Friedrich Wilhelm Nietzsche
Unzeitgemäße Betrachtungen
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Wir sind über den Himmel und den Mut des neuen Gläubigen hinlänglich belehrt, um uns nun auch die letzte Frage stellen zu können: Wie schreibt er seine Bücher? und welcher Art sind seine Religions-Urkunden?

Wer sich diese Frage streng und ohne Vorurteil beantworten kann, für den wird die Tatsache, daß das Straußsche Hand-Orakel des deutschen Philisters in sechs Auflagen begehrt worden ist, zum nachdenklichsten Problem, besonders wenn er gar noch hört, daß es auch in den gelehrten Kreisen und selbst an den deutschen Universitäten als ein solches Hand-Orakel willkommen geheißen worden ist. Studenten sollen es wie einen Kanon für starke Geister begrüßt, und Professoren sollen nicht widersprochen haben: hier und da hat man darin wirklich ein Religionsbuch für den Gelehrten finden wollen. Strauß selbst gibt zu verstehen, daß das Bekenntnisbuch nicht nur eine Auskunft für den Gelehrten und Gebildeten abgeben möge; aber wir halten uns hier daran, daß es sich zunächst an diese, und zwar vornehmlich an die Gelehrten wendet, um ihnen den Spiegel eines Lebens vorzuhalten, wie sie es selbst leben. Denn dies ist das Kunststück: der Magister stellt sich, als ob er das Ideal einer neuen Weltbetrachtung entwerfe, und nun kommt ihm sein Lob aus jedem Munde zurück, weil jeder meinen kann, gerade er betrachte Welt und Leben so, und gerade an ihm habe Strauß schon erfüllt sehen können, was er erst von der Zukunft fordere. Daraus erklärt sich auch zum Teil der außerordentliche Erfolg jenes Buches: so, wie im Buche steht, leben wir, so wandeln wir beglückt! ruft der Gelehrte ihm entgegen und freut sich, daß andere sich daran freuen. Ob er über einzelne Dinge, zum Beispiel über Darwin oder die Todesstrafe, zufällig anders denkt als der Magister, hält er selbst für ziemlich gleichgültig, weil er so sicher fühlt, im ganzen seine eigene Luft zu atmen und den Widerklang seiner Stimme und seiner Bedürfnisse zu hören. So peinlich diese Einmütigkeit jeden wahren Freund deutscher Kultur berühren mag, so unerbittlich streng muß er sich eine solche Tatsache erklären und selbst davor nicht zurückschrecken, seine Erklärung öffentlich abzugeben.

Wir kennen ja alle die unserem Zeitalter eigentümliche Art, die Wissenschaften zu betreiben, wir kennen sie, weil wir sie leben: und eben deshalb stellt sich fast niemand die Frage, was wohl bei einer solchen Beschäftigung mit den Wissenschaften für die Kultur herauskommen könne, selbst vorausgesetzt, daß überall die beste Befähigung und der ehrlichste Wille, für die Kultur zu wirken, vorhanden sei. Es liegt ja im Wesen des wissenschaftlichen Menschen (ganz abgesehen von seiner gegenwärtigen Gestalt) ein rechtes Paradoxon: er benimmt sich wie der stolzeste Müßiggänger des Glücks: als ob das Dasein nicht eine heillose und bedenkliche Sache sei, sondern ein fester, für ewige Dauer garantierter Besitz. Ihm scheint es erlaubt, ein Leben auf Fragen zu verschwenden, deren Beantwortung im Grunde nur dem, der einer Ewigkeit versichert wäre, wichtig sein könnte. Rings umstarrten ihn, den Erben weniger Stunden, die schrecklichsten Abstürze, jeder Tritt sollte ihn erinnern: Wozu? Wohin? Woher? Aber seine Seele erglüht bei der Aufgabe, die Staubfäden einer Blume zu zählen oder die Gesteine am Wege zu zerklopfen, und er versenkt in diese Arbeit das ganze, volle Gewicht seiner Teilnahme, Lust, Kraft und Begierde. Dieses Paradoxon, der wissenschaftliche Mensch, ist nun neuerdings in Deutschland in eine Hast geraten, als ob die Wissenschaft eine Fabrik sei, und jede Minuten-Versäumnis eine Strafe nach sich ziehe. Jetzt arbeitet er, so hart wie der vierte Stand, der Sklavenstand, arbeitet, sein Studium ist nicht mehr eine Beschäftigung, sondern eine Not, er sieht weder rechts noch links und geht durch alle Geschäfte und ebenso durch alle Bedenklichkeiten, die das Leben im Schoße trägt, mit jener halben Aufmerksamkeit oder mit jenem widrigen Erholungs-Bedürfnisse hindurch, welches dem erschöpften Arbeiter zu eigen ist.

