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Philander schlendert kreuz und quer durch die Straßen, endlich bleibt er vor einem vornehmen Gasthause stehen, hinter dessen verschleierten Spiegelscheiben rötliche Lampen glühen. Er überlegt ein wenig, dann tritt er in den menschenerfüllten Saal ein, läßt sich in eine Sofaecke fallen und bestellt Rheinwein. Der Kellner mustert seinen schäbigen Anzug und gehorcht herablassend. Alles ist hier gedämpft: die Schritte auf den weichen Teppichen, die abgeblendeten Lichter über den gedeckten, blumengeschmückten Tischen, die Gespräche der Herren und Damen, die sich zurückhaltend gegenübersitzen. Philander genießt den Anblick wie ein Schauspiel und atmet wohlig zarten Kleider- und Zigarettenduft. – Am Nebentische sagt jemand, der sich eben niedergelassen, halblaut: »So ganz unrecht hatte der verrückte Kerl ja nicht –«

»Ich bitte dich, Ludwig, ich war entsetzt, mir zitterten alle Glieder –«

»Es war natürlich höchst unpassend, das bei dieser Gelegenheit auszusprechen, es war an dieser Stelle sogar eine strafbare Handlung; aber was der gute Prediger von sich gab, überzeugte doch recht wenig –«

Sie hat ihr goldenes Armband gelockert und streift den Handschuh ab.

»Wieso? Sind wir nicht allzumal Sünder?«

»Du weißt, ich streite über solche Geschmacksdinge nicht – Kellner, stellen Sie die Flasche recht kalt!« ...

»Jawohl, Herr Baron.« –

Philander läßt sich Zigaretten bringen, drückt sich behaglich in die Polster und bläst langsam den Rauch durch die Nase, obwohl es ihn zum Husten reizt. Bisweilen leises Klirren der Teller, verhohlenes Klappern der Messer und Gabeln ... Wovon mögen die Leute raunen, die sich da über die Tische einander zuneigen? Ruhig, gemessen die Mienen. Nur dort in der Ecke trinkt ein Paar sich zu, behutsam klingen die Gläser zusammen, sie lächeln sich in die Augen –

»Hoch das Leben! Rufen Sie doch! Rufen Sie: Hoch!!«

Alle Köpfe sind herumgefahren, alles sieht nach dem buckligen, kleinen Manne, der da das Glas hochhält.

»Was schauen Sie mich so verwundert an? Es ist vielleicht der letzte Abend auf dieser schönen Erde – da soll man nicht kleinlaut sein! Essen lohnt nicht mehr, aber Trinken – Trinken bis auf die Neige und dann das Glas zerbrechen!« Er schlägt das seine auf den Tisch, daß es zerknickt.

Hinter den Eingläsern der Herren, den Lorgnetten der Damen kreuzen sich spöttische Blicke, man zuckt die Achseln, wendet den Rücken.

»Warum so entrüstet? Ist das gegen den guten Ton? Zum Kuckuck, bald pfeifen wir alle aus demselben Loch. Ja, solange Mutter Erde mit uns gemütlich kreiselte, galt das Getue von denen die haben und die nicht haben. Die Posse ist aus, meine Damen und Herren! Wir sind doch alle aus demselben Ei gekrochen und fahren einträchtig ins Nichts zurück. Lüftet die Masken – auf gute Brüderschaft!« Er rafft ein leeres Glas, füllt es und gießt es hinunter.

