Richard Muther
Geschichte der Malerei. II
Richard Muther

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9. Memling

Was in Florenz Botticelli, in Umbrien Perugino, in Mailand Borgognone, in Venedig Bellini heißt, nennt sich in den Niederlanden Hans Memling. Im stillen Johanneshospital von Brügge klingt die Kampfstimmung der Savonarolazeit weich und harmonisch aus.

Auch die Niederlande hatten nach Goes' Auftreten noch ihren Spötter gehabt. Der jung verstorbene Geertgen van St. Jans nimmt im Norden eine ähnliche Stellung ein, wie in Italien Piero di Cosimo. Er soll im Ordenshaus der Johanniter im Harlem gelebt haben, woraus nicht notwendig auf das Naturell eines Klosterbruders zu schließen ist. In seinen Bildern erscheint er als ein übermütiger, junger Mensch, der über Religion seine Witze macht, gegen die Priester die Zunge herausstreckt. Nur ein einziges Mal, als er die Wiener »Klage um den Leichnam Christi« malte, gelang es ihm ernst zu bleiben. In dem dazugehörigen Bild aus der Johanneslegende zeigt er durch Einflechten ganz burlesker Dinge, wie sehr er über diese Stoffe einer abgethanen mittelalterlichen Weltanschauung lachte. Dieser Kaiser Julianus Apostata, der die Verbrennung der Gebeine des Johannes anordnet, ist der leibhaftige Theaterkönig. Der groteske Totengräber sieht aus wie ein Brueghelscher Hanswurst. Die Herren Johanniter, die sich zur Feier eingefunden, betrachten das gerettete Gebein ihres Schutzpatrons, als ob es der Knochen eines Esels wäre. Und das Amsterdamer Bild der heiligen Sippe! Im Vordergrunde die zartesten Frauenköpfe, wie nur ein Verliebter sie malt. Dahinter blöde Kinder im Schlafrock und watschelnd krummbeinige Chorknaben, die täppisch einen Kronleuchter anzünden. Man denkt an die Art, wie Grabbe oder Heine durch eine Trivialität, durch eine Unflätigkeit die Stimmung zerstören. Hinter dem Faust, der schwärmt, steht der Mephisto, der lacht.

Als Hans Memling lebte, war die Zeit anders geworden. Auf die Offenbachstimmung, die Parodie und Skepsis war wieder die romantische Sehnsucht gefolgt. Thomas a Kempis hatte in den Niederlanden eine neue religiöse Begeisterung wachgerufen. Ein junger, lustiger Gesell, so erzählt die Legende, ward nach fröhlichem Wanderleben Soldat, focht unter Karl dem Kühnen bei Nancy und wurde schwer verwundet. Mühsam schleppte er sich bis Brügge, sank besinnungslos an der Pforte des Johanneshospitals nieder, wurde aufgehoben und glücklich geheilt. Malte aus Dankbarkeit, ohne Bezahlung anzunehmen, für das Hospital die Bilder, die man noch heute dort sieht. Verliebte sich in die barmherzige Schwester, die ihn sorgsam gepflegt. Pilgerte wie Tannhäuser nach Rom, um dort Erlösung zu suchen. Starb als Mönch in der Karthause von Miraflores.

Die Wissenschaft hat, wie so vieles andere, diese schöne Legende zerstört. Wir wissen heute, daß Hans Memling aus Mömmlingen bei Mainz stammte, dann Lehrling und Gehilfe Rogers van der Weyden war und später als wohlhabender Bürger in Brügge lebte. Schade! Die Geschichte scharrt die Toten ein, und die Legende läßt sie leben. Memlings Bilder stimmen besser zu dem legendarischen Memling als zu dem dreifachen Hausbesitzer. Schöner als die Legende es gethan, kann kein Gelehrter das Wesen Memlings kennzeichnen. Seine Kunst gleicht wirklich einer stillen Zelle, in der ein kranker Mann, der einst als schmucker Landsknecht auf weißem Zelter durch die Fluren sprengte, nun wund und müde dahinlebt. »Imaginez un lieu privilégié, une sorte de retraite angélique, idéalement silencieuse et fermée, où les passions se taisent, où les troubles cessent, où l'on prie, où l'on adore, où tout se transfigure, où naissent des sentiments nouveaux, où poussent comme des lis des ingénuités des douceurs, une mansuétude surnaturelle, et vous aurez une idée de l'âme unique de Memline et du miracle qu'il opère en ses tableaux.« Mit diesen Worten hat Fromentin in seinen Maîtres d'autrefois den Zauber Memlingscher Kunst beschrieben.

