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5. Der Philologe der Zukunft.

251.

Alle Richtungen der Historie haben am Alterthum sich versucht; die kritische Betrachtung ist allein noch übrig. Nur muß man darunter nicht Conjektural- und litterarhistorische Kritik verstehen.

252.

Alle Arten die Geschichte zu behandeln sind schon am Alterthum versucht. Vor Allem aber hat man genug erfahren, um nun die Geschichte des Alterthums sich zu nutze zu machen – ohne am Alterthum zu Grunde zu gehen.

253.

Wir sehen auf eine ziemliche Zeit Menschheit zurück; wie wird eine Menschheit einmal aussehen, welche auf uns ebenso fernher hinsieht? Welche uns noch ganz ertränkt findet in den Überbleibseln der alten Cultur! Welche nur im »Hülfreich- und Gutsein« ihren Trost findet und alle andern Tröstungen abweist! – Wächst auch die Schönheit aus der alten Cultur heraus? Ich glaube, unsre Häßlichkeit hängt von unsern metaphysischen Überbleibseln ab; unsere Verworrenheit der Sitte, unsre Schlechtigkeit der Ehen u. s. w. ist die Ursache. Der schöne Mensch, der gesunde und mäßige und unternehmende Mensch formt um sich dann auch zum Schönen, zu seinem Abbild.

254.

Alle Geschichte ist bis jetzt vom Standpunkt des Erfolgs und zwar mit der Annahme einer Vernunft im Erfolge geschrieben. Auch die griechische Geschichte: wir besitzen noch keine. Aber so steht es überhaupt: wo sind Historiker, die nicht von allgemeinen Flausen beherrscht die Dinge ansehn? Ich sehe nur Einen, Burckhardt. Überall der breite Optimismus in der Wissenschaft. Die Frage: »was wäre geschehn, wenn Das und Das nicht eingetreten wäre« wird fast einstimmig abgelehnt, und doch ist sie gerade die kardinale Frage, wodurch Alles zu einem ironischen Dinge wird. Man sehe nur sein Leben an. Wenn man nach Plan in der Geschichte sucht, so sehe man ihn in den Absichten eines gewaltigen Menschen, vielleicht in denen eines Geschlechts, einer Partei. Alles Übrige ist ein Wirrsal. – Auch in der Naturwissenschaft ist diese Vergötterung des Nothwendigen. –

Deutschland ist die Brutstätte des historischen Optimismus geworden: daran mag Hegel mit schuld sein. Aber durch Nichts hat die deutsche Cultur verhängnißvoller gewirkt. Alles durch den Erfolg Unterdrückte bäumt sich allmählich auf; die Geschichte als der Hohn der Sieger; servile Gesinnung und Devotion vor dem Faktum – »Sinn für den Staat« nennt man's jetzt! Als ob der noch hätte gepflanzt werden müssen! Wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird auch den Antrieb gar nicht verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen. Nun sehe man, wie selten eine solche sinnvolle Erkenntniß des eigenen Lebens ist wie die Goethe's: was soll nun aus allen diesen verschleierten und blinden Existenzen Vernünftiges geschehn, wenn sie mit und gegen einander chaotisch wirken.

Besonders naiv ist es nun, wenn Hellwald, der Verfasser einer Culturgeschichte, von allen »Idealen« abwinkt, weil die Geschichte immer Eins nach dem Andern abgethan habe.

255.

Die Unvernunft in den menschlichen Dingen an's Licht zu bringen, ohne jede Verschämtheit, das ist das Ziel unserer Brüder und Genossen. Dann wird man zu unterscheiden haben, was davon fundamental und unverbesserlich ist, was noch verbessert werden kann. Aber jede »Vorsehung« ist fernzuhalten: denn das ist ein Begriff, wodurch man es sich zu leicht macht. Den Athem dieser Absicht wünsche ich der Wissenschaft einzuflößen. Die Kenntniß des Menschen vorwärts zu bringen! Das Gute und Vernünftige im Menschen ist zufällig oder scheinbar oder die Gegenseite von etwas sehr Unvernünftigem. Es wird irgendwann einmal gar keinen Gedanken geben als Erziehung.