Nun wird es rundum lebendig. »Ein Betrunkener!« sagt jemand. Rufe: »Kellner!« »Herr Wirt!« Beide eilen heran. »Mein Herr, Sie belästigen die Gäste. Gehen Sie hinaus!«

»Aber warum? Wollen wir uns zum Schlusse nicht noch mal gemeinsam unterhalten? Die Menschheit hat so lange an getrennten Tischen gesessen. Der Prediger würde sagen: Einer lebte herrlich und in Freuden, der andere lag auf dem Pflaster. Wer weiß, wie's nun kommt. Es wird behauptet, die Sache würde sich umkehren. Vielleicht lohnt es sich manchem, einen armen Teufel kennenzulernen, damit der nachher irgendwo ein gutes Wort für ihn einlegt!«

Plötzlich sagt der am Nachbartische laut: »Das ist ja der Mensch aus dem Dome, der den Gottesdienst störte. Geisteskrank!«

Die Dame neben ihm schreit: »Ein Gotteslästerer!«

Jetzt bricht lauter Lärm aus. Zornrote Gesichter. »Hinaus! Hinaus! Polizei!«

Philander lacht hell auf. »Immer noch Gewalt? Haben Sie nicht gehört, meine Herren: der Krieg ist aus? Regierung gibt's morgen auch nicht mehr!«

Wirt und Kellner haben ihn unter die Arme gefaßt und emporgerissen ...

»Warten Sie doch, bis Sie Ihr Geld haben. Sie müssen doch Ihr Begräbnis bezahlen!« Er stürzt das letzte Glas hinunter und wirft den Schein auf den Tisch.

An der Tür wendet er sich noch einmal zu dem lautlos ihm nachstarrenden Kreise: »Gute Himmelfahrt, meine Herrschaften!« Dann ist er draußen. –

Einige Augenblicke verharrt die Gesellschaft in Schweigen.

»Ein richtiger Flegel«, sagt der beleibte Wirt und versucht überlegen zu lächeln. Er prüft den Geldschein: »Wo er den gestohlen haben wird?«

Die Dame mit dem breiten goldenen Armband seufzt: »Ein unheimlicher Mensch.«

»Ja, der Kerl hat doch aber in gewisser Weise recht –«

»Ich bitte dich, Ludwig –«

»Was nützt da bitten, wenn die Welt untergeht.«

»Das ist noch gar nicht erwiesen!« ruft jemand aus irgendeiner Ecke.

»Ich habe nicht behauptet, daß es geschieht. Ich sagte ›wenn‹ ... und auf den Fall muß man sich sozusagen einstellen.«

Nun fliegen Rede und Gegenrede durch den Saal.

»Leider Gottes werden sich viele darauf einstellen! Die übelsten Elemente!«

»Das hat man gemerkt!«

»Die Bestien wittern Freiheit!«

»Nächstens ist man seines Lebens nicht mehr sicher!«

»Und wer ist schuld? Die Regierung!«

»Nein, die Astronomen!«

»Nein, der verdammte Unstern!«

Ein kurzes Auflachen schallt im Kreise und erstirbt ebenso schnell. Der erste Sprecher sagt: »Mir scheint, hier kann von menschlichem Verschulden keine Rede sein. Hier droht ein Schicksal, dessen Möglichkeit genügt, um alles Menschliche über den Haufen zu werfen. Meinen Sie, das Volk hätte nicht Augen im Kopfe so gut wie wir? Da helfen keine Scheuklappen, auf jeden Fall gehen wir bösen Tagen entgegen –«

Ein dumpfer Schlag aus der Höhe, der langsam verrollt.

Aufschreie der Frauen. Viele sind von den Sitzen emporgefahren.

»Ein Gewitter, nichts weiter.«

»Beruhige dich doch!«

»Es stand schon am Himmel.«

»Komm nach Hause, Ludwig ... Ich gehe ... es ist besser, man ist zu Hause.«

Die Gesellschaft gerät in Bewegung, man verlangt zu zahlen.

Zureden des Wirtes: »Aber, meine Herrschaften, es regnet. Sehen Sie doch, die Leute gehen mit Schirmen.«

Kein Aufhalten. Ein hochgewachsener Herr mit Hiebnarben im Gesicht lächelt verlegen: »Meine Frau ist abergläubisch, wissen Sie, wie die meisten Damen.«

In kurzem hat sich der Saal geleert.

