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I. Erste Gedanken.

(Herbst 1874.)

 

Die Muschel ist inwendig krumm,
außen rauh; wenn sie beim Blasen
brummt, dann erst bekommt man die
rechte Achtung vor ihr.

(Ind. Sprüche ed. Böhtlingk I. 335.)

Ein häßlich anzusehendes Blasinstrument:
es muß erst geblasen werden.

 

100.

Wie wenig Vernunft, wie sehr der Zufall unter den Menschen herrscht, zeigt das fast regelmäßige Mißverhältniß zwischen dem sogenannten Lebensberufe und dem ersichtlichen Nichtberufensein: die glücklichen Fälle sind Ausnahmen wie die glücklichen Ehen, und auch diese werden nicht durch Vernunft herbeigeführt. Der Mensch wählt den Beruf, wo er noch nicht fähig zum Wählen ist; er kennt die verschiedenen Berufe nicht, er kennt sich selbst nicht; er verbringt seine thätigsten Jahre dann in diesem Berufe, verwendet all sein Nachdenken darauf, wird erfahrener; erreicht er die Höhe seiner Einsicht, dann ist es gewöhnlich zu spät, um etwas Neues zu beginnen, und die Weisheit hat auf Erden fast immer etwas Altersschwaches und Mangel an Muskelkraft an sich gehabt.

Die Aufgabe ist meistens die, wieder gut zu machen, ungefähr zurechtzulegen, was in der Anlage verfehlt war; Viele werden erkennen, daß der spätere Theil des Lebens eine Absichtlichkeit zeigt, die aus ursprünglicher Disharmonie entstanden ist; es lebt sich schwer. Am Ende des Lebens ist man's aber doch gewohnt – dann kann man sich über sein Leben irren und seine Dummheit loben: bene navigavi cum naufragium feci, und gar ein Preislied auf die »Vorsehung« anstimmen.

101.

Ich frage nun nach der Entstehung des Philologen und behaupte

  1. der junge Mensch kann gar nicht wissen, wer Griechen und Römer sind,
  2. er weiß nicht, ob er zu ihrer Erforschung sich eignet,
  3. und erst recht nicht, inwiefern er sich mit diesem Wissen zum Lehrer eignet. Das was ihn also bestimmt, ist nicht Einsicht in sich und seine Wissenschaft, sondern

Ich meine, 99 von 100 Philologen sollten keine sein.

102.

Strengere Religionen fordern, daß der Mensch seine Thätigkeit nur als ein Mittel eines metaphysischen Planes verstehe: eine mißlungene Wahl des Berufes läßt sich dann als Prüfung des Individuums zurechtlegen. Religionen nehmen nur das Heil des Individuums in's Auge: ob der nun Sklave oder Freier, Kaufmann oder Gelehrter ist, sein Lebensziel liegt nicht in seinem Berufe, und deshalb ist eine falsche Wahl kein großes Unglück. Dies diene dazu, die Philologen zu trösten: aber nackte Einsicht für die echten Philologen: was wird aus einer Wissenschaft, die von solchen 99 betrieben wird? Diese eigentlich ungeeignete Majorität legt sich die Wissenschaft zurecht und stellt an sich die Forderung nach den Fähigkeiten und Neigungen der Majorität: sie tyrannisirt damit den eigentlichen Befähigten, jenen Hundertsten. Hat sie die Erziehung in den Händen, so erzieht sie bewußt oder unbewußt nach dem eignen Vorbild: was wird da aus der Classicität der Griechen und Römer?

Zu beweisen:

  1. Das Mißverhältniß zwischen Philologen und den Alten.
  2. Die Unfähigkeit der Philologen, mit Hülfe der Alten zu erziehen.
  3. Die Fälschung der Wissenschaft durch die (Unfähigkeit der) Majoritäten, die falschen Anforderungen, Verleugnung der eigentlichen Ziele dieser Wissenschaft

103.

Dies betrifft Alles die Genesis des jetzigen Philologen: skeptisch melancholische Stellung. Aber wie sind sonst Philologen entstanden?

Nachahmung des Alterthums: ob nicht ein endlich widerlegtes Princip?

Flucht aus der Wirklichkeit zu den Alten: ob dadurch nicht die Auffassung des Alterthums gefälscht ist?

104.

