Friedrich Wilhelm Nietzsche
Unzeitgemäße Betrachtungen
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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3

Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel, als er imstande ist ein Beispiel zu geben. Daß er durch das Beispiel ganze Völker nach sich ziehen kann, ist kein Zweifel; die indische Geschichte, die beinahe die Geschichte der indischen Philosophie ist, beweist es. Aber das Beispiel muß durch das sichtbare Leben und nicht bloß durch Bücher gegeben werden, also dergestalt, wie die Philosophen Griechenlands lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehr als durch Sprechen oder gar Schreiben. Was fehlt uns noch alles zu dieser mutigen Sichtbarkeit eines philosophischen Lebens in Deutschland! ganz allmählich befreien sich hier die Leiber, wenn die Geister längst befreit scheinen; und doch ist es nur ein Wahn, daß ein Geist frei und selbständig sei, wenn diese errungene Unumschränktheit – die im Grunde schöpferische Selbstumschränkung ist – nicht durch jeden Blick und Schritt von früh bis Abend neu bewiesen wird. Kant hielt an der Universität fest, unterwarf sich den Regierungen, blieb in dem Scheine eines religiösen Glaubens, ertrug es unter Kollegen und Studenten: so ist es denn natürlich, daß sein Beispiel vor allem Universitätsprofessoren und Professorenphilosophie erzeugte. Schopenhauer macht mit den gelehrten Kasten wenig Umstände, separiert sich, erstrebt Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft – dies ist sein Beispiel, sein Vorbild – um hier vom Äußerlichsten auszugehen. Aber viele Grade in der Befreiung des philosophischen Lebens sind unter den Deutschen noch unbekannt und werden es nicht immer bleiben können. Unsre Künstler leben kühner und ehrlicher; und das mächtigste Beispiel, welches wir vor uns sehn, das Richard Wagners, zeigt, wie der Genius sich nicht fürchten darf, in den feindseligsten Widerspruch mit den bestehenden Formen und Ordnungen zu treten, wenn er die höhere Ordnung und Wahrheit, die in ihm lebt, ans Licht herausheben will. Die »Wahrheit« aber, von welcher unsre Professoren so viel reden, scheint freilich ein anspruchsloseres Wesen zu sein, von dem keine Unordnung und Außerordnung zu befürchten ist: ein bequemes und gemütliches Geschöpf, welches allen bestehenden Gewalten wieder und wieder versichert, niemand solle ihrethalben irgendwelche Umstände haben; man sei ja nur »reine Wissenschaft«. Also: ich wollte sagen, daß die Philosophie in Deutschland es mehr und mehr zu verlernen hat, »reine Wissenschaft« zu sein: und das gerade sei das Beispiel des Menschen Schopenhauer.

Es ist aber ein Wunder und nichts Geringeres, daß er zu diesem menschlichen Beispiel heranwuchs: denn er war von außen und von innen her durch die ungeheuersten Gefahren gleichsam umdrängt, von denen jedes schwächere Geschöpf erdrückt oder zersplittert wäre. Es gab, wie mir scheint, einen starken Anschein dafür, daß der Mensch Schopenhauer untergehn werde, um als Rest, bestenfalls, »reine Wissenschaft« zurückzulassen: aber auch dies nur bestenfalls; am wahrscheinlichsten weder Mensch noch Wissenschaft.