*

Indessen eilt Philander unter stiebenden, warmen Tropfen und Donnerrollen durch enge Straßen mit grauen, verwohnten Häusern davon. In der schwülen Luft pochen ihm die Adern vom ungewohnten Wein, er streift bisweilen taumelnd an die Wand. Da ist das breitgelagerte Bauwerk, das mit seinen hohen Fensterreihen wie eine Burg diesen Stadtteil beherrscht. Als sei er hier ansässig und vertraut, öffnet er eine Tür nach der anderen, durchschreitet das Treppenhaus mit dem mächtigen Standbild der Freiheitsgöttin, vor der eine Mannes- und eine Frauensgestalt in Arbeitskleidern sich die Hände reichen, und tritt ohne weiteres in den großen, erleuchteten Raum. – Eben sagt der Sprecher dort am Pulte, der mit den langen Haaren und den heftig schwingenden Armen: »Ich bleibe dabei: es ist ein wohlberechneter, weit ausholender Schlag gegen das Arbeitervolk. Man weiß, daß die Weltrevolution vor der Tür steht. Man greift zum letzten, verzweifelten Mittel, sie zu verhindern: man kündigt den Untergang aller Dinge an. Man erhofft davon einen Aufschub des entscheidenden Kampfes, ja, wohl noch mehr. Wenn, wie ich annehme, das prophezeite Ereignis nicht eintreten wird, will man wenigstens den arbeitenden Massen einen sogenannten heilsamen Schrecken eingejagt haben. Man will das finstere Zeitalter wieder heraufführen, in dem sich die herrschenden Klassen so ausnehmend wohl befunden haben. Wenn's ihnen damals auf dieser Erde nicht recht geheuer war, wenn die versklavte Menschheit anfing, über sich nachzudenken, dann steckte der Herrgott zuzeiten eine Rute am Himmel aus, damit die unartigen Kinder Ruhe hielten. Das sollte heißen: Wartet, wenn ihr nicht schleunigst in Sack und Asche Buße tut, wird euch der Hals umgedreht.«

Eine Lachwelle geht durch die Versammlung.

»Merkt ihr, Männer und Frauen, was die bürgerliche Gesellschaft vorhat? Wir sollen, wie in guten, alten Zeiten, uns recht eifrig um den Himmel kümmern anstatt um die Erde, damit die Besitzenden sie ungestört unter sich verteilen können. Es ist das alte Rezept der Regierenden, das Volk gefügig zu machen – Angst vor irgend etwas da oben. Ich war heute im Dom –«

»Ah!«

»Natürlich aus keinem anderen Grunde, als um zu hören, wie man dort die himmlische Neuigkeit ausnutzen werde. Meine Erwartungen wurden auch nicht enttäuscht. Allerhöchste Verwünschungen hagelten nur so auf uns arme Sünder herab ...« Der Redner schildert den Verlauf des Gottesdienstes ... »Und nun kam eine erfreuliche Überraschung ...« Er gibt Philanders Ausruf wieder und ahmt mit geballter Faust seine Gebärde nach: »Ich klage an! Ich klage!«

»Sehr gut!«

»Sicherlich war der Einwand gut und brachte Seine Hochwürden in nicht geringe Verlegenheit. Nur war er an eine falsche Stelle gerichtet. Es nutzt nichts, daß ein armer Teufel den Himmel verklagt, der mit diesen Dingen gar nichts zu tun hat. Hierfür ist ein gewisser Teil der Menschheit verantwortlich, den ich nicht nochmals zu bezeichnen brauche. Ihm müssen wir Menschen der Arbeit eine bessere Erde abringen. Daß wir's noch nicht erreicht haben, ist die einzige Schuld, die wir bekennen. Darum muß unsre Antwort auf die neue Herausforderung der Machthaber lauten –«

»Arbeitsniederlegung!« ruft jemand. Brausender Beifall und Händeklatschen.

»Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde. Nur muß sie diesmal so allgemein und schlechthin ausnahmslos geschehen, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Der jähe Abbruch des Seekrieges durch die Dienstverweigerung der Mannschaften gibt uns das Beispiel. Auf die Kundgebung aller Regierungen und ihrer Helfershelfer folge der einmütige Ausstand aller Völker und damit die Weltrevolution. Sie sollen recht haben, die schlauen Rechner, diese Erde soll untergehn – aber sie soll einer neuen, besseren Platz machen, regiert von einer Gerechtigkeit, die wir von Göttern und Menschen bis heute umsonst erwartet haben!«

Stürmischer Beifall.

»Die Verhandlungen mit den führenden Köpfen der überstaatlichen Arbeiterbünde sind im Gange. Einstimmigkeit ist auf dem Wege. Ich erbitte von Ihnen Vollmacht, unser Einverständnis zu erklären, damit morgen früh in allen fünf Erdteilen der Weltausstand verkündigt wird. Ich höre keinen Widerspruch. Ich beglückwünsche die Menschheit zu diesem Beschluß.«

Erneutes Klatschen auf allen Seiten.

»Wünscht jemand noch das Wort?« fragt der in der Mitte der Haupttafel.

Da löst sich Philander aus dem Schatten der Türecke, drängt sich rasch zwischen den langgereihten Tischen hindurch und steht plötzlich neben dem Vorsitzenden. »Der Beschluß ist falsch. Was soll das: die Arbeit niederlegen? Bedenkt doch: die Welt geht unter!«

Unruhe. »Wer ist das? Hat er das Wort?«

Der Vorsitzende rührt an die Klingel. »Dies ist eine geschlossene Sitzung, Sie haben nicht das Recht, hier zu sprechen.«

»Aber laßt doch den Firlefanz. In ein paar Tagen sind wir alle Luft – wozu da noch Türen zuschließen? Und wozu erst feierlich die Arbeit niederlegen? Wenn der Himmel einfällt – da hört eben alles auf! Da sind alle Spatzen tot!«

Schallendes Gelächter. Nur das bärtige Gesicht des Vorsitzenden bleibt unbeweglich ernst.

»Ich frage die Abgeordneten, ob sie den fremden Redner hören wollen.«

Der mit den langen Haaren ruft: »Es ist der Mann aus dem Dome, der den Zwischenruf tat!«

Einen Augenblick Stille; dann ein leises Rauschen der Neugierde. »Reden lassen! Reden lassen!«

Da steht der Zwerg, den Kopf zwischen den Schultern, und sagt: »Ihr habt mich ausgelacht, liebe Leute, aber mir scheint, daß ihr euch lächerlich macht. Ich bin keiner von euren Groschenzahlern, ich bin ein Habenichts auf eigne Faust und ein freier Mann. Laßt euch sagen: ihr macht einen Fehler. Wie steht die Sache? Die Regierung macht bekannt, daß die Welt auf dem letzten Loche pfeift. Ihr wollt das nicht glauben – meinethalben, obwohl die Sterngucker bessere Augen haben als ihr und besser rechnen können. Gut, es soll nicht wahr sein. Aber wahr ist, daß die Regierung es behauptet. Darauf antwortet ihr: Nun wohl, so bauen wir keine Maschinen mehr, pflastern keine Straßen, bestellen keinen Acker, fördern keine Kohlen, backen kein Brot. Was habt ihr erreicht? Ihr kitzelt die Geldleute, ihr ärgert die Bürger – vielleicht, ihr kippt den Staat um und kommt nach oben. Weiter nichts? So zahm seid ihr? Menschenkinder! Lest doch, was an den Straßenecken steht: Die Welt geht unter! Die Wissenschaft sagt's – ›nach Menschenermessen‹ – die Regierung sagt's – nun also! Was macht man auf einem Schiff, das gegen den Eisberg anläuft und rettungslos in den Grund sackt? Beruft man da eine Versammlung und beredet, wie hoch das Schiff versichert ist und wer den Schaden bezahlen soll? Sagt da einer noch im Gedränge: ›Entschuldigen Sie, Gnädigste, wenn ich Ihnen auf den Fuß treten sollte, und vergessen Sie auch Ihren Koffer nicht?‹ Zum Kuckuck, da gibt's nur noch nacktes Leben – was darüber ist, gehört keinem und jedem! Ich las einmal, daß die alten Römer am Ende jedes Jahres ein Fest gefeiert haben, wo alle Arbeit ruhte und überall Lustbarkeit war. Die Sklaven schmausten am Tische ihrer Herren, die Gefangenen ließ man los, das arme Volk vergnügte sich auf Kosten des Staates. Saturnalien nannte man das. Und irgendein armer Teufel, der für den Henker reif war, wurde zum König gewählt über all den Jubel und Trubel, der gab den Ton an! ... Leute! Die Welt geht unter! Ehe alles vorbei ist, wollen wir noch einmal lachen! Zusammengescharrt ist genug. Erben haben wir nicht – also verjubeln wir, was wir haben, und fahren lachend zur Hölle! Saturnalien! Braucht ihr einen König – hier ist ein Todeskandidat!«