256.

Ergebung in die Nothwendigkeit lehre ich nicht – denn man müßte sie erst als nothwendig kennen. Vielleicht giebt es vielfache Notwendigkeiten; aber so im Allgemeinen ist es doch auch ein Faulbett.

257.

Geschichte kennen heißt jetzt: zu erkennen, wie es alle Menschen sich zu leicht gemacht haben, welche an eine Vorsehung glauben. Es giebt keine. Wenn die menschlichen Dinge wild und unordentlich gehen, so glaube nicht, daß ein Gott damit etwas bezweckt, oder daß er sie zuläßt. Wir können ungefähr übersehn, daß die Geschichte des Christenthums auf Erden einer der schrecklichsten Theile der Geschichte ist, und daß es damit einmal vorbei sein muß. Freilich ragte im Christenthum gerade auch das Alterthum in unsre Zeit hinein; und wenn es schwindet, schwindet das Verständniß des Alterthums noch mehr. Jetzt ist die beste Zeit, es zu erkennen; uns leitet kein Vorurtheil zu Gunsten des Christenthums mehr, aber wir verstehn es noch und in ihm auch noch das Alterthum, soweit es auf einer Linie steht.

258.

Es müssen philosophische Köpfe darüber kommen und einmal die Gesammtabrechnung des Alterthums vorlegen. Sobald diese vorliegt, so wird es überwunden sein. Man ist viel zu stark mit allem Fehlerhaften, das uns quält, vom Alterthum abhängig, als daß man es noch lange milde behandeln wird. Die ungeheuerste Frevelthat der Menschheit, daß das Christenthum möglich werden konnte, so wie es möglich wurde, ist die Schuld des Alterthums. Mit dem Christenthum wird auch das Alterthum abgeräumt werden. – Jetzt ist es sehr nahe hinter uns, und gerecht zu sein gewiß nicht möglich. Es ist in der scheußlichsten Weise zur Unterdrückung benutzt worden und hat die religiöse Unterdrückung unterstützt, dadurch, daß es sie mit »Bildung« maskirte. Der Hauptwitz war: »das Alterthum ist durch das Christenthum überwunden worden!« Dies war eine historische Thatsache, und so wurde die Beschäftigung mit ihm unschädlich. Ja es ist so plausibel, die christliche Ethik »tiefer« zu finden als Sokrates! Mit Plato konnte man es schon aufnehmen! Es ist eine nochmalige Wiederkäuung desselben Kampfes, der sich in den ersten Jahrhunderten schon abspielte. Nur daß jetzt ein ganz blasses Gespenst an Stelle des damals recht sichtbaren Alterthums getreten ist, und freilich auch das Christenthum recht gespenstisch geworden ist. Es ist ein Kampf nach der Entscheidungsschlacht, ein Nachzittern. Zuletzt sind alle die Mächte, aus denen das Alterthum besteht, im Christenthum in der rohesten Gestalt zu Tage getreten, es ist nichts Neues, nur quantitativ extraordinär.

259.

Auf immer trennt uns von der alten Cultur, daß ihre Grundlage durch und durch für uns hinfällig geworden ist. Eine Kritik der Griechen ist insofern zugleich eine Kritik des Christentums, denn die Grundlage im Geisterglauben, im religiösen Cultus, in der Naturverzauberung ist dieselbe. – Es giebt jetzt noch zahlreiche rückständige Stufen, aber sie sind schon im Begriff zu verfallen.

Dies wäre eine Aufgabe, das Griechenthum als unwiederbringlich zu kennzeichnen und damit auch das Christenthum und die bisherigen Fundamente unsrer Societät und Politik.

260.

Das Christenthum hat das Alterthum überwunden – ja das ist leicht gesagt. Erstens ist es selbst ein Stück Alterthum, zweitens hat es das Alterthum conservirt, drittens ist es mit den reinen Zeiten des Alterthums gar nicht im Kampf gewesen. Vielmehr: damit das Christenthum erhalten blieb, mußte es sich vom Geiste des Alterthums überwinden lassen, zum Beispiel von der Imperium-Vorstellung, der Gemeinde u. s. w. Wir leiden an der ungemeinen Unreinlichkeit und Unklarheit des Menschlichen, an der witzigen Verlogenheit, die das Christenthum über die Menschen gebracht hat.