Ein neuerer Engländer schildert die allgemeinste Gefahr ungewöhnlicher Menschen, die in einer an das Gewöhnliche gebundenen Gesellschaft leben, also: »solche fremdartige Charaktere werden anfänglich gebeugt, dann melancholisch, dann krank und zuletzt sterben sie. Ein Shelley würde in England nicht haben leben können, und eine Rasse von Shelleys würde unmöglich gewesen sein«. Unsere Hölderlin und Kleist, und wer nicht sonst, verdarben an dieser ihrer Ungewöhnlichkeit und hielten das Klima der sogenannten deutschen Bildung nicht aus; und nur Naturen von Erz, wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer und Wagner, vermögen standzuhalten. Aber auch bei ihnen zeigt sich die Wirkung des ermüdendsten Kampfes und Krampfes an vielen Zügen und Runzeln: ihr Atem geht schwerer und ihr Ton ist leicht allzu gewaltsam. Jener geübte Diplomat, der Goethe nur überhin angesehn und gesprochen hatte, sagte zu seinen Freunden: Voilà un homme, qui a eu de grands chagrins! – was Goethe so verdeutscht hat: »das ist auch einer, der sich's hat sauer werden lassen!« »Wenn sich nun in unsern Gesichtszügen«, fügt er hinzu, »die Spur überstandenen Leidens, durchgeführter Tätigkeit nicht auslöschen läßt, so ist es kein Wunder, wenn alles, was von uns und unserem Bestreben übrig bleibt, dieselbe Spur trägt.« Und das ist Goethe, auf den unsre Bildungsphilister als auf den glücklichsten Deutschen hinzeigen, um daraus den Satz zu beweisen, daß es doch möglich sein müsse, unter ihnen glücklich zu werden – mit dem Hintergedanken, daß es keinem zu verzeihen sei, wenn er sich unter ihnen unglücklich und einsam fühle. Daher haben sie sogar mit großer Grausamkeit den Lehrsatz aufgestellt und praktisch erläutert, daß in jeder Vereinsamung immer eine geheime Schuld liege. Nun hatte der arme Schopenhauer auch so eine geheime Schuld auf dem Herzen, nämlich seine Philosophie mehr zu schätzen als seine Zeitgenossen; und dazu war er so unglücklich, gerade durch Goethe zu wissen, daß er seine Philosophie, um ihre Existenz zu retten, um jeden Preis gegen die Nichtbeachtung seiner Zeitgenossen verteidigen müsse; denn es gibt eine Art Inquisitionszensur, in der es die Deutschen nach Goethes Urteil weit gebracht haben; es heißt: unverbrüchliches Schweigen. Und dadurch war wenigstens so viel bereits erreicht worden, daß der größte Teil der ersten Auflage seines Hauptwerks zu Makulatur eingestampft werden mußte. Die drohende Gefahr, daß seine große Tat einfach durch Nichtbeachtung wieder ungetan werde, brachte ihn in eine schreckliche und schwer zu bändigende Unruhe; kein einziger bedeutsamer Anhänger zeigte sich. Es macht uns traurig, ihn auf der Jagd nach irgendwelchen Spuren seines Bekanntwerdens zu sehen; und sein endlicher lauter und überlauter Triumph darüber, daß er jetzt wirklich gelesen werde (» legor et legar«), hat etwas Schmerzlich-Ergreifendes. Gerade alle jene Züge, in denen er die Würde des Philosophen nicht merken läßt, zeigen den leidenden Menschen, welchen um seine edelsten Güter bangt; so quälte ihn die Sorge, sein kleines Vergnügen zu verlieren und vielleicht seine reine und wahrhaft antike Stellung zur Philosophie nicht mehr festhalten zu können; so griff er in seinem Verlangen nach ganz vertrauenden und mitleidenden Menschen oftmals fehl, um immer wieder mit einem schwermütigen Blicke zu seinem treuen Hunde zurückzukehren. Er war ganz und gar Einsiedler; kein einziger wirklich gleichgestimmter Freund tröstete ihn – und zwischen einem und keinem liegt hier, wie immer zwischen Ichts und Nichts, eine Unendlichkeit. Niemand, der wahre Freunde hat, weiß was wahre Einsamkeit ist, und ob er auch die ganze Welt um sich zu seinen Widersachern hätte. – Ach ich merke wohl, ihr wißt nicht, was Vereinsamung ist. Wo es mächtige Gesellschaften, Regierungen, Religionen, öffentliche Meinungen gegeben hat, kurz, wo je eine Tyrannei war, da hat sie den einsamen Philosophen gehaßt; denn die Philosophie eröffnet dem Menschen ein Asyl, wohin keine Tyrannei dringen kann, die Höhle des Innerlichen, das Labyrinth der Brust: und das ärgert die Tyrannen. Dort verbergen sich die Einsamen: aber dort auch lauert die größte Gefahr der