Johann Nestroy
Die schlimmen Buben in der Schule
Johann Nestroy

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Die Bühne stellt eine Schule dar, die Eingangstüre ist im Prospekt, rechts und links, ganz im Vordergrunde, Seitentüren. An der linken Seite zieht sich, von der Seitentüre angefangen, über zwei Kulissen eine drei Stufen hohe Tribüne, worauf das Katheder steht, längs der Seitenwand hin. Am Ende dieser Tribüne nach rückwärts steht die Rechentafel. Im Hintergrunde ist einiger Raum frei. Dem Katheder vis-à-vis stehen vier Bänke hintereinander, dem Zuseher die Seite zugekehrt. Im Vordergrunde ist freier Raum.

Erste Szene

Landrat Sternau. Franz.

(Mit dem Aufrollen des Vorhanges tritt Franz mit dem Landrat Sternau ein. Sternau ist in einen simplen Überrock gekleidet, Franz trägt ein großes Paket Bücher, in Packpapier emballiert.)

Franz. Wie gesagt, zu Hause ist er nicht, ich habe ihn diesen Morgen schon begegnet – (das Paket auf die vordere Bank ablegend) aber wenn Sie ihn hier erwarten wollen –

Sternau. Sie haben mir auf dem Wege von der Post bis hieher den Mann so lebhaft geschildert, daß ich kaum mehr nötig habe, ihn persönlich kennenzulernen. Nur scheint es, daß Sie mit zuviel Vorliebe –

Franz. Der Magister ist gewiß ein braver, herzensguter Mann!

Sternau. Ich höre aber von Unordnungen im Schulwesen hier auf dem Schlosse; warum schweigen Sie darüber?

Franz (etwas stockend). Weil – (für sich) dieser Fremde hat so etwas Gebieterisches und Vertrauenerweckendes zugleich –

Sternau. Fürchten Sie nicht, durch Offenheit dem Magister zu schaden!

Franz. Er trägt auch gewiß keine Schuld. Die liebe Jugend ist dem guten alten Mann etwas über den Kopf gewachsen, das ist das Ganze.

Sternau. Das passiert diesen Herrn öfters. Das Alter allein ist nicht genug, die Jugend in Respekt zu erhalten, es bringt nur leider oft die entgegengesetzte Wirkung hervor. Aber Sie sollten dann um so mehr – Sie sind ja sein Gehilfe!

Franz. Ach, wenn ich's wäre! Aber er verweigert mir durchaus diesen Titel! »Aufseher« – das ist alles, was er mir zugesteht. Dadurch schmälert er mein Ansehn und hindert mich, so zu wirken, wie ich's gerne möchte.

Sternau. Ist er Ihnen abgeneigt?

Franz. O nein! Aber – man kann ihm's im Grunde nicht verargen – er ist ängstlich, fürchtet immer, seine nicht gesicherte Stellung hier zu verlieren, und will es daher durchaus nicht merken lassen, daß er altershalber schon eines Gehilfen bedürfte.

Sternau (nachsinnend, für sich). Nun – nun – wir werden ja sehn –

Franz. Nun darf ich wohl auch fragen, mit wem ich die Ehre hatte –

Sternau. Ich – ich bin – ich schreibe für den Landrat.

Franz (beiseite). Ein Schreiber? Und mich so auszufragen – fast möchte ich –

Sternau. Leben Sie wohl!

Franz (für sich). Man darf's nicht verderben mit solchen Leuten. (Laut.) Sie erlauben, daß ich Sie begleite. (Geht mit Sternau zur Mitte ab.)

Zweite Szene

Nettchen (allein).

Nettchen (tritt mit einem Abstauber in der Hand aus der Seitentüre rechts). Über eine Stunde läßt er mich vergebens warten, der Abscheuliche – ach, er verdient es nicht –! (Geht auf die Stufen des Katheders und fegt den Tisch rein.) Es ist doch ein eigenes Gefühl, wenn man auf einem Katheder steht, und sei's auch nur, um den Staub abzufegen! Dieser Staub hier ist Schulstaub, im Schulstaub steckt Gelehrsamkeit, in der Gelehrsamkeit Pedanterie, in der Pedanterie kalte Strenge, und deren bedarf ich jetzt, um dem Mosje Franz den gebührenden Verweis zu geben.

Dritte Szene

Franz. Die Vorige.