261.

Es ist fast lächerlich zu sehen, wie fast alle Wissenschaften und Künste in der neueren Zeit wieder aus dem Samen aufwachsen, der aus dem Alterthum zugeweht wird, und wie das Christenthum hier nur als ein böser Frost einer langen Nacht erscheint, bei dem man glauben sollte, es sei für alle Zeit mit der Vernunft und der Ehrlichkeit der Menschen vorbei. Der Kampf gegen den natürlichen Menschen hat den unnatürlichen Menschen gemacht.

262.

Mit dem Verschwinden des Christentums ist auch ein guter Theil des Alterthums unverständlicher geworden, zumal die ganze religiöse Basis des Lebens. Schon deshalb ist eine Nachahmung des Alterthums eine falsche Tendenz; Betrüger oder Betrogene sind die Philologen, welche noch daran denken. Wir leben in der Periode, wo verschiedene Lebensauffassungen nebeneinander stehen: deshalb ist die Zeit so lehrreich, wie selten eine, deshalb so krank, weil sie an den Übeln aller Richtungen zugleich leidet. Zukunftsmensch: der europäische Mensch.

263.

Die deutsche Reformation entfernte uns vom Alterthum: mußte sie das? Sie entdeckte den alten Widerspruch »Heidenthum – Christenthum« von Neuem; sie war zugleich ein Protest gegen die dekorative Cultur der Renaissance; es war ein Sieg über dieselbe Cultur, die beim Beginn des Christenthums besiegt wurde.


Das Christenthum hat in Betreff der »weltlichen Dinge« gerade die gröberen Ansichten der Alten conservirt. Alles Edlere in Ehe, Sklaverei, Staat ist unchristlich. Es brauchte die entstellenden Züge der Weltlichkeit, um sich zu beweisen.

264.

Die Verbindung von Humanismus und religiösem Rationalismus ist als sächsisch gut von Köchly hervorgehoben: der Typus dieser Philologen ist Gottfried Hermann.

265.

Religionen verstehe ich als Narkosen: aber werden sie solchen Völkern gegeben wie den Germanen, so sind es reine Gifte.

266.

Alle Religionen beruhen zuletzt doch auf gewissen physikalischen Annahmen, die vorher da sind und sich die Religionen anpassen; zum Beispiel im Christenthum Gegensatz von Leib und Seele, unbedingte Wichtigkeit der Erde als der »Welt«, wunderhaftes Geschehen in der Natur. Sind erst die entgegengesetzten Anschauungen zur Herrschaft gekommen, zum Beispiel strenges Naturgesetz, Hülflosigkeit und Überflüssigkeit aller Götter, engste Auffassung des Seelischen als eines leiblichen Processes – so ist es vorbei. Nun ruht das ganze Griechenthum auf solchen Anschauungen.

267.

Wenn man von der Gesinnung und Gesittung des katholischen Mittelalters aus nach den Griechen hinschaut, da strahlen sie freilich im Glanze der höheren Humanität: denn Alles, was man ihnen vorwerfen wird, muß man in viel höherem Maaße dem Mittelalter selber vorwerfen. So ist die Verehrung der Alten in der Renaissance-Zeit ganz ehrlich und recht. Nun haben wir in Einigem es noch weiter gebracht, gerade auf Grund jenes erwachenden Lichtstrahles. Wir haben in der Aufhellung der Welt die Griechen überholt, durch Natur- und Menschengeschichte, und unsere Kenntnisse sind viel größer, unsere Urtheile mäßiger und gerechter. Auch eine mildere Menschlichkeit ist verbreitet, dank der Aufklärungszeit, welche den Menschen geschwächt hat – aber diese Schwäche nimmt sich, in's Moralische umgewandelt, sehr gut aus und ehrt uns. Der Mensch hat jetzt sehr viel Freiheit, es ist seine Sache, daß er sie so wenig gebraucht; der Fanatismus des Meinens ist sehr gemildert. Daß wir zuletzt doch lieber in dieser als in einer andern Zeit leben wollen, ist wesentlich das Verdienst der Wissenschaft, und gewiß gab es für kein Geschlecht eine solche Summe von edlen Freuden, wie für unseres – wenn auch unser Geschlecht gerade nicht den Magen und Gaumen hat, viel Freude empfinden zu können. – Nun lebt es sich bei aller dieser »Freiheit« nur gut, wenn man eben nur begreifen, nicht mitmachen will – das ist der moderne Haken. Die Mitmachenden erscheinen weniger reizvoll als je; wie dumm müssen sie sein!