Einsamen. Diese Menschen, die ihre Freiheit in das Innerliche geflüchtet haben, müssen auch äußerlich leben, sichtbar werden, sich sehen lassen; sie stehen in zahllosen menschlichen Verbindungen durch Geburt, Aufenthalt, Erziehung, Vaterland, Zufall, Zudringlichkeit anderer; ebenfalls zahllose Meinungen werden bei ihnen vorausgesetzt, einfach weil sie die herrschenden sind; jede Miene, die nicht verneint, gilt als Zustimmung; jede Handbewegung, die nicht zertrümmert, wird als Billigung gedeutet. Sie wissen, diese Einsamen und Freien im Geiste – daß sie fortwährend irgendworin anders scheinen als sie denken: während sie nichts als Wahrheit und Ehrlichkeit wollen, ist rings um sie ein Netz von Mißverständnissen; und ihr heftiges Begehren kann es nicht verhindern, daß doch auf ihrem Tun ein Dunst von falschen Meinungen, von Anpassungen, von halben Zugeständnissen, von schonendem Verschweigen, von irrtümlicher Ausdeutung liegenbleibt. Das sammelt eine Wolke von Melancholie auf ihrer Stirne: denn daß das Scheinen Notwendigkeit ist, hassen solche Naturen mehr als den Tod; und eine solche andauernde Erbitterung darüber macht sie vulkanisch und bedrohlich. Von Zeit zu Zeit rächen sie sich für ihr gewaltsames Sich-Verbergen, für ihre erzwungene Zurückhaltung. Sie kommen aus ihrer Höhle heraus, mit schrecklichen Mienen; ihre Worte und Taten sind dann Explosionen, und es ist möglich, daß sie an sich selbst zugrunde gehen. So gefährlich lebte Schopenhauer. Gerade solche Einsame bedürfen Liebe, brauchen Genossen, vor denen sie wie vor sich selbst offen und einfach sein dürfen, in deren Gegenwart der Krampf des Verschweigens und der Verstellung aufhört. Nehmt diese Genossen hinweg und ihr erzeugt eine wachsende Gefahr; Heinrich von Kleist ging an dieser Ungeliebtheit zugrunde, und es ist das schrecklichste Gegenmittel gegen ungewöhnliche Menschen, sie dergestalt tief in sich hinein zu treiben, daß ihr Wiederherauskommen jedesmal ein vulkanischer Ausbruch wird. Doch gibt es immer wieder einen Halbgott, der es erträgt, unter so schrecklichen Bedingungen zu leben, siegreich zu leben; und wenn ihr seine einsamen Gesänge hören wollt, so hört Beethovens Musik.

Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine. Nun wissen wir aber alle recht wohl, was es gerade mit dieser Voraussetzung für eine beschämende Bewandtnis hat; ja es scheint mir, als ob überhaupt nur bei den wenigsten Menschen Kant lebendig eingegriffen und Blut und Säfte umgestaltet habe. Zwar soll, wie man überall lesen kann, seit der Tat dieses stillen Gelehrten auf allen geistigen Gebieten eine Revolution ausgebrochen sein; aber ich kann es nicht glauben. Denn ich sehe es den Menschen nicht deutlich an, als welche vor allem selbst revolutioniert sein müßten, bevor irgendwelche ganze Gebiete es sein könnten. Sobald aber Kant anfangen sollte eine populäre Wirkung auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte. »Vor kurzem«, schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, »wurde ich mit der Kantischen Philosophie bekannt – und dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich. – Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist's das letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigentum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. – Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe keines mehr.« Ja, wann werden wieder die Menschen dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem »heiligsten Innern« messen? Und doch ist dies erst nötig um abzuschätzen, was uns, nach Kant, gerade Schopenhauer sein kann – der Führer nämlich, welcher aus der Höhe des skeptischen Unmuts oder der kritisierenden Entsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet, den nächtlichen Himmel mit seinen Sternen endlos über uns, und der sich selbst, als der erste, diesen Weg geführt hat. Das ist seine Größe, daß er dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellt, um es als Ganzes zu deuten; während die scharfsinnigsten Köpfe nicht von dem Irrtum zu befreien sind, daß man dieser Deutung näher komme, wenn man die Farben, womit, den Stoff, worauf dieses Bild gemalt ist, peinlich untersuche; vielleicht