Friedrich Wilhelm Nietzsche
Unzeitgemäße Betrachtungen
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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Will ich beschreiben, welches Ereignis für mich jener erste Blick wurde, den ich in Schopenhauers Schriften warf, so darf ich ein wenig bei der Vorstellung verweilen, welche in meiner Jugend so häufig und so dringend war wie kaum eine andre. Wenn ich früher recht nach Herzenslust in Wünschen ausschweifte, dachte ich mir, daß mir die schreckliche Bemühung und Verpflichtung, mich selbst zu erziehen, durch das Schicksal abgenommen würde: dadurch, daß ich zur rechten Zeit einen Philosophen zum Erzieher fände, einen wahren Philosophen, dem man ohne weiteres Besinnen gehorchen könnte, weil man ihm mehr vertrauen würde als sich selbst. Dann fragte ich mich wohl: welches wären wohl die Grundsätze, nach denen er dich erzöge? und ich überlegte mir, was er zu den beiden Maximen der Erziehung sagen würde, welche in unserer Zeit im Schwange gehen. Die eine fordert, der Erzieher solle die eigentümliche Stärke seiner Zöglinge bald erkennen und dann alle Kräfte und Säfte und allen Sonnenschein gerade dorthin leiten, um jener einen Tugend zur rechten Reife und Fruchtbarkeit zu verhelfen. Die andre Maxime will hingegen, daß der Erzieher alle vorhandenen Kräfte heranziehe, pflege und untereinander in ein harmonisches Verhältnis bringe. Aber sollte man den, welcher eine entschiedene Neigung zur Goldschmiedekunst hat, deshalb gewaltsam zur Musik nötigen? Soll man Benvenuto Cellinis Vater Recht geben, der seinen Sohn immer wieder zum »lieblichen Hörnchen«, also zu dem zwang, was der Sohn »das verfluchte Pfeifen« nannte? Man wird dies bei so starken und bestimmt sich aussprechenden Begabungen nicht recht nennen; und so wäre vielleicht gar jene Maxime der harmonischen Ausbildung nur bei den schwächeren Naturen anzuwenden, in denen zwar ein ganzes Nest von Bedürfnissen und Neigungen sitzt, welche aber, insgesamt und einzeln genommen, nicht viel bedeuten wollen? Aber wo finden wir überhaupt die harmonische Ganzheit und den vielstimmigen Zusammenklang in einer Natur, wo bewundern wir Harmonie mehr, als gerade an solchen Menschen, wie Cellini einer war, in denen alles, Erkennen, Begehren, Lieben, Hassen, nach einem Mittelpunkte, einer Wurzelkraft hinstrebt, und wo gerade durch die zwingende und herrschende Übergewalt dieses lebendigen Zentrums ein harmonisches System von Bewegungen hin und her, auf und nieder gebildet wird? Und so sind vielleicht beide Maximen gar nicht Gegensätze? Vielleicht sagt die eine nur, der Mensch soll ein Zentrum, die andre, er soll auch eine Peripherie haben? Jener erziehende Philosoph, den ich mir träumte, würde wohl nicht nur die Zentralkraft entdecken, sondern auch zu verhüten wissen, daß sie gegen die andern Kräfte zerstörend wirkte: vielmehr wäre die Aufgabe seiner Erziehung, wie mich dünkte, den ganzen Menschen zu einem lebendig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubilden und das Gesetz seiner höheren Mechanik zu erkennen.