Franz (Zur Mitteltüre eintretend und Nettchen erblickend). Nettchen, liebes, teures Nettchen! (Will auf sie zueilen.)

Nettchen. Zurück! Was ist das für ein Benehmen! Man bleibe an der untersten Stufe des Katheders stehn!

Franz. Sie zürnen mir?

Nettchen. Man antworte auf meine Frage! Wo war man heute morgens?

Franz. Ich mußte –

Nettchen. Keine Ausflüchte! Warum ist man nicht als Mann von Wort am Geländer eines gewissen Blumengärtchens vorübergegangen?

Franz. Wie gerne wär' ich – aber ich mußte nach der Post.

Nettchen. Was hatte man dort zu tun?

Franz (auf den Pack zeigend, welchen er früher mitgebracht). Dies Paket in Empfang zu nehmen; es ist zwar an Ihren Herrn Vater adressiert, aber ich hielt es für meine Pflicht, ihn der Mühe zu überheben, die nicht gar leichte Last den weiten Weg hieherzutragen.

Nettchen (gerührt). Franz, Sie sind so gut – so – (sich wieder zusammennehmend) ich vergesse mich, ich bin zu nachsichtig. Sie haben Strafe verdient.

Franz. Hätten Sie mir wirklich welche zugedacht?

Nettchen. Hm, ein Stündchen knien wäre nicht zuviel!

Franz. O, lassen Sie mich lieber den ganzen Tag hier knien, Sie anbetensreizendes Wesen – die Strafe ist gar zu schön! (Kniet sich auf die unterste Stufe des Katheders nieder.)

Nettchen (erschreckend). Gott, was tun Sie? Wenn der Vater käme! (Nähert sich ihm, um ihn aufzuheben.)

Franz (sie umarmend). Nettchen! Himmlisches Nettchen!

Nettchen (ihn abwehrend). Aber, Franz, Sie vergessen, daß Sie in der Schule sind.

Franz. Wer sagt Ihnen denn, daß ich ein Schüler bin?

Nettchen. Der Vater tagtäglich!

Franz (aufstehend). Er merkt es also ebensowenig als der verstorbene Magister, daß ich schon drei Jahre hier sitze, um nur mit Ihnen unter einem Dache zu sein! Übrigens ist es undankbar von ihm –

Nettchen. Ach, nennen Sie den Vater nicht undankbar, er erkennt Ihre Verdienste gewiß, aber seine Ängstlichkeit –

Franz. Ich tue gewiß alles für ihn, was nur ein ordentlicher Schulgehilfe tun kann, und liebe sogar seine Tochter.

Nettchen. Gehört das auch unter Ihre Verdienste?

Franz. Ach, ich meine nur, daß ich Sie heirate, wenn ich Schullehrer im Städtchen werde, daß dann Ihr Vater sich nicht mehr zu plagen braucht und bei uns in Ruhe leben kann und eine Abdankung nicht so zu fürchten braucht.

Nettchen. Und haben Sie Aussicht?

Franz. Eingekommen bin ich wohl –

Nettchen. Das ist eine Fernsicht, und Fernsichten sind für Liebende keine willkommene Aussicht. Übrigens wissen Sie, daß der Vater in seinem neuerwählten Magister-Beruf durchaus ohne fremde Beihilfe wirken will, weshalb er Ihnen auch durchaus den Titel eines Schulgehilfen verweigert.

Franz. Leider weiß ich's! Der Aufsehertitel ist das einzige, was er mir zugesteht. Nun, er wird schon sehen –

Nettchen. Wir wollen das Beste hoffen. Was ist denn in dem Paket?

Franz. Unser gnädiger Herr sendet Bücher zur Preisverteilung an die Jugend.

Nettchen. Ah, das ist schön! Als Magisterstochter darf ich's schon öffnen.

Franz (das Paket auf den Kathedertisch legend). Wir wollen gleich vorläufige Dispositionen treffen.

Vierte Szene

Willibald. Die Vorigen.

Willibald (tritt, ohne von den beiden Notiz zu nehmen, zur Mitte während dem Ritornell des folgenden Liedes ein).

