Friedrich Wilhelm Nietzsche
Unzeitgemäße Betrachtungen
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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5

Wie klug war mein Freund, daß er, durch jene chimärische Spuk-Gestalt über den Straußschen Lessing und über Strauß aufgeklärt, nicht mehr weiter lesen mochte. Wir selbst aber haben weiter gelesen und auch bei dem neugläubigen Türhüter des musikalischen Heiligtums Einlaß begehrt. Der Magister öffnet, geht neben her, erklärt, nennt Namen – endlich bleiben wir mißtrauisch stehen und sehen ihn an: sollte es uns nicht ergangen sein, wie es dem armen Freunde im Traume ergangen ist? Die Musiker, von denen Strauß spricht, scheinen uns, so lange er davon spricht, falsch benannt zu sein, und wir glauben, daß von anderen, wenn nicht gar von neckischen Phantomen die Rede sei. Wenn er zum Beispiel mit jener Wärme, die uns bei seinem Lobe Lessings verdächtig war, den Namen Haydn in den Mund nimmt und sich als Epopt und Priester eines Haydnschen Mysterienkultus gebärdet, dabei aber Haydn mit einer »ehrlichen Suppe«, Beethoven mit »Konfekt« (und zwar im Hinblick auf die Quartettmusik) vergleicht (S. 362), so steht für uns nur eins fest: sein Konfekt-Beethoven ist nicht unser Beethoven, und sein Suppen-Haydn ist nicht unser Haydn. Übrigens findet der Magister unsere Orchester zu gut für den Vortrag seines Haydn und hält dafür, daß nur die bescheidensten Dilettanten jener Musik gerecht werden könnten – wiederum ein Beweis, daß er von einem anderen Künstler und von anderen Kunstwerken, vielleicht von Riehlscher Hausmusik, redet.

Wer mag aber nur jener Straußsche Konfekt-Beethoven sein? Er soll neun Symphonien gemacht haben, von denen die Pastorale »die wenigst geistreiche« sei; jedesmal bei der dritten, wie wir erfahren, drängte es ihn, »über den Strang zu schlagen und ein Abenteuer zu suchen«, woraus wir fast auf ein Doppelwesen, halb Pferd, halb Ritter, raten dürften. In betreff einer gewissen »Eroika« wird jenem Kentauren ernstlich zugesetzt, daß es ihm nicht gelungen sei auszudrücken, »ob es sich von Kämpfen auf offenem Felde oder in den Tiefen der Menschenbrust handele«. In der Pastorale gebe es einen »trefflich wütenden Sturm«, für den es doch »gar zu unbedeutend« sei, daß er einen Bauerntanz unterbräche; und so sei durch das »willkürliche Festbinden an dem untergelegten trivialen Anlaß«, wie die ebenso gewandte als korrekte Wendung lautet, diese Symphonie »die wenigst geistreiche« – es scheint dem klassischen Magister sogar ein derberes Wort vorgeschwebt zu haben, aber er zieht vor, sich hier »mit gebürender Bescheidenheit«, wie er sagt, auszudrücken. Aber nein, damit hat er einmal Unrecht, unser Magister, er ist hier wirklich zu bescheiden. Wer soll uns denn noch über den Konfekt-Beethoven belehren, wenn nicht Strauß selbst, der einzige, der ihn zu kennen scheint? Überdies kommt jetzt sofort ein kräftiges und mit der gebührenden Unbescheidenheit gesprochenes Urteil, und zwar gerade über die neunte Symphonie: diese nämlich soll nur bei denen beliebt sein, welchen »das Barocke als das Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt« (S. 359). Freilich habe sie ein so strenger Kritikus wie Gervinus willkommen geheißen, nämlich als Bestätigung einer Gervinusschen Doktrin: er, Strauß, sei weit entfernt, in so »problematischen Produkten« seines Beethoven Verdienst zu suchen. »Es ist ein Elend,« ruft unser Magister mit zärtlichen Seufzern aus, »daß man sich bei Beethoven den Genuß und die gern gezollte Bewunderung durch solcherlei Einschränkungen verkümmern muß.« Unser Magister ist nämlich ein Liebling der Grazien; und diese haben ihm erzählt, daß sie nur eine Strecke weit mit Beethoven gingen, und daß er sie dann wieder aus dem Gesicht verliere. »Dies ist ein Mangel,« ruft er aus, »aber sollte man glauben, daß es wohl auch als ein Vorzug erscheint?« »Wer die musikalische Idee mühsam und außer Atem daherwälzt, wird die schwerere zu bewegen und der Stärkere zu sein scheinen« (S. 355,356). Dies ist ein Bekenntnis, und zwar nicht nur über Beethoven, sondern ein Bekenntnis des »klassischen Prosaschreibers« über sich selbst: ihn, den berühmten Autor, lassen die Grazien nicht von der Hand: von dem Spiele leichter Scherze – nämlich Straußscher Scherze – bis zu den Höhen des Ernstes nämlich des Straußschen Ernstes – bleiben sie unbeirrt ihm zur Seite. Er, der klassische Schreibekünstler, schiebt seine Last leicht und spielend, während sie Beethoven außer Atem einherwälzt. Er scheint mit seinem Gewichte nur zu tändeln: dies ist ein Vorzug: aber sollte man glauben, daß es wohl auch als Mangel erscheinen könnte? – Doch höchstens nur bei denen, welchen das Barocke als das Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt – nicht wahr, Sie tändelnder Liebling der Grazien?