Er schlägt sich mit der Faust auf die vorgebaute Brust, die in immer heftigerem Schreien nach Luft ringt, und als löste er dadurch sein Inneres, bricht ein Hustenanfall aus, daß er sich rücklings an den Tisch lehnen muß.

Niemand lächelt mehr, viele sitzen nachdenklich gebeugt. Der Bärtige in der Mitte hat den Kopf auf die Hand gestützt und spielt mit dem Bleistift. Jetzt erhebt er sich: »Ich glaube nicht, daß die gehörten Worte im Sinne der überstaatlichen Arbeiterbünde sind. Wünscht jemand außerhalb der Tagesordnung hierüber zu sprechen?«

Der Langhaarige ist aufgesprungen, sein Arm fliegt empor: »Niemals werden selbstbewußte Arbeiter sich zu dem Standpunkt erniedrigen, den der Vorredner eingenommen hat. Welches klägliche Schauspiel würde solch ein Hexensabbat der Welt bieten! Welchen willkommenen Anlaß gäben wir den Regierungen, uns als Verbrecher zu behandeln! Und wenn das Unwahrscheinlichste geschähe, wenn wirklich die Menschheit vernichtet würde, dann denke ich, wollen wir rühmlicher untergehen als in Saus und Braus. Unser Letztes sei der ehrliche Kampf für die Freiheit, für die gerechte Sache der Unterdrückten!«

Kein Beifall regt sich; es ist, als habe eine Last von Gedanken sich auf alle niedergesenkt. Philander aber ruft höhnisch: »Sehr brav! Ganz nach Befehl der hohen Obrigkeit! Wie steht's doch angeschlagen? ›Laßt uns unter allen Umständen der Menschheit Ehre machen‹ ... hahaha! Vertröstet euch nur, daß der Himmel auf die Erde kommt – ja, mit Feuer und Schwefel! Ich hole mir meinen lieber beizeiten! Die Unterdrückten werden mich besser verstehn!«

Draußen flammt der Himmel und kracht wie zur Antwort, während Philander zwischen den Sitzreihen hindurch und zur Tür hinaus eilt. –

In das gedrückte Schweigen hinein spricht ein alter Mann: »Ich beantrage, daß die Gewerkschaften dem Aufrufe zum allgemeinen Ausstand hinzufügen: Wir ermahnen die Arbeiter, alles Kommende kaltblütig zu erwarten, und warnen vor Ausschreitungen.«

»Es wird nichts helfen«, sagt eine bange Frauenstimme. »Wir werden überrannt.«

*

Über einen engen Hof, in den der Regen herunterprasselt, läuft Philander einer Kellertreppe zu und die Stufen hinab ins Dunkle. Er steht eine kurze Weile vor der Tür, um wieder ruhig zu atmen, dann tritt er in das dumpfe Zwielicht ein.