So entsteht die Gefahr, daß das Wissen sich an uns räche, wie sich das Nichtwissen während des Mittelalters an uns gerächt hat. Mit den Religionen, welche an Götter, an Vorsehungen, an vernünftige Neuordnungen, an Wunder und Sakramente glauben, ist es vorbei, auch bestimmte Arten von heiligem Leben, von Askese sind vorbei, weil wir leicht auf ein verletztes Gehirn und auf Krankheit schließen. Es ist kein Zweifel, der Gegensatz von einer reinen unkörperlichen Seele und einem Leibe ist fast beseitigt. Wer glaubt noch an eine Unsterblichkeit der Seele! Alles Segensvolle und Verhängnißvolle, was somit auf gewissen irrthümlichen physiologischen Annahmen beruhte, ist hinfällig geworden, sobald diese Annahmen als Irrthümer erkannt sind. Das was nun jetzt die wissenschaftlichen Annahmen sind, läßt ebensowohl eine Deutung und Benutzung in's Verdummend-Philisterhafte, ja in's Bestialische zu, als eine Deutung in's Segensreiche und Beseelende. Unser Fundament ist neu gegen alle früheren Zeiten, deshalb kann man vom Menschengeschlecht noch Etwas erleben.

In Betreff der Cultur heißt dies: wir kannten bisher nur eine vollkommene Form, das ist die Stadtcultur der Griechen, auf ihren mythischen und socialen Fundamenten ruhend, und eine unvollkommne, die römische, als Dekoration des Lebens, entlehnend von der griechischen! Jetzt haben sich nun alle Fundamente, die mythischen und die politisch-socialen verändert; unsre angebliche Cultur hat keinen Bestand, weil sie sich auf unhaltbare, fast schon verschwundene Zustände und Meinungen aufbaut. – Die griechische Cultur vollständig begreifend sehen wir also ein, daß es vorbei ist. So ist der Philologe der große Skeptiker in unsern Zuständen der Bildung und Erziehung: das ist seine Mission. – Glücklich, wenn er wie Wagner und Schopenhauer, die verheißungsvollen Kräfte ahnt, in denen eine neue Cultur sich regt.

268.

Denen, welche sagen: »aber immer bleibt doch noch das Alterthum übrig als Objekt reiner Wissenschaft, wenn auch alle seine erziehenden Absichten geleugnet werden«, ist zu antworten: was ist hier reine Wissenschaft! Es sollen Handlungen und Eigenschaften beurtheilt werden, und der Urtheilende muß darüberstehen: also hättet ihr erst dafür zu sorgen, das Alterthum zu überwinden. Bevor ihr das nicht thut, ist eure Wissenschaft nicht rein, sondern unrein und beschränkt: wie es zu spüren ist.

269.

Das Griechenthum durch die That zu überwinden wäre die Aufgabe. Aber dazu müßte man es erst kennen! – Es giebt eine Gründlichkeit, welche nur der Vorwand der Thatenlosigkeit ist. Man denke, was Goethe vom Alterthum verstand; gewiß nicht so viel als ein Philologe und doch genug, um fruchtbar mit ihm zu ringen. Man sollte sogar nicht mehr von einer Sache wissen, als man auch schaffen könnte. Überdies ist es selbst das einzige Mittel Etwas wahrhaft zu erkennen, wenn man versucht es zu machen. Man versuche, alterthümlich zu leben – man kommt sofort hundert Meilen den Alten näher als mit aller Gelehrsamkeit. – Unsre Philologen zeigen nicht, daß sie irgendwie dem Alterthum nacheifern – deshalb ist ihr Alterthum ohne Wirkung auf die Schule.