Wir beneiden niemanden um die Erbauungen, die er sich in der Stille seines Kämmerleins oder in einem zurechtgemachten neuen Himmelreich verschafft; aber von allen möglichen ist doch die Straußsche eine der wunderbarsten; denn er erbaut sich an einem kleinen Opferfeuer, in das er die erhabensten Werke der deutschen Nation gelassen hineinwirft, um mit ihrem Dampfe seine Götzen zu beräuchern. Dächten wir uns einen Augenblick, daß durch einen Zufall die Eroika, die Pastorale und die Neunte in den Besitz unseres Priesters der Grazien geraten wären, und daß es von ihm nun abgehangen hätte, durch Beseitigung so »problematischer Produkte« das Bild des Meisters rein zu halten – wer zweifelt, daß er sie verbrannt hätte? Und so verfahren die Strauße unserer Tage tatsächlich: sie wollen von einem Künstler nur so weit wissen, als er sich für ihren Kammerdienst eignet, und kennen nur den Gegensatz von Beräuchern und Verbrennen. Das sollte ihnen immerhin freistehen: das Wunderliche liegt nur darin, daß die ästhetische öffentliche Meinung so matt, unsicher und verführbar ist, daß sie sich ohne Einspruch ein solches Zur-Schau-Stellen der dürftigsten Philisterei gefallen läßt, ja daß sie gar kein Gefühl für die Komik einer Szene besitzt, in der ein unästhetisches Magisterlein über Beethoven zu Gerichte sitzt. Und was Mozart betrifft, so sollte doch wahrhaftig hier gelten, was Aristoteles von Plato sagt: »ihn auch nur zu loben, ist den Schlechten nicht erlaubt«. Hier ist aber jede Scham verlorengegangen, bei dem Publikum sowohl als bei dem Magister; man erlaubt ihm nicht nur, sich öffentlich vor den größten und reinsten Erzeugnissen des germanischen Genius zu bekreuzigen, als ob er etwas Unzüchtiges und Gottloses gesehen hätte, man freut sich auch seiner unumwundenen Konfessionen und Sündenbekenntnisse, besonders da er nicht Sünden bekennt, die er begangen, sondern die große Geister begangen haben sollen. Ach, wenn nur wirklich unser Magister immer Recht hat! denken seine verehrenden Leser doch mitunter in einer Anwandlung zweifelnder Empfindungen; er selbst aber steht da, lächelnd und überzeugt, perorierend, verdammend und segnend, vor sich selber den Hut schwenkend, und wäre jeden Augenblick imstande zu sagen, was die Herzogin Delaforte zu Madame de Staël sagte: »ich muß es gestehen, meine liebe Freundin, ich finde niemanden, der beständig Recht hätte, als mich«.


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