Inzwischen fehlt mir dieser Philosoph und ich versuchte dieses und jenes; ich fand, wie elend wir modernen Menschen uns gegen Griechen und Römer ausnehmen, selbst nur in Hinsicht auf das Ernst- und Streng-Verstehen der Erziehungsaufgaben. Man kann mit einem solchen Bedürfnis im Herzen durch ganz Deutschland laufen, zumal durch alle Universitäten, und wird nicht finden, was man sucht; bleiben doch viel niedrigere und einfachere Wünsche hier unerfüllt. Wer zum Beispiel unter den Deutschen sich ernstlich zum Redner ausbilden wollte, oder wer in eine Schule des Schriftstellers zu gehn beabsichtigte, er fände nirgends Meister und Schule; man scheint hier noch nicht daran gedacht zu haben, daß Reden und Schreiben Künste sind, die nicht ohne die sorgsamste Anleitung und die mühevollsten Lehrjahre erworben werden können. Nichts aber zeigt das anmaßliche Wohlgefühl der Zeitgenossen über sich selbst deutlicher und beschämender, als die halb knauserige, halb gedankenlose Dürftigkeit ihrer Ansprüche als Erzieher und Lehrer. Was genügt da nicht alles, selbst bei unsern vornehmsten und bestunterrichteten Leuten, unter dem Namen der Hauslehrer; welches Sammelsurium von verschrobenen Köpfen und veralteten Einrichtungen wird häufig als Gymnasium bezeichnet und gut befunden; was genügt uns allen als höchste Bildungsanstalt, als Universität – welche Führer, welche Institutionen, verglichen mit der Schwierigkeit der Aufgabe, einen Menschen zum Menschen zu erziehen! Selbst die vielbewunderte Art, mit der die deutschen Gelehrten auf ihre Wissenschaft losgehen, zeigt vor allem, daß sie dabei mehr an die Wissenschaft als an die Menschlichkeit denken, daß sie wie eine verlorene Schar sich ihr zu opfern angelehrt werden, um wieder neue Geschlechter zu dieser Opferung heranzuziehen. Der Verkehr mit der Wissenschaft, wenn er durch keine höhere Maxime der Erziehung geleitet und eingeschränkt, sondern, nach dem Grundsatze »je mehr desto besser« nur immer mehr entfesselt wird, ist gewiß für die Gelehrten ebenso schädlich, wie der ökonomische Lehrsatz des laisser faire für die Sittlichkeit ganzer Völker. Wer weiß es noch, daß die Erziehung des Gelehrten, dessen Menschlichkeit nicht preisgegeben oder ausgedörrt werden soll, ein höchst schwieriges Problem ist – und doch kann man diese Schwierigkeiten mit Augen sehen, wenn man auf die zahlreichen Exemplare achtgibt, welche durch eine gedankenlose und allzu frühzeitige Hingebung an die Wissenschaft krumm gezogen und mit einem Höcker ausgezeichnet worden sind. Aber es gibt ein noch wichtigeres Zeugnis für die Abwesenheit aller höheren Erziehung, wichtiger und gefährlicher und vor allem viel allgemeiner. Wenn es auf der Stelle deutlich ist, warum ein Redner, ein Schriftsteller jetzt nicht erzogen werden kann weil es eben für sie keine Erzieher gibt –, wenn es fast ebenso deutlich ist, warum ein Gelehrter jetzt verzogen und verschroben werden muß – weil die Wissenschaft, also ein unmenschliches Abstraktum, ihn erziehen soll –, so frage man sich endlich: wo sind eigentlich für uns alle, Gelehrte und Ungelehrte, Vornehme und Geringe, unsre sittlichen Vorbilder und Berühmtheiten unter unsern Zeitgenossen, der sichtbare Inbegriff aller schöpferischen Moral in dieser Zeit? Wo ist eigentlich alles Nachdenken über sittliche Fragen hingekommen, mit welchen sich doch jede edler entwickelte Geselligkeit zu allen Zeiten beschäftigt hat? Es gibt keine Berühmtheiten und kein Nachdenken jener Art mehr; man zehrt tatsächlich an dem ererbten Kapital von Sittlichkeit, welches unsre Vorfahren aufhäuften und welches wir nicht zu mehren, sondern nur zu verschwenden verstehen; man redet über solche Dinge in unsrer Gesellschaft entweder gar nicht oder mit einer naturalistischen Ungeübtheit und Unerfahrenheit, welche Widerwillen erregen muß. So ist es gekommen, daß unsre Schulen und Lehrer von einer sittlichen Erziehung einfach absehen oder sich mit Förmlichkeiten abfinden: und Tugend ist ein Wort, bei dem Lehrer und Schüler sich nichts mehr denken können, ein altmodisches Wort, über das man lächelt – und schlimm, wenn man nicht lächelt, denn dann wird man heucheln.