Eine Art der Betrachtung ist noch zurück: zu begreifen, wie die größten Erzeugnisse des Geistes einen schrecklichen und bösen Hintergrund haben; die skeptische Betrachtung: als schönstes Beispiel des Lebens wird das Griechenthum geprüft.

So wie der Mensch zu seinem Lebensberufe steht, skeptisch-melancholisch, so sollen wir uns zu dem höchsten Lebensberufe eines Volkes stellen: um zu begreifen, was Leben ist.

105.

Mein Trost gilt besonders auch den tyrannisirten Einzelnen: diese mögen einfach alle jene Majoritäten wie ihre Hülfsarbeiter behandeln, und ebenso mögen sie sich das Vorurtheil, das noch zu Gunsten des classischen Unterrichts verbreitet ist, zu Nutze machen; sie brauchen viele Arbeiter. Sie haben aber unbedingte Einsicht in ihre Ziele nöthig.

106.

Die Philologie als Wissenschaft um das Alterthum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Accommodation jeder Zeit an das Alterthum, das sich daran Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, seine Zeit vermittelst des Alterthums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige. – Dies ist die Antinomie der Philologie: man hat das Alterthum thatsächlich immer nur aus der Gegenwart verstanden – und soll nun die Gegenwart aus dem Alterthum verstehen? Richtiger: aus dem Erlebten hat man sich das Alterthum erklärt, und aus dem so gewonnenen Alterthum hat man sich das Erlebte taxirt, abgeschätzt. So ist freilich das Erlebniß die unbedingte Voraussetzung für einen Philologen – das heißt doch: erst Mensch sein, dann wird man erst als Philolog fruchtbar sein. Daraus folgt, daß ältere Männer sich zu Philologen eignen, wenn sie in der erlebnißreichsten Zeit ihres Lebens nicht Philologen waren.

Überhaupt aber: nur durch Erkenntniß des Gegenwärtigen kann man den Trieb zum classischen Alterthum bekommen. Ohne diese Erkenntniß – wo sollte da der Trieb herkommen? Wenn man zusieht, wie wenige Philologen es außer denen, die davon leben, giebt, kann man schließen, wie es im Grunde mit diesem Triebe zum Alterthum steht, er existirt fast nicht, denn es giebt keine uneigennützigen Philologen.

So ist die Aufgabe zu stellen: der Philologie ihre allgemein erziehende Wirkung zu erobern! Mittel: Beschränkung des Philologenstandes, zweifelhaft, ob die Jugend damit bekannt zu machen. Kritik des Philologen. Die Würde des Alterthums: sie sinkt mit euch: wie tief müßt ihr gesunken sein, da es diese Würde jetzt so wenig hat!

107.

Ein großer Vortheil für einen Philologen ist, daß seine Wissenschaft soviel vorgearbeitet hat, um sich in den Besitz der Erbschaft setzen zu können, wenn er es vermag – nämlich die Abschätzung der ganzen hellenischen Denkart vorzunehmen. So lange man im Einzelnen herumarbeitete, leitete eine Verkennung der Griechen; die Stufen dieser Verkennung sind zu bezeichnen: Sophisten des zweiten Jahrhunderts, die Philologen-Poeten der Renaissance, der Philologe als Schullehrer der höheren Stände (Goethe-Schiller).

Urtheilen ist am schwierigsten.

Wie ist wohl einer am geeignetsten zu dieser Schätzung? – Jedenfalls nicht dann, wenn er zum Philologen abgerichtet wird wie jetzt. Zu sagen, in wiefern die Mittel hier den letzten Zweck unmöglich machen. – Also der Philolog selbst ist nicht das Ziel der Philologie. –

108.

Die meisten Menschen halten sich offenbar für gar keine Individuen; das zeigt ihr Leben. Die christliche Forderung, daß Jeder seine Seligkeit und diese allein im Auge habe, hat als Gegensatz das allgemeine menschliche Leben, wo Jeder nur als ein Punkt zwischen Punkten lebt, nicht nur ganz und gar Resultat früherer Geschlechter, sondern auch nur im Hinblick auf kommende lebend. Nur bei drei Existenzformen bleibt der Mensch Individuum: als Philosoph, als Heiliger und Künstler. Man sehe nur, womit ein wissenschaftlicher Mensch sein Leben todtschlägt: was hat die griechische Partikellehre mit dem Sinn des Lebens zu thun? – So sehen wir auch hier, wie zahllose Menschen eigentlich nur als Vorbereitung eines wirklichen Menschen leben: zum Beispiel die Philologen als Vorbereitung des Philosophen, der ihre Ameisenarbeit zu nutzen versteht, um über den Werth des Lebens eine Aussage zu machen. Freilich ist, wenn es keine Leitung giebt, der größte Theil jener Ameisenarbeit einfach Unsinn und überflüssig.