So steht er nun auch zur Kultur. Er benimmt sich, als ob das Leben für ihn nur otium sei, aber sine dignitate: und selbst im Traume wirft er sein Joch nicht ab, wie ein Sklave, der selbst in der Freiheit von seiner Not, seiner Hast und seinen Prügeln träumt. Unsere Gelehrten unterscheiden sich kaum und jedenfalls nicht zu ihren Gunsten von den Ackerbauern, die einen kleinen ererbten Besitz mehren wollen und emsig vom Tag bis in die Nacht hinein bemüht sind, den Acker zu bestellen, den Pflug zu führen und den Ochsen zuzurufen. Nun meint Pascal überhaupt, daß die Menschen so angelegentlich ihre Geschäfte und ihre Wissenschaften betrieben, um nur damit den wichtigsten Fragen zu entfliehen, die jede Einsamkeit, jede wirkliche Muße ihnen aufdringen würde, eben jenen Fragen nach dem Warum, Woher, Wohin. Unseren Gelehrten fällt sogar, wunderlicherweise, die allernächste Frage nicht ein: wozu ihre Arbeit, ihre Hast, ihr schmerzlicher Taumel nütze sei. Doch nicht etwa, um Brot zu verdienen oder Ehrenstellen zu erjagen? Nein, wahrhaftig nicht. Aber doch mühet ihr euch in der Art der Darbenden und Brotbedürftigen, ja ihr reißt die Speisen mit einer Gier und ohne alle Wahl vom Tische der Wissenschaft, als ob ihr am Verhungern wäret. Wenn ihr aber, als wissenschaftliche Menschen, mit der Wissenschaft verfahrt, wie die Arbeiter mit den Aufgaben, die ihnen ihre Bedürftigkeit und Lebensnot stellt, was soll da aus einer Kultur werden, die verurteilt ist, gerade angesichts einer solchen aufgeregten, atemlosen, hin- und herrennenden, ja zappelnden Wissenschaftlichkeit auf die Stunde ihrer Geburt und Erlösung zu warten? Für sie hat ja niemand Zeit und doch, was soll überhaupt die Wissenschaft, wenn sie nicht für die Kultur Zeit hat? So antwortet uns doch wenigstens hier: woher, wohin, wozu alle Wissenschaft, wenn sie nicht zur Kultur führen soll? Nun, dann vielleicht zur Barbarei! Und in dieser Richtung sehen wir den Gelehrtenstand schon erschreckend vorgeschritten, wenn wir uns denken dürften, daß so oberflächliche Bücher, wie das Straußsche, seinem jetzigen Kulturgrade genug täten. Denn gerade in ihm finden wir jenes widrige Erholungs-Bedürfnis und jenes beiläufige, mit halber Aufmerksamkeit hinhörende Sich-Abfinden mit der Philosophie und Kultur und überhaupt mit allem Ernste des Daseins. Man wird an die Gesellschaft der gelehrten Stände erinnert, die auch, wenn das Fachgespräch schweigt, nur von Ermüdung, von Zerstreuungslust um jeden Preis, von einem zerpflückten Gedächtnis und unzusammenhängender Lebenserfahrung Zeugnis ablegt. Wenn man Strauß über die Lebensfragen reden hört, sei es nun über die Probleme der Ehe oder über den Krieg oder die Todesstrafe, so erschreckt er uns durch den Mangel aller wirklichen Erfahrung, alles ursprünglichen Hineinsehens in die Menschen: alles Urteilen ist so büchermäßig uniform, ja im Grunde sogar nur zeitungsgemäß; literarische Reminiszenzen vertreten die Stelle von wirklichen Einfällen und Einsichten, eine affektierte Mäßigung und Altklugheit in der Ausdrucksweise soll uns für den Mangel an Weisheit und an Gereiftheit des Denkens schadlos halten. Wie genau entspricht dies alles dem Geiste der umlärmten Hochsitze deutscher Wissenschaft in den großen Städten! Wie sympathisch muß dieser Geist zu jenem Geiste reden: denn gerade an jenen Stätten ist die Kultur am meisten abhanden gekommen, gerade an ihnen ist selbst das Aufkeimen einer neuen unmöglich gemacht; so lärmend sind die Zurüstungen der hier betriebenen Wissenschaften, so herdenartig werden dort die beliebtesten Disziplinen auf Unkosten der wichtigsten überfallen. Mit welcher Laterne würde man hier nach Menschen suchen müssen, die eines innigen Sich-Versenkens und einer reinen Hingabe an den Genius fähig wären, und die Mut und Kraft genug hätten, Dämonen zu zitieren, die aus unserer Zeit geflohen sind! Äußerlich betrachtet, findet man freilich an jenen Stätten den ganzen Pomp der Kultur, sie gleichen mit ihren imponierenden Apparaten den Zeughäusern mit ihren ungeheuren Geschützen und Kriegswerkzeugen: wir sehen Zurüstungen und eine emsige Betriebsamkeit, als ob der Himmel gestürmt und die Wahrheit aus dem tiefsten Brunnen heraufgeholt werden sollte, und doch kann man im Kriege die größten Maschinen am schlechtesten gebrauchen. Und ebenso läßt die wirkliche Kultur bei ihrem Kampfe jene Stätten beiseite liegen und fühlt mit dem besten Instinkte heraus, daß dort für sie nichts zu hoffen und viel zu fürchten ist. Denn die einzige Form der Kultur, mit der sich das entzündete Auge und das abgestumpfte Denk-Organ des gelehrten Arbeiterstandes abgeben mag, ist eben jene Philister-Kultur, deren Evangelium Strauß verkündet hat.