Die Erklärung dieser Mattherzigkeit und des niedrigen Flutstandes aller sittlichen Kräfte ist schwer und verwickelt; doch wird niemand, der den Einfluß des siegenden Christentums auf die Sittlichkeit unsrer alten Welt in Betracht nimmt, auch die Rückwirkung des unterliegenden Christentums, also sein immer wahrscheinlicheres Los in unserer Zeit, übersehen dürfen. Das Christentum hat durch die Höhe seines Ideals die antiken Moralsysteme und die in allen gleichmäßig waltende Natürlichkeit so überboten, daß man gegen diese Natürlichkeit stumpf und ekel wurde; hinterdrein aber, als man das Bessere und Höhere zwar noch erkannte, aber nicht mehr vermochte, konnte man zum Guten und Hohen, nämlich zu jener antiken Tugend, nicht mehr zurück, so sehr man es auch wollte. In diesem Hin und Her zwischen Christlich und Antik, zwischen verschüchterter oder lügnerischer Christlichkeit der Sitte und ebenfalls mutlosem und befangenem Antikisieren lebt der moderne Mensch und befindet sich schlecht dabei; die vererbte Furcht vor dem Natürlichen und wieder der erneute Anreiz dieses Natürlichen, die Begierde irgendwo einen Halt zu haben, die Ohnmacht seines Erkennens, das zwischen dem Guten und dem Besseren hin und her taumelt, alles dies erzeugt eine Friedlosigkeit, eine Verworrenheit in der modernen Seele, welche sie verurteilt, unfruchtbar und freudelos zu sein. Niemals brauchte man mehr sittliche Erzieher und niemals war es unwahrscheinlicher, sie zu finden; in den Zeiten, wo die Ärzte am nötigsten sind, bei großen Seuchen, sind sie zugleich am meisten gefährdet. Denn wo sind die Ärzte der modernen Menschheit, die selber so fest und gesund auf ihren Füßen stehen, daß sie einen andern noch halten und an der Hand führen könnten? Es liegt eine gewisse Verdüsterung und Dumpfheit auf den besten Persönlichkeiten unsrer Zeit, ein ewiger Verdruß über den Kampf zwischen Verstellung und Ehrlichkeit, der in ihrem Busen gekämpft wird, eine Unruhe im Vertrauen auf sich selbst – wodurch sie ganz unfähig werden, Wegweiser zugleich und Zuchtmeister für andre zu sein.

Es heißt also wirklich in seinen Wünschen ausschweifen, wenn ich mir vorstellte, ich möchte einen wahren Philosophen als Erzieher finden, welcher einen über das Ungenügen, soweit es in der Zeit liegt, hinausheben könnte und wieder lehrte, einfach und ehrlich, im Denken und Leben, also unzeitgemäß zu sein, das Wort im tiefsten Verstände genommen; denn die Menschen sind jetzt so vielfach und kompliziert geworden, daß sie unehrlich werden müssen, wenn sie überhaupt reden, Behauptungen aufstellen und darnach handeln wollen.

In solchen Nöten, Bedürfnissen und Wünschen lernte ich Schopenhauer kennen. Ich gehöre zu den Lesern Schopenhauers, welche, nachdem sie die erste Seite von ihm gelesen haben, mit Bestimmtheit wissen, daß sie alle Seiten lesen und auf jedes Wort hören werden, das er überhaupt gesagt hat. Mein Vertrauen war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun Jahren. Ich verstand ihn, als ob er für mich geschrieben hätte: um mich verständlich, aber unbescheiden und töricht auszudrücken. Daher kommt es, daß ich nie in ihm eine Paradoxie gefunden habe, obwohl hier und da einen kleinen Irrtum; denn was sind Paradoxien anderes als Behauptungen, die kein Vertrauen einflößen, weil der Autor sie selbst ohne rechtes Vertrauen machte, weil er mit ihnen glänzen, verführen und überhaupt scheinen wollte? Schopenhauer will nie scheinen: denn er schreibt für sich, und niemand will gern betrogen werden, am wenigsten ein Philosoph, der sich sogar zum Gesetze macht: betrüge niemanden, nicht einmal dich selbst! Selbst nicht mit dem gefälligen gesellschaftlichen Betrug, den fast jede Unterhaltung mit sich