109.

Außer der großen Zahl unbefähigter Philologen giebt es nun umgekehrt eine Zahl von geborenen Philologen, welche durch irgendwelche Umstände verhindert sind, welche zu werden. Das wichtigste Hinderniß aber, welches diese geborenen Philologen abhält, ist schlechte Repräsentation der Philologie durch die unberufenen Philologen.


Leopardi ist das moderne Ideal eines Philologen, die deutschen Philologen können Nichts machen. (Voß ist zu studiren dazu!)

110.

Man denke sich, wie anders eine Wissenschaft sich fortpflanzt, wie anders eine specielle Begabung in einer Familie. Eine leibliche Fortpflanzung der einzelnen Wissenschaft ist etwas ganz Seltenes. Ob die Söhne von Philologen wohl leicht Philologen werden? Dubito. So entsteht keine Accumulation philologischer Fähigkeiten, wie etwa in Beethoven's Familie von musikalischen Fähigkeiten. Die meisten fangen von vorn an: und zwar durch Bücher vermittelt, nicht durch Reisen u. s. w. Wohl aber Erziehung.

111.

Die meisten Menschen sind offenbar zufällig auf der Welt: es zeigt sich keine Notwendigkeit höherer Art in ihnen. Sie treiben dies und das, ihre Begabung ist mittelmäßig. Wie sonderbar! Die Art, wie sie nun leben, zeigt, daß sie selbst Nichts von sich halten, sie geben sich preis, indem sie sich an Lumpereien wegwerfen (seien das nun kleinliche Passionen oder Quisquilien des Berufs). In den sogenannten »Lebensberufen«, welche Jedermann wählen soll, liegt eine rührende Bescheidenheit der Menschen: sie sagen damit, wir sind berufen unseresgleichen zu nützen und zu dienen; und der Nachbar ebenfalls und dessen Nachbar auch; und so dient Jeder dem Andern, Keiner hat seinen Beruf, seiner selbst wegen dazusein, sondern immer wieder Anderer wegen; so haben wir eine Schildkröte, die auf einer andern ruht und diese wieder auf einer und so fort. Wenn Jeder seinen Zweck in einem Andern hat, so haben Alle keinen Zweck in sich, zu existiren; und dies » für einander existiren« ist die komischste Komödie.

112.

Die Eitelkeit ist die unwillkürliche Neigung, sich als Individuum zu geben, während man keines ist; das heißt: als unabhängig, während man abhängt. Die Weisheit ist das Umgekehrte: sie giebt sich als abhängig, während sie unabhängig ist.

113.

Die Hadesschatten des Homer – welcher Art von Existenz sind sie eigentlich nachgemalt? Ich glaube, es ist die Beschreibung des Philologen; es ist besser Tagelöhner sein, als so eine blutlose Erinnerung an Vergangnes –.

114.

Die Stellung des Philologen zum Alterthum ist entschuldigend oder auch von der Absicht eingegeben, das was unsre Zeit hochschätzt, im Alterthum nachzuweisen. Der richtige Ausgangspunkt ist der umgekehrte: nämlich von der Einsicht in die moderne Verkehrtheit auszugehn und zurückzusehn – vieles sehr Anstößige im Alterthum erscheint dann als tiefsinnige Notwendigkeit.

Man muß sich klar machen, daß wir uns ganz absurd ausnehmen, wenn wir das Alterthum vertheidigen und beschönigen: was sind wir!

115.

Es ist eine falsche Auffassung zu sagen: immer gab es eine Kaste, welche die Bildung eines Volkes verwaltete: folglich sind die Gelehrten nöthig. Denn die Gelehrten haben eben nur das Wissen um die Bildung (selbst dies nur besten Falls). Es wird wohl auch unter uns gebildetere Menschen geben, schwerlich eine Kaste; aber diese können sehr Wenige sein.

116.

Ein großer Werth des Alterthums liegt darin, daß seine Schriften die einzigen sind, welche moderne Menschen noch genau lesen.

Überspannung des Gedächtnisses – sehr gewöhnlich bei Philologen, geringere Entwicklung des Urtheils.

117.