Studium des Wetteifers (Renaissance, Goethe) und Studium der Verzweiflung.


Das Unvolksthümliche der neuen Renaissance-Cultur: eine furchtbare Thatsache!

270.

Die Verehrung des classischen Alterthums, wie sie die Italiäner zeigten, das heißt also: die einzig ernsthafte uneigennützige hingebende Verehrung, welche das Alterthum bis jetzt gefunden hat, ist ein großartiges Beispiel der Don Quixoterie: und so Etwas ist also Philologie besten Falls. So schon bei den alexandrinischen Gelehrten, so bei allen den Sophisten des ersten und zweiten Jahrhunderts, bei den Atticisten u. s. w. Man ahmt etwas rein Chimärisches nach, und läuft einer Wunderwelt hinterdrein, die nie existirt hat. Es geht ein solcher Zug schon durch das Alterthum: die Art, wie man die homerischen Helden copirte, der ganze Verkehr mit dem Mythus hat Etwas davon. Allmählich ist das ganze Griechenthum selber zu einem Objekte des Don Quixote geworden. Man kann unsre moderne Welt nicht verstehn, wenn man nicht den ungeheuren Einfluß des rein Phantastischen einsieht. Dem steht nun entgegen: es kann keine Nachahmung geben. Aber Nachahmen ist nur ein künstlerisches Phänomen, also auf den Schein gerichtet; etwas Lebendiges kann Manieren Gedanken u. s. w. annehmen durch Nachahmung, aber sie kann nichts erzeugen. Eine Cultur, welche der griechischen nachläuft, kann Nichts erzeugen. Wohl kann der Schaffende überall her entlehnen und sich nähren. Und so werden wir auch nur als Schaffende Etwas von den Griechen haben können. Worin aber wären die Philologen Schaffende! Es muß einige unreinliche Gewerbe geben, Abdecker; auch Correktoren: sollten die Philologen etwa so ein unreinliches Gewerbe vorstellen?

271.

Was ist nun jetzt noch das Alterthum, gegenüber moderner Kunst, Wissenschaft und Philosophie? Nicht mehr die Schatzkammer aller Kenntnisse, in Natur- und Geschichtskenntniß ist es überwunden. Die Unterdrückung durch die Kirche ist gebrochen. Es ist jetzt eine reinere Kenntniß des Alterthums möglich, aber auch wohl eine wirkungslosere, schwächere? – Das ist richtig: wenn man die Wirkung nur als Massenwirkung kennt; aber für die Erzeugung der größten Geister ist das Alterthum mehr wie je kräftig. Goethe als deutscher Poet-Philolog, Wagner als noch höhere Stufe: Hellblick für die einzig würdige Stellung der Kunst; nie hat ein antikes Werk so mächtig gewirkt wie die Oresteia auf Wagner. Der objektiv-castrirte Philolog, der im übrigen Bildungsphilister und Culturkämpfer ist und daneben reine Wissenschaft treibt, ist freilich eine traurige Erscheinung.

272.

Zwischen unsrer höchsten Kunst und Philosophie und zwischen dem wahrhaft erkannten ältern Alterthum ist kein Widerspruch: sie stützen und tragen sich. Hier liegen meine Hoffnungen.

273.

Hauptgesichtspunkte in Hinsicht auf spätere Geltung des Alterthums.