bringt und welchen die Schriftsteller beinahe unbewußt nachahmen; noch weniger mit dem bewußteren Betrug von der Rednerbühne herab und mit den künstlichen Mitteln der Rhetorik. Sondern Schopenhauer redet mit sich: oder, wenn man sich durchaus einen Zubehör denken will, so denke man sich den Sohn, welchen der Vater unterweist. Es ist ein redliches, derbes, gutmütiges Aussprechen, vor einem Hörer, der mit Liebe hört. Solche Schriftsteller fehlen uns. Das kräftige Wohlgefühl des Sprechenden umfängt uns, beim ersten Tone seiner Stimme; es geht uns ähnlich wie beim Eintritt in den Hochwald, wir atmen tief und fühlen uns auf einmal wiederum wohl. Hier ist eine immer gleichartige stärkende Luft, so fühlen wir; hier ist eine gewisse unnachahmliche Unbefangenheit und Natürlichkeit, wie sie Menschen haben, die in sich zu Hause, und zwar in einem sehr reichen Hause Herren sind: im Gegensatze zu den Schriftstellern, welche sich selbst am meisten wundern, wenn sie einmal geistreich waren, und deren Vortrag dadurch etwas Unruhiges und Naturwidriges bekommt. Ebensowenig werden wir, wenn Schopenhauer spricht, an den Gelehrten erinnert, der von Natur steife und ungeübte Gliedmaßen hat und engbrüstig ist und deshalb eckig, verlegen oder gespreizt daherkommt; während auf der anderen Seite Schopenhauers rauhe und ein wenig bärenmäßige Seele die Geschmeidigkeit und höfische Anmut der guten französischen Schriftsteller nicht sowohl vermissen als verschmähen lehrt und niemand an ihm das nachgemachte, gleichsam übersilberte Scheinfranzosentum, auf das sich deutsche Schriftsteller so viel zugute tun, entdecken wird. Schopenhauers Ausdruck erinnert mich hier und da ein wenig an Goethe, sonst aber überhaupt nicht an deutsche Muster. Denn er versteht es, das Tiefsinnige einfach, das Ergreifende ohne Rhetorik, das Streng-Wissenschaftliche ohne Pedanterie zu sagen: und von welchem Deutschen hätte er dies lernen können? Auch hält er sich von der spitzfindigen, übermäßig beweglichen und – mit Erlaubnis gesagt – ziemlich undeutschen Manier Lessings frei: was ein großes Verdienst ist, da Lessing in bezug auf prosaische Darstellung unter Deutschen der verführerischste Autor ist. Und um gleich das Höchste zu sagen, was ich von seiner Darstellungsart sagen kann, so beziehe ich auf ihn seinen Satz, »ein Philosoph muß sehr ehrlich sein, um sich keiner poetischen oder rhetorischen Hilfsmittel zu bedienen«. Daß Ehrlichkeit etwas ist und sogar eine Tugend; gehört freilich im Zeitalter der öffentlichen Meinungen zu den privaten Meinungen, welche verboten sind; und deshalb werde ich Schopenhauer nicht gelobt, sondern nur charakterisiert haben, wenn ich wiederhole: er ist ehrlich, auch als Schriftsteller; und so wenige Schriftsteller sind es, daß man eigentlich gegen alle Menschen, welche schreiben, mißtrauisch sein sollte. Ich weiß nur noch einen Schriftsteller, den ich in betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne. Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden. Mir wenigstens geht es seit dem Bekanntwerden mit dieser freiesten und kräftigsten Seele so, daß ich sagen muß, was er von Plutarch sagt: »kaum habe ich einen Blick auf ihn geworfen, so ist mir ein Bein oder ein Flügel gewachsen.« Mit ihm würde ich es halten, wenn die Aufgabe gestellt wäre, es sich auf der Erde heimisch zu machen.–