»Guten Abend, Mutter.«

Unter dem Fenster hebt sich aus dem Bette eine magere Hand. »Kommst du endlich?«

»Du hast doch niemals Langeweile, Mutter, mit deinem Buche, wenn du auch alles auswendig weißt.«

»Ich hatte Angst um dich, bei dem Wetter.«

»Hat das schon wieder durchgeregnet? Was –? Du schwimmst ja beinah davon! Verdammtes Loch hier unten! Komm her!« Er hebt die Gebrechliche auf, trägt sie zu dem zerschlissenen Sofa, bettet sie. Dann wischt er auf und verstopft das Fenster.

»Bist du im Dom gewesen?«

»Freilich.«

»Gott sei Dank. Er hat mich erhört. Ja, ja, wenn der Herr einmal so ernst macht, da besinnt sich mancher auf ihn. Waren viele Leute da?«

»Kein Apfel konnte zur Erde.«

»Vielleicht rettet er sie noch in der zwölften Stunde, wie einen Brand aus dem Feuer.«

»Gibt's was zu essen, Mutter?«

»Die Herrschaft von oben hat etwas geschickt. Iß nur.«

Er wirtschaftet am Ofen. »Das bißchen? Die reiche Sippschaft?«

»Man muß dankbar sein. Von ganz oben kommt das, weißt du.«

»Da soll's ja erst recht die Hülle und Fülle geben.«

»Du verstehst mich nicht –«

»Na, nimm nur. Ich hab' mich unterwegs satt gegessen. Denk' mal, Rheinwein hab' ich getrunken.«

»Ach –?«

»Ein guter Freund hat spendiert.«

»Ja, es gibt noch gute Menschen. Und um deretwillen wird Sodom nicht ganz verlorengehn.« Sie ißt mit zitternden Händen.

»Weißt du, Mutter, von morgen an werden wir mal gut leben. Ich bringe dir die schwere Menge.«

»Mein Junge – hast du endlich Arbeit bekommen? Noch zu guter Letzt?«

»Ja, warum soll ich nicht was verdienen? Ich bin auch ein Mensch! Jeder Mensch verdient was.«

Sie jammert: »Wenn ich nur noch könnte ...!«

»Mutter – du? Du hast dir den Himmel auf Erden verdient! Siebzig Jahre hast du dich geschunden ums trockne Brot! Mein Vater hat dich betrogen, die Welt hat dich betrogen! Ich hab' dich hungern lassen!«

»Philipp, schrei doch nicht so!«

»So laut möcht' ich schreien, daß es alle da über uns hören, bis ins oberste Stockwerk und noch weiter oben! Du hast verdient, daß du auf seidenen Kissen liegst, daß du jeden Tag Braten und Wein hast, daß die berühmtesten Ärzte kommen und dich gesund machen! Und wenn du mal stirbst, hast du dir die ewige Seligkeit im obersten Himmel verdient!«

»Kind, rede nicht so gottloses Zeug. Es ist alles Gnade.«

»Ach so, hm, das meinte der Pastor auch.«

»Siehst du. Was hat er denn sonst gepredigt?«

»Wunderschön, ganz wunderschön. Wir haben nichts als Zorn verdienet, und wenn wir nächstens alle verbrennen, müssen wir froh sein, wenn wir nicht in Ewigkeit weiterbrennen.«

Sie nickt. »Aber wir sind erlöst. Wie ich mich darauf freue! Es wird nicht lange währen, so kommen wir nach Haus. Und du kommst mit, mein Junge, und bist wieder ganz gerade gewachsen, wie du als Kind warst. Richtig wie ein kleiner Engel warst du, eh dich die Kutsche überfuhr.«

»Ja, und fuhr so schnell davon, daß wir nie erfahren haben, wer die Herrschaften waren, die mich so zurichteten. Gott hab' sie selig, sie hatten wohl große Eile.«

»Ach, laß die Leute, die haben ihren Lohn dahin. Weißt du: weil wir so arm und elend gewesen sind, wird uns das Abschiednehmen leicht. 's ist doch nur ein Jammertal.«

»Ja, Mutter.« Er kniet vor ihr, und plötzlich schluchzt er in ihren Schoß.