  1. Es ist Nichts für junge Leute: denn es zeigt den Menschen mit einer Freiheit von Scham.
  2. Es ist Nichts zur direkten Nachahmung, belehrt aber, auf welchem Wege bisher die höchste Ausbildung der Kunst erreicht wurde.
  3. Es ist nur für Wenige zugänglich, und es sollte eine Polizei der Sitte da sein, wie sie gegen schlechte Pianisten da sein sollte, die Beethoven spielen.
  4. Diese Wenigen messen daran unsre Gegenwart, als Kritiker derselben, und sie messen das Alterthum an ihren Idealen und sind so Kritiker des Alterthums.
  5. Der Contrast zwischen Hellenisch und Römisch und wieder zwischen Althellenisch und Späthellenisch zu studiren – Aufklärung über die verschiedenen Arten von Cultur.

274.

Die Förderung einer Wissenschaft auf Unkosten der Menschen ist die schädlichste Sache von der Welt. Der verkümmerte Mensch ist ein Rückschritt der Menschheit, er wirft in alle Zeit hinaus seinen Schatten. Es entartet die Gesinnung, die natürliche Absicht der einzelnen Wissenschaft: sie selber geht daran endlich zu Grunde: sie steht gefördert da, wirkt aber nicht oder unmoralisch auf das Leben.

275.

Menschen nicht als Sache benutzen!

Von der sehr unvollkommenen Philologie und Kenntniß des Alterthums gieng ein Strom von Freiheit aus, unsere hochentwickelte knechtet und dient dem Staatsgötzen.

276.

Die Wissenschaften werden vielleicht einmal von den Frauen betrieben: die Männer sollen geistig schaffen, Staaten, Gesetze, Kunstwerke u. s. w.

Man soll das vorbildliche Alterthum nur studiren, wie man einen vorbildlichen Menschen studirt: also so viel man begreift, nachahmend, und wenn das Vorbild sehr fern ist, über die Wege und Vorbereitungen sinnend und Mittelstadien erfindend.

277.

Das Maaß des Studiums liegt darin: nur was zur Nachahmung reizt, was mit Liebe ergriffen wird und fortzuzeugen verlangt, soll studirt werden. Da wäre das Richtigste: ein fortschreitender Kanon des Vorbildlichen, angepaßt für jüngere, junge und ältere Menschen.

278.

In der Art hat Goethe das Alterthum ergriffen: immer mit wetteifernder Seele. Aber wer sonst? Man sieht Nichts von einer durchdachten Pädagogik dieser Art: wer weiß, daß es Erkenntnisse des Alterthums giebt, die Jünglingen unmittheilbar sind!

Der knabenhafte Charakter der Philologie: für Schüler von Lehrern erdacht.

279.

Immer allgemeinere Gestalt des Vorbildlichen: erst Menschen, dann Institutionen, endlich Richtungen, Absichten oder deren Mangel. Höchste Gestalt: Überwindung des Vorbildes mit dem Rückgange von Tendenzen zu Institutionen, von Institutionen zu Menschen.

280.

Ich will einmal sagen, was ich Alles nicht mehr glaube – auch was ich glaube.

In dem großen Strudel von Kräften steht der Mensch und bildet sich ein, jener Strudel sei vernünftig und habe einen vernünftigen Zweck: Irrthum! Das einzig Vernünftige, was wir kennen, ist das bischen Vernunft des Menschen: er muß es sehr anstrengen, und es läuft immer zu seinem Verderben aus, wenn er sich etwa »der Vorsehung« überlassen wollte.

Das einzige Glück liegt in der Vernunft, die ganze übrige Welt ist triste. Die höchste Vernunft sehe ich aber in dem Werk des Künstlers, und er kann sie als Solche empfinden; es mag Etwas geben, das, wenn es mit Bewußtsein hervorgebracht werden könnte, ein noch größeres Gefühl von Vernunft und Glück ergäbe: zum Beispiel der Lauf des Sonnensystems, die Erzeugung und Bildung eines Menschen.

Glück liegt in der Geschwindigkeit des Fühlens und Denkens: alle übrige Welt ist langsam, allmählich und dumm. Wer den Lauf des Lichtstrahls fühlen könnte, würde sehr beglückt sein, denn er ist sehr geschwind.

An sich denken giebt wenig Glück. Wenn man aber viel Glück dabei hat, liegt es daran, daß man im Grunde nicht an sich, sondern an sein Ideal denkt. Dies ist ferne, und nur der Geschwinde erreicht es und freut sich.