mit dem Ergebnis, es sei eine ganz intrikat gesponnene Leinwand und Farben darauf, die chemisch unergründlich seien. Man muß den Maler erraten, um das Bild zu verstehen – das wußte Schopenhauer. Nun ist aber die ganze Zunft aller Wissenschaften darauf aus, jene Leinwand und jene Farben, aber nicht das Bild zu verstehen; ja man kann sagen, daß nur der, welcher das allgemeine Gemälde des Lebens und Daseins fest ins Auge gefaßt hat, sich der einzelnen Wissenschaften ohne eigne Schädigung bedienen wird, denn ohne ein solches regulatives Gesamtbild sind sie Stricke, die nirgends ans Ende führen und unsern Lebenslauf nur noch verwirrter und labyrinthischer machen. Hierin, wie gesagt, ist Schopenhauer groß, daß er jenem Bilde nachgeht wie Hamlet dem Geiste, ohne sich abziehn zu lassen, wie Gelehrte tun, oder durch begriffliche Scholastik abgesponnen zu werden, wie es das Los der ungebändigten Dialektiker ist. Das Studium aller Viertelsphilosophen ist nur deshalb anziehend, um zu erkennen, daß diese sofort auf die Stellen im Bau großer Philosophien geraten, wo das gelehrtenhafte Für und Wider, wo Grübeln, Zweifeln, Widersprechen erlaubt ist, und daß sie dadurch der Forderung jeder großen Philosophie entgehen, die als Ganzes immer nur sagt: dies ist das Bild alles Lebens, und daraus lerne den Sinn deines Lebens. Und umgekehrt: lies nur dein Leben und verstehe daraus die Hieroglyphen des allgemeinen Lebens. Und so soll auch Schopenhauers Philosophie immer zuerst ausgelegt werden: individuell, vom einzelnen allein für sich selbst, um Einsicht in das eigne Elend und Bedürfnis, in die eigne Begrenztheit zu gewinnen, um die Gegenmittel und Tröstungen kennenzulernen: nämlich Hinopferung des Ichs, Unterwerfung unter die edelsten Absichten, vor allem unter die der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Er lehrt uns zwischen den wirklichen und scheinbaren Beförderungen des Menschenglücks unterscheiden: wie weder Reichwerden, noch Geehrtsein, noch Gelehrtsein den einzelnen aus seiner tiefen Verdrossenheit über den Unwert seines Daseins herausheben kann, und wie das Streben nach diesen Gütern nur Sinn durch ein hohes und verklärendes Gesamtziel bekommt: Macht zu gewinnen, um durch sie der Physis nachzuhelfen und ein wenig Korrektor ihrer Torheiten und Ungeschicktheiten zu sein. Zunächst zwar auch nur für sich selbst; durch sich aber endlich für alle. Es ist freilich ein Streben, welches tief und herzlich zur Resignation hinleitet: denn was und wie viel kann überhaupt noch verbessert werden, am einzelnen und am allgemeinen!

Wenden wir gerade diese Worte auf Schopenhauer an, so berühren wir die dritte und eigentümlichste Gefahr, in derer lebte und die im ganzen Bau und Knochengerüste seines Wesens verborgen lag. Jeder Mensch pflegt in sich eine Begrenztheit vorzufinden, seiner Begabung sowohl als seines sittlichen Wollens, welche ihn mit Sehnsucht und Melancholie erfüllt; und wie er aus dem Gefühl seiner Sündhaftigkeit sich hin nach dem Heiligen sehnt, so trägt er, als intellektuelles Wesen, ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich. Hier ist die Wurzel aller wahren Kultur; und wenn ich unter dieser die Sehnsucht des Menschen verstehe, als Heiliger und als Genius wiedergeboren zu werden, so weiß ich, daß man nicht erst Buddhaist sein muß, um diesen Mythus zu verstehen. Wo wir Begabung ohne jene Sehnsucht finden, im Kreise der Gelehrten oder auch bei den sogenannten Gebildeten, macht sie uns Widerwillen und Ekel; denn wir ahnen, daß solche Menschen, mit allem ihrem Geiste, eine werdende Kultur und die Erzeugung des Genius – das heißt das Ziel aller Kultur – nicht fördern, sondern verhindern. Es ist der Zustand einer Verhärtung, im Werte gleich jener gewohnheitsmäßigen, kalten und auf sich selbst stolzen Tugendhaftigkeit, welche auch am weitesten von der wahren Heiligkeit entfernt ist und fern hält. Schopenhauers Natur enthielt nun eine seltsame und höchst gefährliche Doppelheit. Wenige Denker haben in dem Maße und der unvergleichlichen Bestimmtheit empfunden, daß der Genius in ihnen webt; und sein Genius verhieß ihm das Höchste – daß es keine tiefere Furche geben werde als die, welche seine Pflugschar in den Boden der neueren Menschheit reißt. So wußte er die eine Hälfte seines Wesens gesättigt und erfüllt, ohne Begierde, ihrer Kraft gewiß, so trug er mit Größe und Würde seinen Beruf als siegreich Vollendeter. In der andern Hälfte lebte eine ungestüme Sehnsucht; wir verstehen sie, wenn wir hören, daß er sich mit schmerzlichem Blicke von dem Bilde des großen Stifters der la Trappe, Rancé, abwandte, unter den Worten: »das ist Sache der Gnade.