Sie streichelt ihm den Kopf. »Nicht weinen, Jungchen, wir werden sein wie die Träumenden ...«

*

Durch die Gartenstraßen der Vorstadt jagt der Kraftwagen des Kanzlers, bis er vor einem kleinen Landhause hält, das noch aus dörflichen Zeiten stehengeblieben scheint. Die alte Wirtschafterin, der er seinen Namen nennt, weiß nicht, wen sie vor sich hat, und läßt ihn im dunklen Hausflur warten. Auch der hagere Greis mit dem weißen Langhaar, der ihn zwischen seinen bücherbedeckten Wänden empfängt, mustert ihn über die Brillengläser hinweg wie einen Fremden.

»Wie war der Name? ...«

»Ich bin der Kanzler.«

»Sieh da« – um die schmalen Lippen gleitet ein Lächeln – »man sieht Ihnen so schwere Bürde nicht an. Und gar jetzt – was ruht alles auf diesen Schultern!«

»Eben das führt mich zu Ihnen, Herr Professor.«

Sie sitzen sich auf altväterischen Lehnstühlen gegenüber.

»Zu mir? Ich war nie ein Politikus.«

»Einen solchen suche ich nicht. Ich suche den Denker, zu dessen Füßen ich einst gesessen. Ich suche Rat bei dem Weisesten, den ich unter den Lebenden kenne.«

»Oh ...«

»Sie sagten einmal, Sie Jünger Platos, daß nur Philosophen den Staat regieren sollten. Ich fühlte das nie so deutlich wie in diesen Tagen. Helfen Sie mir. Sagen Sie: wie gehen Sie dem Furchtbaren entgegen, das uns droht?«

Die schmalen Altershände mit dem blauen Geäder sind nachdenklich gegeneinander gelegt. »Was wäre daran zu fürchten?«

»Das Unabsehbare.«

»Was auf den ersten Blick schrecken könnte, ist das anscheinend Beispiellose. Aber es scheint nur so. Als ich heute früh durch mein Gärtchen ging, sah ich einen Blütenzweig verwelkt, den der gestrige Gewittersturm geknickt hatte. Ist das nun etwas anderes als die Zerstörung eines Himmelskörpers? Wir nennen das eine Ereignis klein, das andere groß. Das sind Werturteile, die an dem Ausmaß der Dinge haften. Im Grunde ist alles, was geschieht, gleichen Ranges. Inmitten einer Unendlichkeit gibt es keine Maßstäbe des Bedeutenden und Unbedeutenden. Ununterbrochen gehen um uns und in uns Welten zugrunde, entstehen neue. Wer mit diesem Gedanken vertraut ist, wie sollte den die Vernichtung eines von den unzähligen Gestirnen außer Fassung bringen?«

»Immerhin eines Gestirnes, auf dessen Dasein wir angewiesen sind.«

»Nun wohl, die Menschheit stirbt – ist das nicht in jedem Falle ihr Los?«

»Sie stirbt nicht ab, sie wird mit einem Male aus vollem Leben gerissen.«

»Wie so viele einzelne auch.«

»Angesichts dieses allgemeinen Endes drängt sich um so mehr die Frage nach dem Sinn des Ganzen auf. Herr Professor – wozu haben wir gelebt?«

Der Gelehrte hat die blutleeren Hände auseinandergenommen und beugt sich darüber, als wolle er in ihren Runen lesen. »Diese Fragen stellen, heißt, das All vermenschlichen. Ich sage nicht, daß wir das nicht dürften, von den Bedürfnissen unseres Geistes schließen auf das Große, dessen Teil wir sind. Aber damit schreiten wir hinüber in den dunklen Bezirk, wo das Wissen endet. Hier mache ich als Denker halt und sage: die Welt hat den Sinn, den ich ihr gebe.«