Man empfindet ihn nicht in allen seinen Werken. Wenn er stark sein will, pathetisch und mächtig, reicht seine Kraft nicht aus. Das gilt von dem Kreuzigungsbild in Lübeck und zum Teil sogar von dem Jüngsten Gericht. Wenigstens hat er hier die Schrecken des Dies irae nicht mit der Wucht seines Lehrers Roger, sondern mit der Kindlichkeit Lochners gemalt. Er sieht aus wie ein verkleidetes Mädchen, dieser Michael, der so schüchtern die Seelen wägt. Die Verdammten nahen dem Höllenpfuhl mit ebenso reingewaschener Seele, wie all die zierlichen nackten Jüngferchen, die links im Gänsemarsch zur Himmelspforte steigen. Nur wenn es um jugendliche Anmut, um zartes Minnespiel sich handelt, ist Memling groß. Wie in der Legende erscheint er in seinen Werken als ein ritterlicher Schwärmer, der, da sein irdisches Lieb ihn verschmäht, eine himmlische Braut sich wählt, Maria die Gnadenreiche mit der Verzückung des Troubadours feiert. Unbeschreiblich in ihrer mädchenhaften Frische und keuschen Grazie sind die Frauen, die er im Verlobungsbild der Katharina malt. Rührend ist die stillgläubige Frömmigkeit, mit der er die Ursulalegende erzählt. Bei dem Venetianer weite Flächen, rauschende Schönheit, Venedig im Festesglanz. Hier kindliche Einfachheit, miniaturhafte Zierlichkeit, Demut und Friede. Selbst das Martyrium der Mädchen verläuft bei Memling ohne Klage und Todesfurcht. Die Hände gefaltet, sanftmütig ergeben scheiden sie aus dem Leben – mit jenem gläubigen Gleichmut, dem der Schrecken des Todes nur die Vorahnung himmlischer Freuden ist.

Memlings Unterschied von seinen niederländischen Vorgängern ist also deutlich. Während Jan van Eyck, der Feinmaler, sich in den glitzernden Glanz der Welt verliebte, Roger, der Pathetiker, vergrämte Matronen malte, geht ein milder, lyrischer Zug, ein Hauch von Frauenseligkeit durch Memlings Werke: diese holden Engel mit dem langwallenden Haar, diese schlanken Mädchengestalten und träumerisch sinnenden Marien. Nur sind diese Züge die nämlichen, wodurch Bellini oder Borgognone sich von älteren Meistern wie Pisanello und Tura unterscheiden. Memlings Unterschied von diesen italienischen Zeitgenossen ist weniger handgreiflich. Aeußerlich erkennt man sofort den Niederländer. Memling hat nur ein einziges Bild, die Madonna des Wiener Museums, gemalt, das seine Bekanntschaft mit der Renaissance-Ornamentik zeigt. Eine runde Arkade öffnet sich, Putten spielen und halten eine dicke Guirlande, die sich festlich über den Thron Marias spannt. Sonst herrscht in seinen Bildern immer die Gotik. Während der erdenfrohe Jan van Eyck diesen Stil vermied und, da er die Renaissance noch nicht kannte, auf die massigen, breit sich hinlagernden romanischen Formen zurückgriff, bevorzugte Memling, obwohl er die Renaissance kannte, die himmelstrebende, ätherische Gotik, da nur sie dem Wesen seiner schlanken spirituellen Figuren entsprach. Auch zwischen Memlings Frauen und denen der Italiener herrscht jene Verschiedenheit, die Barrès in seinen »deux femmes du Bourgeois de Bruges« skizzierte. Bei den Italienern Maria, hier Martha; dort das vibrierende Weib, hier das gute Aschenbrödel. Dort die weiten schwülen Lagunen, über deren Spiegel bei Mandolinenklang Gondeln gleiten. Hier die engen Kanäle von Brügge, in deren kalter Flut weiße Schwäne ihr schneeiges Gefieder baden.

Das reiche Brügge, das Jan van Eyck gekannt, war, als Memling malte, schon eine tote Stadt. Das große Haus der Medici war zusammengebrochen. Die fremden Kaufherren, die ehedem gekommen, blieben aus. Die Kanäle verödeten, die Paläste verfielen. Diese Einsamkeitspoesie, diese Dornröschenstimmung, die über Brügge, über Rothenburg liegt, ruht über Memlings Bildern. Schon er betrachtete mit den Augen des Romantikers all diese trotzigen Stadtthore und mächtigen Kirchen, die als stolze Ueberreste einer großen Vergangenheit in die arme Gegenwart herüberragten. Schon auf ihn wirkten sie wehmütig, diese weiten Straßen, die einst der Schauplatz festlicher Aufzüge gewesen, und nun so zwecklos, so menschenleer dalagen.

Doch namentlich die Erinnerung an das Johanneshospital, an weißgetünchte Wände, weiße Bettlaken und barmherzige Schwestern wird wach. Borgognone ist der Klosterbruder, der Mann in der Kutte, der, des Lebens müde, sich in die Natur und ihren Frieden geflüchtet. Seine Bilder geben die Empfindung, wie wenn man an schönem Nachmittag von Florenz nach der Certosa fährt. Bellini ist der Altarmaler des byzantinischen Venedig. Seine Bilder wirken, wie wenn man aus der Sonne der Piazza in die weihrauchdurchzitterte Nacht des Markusdomes tritt. Ein ganz anderes Gefühl überkommt den, der in dem stillen Brügge durch holperige, moosbewachsene Gäßchen dem Johanneshospital zuwandert. Eine kleine Pforte öffnet sich und führt in einen Hofraum, wo unter ehrwürdigen Linden auf den Bänken arme alte Männer in beschaulichem Nichtsthun träumen. Beguinen in schwarz-rotem Kostüm und weißen Häubchen kommen und gehen. Es liegt etwas Trauriges, Resigniertes in diesen Mädchen, die wie Nonnen dahinleben, ohne Familie. So ernst und gesetzt hat sie das Leben in diesen Mauern gemacht. Memlings Bilder haben Hospitalstimmung. Man betrachtet sie mit dem Gefühl, das uns vor schönen kranken Mädchen befällt. Es ist, als hatte er in die Natur mit den Augen des Kranken gesehen, der in seinem Stübchen sitzt und durch die Butzenscheiben sehnsüchtig in die lachende Welt hinausblickt.