Lied
1.
                    Ich wär' schon ein Knab',
Recht brav, aber ich hab'
Für 's erste kein' Fleiß,
Weil ich so schon alls weiß.
    Allein die Professer,
    Die wiss'n alles besser.
    Ka Antwort is recht,
    Ins Zeugnis schreiben s': »Schlecht!«
Dann merk' ich nicht auf,
Ich spiel' oder ich rauf',
Oder i friß etwas Süß's
Oder i wetz' mit die Füß'!
    Auch schieß' ich so gern
    Mit die Bockshörndlkern,
    Drum in d' Sitten, i waß,
    Krieg' i auch dritte Klass'!
2.
In der Schule, i dank',
Die Händ' auf der Bank,
Den Vortrag anhör'n,
Ohne schlafrig zu wer'n,
    Das Buch aufgeschlag'n,
    Zu schwätzen nicht wag'n,
    Wie ein eiserner Aff',
    Sonst kriegt man a Straf'!
Dieser schreckliche Druck
Halt't im Wachstum uns z'ruck,
Und von d' Bub'n tun s' begehr'n,
Große Männer soll'n s' wer'n!
    Und wenn ein'r auch alls kann,
    Stell'n s' ein' erst nirgends an.
    Ja, das muß ein' antreib'n,
    Ein Esel zu bleib'n!

(Nach dem Liede.)
I wart' jetzt nur, bis i ein Jüngling bin, dann geh' i in die Welt, und das is g'scheiter, als in die Schul'. Die Welt is die wahre Schule, denn da lernt man alles von selbst. In der Schul', da muß man die Lektionen aufsagen, sonst is man dumm; wenn man aber in der Welt eine tüchtige Lektion kriegt, so muß man still sein und gar nix dergleichen tun, dann is man g'scheit! In der Schul' wird man alle Tag' verlesen, in der Welt, wenn man da einmal verlesen is, so is es genug auf ewige Zeiten. In der Schul' muß man ruhig sein, in der Welt is es just gut, wenn man recht viel Lärm macht; in der Schul' hab'n s' extra eine Eselbank, in der Welt sind die Eseln auf allen Plätzen zerstreut. Darum herrscht auch nur in der Schule diese Indiskretion, daß s' ein' sagen können: »Marsch, auf die Eselbank!« In der Welt, wenn ich da in ein Gasthaus oder in ein Kaffeehaus gehn werd', riskier' ich das nicht. Oder wenn ich in ein Theater geh', da kann, kein Sitzaufsperrer zu mir sagen: »Ich bitt', Sie sind ein Esel, Sie g'hör'n auf diese Bank!« Das geht nicht! Mit einem Wort –

Nettchen (leise zu Franz). Aber der widerwärtige Willibald –

Franz (zu Willibald). Was machen Sie schon so früh in der Schule?

Willibald. Ich habe eine Strafe zu schreiben.

Franz. Können Sie das nicht zu Hause?

Willibald. Der Herr Magister hat befohlen, daß ich die Strafe in der Schul' schreibe. Dies ist eine Verschärfung, denn mir ist es die größte Strafe, in der Schule zu sein. Übrigens müssen Sie ja gewußt haben, daß ich komm', denn wenn kein Schüler da ist, was macheten Sie als Aufseher da?

Franz (imponierend). Still!

Willibald (mit sarkastischer Bescheidenheit). Ich bitt', ich hab' es nicht gewußt, daß die Mamsell Nannett' auch unter Ihrer Aufsicht steht.

Franz (gebieterisch). Werden Sie schweigen!

Willibald. Nein, ich werd's dem Herrn Magister verraten, dann schenkt er mir die Straf'!

Nettchen (für sich). Himmel –!

Franz (ärgerlich). Ich werde das Lineal nehmen und –

Willibald. Und ein' Spektakel machen –? Natürlich, warum sollten Sie als Aufseher das Aufsehen vermeiden?

Nettchen (leise zu Franz). Ach, Franz, besänftigen Sie ihn lieber, daß er nicht plaudert!

Willibald (stolz zu Franz). Und übrigens, machen Sie sich nicht so patzig! Sie sind kein wirklicher, sondern nur ein qua Schulgehilfe, ein qua Substitut, qua Supplent, und das von einem Magister, der auch nur qua Magister ist, also der Qua von einem Qua, folglich gänzlich quaqua! Und das in einer Schule, die wahrscheinlich am längsten Schule gewesen ist!

Franz. Setzen Sie sich zum Schreiben!

Nettchen (mit ängstlicher Besorgnis). Am längsten Schule gewesen, sagen Sie, Willibald? (Leise zu Franz.) Gewiß hat er von seiner Mutter etwas gehört –

Franz (leise zu Nettchen). Ängstigen Sie sich nicht!