« Denn der Genius sehnt sich tiefer nach Heiligkeit, weil er von seiner Warte aus weiter und heller geschaut hat als ein andrer Mensch, hinab in die Versöhnung von Erkennen und Sein, hinein in das Reich des Friedens und des verneinten Willens, hinüber nach der andern Küste, von der die Inder sagen. Aber hier gerade ist das Wunder: wie unbegreiflich ganz und unzerbrechlich mußte Schopenhauers Natur sein, wenn sie auch nicht durch diese Sehnsucht zerstört werden konnte und doch auch nicht verhärtet wurde! Was das heißen will, wird jeder nach dem Maße dessen verstehen, was und wieviel er ist: und ganz, in aller seiner Schwere, wird es keiner von uns verstehen.

Je mehr man über die geschilderten drei Gefahren nachdenkt, um so befremdlicher bleibt es, mit welcher Rüstigkeit sich Schopenhauer gegen sie verteidigte und wie gesund und gerade er aus dem Kampfe herauskam. Zwar auch mit vielen Narben und offnen Wunden; und in einer Stimmung, die vielleicht etwas zu herbe, mitunter auch allzu kriegerisch erscheint. Auch über dem größten Menschen erhebt sich sein eignes Ideal. Daß Schopenhauer ein Vorbild sein kann, das steht trotz aller jener Narben und Flecken fest. Ja man möchte sagen: das, was an seinem Wesen unvollkommen und allzu menschlich war, führt uns gerade im menschlichsten Sinne in seine Nähe, denn wir sehen ihn als Leidenden und Leidensgenossen und nicht nur in der ablehnenden Hoheit des Genius.

Jene drei Gefahren der Konstitution, die Schopenhauer bedrohten, bedrohen uns alle. Ein jeder trägt eine produktive Einzigkeit in sich, als den Kern seines Wesens; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewußt wird, erscheint um ihn ein fremdartiger Glanz, der des Ungewöhnlichen. Dies ist den meisten etwas Unerträgliches: weil sie, wie gesagt, faul sind und weil an jener Einzigkeit eine Kette von Mühen und Lasten hängt. Es ist kein Zweifel, daß für den Ungewöhnlichen, der sich mit dieser Kette beschwert, das Leben fast alles, was man von ihm in der Jugend ersehnt, Heiterkeit, Sicherheit, Leichtigkeit, Ehre, einbüßt; das Los der Vereinsamung ist das Geschenk, welches ihm die Mitmenschen machen; die Wüste und die Höhle ist sofort da, er mag leben, wo er will. Nun sehe er zu, daß er sich nicht unterjochen lasse, daß er nicht gedrückt und melancholisch werde. Und deshalb mag er sich mit den Bildern guter und tapferer Kämpfer umstellen, wie Schopenhauer selbst einer war. Aber auch die zweite Gefahr, die Schopenhauern bedrohte, ist nicht ganz selten. Hier und da ist einer von Natur mit Scharfblick ausgerüstet, seine Gedanken gehen gern den dialektischen Doppelgang; wie leicht ist es, wenn er seiner Begabung unvorsichtig die Zügel schießen läßt, daß er als Mensch zugrunde geht und fast nur noch in der »reinen Wissenschaft« ein Gespensterleben führt: oder daß er, gewohnt daran, das Für und Wider in den Dingen aufzusuchen, an der Wahrheit überhaupt irre wird und so ohne Mut und Zutrauen leben muß, verneinend, zweifelnd, annagend, unzufrieden, in halber Hoffnung, in erwarteter Enttäuschung: »es möchte kein Hund so länger leben!« Die dritte Gefahr ist die Verhärtung, im Sittlichen oder im Intellektuellen; der Mensch zerreißt das Band, welches ihn mit seinem Ideal verknüpfte; er hört auf, auf diesem oder jenem Gebiete fruchtbar zu sein, sich fortzupflanzen, er wird im Sinne der Kultur schwächlich oder unnütz. Die Einzigkeit seines Wesens ist zum unteilbaren, unmittelbaren Atom geworden, zum erkalteten Gestein. Und so kann einer an dieser Einzigkeit ebenso wie an der Furcht vor dieser Einzigkeit verderben, an sich selbst und im Aufgeben seiner selbst, an der Sehnsucht und an der Verhärtung: und Leben überhaupt heißt in Gefahr sein.