Eine Verbindung eines großen Centrums von Menschen zur Erzeugung von besseren Menschen ist die Aufgabe der Zukunft. Der Einzelne muß an solche Ansprüche gewöhnt werden, daß, indem er sich selbst bejaht, er den Willen jenes Centrums bejaht, zum Beispiel in Bezug auf die Wahl, die er unter den Weibern trifft, über die Art, wie er sein Kind erzieht. Bis jetzt war kein Individuum oder nur die seltensten frei, sie wurden durch solche Vorstellungen auch bestimmt, aber auch durch schlechte und widerspruchsvolle Organisation der individuellen Absichten.

281.

Erziehung ist erst Lehre vom Nothwendigen, dann vom Wechselnden und Veränderlichen. Man führt den Jüngling in die Natur, zeigt ihm überall das Walten von Gesetzen; dann die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft. Hier wird schon die Frage rege: mußte das so sein? Allmählich braucht er Geschichte, um zu hören, wie das so geworden ist. Aber damit lernt er, daß es auch anders werden kann. Wie viel Macht über die Dinge hat der Mensch? Das ist die Frage bei aller Erziehung. Um nun zu zeigen, wie ganz anders es sein kann, zeige man zum Beispiel die Griechen. Die Römer braucht man, um zu zeigen, wie es so wurde.

282.

Wenn nun die Römer die griechische Cultur verschmäht hätten: sie wäre vielleicht radikal zu Grunde gegangen. Wann hätte sie wieder erwachen sollen? Christenthum und Römer und Barbaren – das wäre ein Ansturm gewesen: völlig verwischt. Wir sehen die Gefahr, unter der das Genie lebt. Cicero ist so schon einer der größten Wohlthäter der Menschheit. – Es giebt für das Genie keine Vorsehung: nur für die gewöhnlichen massenhaften Menschen und ihre Nöthe giebt es so Etwas: sie finden ihre Befriedigung, später ihre Rechtfertigung.

283.

Aufgabe: der Tod der alten Cultur unvermeidlich: die griechische ist als Urbild zu kennzeichnen und zu zeigen, wie alle Cultur auf Vorstellungen ruht, die hinfällig sind.


Gefährliche Bedeutung der Kunst: als Bewahrerin und Galvanisirung abgestorbener und absterbender Vorstellungen; der Historie, insofern sie uns in überwundene Gefühle zurückversetzen will. »Historisch« empfinden, »gerecht sein« gegen Vergangenes ist nur möglich, wenn wir zugleich darüber hinaus sind. Aber die Gefahr bei der hier geforderten Anempfindung ist groß: lassen wir doch die Todten ihre Todten begraben: so nehmen wir nicht selber Leichengeruch an.


Der Tod der alten Cultur.

  1. Bisherige Bedeutung der Alterthumsstudien, unklar, lügnerisch.
  2. Sobald sie ihr Ziel erkennen, verurtheilen sie sich zum Tode: denn ihr Ziel ist, die alte Cultur selbst als eine zu vernichtende zu beschreiben.
  3. Sammlung aller der Vorstellungen, aus denen die hellenische Cultur herausgewachsen ist. Kritik der Religion, Kunst, der Gesellschaft, des Staates, der Sitte.
  4. Die christliche ist mit verneint.
  5. Kunst und Historie – gefährlich.
  6. Ersetzung der Alterthumsstudien, die für die Jugenderziehung hinfällig geworden sind.

So ist die Aufgabe der Wissenschaft der Geschichte gelöst, und sie selber ist überflüssig geworden: wenn der ganze innerlich zusammenhängende Kreis vergangner Bestrebungen verurtheilt worden ist. An ihre Stelle muß die Wissenschaft um die Zukunft treten.

284.

Zeichen und Wunder werden nicht geglaubt; nur eine »Vorsehung« braucht so Etwas. Es giebt keine Hülfe, weder im Gebet, noch in der Askese, noch in der Vision. Wenn dies Alles Religion ist, so giebt es keine Religion mehr für mich.