Die Beschäftigung mit vergangnen Cultur-Epochen Dankbarkeit? Um sich die gegenwärtigen Culturzustände zu erklären, sehe man rückwärts: zu panegyrisch gegen unsere Zustände wird man gewiß nicht, vielleicht muß man es aber thun, um nicht zu hart gegen uns selbst zu sein.

118.

Wer keinen Sinn für das Symbolische hat, hat keinen für das Alterthum: diesen Satz wende man auf die nüchternen Philologen an.

119.

Mein Ziel ist: volle Feindschaft zwischen unserer jetzigen »Cultur« und dem Alterthume zu erzeugen. Wer der Ersten dienen will, muß das Letztere hassen.

120.

Ein sehr genaues Zurückdenken führt zu der Einsicht, daß wir eine Multiplikation vieler Vergangenheiten sind: wie könnten wir nun auch letzter Zweck sein? Aber warum nicht? Meistens aber wollen wir's gar nicht sein, stellen uns gleich wieder in die Reihe, arbeiten an einem Eckchen und hoffen, es werde für die Kommenden nicht ganz verloren sein. Aber das ist wirklich das Faß der Danaiden: es hilft Nichts, wir müssen Alles wieder für uns und nur für uns thun und zum Beispiel die Wissenschaft an uns messen, mit der Frage: was ist uns die Wissenschaft? Nicht aber: was sind wir der Wissenschaft? Man macht sich wirklich das Leben zu leicht, wenn man sich so einfach historisch nimmt und in den Dienst stellt. »Das Heil deiner selbst geht über Alles« soll man sich sagen: und es giebt keine Institution, welche du höher zu achten hättest als deine eigene Seele. – Nun aber lernt sich der Mensch kennen: findet sich erbärmlich, verachtet sich, freut sich, außer sich etwas Achtungswürdiges zu finden. Und so wirft er sich fort, indem er sich irgendwo einordnet, streng seine Pflicht thut und seine Existenz abbüßt. Er weiß, daß er nicht seiner selbst wegen arbeitet; er wird Denen helfen wollen, welche es wagen, ihrer selbst wegen da zu sein; wie Sokrates. Wie ein Haufen Gummiblasen hängen die meisten Menschen in der Luft, jeder Windhauch rührt sie. – Consequenz: der Gelehrte muß es aus Selbsterkenntniß, also aus Selbstverachtung sein, d. h. er muß sich als Diener eines Höheren wissen, der nach ihm kommt. Sonst ist er ein Schaf.

121.

Es ist die Sache des freien Mannes, seiner selbst wegen und nicht in Hinsicht auf Andre zu leben. Deshalb hielten die Griechen das Handwerk für unanständig.

Das griechische Alterthum ist als Ganzes noch nicht taxirt: ich bin überzeugt, hätte es nicht diese traditionelle Verklärung um sich, die gegenwärtigen Menschen würden es mit Abscheu von sich stoßen: die Verklärung also ist unecht, von Goldpapier.

122.

Die unwahre Begeisterung für das Alterthum, in der viele Philologen leben. Eigentlich überfällt uns das Alterthum, wenn wir jung sind, mit einer Fülle von Trivialitäten, besonders glauben wir über die Ethik hinaus zu sein. Und Homer und Walther Scott – wer erlangt wohl den Preis? Wenn man ehrlich ist! Wäre die Begeisterung groß, so würde man schwerlich seinen Lebensberuf darin suchen. Ich meine: erst spät beginnt es zu dämmern, was wir an den Griechen haben können: erst wenn wir viel erlebt, viel durchdacht haben.

123.

Man glaubt, es sei zu Ende mit der Philologie – und ich glaube, sie hat noch nicht angefangen.

Die größten Ereignisse, welche die Philologie getroffen haben, sind das Erscheinen Goethe's Schopenhauer's und Wagner's: man kann damit einen Blick thun, der weiter reicht. Das fünfte und sechste Jahrhundert sind jetzt zu entdecken.

124.

Wo zeigt sich die Wirkung des Alterthums? Nicht einmal in der Sprache, nicht in der Nachahmung von irgend Etwas, nicht einmal in einer Verkehrtheit, wie die Franzosen sie gezeigt haben. Unsere Museen füllen sich; ich empfinde immer Ekel, wenn ich reine nackte Figuren griechischen Stils sehe: vor dieser gedankenlosen Philisterei, die Alles auffressen will.



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