Außer diesen Gefahren seiner ganzen Konstitution, welchen Schopenhauer ausgesetzt gewesen wäre, er hätte nun in diesem oder jenem Jahrhundert gelebt – gibt es nun noch Gefahren, die aus seiner Zeit an ihn herankamen; und diese Unterscheidung, zwischen Konstitutionsgefahren und Zeitgefahren ist wesentlich, um das Vorbildliche und Erzieherische in Schopenhauers Natur zu begreifen. Denken wir uns das Auge des Philosophen auf dem Dasein ruhend: er will dessen Wert neu festsetzen. Denn das ist die eigentümliche Arbeit aller großen Denker gewesen, Gesetzgeber für Maß, Münze und Gewicht der Dinge zu sein. Wie muß es ihm hinderlich werden, wenn die Menschheit, die er zunächst sieht, gerade eine schwächliche und von Würmern zerfressene Frucht ist! Wie viel muß er, um gerecht gegen das Dasein überhaupt zu sein, zu dem Unwerte der gegenwärtigen Zeit hinzuaddieren! Wenn die Beschäftigung mit Geschichte vergangner oder fremder Völker wertvoll ist, so ist sie es am meisten für den Philosophen, der ein gerechtes Urteil über das gesamte Menschenlos abgeben will, nicht also nur über das durchschnittliche, sondern vor allem auch über das höchste Los, das einzelnen Menschen oder ganzen Völkern zufallen kann. Nun aber ist alles Gegenwärtige zudringlich; es wirkt und bestimmt das Auge, auch wenn der Philosoph es nicht will; und unwillkürlich wird es in der Gesamtabrechnung zu hoch taxiert sein. Deshalb muß der Philosoph seine Zeit in ihrem Unterschiede gegen andre wohl abschätzen und, indem er für sich die Gegenwart überwindet, auch in seinem Bilde, das er vom Leben gibt, die Gegenwart überwinden, nämlich unbemerkbar machen und gleichsam übermalen. Dies ist eine schwere, ja kaum lösbare Aufgabe. Das Urteil der alten griechischen Philosophen über den Wert des Daseins besagt so viel mehr als ein modernes Urteil, weil sie das Leben selbst in einer üppigen Vollendung vor sich und um sich hatten und weil bei ihnen nicht wie bei uns das Gefühl des Denkers sich verwirrt in dem Zwiespalte des Wunsches nach Freiheit, Schönheit, Größe des Lebens und des Triebes nach Wahrheit, die nur fragt: was ist das Dasein überhaupt wert? Es bleibt für alle Zeiten wichtig zu wissen, was Empedokles, inmitten der kräftigsten und überschwänglichsten Lebenslust der griechischen Kultur, über das Dasein ausgesagt hat; sein Urteil wiegt sehr schwer, zumal ihm durch kein einziges Gegenurteil irgendeines andern großen Philosophen aus derselben großen Zeit widersprochen wird. Er spricht nur am deutlichsten, aber im Grunde – nämlich, wenn man seine Ohren etwas aufmacht, sagen sie alle dasselbe. Ein moderner Denker wird, wie gesagt, immer an einem unerfüllten Wunsche leiden: er wird verlangen, daß man ihm erst wieder Leben, wahres, rotes, gesundes Leben zeige, damit er dann darüber seinen Richterspruch fälle. Wenigstens für sich selbst wird er es für nötig halten, ein lebendiger Mensch zu sein, bevor er glauben darf, ein gerechter Richter sein zu können. Hier ist der Grund, weshalb gerade die neueren Philosophen zu den mächtigsten Förderern des Lebens, des Willens zum Leben gehören, und weshalb sie sich aus ihrer ermatteten eignen Zeit nach einer Kultur, nach einer verklärten Physis sehnen. Diese Sehnsucht ist aber auch ihre Gefahr, in ihnen kämpft der Reformator des Lebens und der Philosoph, das heißt: der Richter des Lebens. Wohin sich auch der Sieg neige, es ist ein Sieg, der einen Verlust in sich schließen wird. Und wie entging nun Schopenhauer auch dieser Gefahr?