Willibald. Meine Mutter weiß alles! (Setzt sich an die Ecke der letzten Bank und spricht das Weitere, indem er sich aus seiner Schultasche alles zum Schreiben ordnet.) Diese Schule hier auf dem Schlosse ist begründet worden von unserer Gutsfrau, von der Frau Baronin, und ist bestimmt für alle die zahlreichen Kinder der zahlreichen herrschaftlichen Beamten, Offizianten und Domestiken hiesiger Herrschaft, denn die Frau Baronin wollte uns nicht in die allgemeine Schule gehen lassen, damit wir Schloßkinder von der Ungezogenheit der allgemeinen Schulkinder nichts anziehen. Der Herr Baron ist aber der entgegengesetzten Meinung. Da nun aber die Frau Baronin tot und der Herr Baron seit dieser Zeit, wie es heißt, erst recht lebendig ist und in allem nunmehr seinem eigenen Kopf oder vielmehr dem Kopf des Herrn Landrats folgt, so wird diese Schule über kurz oder lang aufgehoben. Das hat meine Frau Mutter gesagt, und meine Frau Mutter weiß alles!

Nettchen (leise zu Franz). Mein armer Vater kommt um seinen Dienst!

Franz. Sie müssen nicht gleich das Schlimmste denken! Wer weiß –

Nettchen (nach der Mitteltüre horchend). Ich hör' ihn, er ist's –

Fünfte Szene

Wampl. Die Vorigen.

Wampl (in freudiger Aufregung zur Mitteltüre eintretend). Er kommt! Tochter, in eigener Person kommt er! Das hat was zu bedeuten!

Nettchen. Wer kommt?

Wampl. Der Herr Wirtschaftsintendant, der Herr von Wichtig! Dieser unerwartete Besuch und mein eingereichtes Gesuch – das hat offenbar was zu bedeuten! (Franz erblickend). Ah, Rottmann, Sie sind da?

Willibald (boshaft). Das hat auch was zu bedeuten!

Wampl (etwas stutzend). Was? Was haben Sie gesagt, Willibald?

Franz. Willibald hat eine Strafe zu schreiben, und ich habe eben die Bücher zur Preisverteilung geordnet, und nun fürchtet er die Bedeutung, daß er dabei leer ausgehen dürfte.

Willibald. O, nein! Ich hab' es ganz anderster gemeint!

Wampl (zu Willibald). Sie sind ein nachlässiger Bube!

Willibald (spitzig). So fleißig bin ich freilich nicht wie der Herr Aufseher, der doppelte Aufsicht halt't und vielleicht selber eine dreifache nötig hätt'!

Franz (auffahrend). Verwegener Pursche –!

Nettchen (leise zu Franz). Mäßigen Sie sich um meinetwillen!

Wampl (strenge zu Willibald). Warum ist die Strafaufgab' noch nicht geschrieben?

Willibald (stockend). Ich habe – ich werde – ich –

Nettchen. Er hat sie mir bereits übergeben, und ich habe sie, glaub' ich, auf Ihren Schreibtisch gelegt, lieber Vater.

Wampl. Ah, das is was anders!

Willibald (pfiffig, für sich). Sie will mich gewinnen durch eine edle Lüge! Gut, so will ich es auch durch keine unedle Wahrheit vergelten. Ich will es verschweigen, daß sie dem Aufseher seine Geliebte ist. Daß er sich aber untersteht, ihr Liebhaber zu sein, das muß heut' noch aufg'stochen werd'n. Den Aufseher verraten, der da lebt vom Verrat, das ist Ehrensache der Schülerschaft, das ist die süßeste Pflicht der Schulbüberei!

Wampl (zu Willibald). Gehn Sie nach Haus!

Willibald. Ich danke für die Belohnung des Fleißes und der guten Sitten. (Verbeugt sich und geht zur Mitte ab.)

Wampl (zu Franz). Lassen Sie mich jetzt allein und kommen Sie erst mit den übrigen Schülern! (Geht gestikulierend auf und nieder.)

Franz (gekränkt). Mit den Schülern –? Bin ich denn –

Nettchen (leise zu Franz). Für mich sind Sie der Meister, der mich die Liebe gelehrt! Genügt Ihnen das nicht?

Franz (leise zu Nettchen). Nettchen, himmlisches Nettchen! Sie erheben mich auf ein Katheder, das mich stolz auf alle Professoren der Welt herabsehen läßt. (Eilt zur Mitte ab.)


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