Warum sind die Menschen, die ihm zu Bildnissen saßen, alle so blaß? Warum halten sie den Rosenkranz, das Gebetbuch und falten so dankbar die Hände? Warum dehnt hinter ihnen, in mildem Licht gebadet, so feierlich sonntäglich die Welt sich aus? So grün und frühlingsfrisch, als ob der Glanz erster Schöpfungstage auf ihr ruhe? Leute scheinen sie, die zum erstenmal wieder aus der dumpfen Luft der Krankenstube in Gottes freie Natur hinaustreten, so wie die alten Männer des Johanneshospitals mit dankbarem Glück empfinden, daß die Sonne wieder, die liebe Sonne sie bescheint. Und all die Blumen, all die Bücher, die er in seinen Madonnenbildern aufhäuft? Behandelt er Maria nicht wie ein krankes Kind, dem man Bilderbücher bringt, Flieder und Lilien? Sie sind so rührend bei Memling, wie von einem kranken Kinde gepflegt, diese Blumentöpfe, die er zu Füßen Marias stellt. Sie haben Krankenstubenstimmung, diese Bilderbücher, in denen seine blassen Mädchen so zerstreut blättern. Und diese Fenster, die so fest verschlossen sind, daß kein kaltes Lüftchen hereindringt? Das zauberhaft liebliche Stück Welt, in das man durch die kleinen Scheiben schaut? So empfindet niemand die Natur, der sie immer hat. Nur dem Kranken scheint sie so, wenn er am Fenster steht: so rührend schön, so heilig schön. Er sieht den Reitersmann auf seinem Schimmel die einsame Landstraße daherkommen, beobachtet die Schnitter, die dort am Kornfeld arbeiten, den Fuhrmann, der einen Vorübergehenden nach dem Wege fragt, freut sich der Schwäne, die da drüben im Weiher plätschern, der Schafe, die auf sonnig grüner Wiese ruhen. Eine strohbedeckte Hütte, die sich einsam im Feld erhebt, eine alte Mühle, eine morsche Holzbrücke, die sich über glitzerndes Wasser spannt – es genügt, ihn mit Gedanken und Empfindungen zu erfüllen. Und seine Mädchen selbst, haben sie nicht auch die Krankenlagerlieblichkeit, das Feine, Durchgeistigte, das die Zimmeratmosphäre dem Menschen giebt? Mild resigniert sind ihre Züge, kraftlos und leise die Bewegungen. In rührender Koketterie haben sie ihre kostbarsten Gewänder angelegt, sich mit Perlendiademen, mit Ringen geschmückt. Es thut so wohl, wenn man krank ist und Besuch bekommt, sich schön zu wissen, nicht durch die Krankheit entstellt . . . Das haben wohl auch ehedem Menschen aus Memlings Bildern herausgelesen. So entstand die Legende von dem verwundeten Memling, der als Kranker im Johanneshospital lebte.

Der gleiche Zauber liebenswürdiger Stille, dieselbe Schüchternheit, die ängstlich alles Brutale meidet, herrscht in den Madonnenbildern Gerard Davids, so daß er in allem wie eine Fortsetzung Memlings wirkt. Auch er liebt jene Frauen mit hoher Stirn und schüchtern niedergeschlagenem Blick, und weiß aus ihren Augen den Ausdruck des Sinnigen oder Feierlichen sprechen zu lassen. Ein Altarbild, das er 1509 für die Kirche der Karmeliterinnen in Brügge malte und das nach Rouen gelangte, wird als sein Hauptwerk genannt. Daß er in anderen Bildern das altkölnische Thema der Madonna im Rosenhag neu aufnahm, beweist ebenfalls, wie verwandt er sich geistig Memling und Lochner fühlte. Maria sowohl wie die anderen Heiligen haben jene Reinheit und sinnende Träumerei, die an Memlings Bildern bestrickt. Bewegungslos sitzen sie da, wie gebannt durch die Ueberfülle inneren Erlebnisses. Das Heiligste haben sie erfahren, aber ihr Mund bleibt stumm, als fürchteten sie durch laute Worte die feierliche Stille zu stören. So umschwebt sie etwas schwermütig Ahnungsvolles, leise Verhaltenes, das auch Davids Bildern einen Zug zarter knospenhafter Verschlossenheit giebt. Erst in seinen spätern Werken – er lebte bis 1523 – ändert sich, der veränderten Zeitstimmung gemäß, sein Stil.


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