Wenn jeder große Mensch auch am liebsten gerade als das echte Kind seiner Zeit angesehn wird und jedenfalls an allen ihren Gebresten stärker und empfindlicher leidet als alle kleineren Menschen, so ist der Kampf eines solchen Großen gegen seine Zeit scheinbar nur ein unsinniger und zerstörender Kampf gegen sich selbst. Aber eben nur scheinbar; denn in ihr bekämpft er das, was ihn hindert, groß zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein. Daraus folgt, daß seine Feindschaft im Grunde gerade gegen das gerichtet ist, was zwar an ihm selbst, was aber nicht eigentlich er selbst ist, nämlich gegen das unreine Durch- und Nebeneinander von Unmischbarem und ewig Unvereinbarem, gegen die falsche Anlötung des Zeitgemäßen an sein Unzeitgemäßes; und endlich erweist sich das angebliche Kind der Zeit nur als Stiefkind derselben. So strebte Schopenhauer schon von früher Jugend an, jener falschen, eitlen und unwürdigen Mutter, der Zeit, entgegen, und indem er sie gleichsam aus sich auswies, reinigte und heilte er sein Wesen und fand sich selbst in seiner ihm zugehörigen Gesundheit und Reinheit wieder. Deshalb sind die Schriften Schopenhauers als Spiegel der Zeit zu benutzen; und gewiß liegt es nicht an einem Fehler des Spiegels, wenn in ihm alles Zeitgemäße nur wie eine entstellende Krankheit sichtbar wird, als Magerkeit und Blässe, als hohles Auge und erschlaffte Mienen, als die erkennbaren Leiden jener Stiefkindschaft. Die Sehnsucht nach starker Natur, nach gesunder und einfacher Menschheit, war bei ihm eine Sehnsucht nach sich selbst; und sobald er die Zeit in sich besiegt hatte, mußte er auch mit erstauntem Auge den Genius in sich erblicken. Das Geheimnis seines Wesens war ihm jetzt enthüllt, die Absicht jener Stiefmutter Zeit, ihm diesen Genius zu verbergen, vereitelt, das Reich der verklärten Physis war entdeckt. Wenn er jetzt nun sein furchtloses Auge der Frage zuwandte: »was ist das Leben überhaupt wert?« – so hatte er nicht mehr eine verworrene und abgeblaßte Zeit und deren heuchlerisch unklares Leben zu verurteilen. Er wußte es wohl, daß noch Höheres und Reineres auf dieser Erde zu finden und zu erreichen sei als solch ein zeitgemäßes Leben, und daß jeder dem Dasein bitter Unrecht tue, der es nur nach dieser häßlichen Gestalt kenne und abschätze. Nein, der Genius selbst wird jetzt aufgerufen, um zu hören, ob dieser, die höchste Frucht des Lebens, vielleicht das Leben überhaupt rechtfertigen könne; der herrliche schöpferische Mensch soll auf die Frage antworten: »bejahst denn du im tiefsten Herzen dieses Dasein? Genügt es dir? Willst du sein Fürsprecher, sein Erlöser sein? Denn nur ein einziges wahrhaftiges Ja! aus deinem Munde – und das so schwer verklagte Leben soll frei sein.« – Was wird er antworten? – Die Antwort des Empedokles.


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