Betrachten wir einen Augenblick die hauptsächlichen Gründe jener Sympathie, die den gelehrten Arbeiterstand und die Philister-Kultur verknüpfen, so finden wir auch den Weg, der uns zu dem als klassisch anerkannten Schriftsteller Strauß und damit zu unserem letzten Hauptthema führt.

Jene Kultur hat erstens den Ausdruck der Zufriedenheit im Gesichte und will nichts Wesentliches an dem gegenwärtigen Stande der deutschen Gebildetheit geändert haben; vor allem ist sie ernstlich von der Singulariät aller deutschen Erziehungs-Institutionen, namentlich der Gymnasien und Universitäten, überzeugt, hört nicht auf, diese dem Auslande anzuempfehlen, und zweifelt keinen Augenblick daran, daß man durch dieselbsen das gebildetste und urteilsfähigste Volk der Welt geworden sei. Die Philister-Kultur glaubt an sich und darum auch an die ihr zu Gebote stehenden Methoden und Mittel. Zweitens aber legt sie das höchste Urteil über alle Kultur- und Geschmacks-Fragen in die Hand des Gelehrten und betrachtet sich selbst als das immer anwachsende Kompendium gelehrter Meinungen über Kunst, Literatur und Philosophie; ihre Sorge ist, den Gelehrten zum Aussprechen seiner Meinungen zu nötigen und diese dann vermischt, diluiert oder systematisiert dem deutschen Volke als Heiltrank einzugeben. Was außerhalb dieser Kreise heranwächst, wird so lange mit zweifelnder Halbheit angehört oder nicht angehört, bemerkt oder nicht bemerkt, bis endlich einmal eine Stimme, gleichgültig von wem, wenn er nur recht streng den Gattungs-Charakter des Gelehrten an sich trägt, laut wird, heraus aus jenen Tempelräumen, in denen die traditionelle Geschmacks-Unfehlbarkeit herbergen soll: und von jetzt ab hat die öffentliche Meinung eine Meinung mehr und wiederholt mit hundertfachem Echo die Stimme jenes einzelnen. In Wirklichkeit aber steht es um die ästhetische Unfehlbarkeit, die in diesen Räumen und bei jenen einzelnen herbergen soll, sehr bedenklich, und zwar so bedenklich, daß man so lange von dem Ungeschmack, der Gedankenlosigkeit und ästhetischen Rohheit eines Gelehrten überzeugt sein kann, als er nicht das Gegenteil erwiesen hat. Und nur wenige werden das Gegenteil beweisen können. Denn wie viele werden sich, nachdem sie sich an dem keuchenden und gehetzten Wettlauf der gegenwärtigen Wissenschaft beteiligt haben, überhaupt nur jenen mutigen und ruhenden Blick des kämpfenden Kultur-Menschen erhalten können, wenn sie ihn je besessen haben sollten, jenen Blick, der dieses Wettlaufen selbst als ein barbarisierendes Element verurteilt? Deshalb müssen diese wenigen fürderhin in einem Widerspruche leben: was vermöchten sie also gegen einen uniformen Glauben Unzähliger auszurichten, die allesamt die öffentliche Meinung zu ihrer Schutzpatronin gemacht haben und in diesem Glauben sich gegenseitig stützen und tragen? Was hilft es nun, wenn so ein einzelner sich gegen Strauß erklärt, da doch die vielen sich für ihn entschieden haben, und die von ihnen angeführte Masse sechsmal hintereinander nach dem philiströsen Schlaftrunk des Magisters begehren gelernt hat.

