«

»Wir haben den Bauern gefragt, ob wir sollten, Der meinte, es wär' halt gleich. Trifft's unten, dann trifft's auch oben – man könnt' halt nix wissen ... Und 's wär' einmal die Zeit fürs Vieh. Ich hab' Hunger.«

Der Toni hebt sich schwerfällig und geht in die Hütte, die anderen folgen in der Reihe ... Sixtus starrt in den grauenden Abend. Über dem scharfgezähnten Grate ist noch Sonne, als streckte die untergegangene feurig strahlende Finger zum Abschiedsgruße hinüber. Ruhig grasen die Kühe und schwenken die blechernen Schellen. Von drinnen hört man die dumpfen Stimmen der Männer, die eintönig den Rosenkranz murmeln.

Ihm ist nicht nach Essen zumute, auch nicht nach Beten. Er steigt von neuem bergan, bedachtsam bis zu dem Fleck, wo das hohe Gras zerdrückt ist, wo er gern in den offenen Himmel schaut, Sixtus, der Träumer. Dort wirft er sich wieder auf den Rücken und spinnt Gedanken in das blasse Gedämmer hinein, wo man keinen Anfang und kein Ende findet. – Durcheinander geht's ihm wie immer: 's wird neblig nach Untergangs der Abendwind streicht vom Tal herauf – paßt auf, es gibt ander Wetter ... Warum die nur lachten? Freilich, das tun sie gern, wenn sie mich sehen. Der schläft am Tag, sagen sie, wie ein Has mit offenen Augen ... Aber zum Lachen ist's auch, was sich die Stadtleute erdenken – die kennen die Sterne net, sehen sie kaum da drunten, weil's viel zu tief ist und überall Gemäuer und Qualm in der Luft. Daheroben ist man näher dran und hat klare Sicht ... Was? Das Feuerlein da, das ausschaut, als wär's von der Sonne abgetropft – das soll alles zugrund richten? ... Ha, unsre Gebirge stehen fest!

Er schlägt mit der Faust auf den Boden und fühlt die ungeheure Wucht, die da unter ihm lagert bis tief, tief hinunter, daß niemand es ausdenken kann ...

Da ist auch schon der Abendstern. Es ist der einzige, den er mit Namen kennt. Aber die übrigen weiß er auch alle, weiß, wo sie stehen und wie sie langsam vom Aufgang zum Niedergang rücken. Am Tage verstecken sie sich wie die Glühwürmchen, aber im Dunkeln, wenn gutes Wetter ist, kommen sie heraus, einer nach dem andern. Allerhand Figuren gibt's da: einen Wagen mit gebogener Deichsel, eine glitzernde Kette, Schlangen und zackige Kronen, und manche Nacht sieht man's anders zusammen, findet neue, haarfeine Pünktlein ...

Von der Hütte her rufen sie nach Sixtus. Er antwortet nicht. Hier liegt's sich besser als auf dem Heu; warm ist die Nacht, und bald wird's wieder hell, rückwärts über dem Kar ...

Ja, das Wetter schlägt um, die Sterne zittern in schreckhafter Nähe. Wie gesät sind sie, und mitten hindurch fließt ein silberner Bach. Der kommt wohl vom Paradiese her. Und die Sternbilder, hat der Schullehrer gesagt, sind des Herrgotts Buchstaben – wer die lesen könnte!

Nein, die schüttet er nicht eines Tags durcheinander wie ein Häuflein Sand und wirft sie herunter. Unsinn!

Mit einem Male kommt dem Sixtus ein Einfall. Er richtet sich auf, tastet ein wenig höher: da ist ein großer, flacher Fels, noch warm vom heißen Tage. Davor legt er sich nieder und bettet den Kopf auf den Stein. Hart ist er – aber wer weiß, ob man nicht auch so etwas träumt von einer Leiter und Engeln, die auf und nieder steigen ...?

* * *

 


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