Schopenhauer hat mit Montaigne noch eine zweite Eigenschaft, außer der Ehrlichkeit, gemein: eine wirkliche erheiternde Heiterkeit. Aliis laetus, sibi sapiens. Es gibt nämlich zwei sehr unterschiedliche Arten von Heiterkeit. Der wahre Denker erheitert und erquickt immer, ob er nun seinen Ernst oder seinen Scherz, seine menschliche Einsicht oder seine göttliche Nachsicht ausdrückt; ohne griesgrämige Gebärden, zitternde Hände, schwimmende Augen, sondern sicher und einfach, mit Mut und Stärke, vielleicht etwas ritterlich und hart, aber jedenfalls als ein Siegender: und das gerade ist es, was am tiefsten und innigsten erheitert, den siegenden Gott neben allen den Ungetümen, die er bekämpft hat, zu sehen. Die Heiterkeit dagegen, welche man bei mittelmäßigen Schriftstellern und kurzangebundenen Denkern mitunter antrifft, macht unsereinen, beim Lesen, elend: wie ich das zum Beispiel bei David Straußens Heiterkeit empfand. Man schämt sich ordentlich, solche heiteren Zeitgenossen zu haben, weil sie die Zeit und uns Menschen in ihr bei der Nachwelt bloßstellen. Solche Heiterlinge sehen die Leiden und die Ungetüme gar nicht, die sie als Denker zu sehen und zu bekämpfen vorgeben; und deshalb erregt ihre Heiterkeit Verdruß, weil sie täuscht: denn sie will zu dem Glauben verführen, hier sei ein Sieg erkämpft worden. Im Grunde nämlich gibt es nur Heiterkeit, wo es Sieg gibt; und dies gilt von den Werken wahrer Denker ebensowohl als von jedem Kunstwerk. Mag der Inhalt immer so schrecklich und ernst sein, als das Problem des Daseins eben ist: bedrückend und quälend wird das Werk nur dann wirken, wenn der Halbdenker und der Halbkünstler den Dunst ihres Ungenügens darüber ausgebreitet haben; während dem Menschen nichts Fröhlicheres und Besseres zuteil werden kann, als einem jener Siegreichen nahe zu sein, die, weil sie das Tiefste gedacht, gerade das Lebendigste lieben müssen und als Weise am Ende sich zum Schönen neigen. Sie reden wirklich, sie stammeln nicht und schwätzen auch nicht nach; sie bewegen sich und leben wirklich, nicht so unheimlich maskenhaft, wie sonst Menschen zu leben pflegen: weshalb es uns in ihrer Nähe wirklich einmal menschlich und natürlich zumute ist und wir wie Goethe ausrufen möchten: »Was ist doch ein Lebendiges für ein herrliches köstliches Ding! wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!«

Ich schildere nichts als den ersten gleichsam physiologischen Eindruck, welchen Schopenhauer bei mir hervorbrachte, jenes zauberartige Ausströmen der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes, das bei der ersten und leisesten Berührung erfolgt; und wenn ich jenen Eindruck nachträglich zerlege, so finde ich ihn aus drei Elementen gemischt, aus dem Eindrucke seiner Ehrlichkeit, seiner Heiterkeit und seiner Beständigkeit. Er ist ehrlich, weil er zu sich selbst und für sich selbst spricht und schreibt, heiter, weil er das Schwerste durch Denken besiegt hat, und beständig, weil er so sein muß. Seine Kraft steigt wie eine Flamme bei Windstille gerade und leicht aufwärts, unbeirrt, ohne Zittern und Unruhe. Er findet seinen Weg in jedem Falle, ohne daß wir auch nur merken, daß er ihn gesucht hätte; sondern wie durch ein Gesetz der Schwere gezwungen läuft er daher, so fest und behend, so unvermeidlich. Und wer je gefühlt hat, was das in unsrer Tragelaphen-Menschheit der Gegenwart heißen will, einmal ein ganzes, einstimmiges, in eignen Angeln hängendes und bewegtes, unbefangenes und ungehemmtes Naturwesen zu finden, der wird mein Glück und meine Verwunderung verstehen, als ich Schopenhauer gefunden hatte: ich ahnte in ihm jenen Erzieher und Philosophen gefunden zu haben, den ich so lange suchte. Zwar nur als Buch: und das war ein großer Mangel. Um so mehr strengte ich mich an, durch das Buch hindurch zu sehen und mir den lebendigen Menschen vorzustellen, dessen großes Testament ich zu lesen hatte und der nur solche zu seinen Erben zu machen verhieß, welche mehr sein wollten und konnten als nur seine Leser: nämlich seine Söhne und Zöglinge.


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