Wenn wir hiermit ohne weiteres angenommen haben, daß das Straußsche Bekenntnisbuch bei der öffentlichen Meinung gesiegt habe und als Sieger willkommen geheißen sei, so würde sein Verfasser uns vielleicht aufmerksam machen, daß die mannigfachen Beurteilungen seines Buches in öffentlichen Blättern einen durchaus nicht einmütigen und am wenigsten einen unbedingt günstigen Charakter tragen, und daß er selbst gegen den bisweilen äußerst feindseligen Ton und die gar zu freche und herausfordernde Manier einiger dieser Zeitungskämpen in einem Nachwort sich habe verwahren müssen. Wie kann es, wird er uns zurufen, eine öffentliche Meinung über mein Buch geben, wenn trotzdem jeder Journalist mich als vogelfrei betrachten und nach Herzenslust schlecht behandeln darf! Dieser Widerspruch ist leicht zu heben, sobald man an dem Straußschen Buche zwei Seiten unterscheidet, eine theologische und eine schriftstellerische: nur mit der letzteren berührt jenes Buch die deutsche Kultur. Durch seine theologische Färbung steht es außerhalb unserer deutschen Kultur und erweckt die Antipathien der verschiedenen theologischen Parteien, ja im Grunde jedes einzelnen Deutschen, insofern dieser ein theologischer Sektierer von Natur ist und seinen kuriosen Privatglauben nur deshalb erfindet, um mit jedem anderen Glauben dissentieren zu können. Aber hört nur einmal alle diese theologischen Sektierer über Strauß reden, sobald von dem Schriftsteller Strauß gesprochen werden muß; sofort verklingt der theologische Dissonanzen-Lärm, um in reinem Einklang ertönt es wie aus dem Munde einer Gemeinde: ein klassischer Schriftsteller bleibt er doch! Jeder, auch der verbissenste Orthodoxe, sagt dem Schriftsteller das Günstigste ins Gesicht, und sei es auch nur ein Wort über seine fast Lessingsche Dialektik oder über die Freiheit, Schönheit und Gültigkeit seiner ästhetischen Ansichten. Als Buch, so scheint es, entspricht das Straußsche Produkt geradezu dem Ideal eines Buches. Die theologischen Widersacher sind, obwohl sie am lautesten geredet haben, in diesem Falle nur ein kleiner Bruchteil des großen Publikums: und selbst ihnen gegenüber wird Strauß recht haben, wenn er sagt: »Gegen die Tausende meiner Leser sind die paar Dutzende meiner öffentlichen Tadler eine verschwindende Minderheit, und sie werden schwerlich beweisen können, daß sie durchaus die treuen Dolmetscher der ersteren sind. Wenn in einer Sache, wie diese, meistens die Nicht-Einverstandenen das Wort genommen, die Einverstandenen sich mit stiller Zustimmung begnügt haben, so liegt das in der Natur der Verhältnisse, die wir ja alle kennen.« Also abgesehen von dem Ärgernis des theologischen Bekenntnisses, das Strauß hier und da erregt haben mag, über den Schriftsteller Strauß herrscht, selbst bei den fanatischen Widersachern, denen seine Stimme wie die Stimme des Tieres aus dem Abgrunde klingt, Einmütigkeit. Und deshalb beweist die Behandlung, die Strauß durch die literarischen Lohndiener der theologischen Parteien erfahren hat, nichts gegen unseren Satz, daß die Philister-Kultur in diesem Buche einen Triumph gefeiert hat.

Es ist zuzugeben, daß der gebildete Philister im Durchschnitt um einen Grad weniger freimütig ist als Strauß, oder wenigstens bei öffentlichen Kundgebungen sich mehr zurückhält: um so erbaulicher ist ihm aber dieser Freimut bei einem anderen; zu Hause und unter seinesgleichen klatscht er sogar lärmend Beifall und nur gerade schriftlich mag er nicht bekennen, wie sehr ihm das alles von Strauß nach dem Herzen gesagt ist. Denn etwas feige ist nun einmal, wie wir bereits wissen, unser Bildungs-Philister, selbst bei den stärksten Sympathien: und gerade daß Strauß um einen Grad weniger feige ist, das macht ihn zum Führer, während es andererseits auch für seinen Mut eine sehr bestimmte Grenzlinie gibt. Wenn er diese überschritte, wie dies zum Beispiel Schopenhauer fast in jedem Satze tut, dann würde er nicht mehr wie ein Häuptling vor den Philistern herziehen, und man liefe ebenso hurtig davon, als man jetzt hinter ihm drein läuft. Wer dieses, wenn nicht weise, so doch jedenfalls kluge Maßhalten und diese mediocritas des Mutes eine aristotelische Tugend nennen wollte, würde freilich im Irrtum sein: denn jener Mut ist nicht die Mitte zwischen zwei Fehlern, sondern zwischen einer Tugend und einem Fehler – und in dieser Mitte, zwischen Tugend und Fehler, liegen alle Eigenschaften des Philisters.


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