Meine Religion, wenn ich irgend Etwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die Erzeugung des Genius; Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heißt Kunst. Erziehung ist Liebe zum Erzeugten, ein Überschuß von Liebe über die Selbstliebe hinaus. Religion ist » Liebe über uns hinaus«. Das Kunstwerk ist das Abbild einer solchen Liebe über sich hinaus, und ein vollkommnes.

285.

Die Dummheit des Willens ist der größte Gedanke Schopenhauer's, wenn man Gedanken nach der Macht beurtheilt. Man kann an Hartmann sehen, wie er sofort diesen Gedanken wieder eskamotirt. Etwas Dummes wird Niemand Gott nennen.

286.

Also das ist das Neue alles zukünftigen Welttreibens: man darf die Menschen nicht wieder mit religiösen Vorstellungen beherrschen. Ob sie sich schlechter zeigen werden? Ich finde nicht, daß sie sich unter dem Joche der Religionen gut und sittlich ausnehmen; ich stehe nicht auf Seite von Demopheles. Die Furcht vor dem Jenseits und dann überhaupt die religiöse Furcht vor göttlichen Strafen werden die Menschen schwerlich besser gemacht haben.

287.

Wo etwas Großes erscheint, mit etwas längerer Dauer, da können wir vorher eine sorgfältige Züchtung wahrnehmen, zum Beispiel bei den Griechen. Wie erlangten so viele Menschen bei ihnen Freiheit?

Erzieher erziehn! Aber die ersten müssen sich selbst erziehn! Und für diese schreibe ich.

288.

Die Verneinung des Lebens ist nicht mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder Mönch sein – was ist da verneint! Dieser Begriff wird jetzt tiefer: es ist vor Allem erkennende Verneinung, gerecht sein wollende Verneinung, nicht mehr in Bausch und Bogen.

289.

Der Seher muß liebevoll sein, sonst hat er kein Vertrauen bei den Menschen: Kassandra.

290.

Wer heute gut und heilig sein wollte, hätte es schwerer: er dürfte, um gut zu sein, nicht so ungerecht gegen das Wissen sein, wie es die frühern Heiligen waren. Es müßte ein Wissender-Heiliger sein: Liebe und Weisheit verbindend; und mit einem Glauben an Götter oder Halbgötter oder Vorsehungen dürfte er Nichts mehr zu schaffen haben; wie damit auch die indischen Heiligen Nichts zu thun hatten. Auch müßte er gesund sein und sich gesund erhalten; sonst würde er gegen sich mißtrauisch werden müssen. Und vielleicht würde er gar nicht einem asketischen Heiligen ähnlich sehen, vielleicht gar einem Lebemanne.

291.

Je besser der Staat eingerichtet ist, desto matter die Menschheit.

Das Individuum unbehaglich zu machen ist meine Aufgabe!

Reiz der Befreiung des Einzelnen im Kampfe!

Die geistige Höhe hat ihre Zeit in der Geschichte, vererbte Energie gehört dazu. Im idealen Staat ist es damit vorbei.

292.

Höchstes Urtheil über das Leben nur aus der höchsten Energie des Lebens. Der Geist muß am weitesten von der Mattheit entfernt sein.

In der mittleren Weltgeschichte wird das Urtheil am richtigsten sein, weil da die größten Genien existiren.

Erzeugung des Genius als des Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann.

Rettet euren Genius! soll den Leuten zugerufen werden, befreit ihn! Thut Alles, um ihn zu entfesseln.

Die Matten, geistig Armen dürfen über das Leben nicht urtheilen.

293.

Ich träume eine Genossenschaft von Menschen, welche unbedingt sind, keine Schonung kennen und »Vernichter« heißen wollen: sie halten an Alles den Maaßstab ihrer Kritik und opfern sich der Wahrheit. Das Schlimme und Falsche soll an's Licht! Wir wollen nicht vorzeitig bauen, wir wissen nicht, ob wir je bauen können, und ob es nicht das Beste ist, nicht zu bauen. Es giebt faule Pessimisten, Resignisten – zu Denen wollen wir nicht gehören!



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