»Und welchen geben Sie den Jahrtausenden des Menschengeschlechts? Dort Ihre Bücher – welche Unsumme mühseliger Denkarbeit darin aufgespeichert! Welche Ausgeburten begnadeter Stunden! Wie vieles davon mit heiligem Herzblut geschrieben! Was hofft und klagt und jubelt in diesen Blättern, was baut da mit tausend Händen aus geistigen Werksteinen einen Turm des Übermenschlichen! ... Und mitten in dieses Geistleben, das sich, kaum erst angefangen, unendlichen Aussichten entgegenbewegt – fährt ein verirrter Feuerklumpen hinein und zerstäubt es. Alles für nichts!«

»Wieso für nichts? Alles Geschaffene hat seinen Wert in sich selbst. Was nur einen Augenblick lebend war, hat nicht umsonst gelebt.«

»So spricht der Denker in Ihnen, der vorsichtig das Erkennbare abtastet. Aber das genügt mir nicht, und soweit ich Sie kenne, auch Ihnen nicht. Sie lehrten einmal, daß es nur um der Weltweisheit willen lohne zu denken, und daß diese Weisheit da beginne, wo das Wissen aufhört. Habe ich recht verstanden?«

Die hohe Stirn mit den vielen Falten nickt langsam, gewichtig.

»So bitte ich Sie: sprechen Sie jetzt als Weiser. Sagen Sie Ihr Letztes. Wenn unser Menschendasein inmitten einer Unendlichkeit nur ein Augenblick war – haben wir nur für diesen gelebt?«

Das Spiel der schönen, alten Hände, deren spitze Finger sich wie Gedankenfühler strecken, beginnt von neuem. Er faltet sie ineinander und preßt sie, leise ringend, zusammen. In der altmodischen Kastenuhr drüben schwingt der Pendel. Draußen im buntblühenden Garten, der in die niedrigen Fenster blickt, zwitschert eine Drossel.

»Wir leben – so bin ich überzeugt – in einer Welt des Geistes, die durch Veränderungen im Sinnenfälligen wohl berührt, aber nicht zerstört wird. Nichts von dem allen« – er deutet mit einer Handbewegung auf die Bücherreihen – »wird verlorengehen. Wenn diese Welt vergeht, so kehrt sie durchgeisteter, als sie einst war, in das All zurück. Geistiger wird die Welt sein, die nach ihr kommt, forterbend werden Äonen sich aneinanderreihen, immer mehr das Chaotische dem Bewußten weichen ...«

»Und wir? ... Was wird aus uns?«

Die großen, hellen Augen scheinen sich hinter den Gläsern sinnend zurückzuziehen ... »Es gibt in jedem von uns ein Inwendigstes, wo er mit sich allein sein will. Lassen Sie mich darüber schweigen.«

Der Kanzler erhebt sich. »Ich danke Ihnen. Sie haben mir angesichts neuer, schwerer Entscheidungen eine Stunde des Aufatmens geschenkt. Könnte ich diese Tage durchleben wie Sie! Was werden Sie tun?«

Wieder ein leises Lächeln. »Ich werde an meinem Buche über ›Wahrheit und Wirklichkeit‹ schreiben.«

Nun zuckt es auch hell über des Kanzlers sorgendunkles Gesicht. »Als ob das Leben endlos weiterflösse.«

»Sagen wir auch: als ob das Ende täglich käme. So lebe ich, seit ich denke.«

»Warum denken nicht alle so? Wie erhaben könnte dies Ende sein!«

»Ja, Sie haben ein Volk zu lenken, und das heißt, die Menge der Unweisen. Möchten Ihnen große Gedanken gegeben werden.«

»Mir steht einer vor allen: der des Kapitäns auf dem sinkenden Schiffe: ausharren bis aufs letzte ...«

Ein Händedruck, stummes Grüßen. –

Während der Alte sich über den Schreibtisch beugt, braust der Wagen des Kanzlers davon.

* * *

 


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